[117r]
Hochwohlgeborner Herr Freiherr,
Hochgebietender Herr Geheimer Staatsminister
Gnädiger Herr!

Es war im Anfang des verflossenen Winters, als ich
Euer Excellenz meinen innigsten und tiefsten Dank für
die von Hochdenselben zur Kräftigung meiner Gesundheit
huldreichst getroffene Maßregeln und diese so höchst erfreuliche
gnädige Theilnahme an einem nur der Wissenschaft gewidmeten
thätigen Leben, demüthigst zu bezeugen suchte. Ich konnte schon
damals den segenreichen Erfolg dieser hohen Fürsorge berichten,
so daß ich von der zur Kräftigung meiner Gesundheit einge-
leiteten Ferienreise vollkommen hergestellt zu meinen
Berufsarbeiten zurückgekehrt war. Seitdem allen meinen
Bestrebungen und einer nicht geringen äussern Thätigkeit in
ihrem ganzen Umfange hingegeben, hatte ich auch Grund
auf die Ausdauer und Energie meiner Natur wieder alles
[117v]Vertrauen zu gewinnen; und ich kann wohl sagen, daß ich
kaum jemals mit dieser Lust und Freude meine Studien
der lebenden Natur verfolgte. Die Theilnahme an meinen
Vorträgen über Physiologie und allgemeine Pathologie schien
nach jener Unterbrechung sich auch eher erhöht zu haben;
sie war wenigstens nie größer als im verflossenen Winter-
semester, wo mir der Lehrvortrag über Physiologie zudem
allein anvertraut war. Auch in practischen anatomischen
Arbeiten behufs der Vorlesungen über Physiologie und
vergleichende Anatomie wurde Vieles gefördert, wiewohl
ich in Beziehung auf Anschaffung nöthiger Thiere, und des für mich
nicht unbedeutenden Aufwandes für Gläser und Weingeist
meine beschränkten Mittel nur allzu oft zu bedauern hatte.
Indessen kann das Verzeichniß meiner Präparate, die sich
gegenwärtig auf einige Hundert belaufen und im anatomischen
Museum zur Ansicht aufgestellt sind, doch zeigen, daß es
an dem besten Willen bisher nicht gefehlt hat.

Mögen Euer Excellenz diese Details gnädigst entschuldigen
wollen. War es mir doch zur süssen Gewohnheit geworden,
[118r]Euer Excellenz von allen Bestrebungen und {Fortschritte}
demuthsvolle Rechenschaft zu geben; wie viel mehr
muß es mir Bedürfniß werden, da mich Natur unter
höherer heilsamer Mitwirkung nach einem halben Jahre
kleinmüthiger Kränklichkeit in voller Frische wieder auf die
hohe See des Lebens und Wirkns getrieben.

Die Versuche über den Einfluß des farbigen Lichtes auf die
Vegetation und Generation, welche Euer Excellenz freigebig
gnädigst haben unterstützen wollen, werden nunmehr
sicher in diesem Sommer zum Abschluß kommen, und sind
schon mit dem Beginn der Vegetation eingeleitet worden.
Euer Excellenz würden wir schon den nähern Bericht darüber
unterthängst haben vorlegen können, wenn diese Arbeiten
nicht im vorigen Sommer durch mein Erkranken ganz
gestört worden wären.

Beiliegende Abhandlung über ein bisher ganz und gar unbeachtetes
Nervensystem niederer Thiere, wodurch der grosse Unterschied
der Wirbelthiere und Wirbellosen abermals geschmälert wird,
wurde von mir während meines Unwohlseyns im vorigen
Sommer ausgearbeitet. In dem ich dieselbe Euer Excellenz
[118v]in demuthsvoller Ergebenheit überreiche, wünsche ich damit
zugleich ein Zeugniß ablegen zu können, daß ich in jener
für mich sonst so traurigen Zeiit meine^ gewohnten Bestrebungen
doch nicht ganz entbehren konnte, um die mir sparsam
gegebene Musse von mancherlei Affectionen doch einiger-
massen theuer zu machen. In diese Periode fällt auch die
Fortsetzung meiner Übersetzung der physiologischen Schriften des
Aristoteles, wovon ich in dem Büchlein über die phantastischen Gesichts-
erscheinungen schon ein Specimen gegeben hatte.

Mögen Euer Excellenz die gegenwärtige Arbeit in dem angedeuteten
Sinne nachsichtig gnädigst beurtheilen wollen, und mögen Hochdieselben
auch fernerhin Ihre huldreiche, für mich höchst aufmunternde
Theilnahme und großmüthige Unterstützung eines gewiß
allein nur der wissenschaftlichen Naturbetrachtung unverwandt
gewidmeten Lebens gnädigst erhalten wollen.

Mir bleibt
zu verharren in tiefster Verehrung und unwandelbarer
tief dankbarer und treuer Ergebenheit
Euer Excellenz
unterthäniger
Dr. Joh. Müller. Prof. (E.)Extraordinarius
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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 12. April 1828. Johannes Müller an Altenstein. Z_1828-04-12_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-1FB2-7