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Geneigtest zu gedenken.

Ew. Hochwohlgeboren kann mit wahrem Vergnügen hiedurch vermelden, daß der Versuch, auf welchen Dieselben mich aufmerksam gemacht, seine vollkommene Richtigkeit habe, und zwar verhält es sich mit demselbigen folgendermaßen.

Es stehe ein entoptisches Glasplättchen + auf einer Spiegelfläche und werde von A her, es sey nun durch directes oder indirectes atmosphärisches Licht, beschienen, so wird sich auf der entgegengesetzten Seite a für das Auge b das einfache Bild c abspiegeln, indem das Durchscheinen nur einfach war. Zugleich wird sich aber das entoptische Bild aus dem Grunde der [191]a-Seite nach der Seite d zurückspiegeln und also bey nochmaligem Durchgang für den Beschauer in f eine doppelte Erscheinung in h hervorbringen, eben wie ein doppelt starkes Plättchen bey'm einfachen Erscheinen nach der Seite a hin hervorgebracht haben würde. Machen Sie diesen Versuch an einem recht heitern Herbstabende, so wird er vollkommen gelingen; der Beschauer in f darf nur ein wenig bey Seite treten, damit der einfallende Himmelsschein nicht gehindert werde.

Noch einer Merkwürdigkeit will ich gedenken; dem Auge in b erscheint das abgespiegelte Bildchen c dem Refractionsgesetze gemäß, als stünde die Glaswand g, etwa in i, dahingegen dasselbe dem Auge in f an unverrückter Stelle gleichsam wie in einem Kästchen in k zu liegen scheint.

Der erste Versuch überhaupt, wie ich ihn dargestellt habe, kann zugleich stattfinden, wenn zwey Beobachter zu gleicher Zeit sich an beyde Plätze b und f stellen. Machen Sie sich den Versuch recht bequem, wiederholen ihn oft mit andern: er ist wirklich sehr bedeutend und führt zu immer weitern Aufschlüssen.

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Auch will ich von einem Versuche sprechen, zu welchem Herr Prof. Hegel mich veranlaßt hat. Sie werden diesen Fall mit dem Freunde, dessen Gegenwart mir so erfreulich als belehrend war, des weiteren zu besprechen die Güte haben.

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Derselbe stellte nämlich die Aufgabe: Ob man das im entoptischen Täfelchen sich erzeugende Bild nicht, in einer dunkeln Kammer, gleich wie das prismatische auch auf eine nicht spiegelnde Tafel projiciren könne?

Ich habe einen Versuch angestellt, finde aber Folgendes: Wenn man das entoptische Täfelchen vertical in die Öffnung einer dunkeln Kammer befestigt, so muß man die weiße Tafel unmittelbar horizontal darunter bringen, so nahe als wenn das Täfelchen auf dem Spiegel stünde. Da man aber in dieser Lage das durch das Täfelchen einfallende Licht von dem Papiere nicht ausschließen, solches also nicht dunkel werden kann, so ist die Erscheinung des Bildes auf diese Weise nicht zu bewirken.

Hierbey gebe ich zu bedenken, daß das bey dem prismatischen Versuch durch die Öffnung des Fensterladens einfallende Sonnenlicht ein energisches Bild bewirkt, welches durch den ganzen finstern Raum sich fortsetzt, überall aufgefangen und also auch an jeder Stelle durch das Prisma abgelenkt und gefärbt werden kann; das entoptische Bild aber ist ein schwaches Schattenbild, das sich eigentlich nicht fortsetzt, sondern nur durch Spiegelung in einiger Entfernung sich manifestiren kann.

Demohngeachtet aber scheint mir der Gedanke von großer Bedeutung, indem er uns zu mancherley Versuchen und Nachforschungen aufregt; denn da alle [193]Bilder sich in die Ferne abspiegeln und auf einer weißen Fläche, wenn das Licht von ihr ausgeschlossen wird, sich so gut wie im Auge darstellen: so wäre die Frage, warum das entoptische Bild nicht eben diese Rechte für sich fordern sollte. Der geistreiche Experimentator findet entweder das Mittel, dasjenige darzustellen was mir nicht gelingen wollte, oder findet auf diesem Wege irgend etwas, woran man gar nicht gedacht hat.

Goethe.

So gern ich auch Vorstehendem noch manches hinzufügte, so muß ich doch abschließen, da das Blatt schon viel zu lange bey mir liegen geblieben ist. Ich eile nur noch, die schönsten Grüße und besten Empfehlungen an die dortigen werthen und bewährten Freunde angelegentlichst auszusprechen.

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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 27. November 1827. Goethe an von Henning (Konzept). Z_1827-11-27_c.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-1F85-A