Jetzt vom Sinn des Gesichts. Die Anschauung welche ausgeht von der Empfindung im Auge und an diese sich knüpft, ist bei weitem die reichste, weil die Vermittelung des Lichts uns in Berührung setzt mit nahen und fernen Gegenständen; weil ferner das Licht in graden Linien wirkt, auch in den Feuchtigkeiten des Auges selbst in graden Linien gebrochen wird, und daher (wenn wir den Verstand und die Anschauung des Raums[168]auf diese Empfindung anwenden) wir zugleich auch die Richtung und Lage des einwirkenden Objekts aus der Empfindung erhalten; was bei Geruch und Gehör, die auch aus der Entfernung wirken, nicht der Fall ist (illustr.)*) [FN *) Beim Gehör ist es nur sehr im allgemeinen der Fall, so im Groben, nämlich ob das rechte oder das linke Ohr stärker getroffen wird; was von vorn{e} kommt hört man stärker, als was von hinten. Das Bauchreden ist in jedem Fall ein Schall der articulirt wird ehe er den Leib verläßt und daher alle Indicia der Richtung ganz ausschließt: nun wird durch mimische Künste die Einbildungskraft verleitet, die Richtung zu suppliren.]; weil endlich die verschied[nen] Grade der Beleuchtung und die Empfindung der Farbe uns data geben zur Erkenntniß mannigfaltiger räumlicher Beziehungen der Objekte. Bei weitem unsre meisten Wahrnehmungen sind durch das Auge: daher ist von dieser species das genus benannt, nämlich Anschauung, Intuitio. - Aber sondern wir von dieser ganzen Wahrnehmung das aus, was allein der Empfindung angehört, dann finden wir, daß auch die Empfindung welche das Auge von beleuchteten Gegenständen erhält, keineswegs schon die Anschauung dieser Gegenstände ist, sondern himmelweit von ihr verschieden; ja auch von dieser Empfindung auf der Netzhaut des Auges behaupte ich, daß sie eigentlich noch keine Aehnlichkeit hat mit der Anschauung die uns durch ihre Vermittelung, auf ihre Veranlassung wird. Versteh[n] Sie mich recht: ich sage nicht etwa bloß, daß die Empfindung im Auge, etwa die der Farbe oder des Lichts selbst keine Aehnlichkeit hat mit den realen Dingen in der Außenwelt die als Ursache solc[he Em]pfindung von der Farb[e] und Licht hervorbringen; das sagte Locke auch, ist schon tausend Mal gesagt und bekannt. (Illustr.) Ich sage, daß die Empfindung im Auge noch keine Aehnlichkeit hat mit der Anschauung der objektiven Welt die uns dadurch wird, mit der bloßen Erscheinung, gleichviel was die Dinge außer uns an sich seien: davon rede ich noch nicht. Bei keinem andern Sinn aber kommt die bloße Empfindung der Anschauung so sehr entgegen, als beim Sehn, giebt ihr so reiche data, data die unmittelbar auf räumliche Bestimmungen der äußern Ursache leiten, wiewohl sie diese nicht schon enthalten. Bekanntlich hat das Auge große Aehnlichkeit mit der Camera obscura: welches zuerst Kepler bemerkt und dargestellt hat: (siehe[169]Kepleri paralipomena in Vitellionem Francof. 1614 p 170 seq.). [Anm: richtig: 1604] Nämlich wie die camera obscura ein finstrer Raum ist, in welchen die von den äußern Gegenständen zurückgeworfenen Lichtstralen, durch eine enge Oeffung dringen und an der dieser entgegengesetzten Wand ihr Bild entwerfen, welches durch ein in die Oeffnung gebrachte[s] Convex-Glas, Linse, Sammelglas verdeutlicht wird, welche[s] die von den Objekten aus divergirenden Linien bricht und sie dann konvergirend, aber umgekehrt auf die Wand wirft; (die Umkehrung geschieht hier zwar durch die Convexlinse; doch geschieht sie auch ohne diese, durch das bloße Kreuzen der Stralen in der Oeffnung: siehe Fischers Naturlehre cap. 39, § 13 [Anm. Fischer, E. G. Lehrbuch der mechanischen Naturlehre. Berlin : Nauck, 1805. S. 383-384]: sie wird hier also durch die Linse bloß unterstützt) so ist im Auge die Pupille die Oeffnung, die Netzhaut die Wand, lens, humor aqueus et vitreus das durch Brechung das Bild zusammenziehende und so verdeutlichende Convexglas. (Beiläufig das Bild was Jeder im Auge des andern von sich selbst sieht; ist nicht das hier gemeinte; sondern eine bloße Spiegelung auf der glatten Cornea, ein bloß reflektirtes Licht von ihr.) Nach Kepler und allen spätern rein empirischen Köpfen ist damit das Sehn erklärt: die Seele nämlich nimmt jenes Bild wahr und bezieht es auf äußre Objekte. In der That aber ist das Wesentliche dieses Vorgangs weiter nichts, als daß der Eindruck des Lichts, welches die Objekte reflektiren, zusammengedrängt wird ohne vermischt zu werden, wodurch er im kleinen Raum der Netzhaut Platz findet: dadurch wird die Netzhaut von den verschiedenen Lichtstrahlen in derselben Ordnung (wiewohl umgekehrt), wie sie vom Objekt ausgehn, affizirt: weiter geht die optische Erklärung nicht: wie aber aus einer solchen Affektion der Netzhaut, eine Anschauung von Objekten außerhalb, im Raum mit drei Dimensionen entsteht, ist dadurch im mindesten nicht erklärt. Vielmehr entstand das neue vielfach bestrittene Problem, warum wir, da dies Bild umgekehrt steht, die Objekte doch nicht verkehrt sehn: welches Problem bei unsrer ferne[rn] Betrachtung seine Auflösung von selbst finden wird.
Das Auge empfindet bloß Hell, Dunkel, Farbe: die Netzhaut ist der Sitz dieser Empfindung, und ist eine Fläche, läßt folglich ein Nebeneinander des Eindrucks zu; sodann wirkt das Licht stets in graden Linien, wird auch im Auge noch [in][170]graden Linien gebrochen, daher der bloße Eindruck schon hinweist auf die Richtung seiner Ursache und die Lage derselben im Raum: aber um dies zu erkennen müssen wir schon den Raum haben und seine Verhältnisse kennen: das gehört schon zu dem was wir zur Empfindung selbst hinzubringen, in der Empfindung liegt es nicht: sowohl Raum als Urs[ach] gehören schon zum Intellektuellen der Anschauung: im Sensuellen liegen sie noch nicht. Nun ferner sind die Empfindungen des Hellen, Dunkeln, wie der Farbe ganz specifische Affektionen des Auges. Aber ohne den Verstand und ohne die Anschauung des Raumes, würden wir uns ihrer auch nur bewußt werden als besondrer und mannigfaltiger Modifikatio[nen] im Organ, die gar noch keine Aehnlichkeit haben mit der Figur, Lage, Nähe, Ferne, Ruhe und Bewegung von Objekten. Was beim Sehn die bloße Empfindung giebt ist nichts mehr als das Bewußtsein einer mannigfaltigen Affektion der retina, ähnlich einer Pallette mit vielen bunten Farbenklexen neben einander: oder wie wenn ein Kupferstich bunt illuminirt wäre und man n[ä]hme durch ein aufgelegtes Löschpapier einen Abdruck der Farben ohne die Linien. Denn alles was in unserm Gesichtsfelde linear ist, räumlich, perspektivisch, das ist nicht Sache der Empfindung, sondern muß wo anders herkommen. Wie wir nun an die Empfindung die Anschauung knüpfen, was wir hinzuthun um diese von der Anschauung noch ganz verschiedne Empfindung umzugestalten zu der reichen Anschauung der Welt; davon ausführlich, wenn ich das Positive der Sache vortrage. Für jetzt sind wir bloß beim Negativen.
Aus allem diesen geht hervor, daß die Anschauung nicht sensual ist; d. h. sie ist nicht durch die bloße Sinnesempfindung gegeben; sondern zu dieser muß noch etwas sehr Bedeutendes hinzukommen, damit aus ihr Anschauung werde: nämlich der Verstand, der die Wirkung auf eine Ursache bezieht, und die reine Anschauung des Raums, vermöge deren diese Ursache außerhalb des empfindenden Organismus versetzt wird; auch die Anschauung der Zeit, weil nur in der Zeit ein Wirken und Verändern möglich ist. Diese Formen nun, nämlich der Verstand d. h. das Kausalverhältniß, und die Anschauungen von Raum und Zeit müssen schon vorher daseyn, müssen unabhängig von der Empfindung da seyn, da sie in dieser nicht enthalten[171]sind, müssen als Formen des erkennenden Bewußtseyns [daseyn] damit die Anschauung entstehe. Also die Anschauung ist intellektual. Sie ist ein gesitiges Wahrnehmen, kein bloß sinnliches Empfinden, wie Locke wollte. - Alle Empfindungen welche die Sinne durch äußere Eindrücke erhalten, sind bloß der rohe Stoff aus dem die Anschauung wird, wenn der Verstand hinzukommt, und von der also gegebenen Wirkung den Uebergang macht auf die Ursache, die nun eben dadurch als angeschautes Objekt im Raum sich darstellt. Unter allen Sinnen ist wie gesagt das Gesicht der feinsten und mannigfaltigsten und determinirtesten Eindrücke von Außen fähig, Eindrücke, welche sogleich data der räumlichen Verhältnisse ihrer Ursache geben: aber dennoch giebt auch das Gesicht an sich bloße Empfindung, aus welcher erst die Anwendung des Verstandes die Anschauung hervorbringt. Könnte daher Jemand, der vor einer schönen weiten Aussicht steht, auf einen Augenblick alles Verstandes beraubt werden; so würde ihm von der ganzen Aussicht nichts übrig bleiben, als die Empfindung einer sehr mannigfaltigen Affektion der Netzhaut in seinem Auge ähnlich einer Pallette mit vielen Farbenklexen, welche gleichsam der rohe Stoff ist, aus welchem vorhin sein Verstand jene Anschauung schuf.
[...] [172] [...] [173] [...]
Es giebt eigentlich nur zwei objektive Sinne: das Getast und das Gesicht [vgl. dazu Fischer: Über ein paar Gesichtserscheinungen. In: Abhandl. AdW Bln 1818-19 (1820), 42]: d. h. nur mittelst der Data die diese beiden dem Verstande geben konstruirt er Objekte in die uns beigegebene Anschauungsform Raum hinein, und läßt sie dort in der Zeit sich bewegen und verändern. Die andern drei Sinne wirken objektive nur auf die Erinnerung indem sie uns anderweitig schon bekannte Objekte anzeigen. [...]
Getast und Gesicht haben jedes ihre eignen Vortheile: daher sie sich wechselseitig unterstützen: der Hauptvortheil des Gesichts ist daß es keiner Berührung bedarf, ja keiner Nähe, sondern die Einwirkung sehr ferner Objekte empfängt; - sodann daß eine Unermeßlichkeit von Objekten zugleich auf es einwirkt, ein ganzer irdischer und himmlischer Horizont voll Weltkörpern; - sodann daß es sehr feine Nüancen des Lichts und Schattens, der Farbe, der Durchsichtigkeit des umgebenden Mittels empfindet, und so dem Verstande eine große Menge fein bestimmter data liefert, auf welche angewandt er die meisten Bestimmungen der Gestalt, Größe, Ferne und physischen Beschaffenheit der Körper sogleich anschaulich erkennt: wie weiter unten näher zergliedert.
[...]
[180][...] Die Richtung im Raum bestimmt der Eindruck ebenfalls,] wie gesagt; aber nur die Richtung, nicht den Ort selbst. Die Entfernung wird nicht unmittelbar wahrgenommen. Nämlich der Raum und die Objekte in ihm haben doch drei Dimensionen: aber nur mit zwei derselben können sie auf das Auge wirken, nämlich mit Höhe und Breite, nicht mit der Tiefe. Das Sehn ist ursprünglich, d. h. so weit die Empfindung es begleitet, bloß planimetrisch, nicht stereometrisch, giebt bloß Fläche, kein[en] Körper: alles Stereometrische wird erst vom Verstande hinzugethan. Die Farbe und die Richtung allein sind dabei seine data, die das Auge giebt; zur Farbe rechne ich hier die Schattirung, das Helle und Dunkle, mit: aber aus der Modifikation der Farbe durch die Beleuchtung, also die Grade des Lichts und Schattens, in Kombination gesetzt mit der Richtung, schließt der Verstand auf die Ausdehnung des Objekts in der dritten Dimension, und sieht daher nicht Flächen sondern Körper. Seine Operation hiebei geschieht mit solcher Fertigkeit, daß sie gar nicht ins Bewußtseyn kommt und er bloß deas Resultat auffaßt und festhält, die Data aber fahren läßt sobald er sie benutzt hat.
[219] [...] Jede Entdeckung großer Naturkräfte und Naturgesetze wie Lavoisiers Entdeckung des Sauerstoffs und seiner wichtigen Rolle in der Natur, Göthe's Entdeckung des allgemeinen Gesetzes nach welchem alle physischen Farben entstehn, kann, ihrem Kern nach, nur das[220]Werk eines Augenblicks seyn, in welchem der kausale Zusammenhang richtig apprehendirt wurde. - [...]
[519] [...] Studieren [S]ie die Geschichte der Wissenschaften, da werden [S]ie seh[n], wie jede neue, wichtige Wahrheit, einen Riesenkampf zu besteh[n] hatte [520] bei ihrem Auftritt: Erstlich findet sie ganz taube Ohren, wird gar nicht beachtet: dann wird ihr im Triumph das Idol des alten Irrthums entgegengehalten, daß sie davor versteinern soll, wie vor dem Gorgonenhaupt: weil sie das nicht thut, so erhebt sich nun das allgemeine Geschrei wider sie, sie wird geleugnet und verdammt. Wie kommt sie dennoch zuletzt durch? - Dadurch daß im Fortgang der Zeit Einzelne mit Urtheilskraft begabte Männer, sie, dem Haufen zum Trotz, anerkennen, selbst sich anderweitig Autorität erwerben, und nun endlich ihr Urtheil, ihre Autorität die Menge bestimmt. Das geht aber sehr langsam, und gewöhnlich kommt es dahin erst dann, wann der Urheber sein Märtyrerthum vollendet hat und von seinem sauren Tagewerk ruht. Wollen Sie Beispiele: rufen [S]ie sich die Geschichte v[on] Galiläi, v[on] Kopernikus zurück. Lesen [S]ie die Geschichte der Entdeckung des Blutumlaufs von Harvey, und der Anerkennung derselben 30 Jahre nachher. Die ganze Litterargeschichte zeigt ja überall dasselbe, und zeigt wie viel Urtheilskraft der gewöhnliche Mensch hat. Oder wollen Sie ein ganz frisches Beispiel, dessen allmäligen Fortgang und Entwickelung Sie wohl hoffentlich alle noch erleben werden, da Sie noch viel Zeit vor sich haben. Es ist die Göthische Farbenlehre. In ihr hat der größte Mann den unser Jahrhundert in ganz Europa; und der größte den Teutschland durch alle Jahrhunderte hervorbrachte; in ihr hat Göthe den alten Irrthum der Newton'schen Farbentheorie, auf das klärste, bündigste, faßlichste widerlegt. Sein Buch liegt seit zehn Jahren da: ich, und seitdem noch einige Wenige, hab[e] dessen Wahrheit anerkannt und öffentlich bezeugt. Die übrige gelehrte Welt hat einmüthig jener Lehre den Stab gebrochen und hält fest am alten Newton'schen Credo. Durch ihr Benehmen in dieser Sache bereitet sie der Nachwelt herrliche Anekdoten. - So wenig Urtheilskraft ist wesentlich[es] Eigenthum des Menschen als solchen. Wenn nun aber ihr Mangel meistens durch die Krücke fremder Autorität ersetzt wird; so hat sie außerdem noch einen positiven Feind im Inne[rn], am eigenen Willen, an der Neigung. Es ist der Mühe werth zu betrachten, wie sehr die Neigung, das Urtheil besticht, selbst in den einfachsten Fällen, denn es ist unglaublich. Lassen Sie uns diese Betrachtung anknüpfen an einen sehr[521]schönen Ausspruch des Bako von Verulam. Baco sagt Nov[um] org[anum] Lib. I, [49]: intellectus luminis sicci non est; sed recipit infusionem a voluntate et affectibus: id quod generat ad quod vult scientias: quod einim mavult homo, it potius credit. Innumeris modis, iisque interdum imperceptibilibus affectus intellectum imbuit et inficit. Das ist eine große Wahrheit. Unsre Neigung macht uns oft ganz unfähig etwas einzusehn, das ihr zuwider läuft. Dieses hat eben auch sich in dem Empfang der Göthe'schen Farbenlehre sehr bestätigt: denn - u.s.w.
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- Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek
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- TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. [20. April -] 20. August 1820. Schopenhauer: Vorlesung über Die gesammte Philosophie, I. Z_1820-08-20_z.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-1295-5