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[...] Der Empfang [bei Goethe am 16. September] war überaus freundlich und liebreich; mit heiterm Ange-[416]sicht kam der verehrte Mann mir entgegen, reichte mir die teure Hand mit väterlicher Milde und versicherte mich auf das wohlwollendste, daß er meiner Ankunft mit Freuden entgegen gesehen habe. Du kannst Dir vorstellen, wie sehr diese unverdiente Huld und Güte mich beschämte und wie lebhaft in mir der Wunsch sich regte, mich in den Stand gesetzt zu sehen, demnächst durch ein würdiges Leisten mich dafür auch in der Tat, und nicht nur in der Gesinnung, dankbar zu erweisen. - [...] - Das neue Glaubensbekenntnis unserer Musen und Grazien hat er, Dein heiteres Talent rühmend, ungemein freundlich aufgenommen und sich bei dieser Veranlassung überhaupt so günstig über unser dortiges Sinnen und Tun ausgesprochen, daß wir uns dessen auf alle Weise zu freuen Ursache haben. Im Verlauf des Gespräches sagte er unter anderm freundlich: Nun ja, Ihr jungen Leute, ich sehe wohl, Ihr macht Eure Sachen gut, fahrt nur getrosten Muts so fort; an Euch ist es jetzt, das Werk fortzusetzen und durchzufechten, das wir angefangen haben; ich komme mir bisweilen vor wie der alte Reuchlin in Köln, dem die Pfaffen so vielfältig zusetzten; mich haben sie zwar gerade nicht vorgeladen, sie möchten mir aber doch gern als Ketzer den Prozeß machen; Ihr tut nun, was Ulrich Hutten und Franz Sickingen zu jener Zeit getan haben ... Daß wir bald auf die Farbenlehre und auf meine Vorlesungen darüber zu sprechen kamen, kannst Du Dir wohl vorstellen; ich hatte verschiedene chromatische Gerätschaften mitgebracht, welche großen Beifall fanden, zumal eine Anzahl wohlgeratener entoptischer Gläser. Sogar ein alter Diener, der mit dergleichen Din-[417] gen einigermaßen umzugehen versteht, wurde herbeigerufen, um die schönen Farbenerscheinungen mitzubewundern. Was ich über den Gang und die Anordnung meiner Vorlesungen sagte, wurde gebilligt und belobt. So verhandelten und experimentierten wir einige Stunden, bis daß der Professor Riemer gegen Abend kam. Dieser, der früher bei Redaktion der Farbenlehre hülfreiche Hand geleistet, nahm tätigen und einsichtigen Anteil an unserem chromatischen Gespräch, welches sich späterhin mehr ins allgemeine wendete. Der alte Herr ließ es sich gefallen, daß ich ihm gelegentlich etwas vorphilosophierte, sprach belehrend und ermunternd und gedachte wiederholentlich unseres Berliner Meisters auf das wohlwollendste und ehrenvollste. Auch auf den Feldzug von 1792 kamen wir zu sprechen und auf die friedlich-polemische Episode in Pempelfort bei Jacobi. Goethe nahm meine Bemerkung, daß, bei dem Streiten über die Materie, er der eigentliche spekulative Philosoph gewesen sei, gütig auf und fügte dann heiter hinzu, daß er, als seine Freunde ihn unklar und unverständlich gefunden hätten, getrost, wie Sancho Pansa, bei sich gedacht habe: So verstehe ich wenigstens mich selbst, und Gott wird mich wohl auch verstehen. [...][418][...] Ich stellte mich [am 17. September] zur bestimmten Zeit pünktlich ein, [...] Goethe empfing mich in seinem Arbeitszimmer und zeigte mir zunächst eine eben angelangte neue Lieferung von Steindrücken aus der Boisseréeschen Sammlung. Dann fuhren wir fort, über die Farbenlehre zu verhandeln; ich hatte mein Heft mitgebracht und mußte über eine Stunde daraus vorlesen. Wir besprachen die Anordnung des zu bearbeitenden Compendii, und [ich] mußte versprechen, für das nächstens erscheinende neue Heft zur Naturwissenschaft eine zusammenhängende Relation über das, was für die Sache in Berlin geschehen und wie wir es weiter zu treiben gedenken, zu liefern. Der erste Bogen des neuen Heftes ist bereits gedruckt; [...]

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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 21. September 1822. von Henning an F. C. Förster (Auszug). Z_1822-09-21_p.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-18EF-B