[246]

Nach vollbrachtem Geschäfte des Jahresschlusses bleibt mir nun noch eine einsame Stunde, um mich mit Ihnen, Verehrtester, zu unterhalten. Seit ich von Nenndorf zurück bin, habe ich schon mehrere Beweise Ihrer Güte in Händen, ohne sie erwiedert zu haben; die Schwere der Dinge, in denen ich lebe, bannt mich in eine Lage, welche wenig Mitteilung erlaubt. Doch hätte ich schon längst geschrieben, wie es in den optischen Arbeiten fleißig vorwärts gegangen ist, hätte nicht Schinkel noch immer mit der Zeichnung zurückgehalten, die ich so gern in Ihren Händen sähe. Er will es zu gut machen, und deshalb kommt er nie dazu. Und doch ist es höchst dankenswerth, daß er es übernommen hat, das Phänomen im Bilde darzustellen, nachdem ich es ihm vor den Augen des Geistes und des Leibes, die er beide hat, erscheinen lassen.

Um mir eine fortwährende Anregung zur optischen Arbeit bei den ungeheuren Geschäftsunruhen, welche mich diesmal wieder bedrohten, zu erhalten, ist seit etwa acht Wochen die Einrichtung getroffen, daß Professor Hegel und D. von Henning nebst [unserem] trefflichen Schubarth sich alle Mittwoch Abends, künftig alle Freitag, bei mir versammeln, um uns mit diesen Dingen ernstlich zu[247]beschäftigen. Ich habe den großen Vortheil gehabt, bei dem Vortrage meiner meist unvollendeten Arbeiten auf die Lücken und Schwächen derselben aufmerksam gemacht zu werden, wobei Hegel's eindringender Geist sich mir um so mehr ehrwürdig und förderlich gezeigt hat, als er mit tüchtigen Realkenntnissen verschwistert ist. Doch begegnet es dem Philosophen auch wohl, auf Alhazen's und seiner Griechischen Vorgänger abstruse Wege zu gerathen, daß ich erschrocken bin, zu erkennen, wie ein jedes Philosophiren über sinnliche Erscheinungen, ohne sicheres Anhalten an die Erscheinungen selbst, allemal ein und dasselbe leere, unwahre Hirngespinst wird. D. von Henning hat alle Anlage, auf ähnliche, noch mehr abgelegene Irrwege zu gerathen; doch hat er auch Fähigkeit, sich mit sinnlichen Dingen fruchtbar zu beschäftigen, sie sicher zu beobachten und zu ordnen, und dabei wollen wir ihn erhalten. Er hat sich sehr gern bestimmen lassen, ein Compendium Ihrer Farbenlehre zum öffentlichen Vortrage auszuarbeiten, und diesen Vortrag im künftigen Sommersemester hier auf der Universität zu halten. Ein Zimmer in dem Locale, welches Professor Tralles, der Widersacher, verläßt, wird dazu hergerichtet; den Apparat anzuschaffen, wird hoffentlich bis dahin noch Zeit genug sein. Von Henning wird sich deshalb auch an Sie wenden, in Hoffnung, daß Sie uns gern dabei behilflich sein wollen.

Schubarth's Gegenwart bei unseren Sitzungen war bisher meistens passiv, weil ihm die Sache am wenigsten bekannt war; doch denke ich, er hat seine eignen Gedanken gehabt, wo nicht über den Gegenstand, so über unser Treiben.

CC-BY-NC-SA-4.0

Editionstext kann unter der Lizenz „Creative Commons Attribution Non Commercial Share Alike 4.0 International“ genutzt werden.


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 31. Dezember 1821. C. L. F. Schultz an Goethe (Konzept, nicht abgesandt?). Z_1821-12-31_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-16B5-D