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Nachdem Ernst Schubarth fünf Tage vom 24. September bis den 28. incl. hier geblieben, ist derselbe in seine Heimath zurückgekehrt. Hierüber nun kürzlich Folgendes.

Da mir seine Ankunft gemeldet war, faßt ich den Vorsatz, ihn eine Zeitlang bey mir zu behalten, um mit ihm durchaus in's Reine zu kommen; welches so-[275]viel heißt, als: zu untersuchen, worin man völlig mit einander übereinstimmt, was für Differenzen ausgleichbar seyen, und welche Eigenheiten einer dem andern zugestehn müsse. Allein die Art seiner Reise und die Nothwendigkeit, wegen Familienangelegenheiten bald wieder zu Hause zu seyn, machten diesen Vorsatz rückgängig. Sein Bruder, der einen Feldzug mitgemacht und sich gegenwärtig der Landwirtschaft widmet, hat ihn in einem leichten eigenen Fuhrwerk hergebracht, und so mußte man sie beide bald und zu gleicher Zeit wieder entlassen.

Es ist wirklich eine merkwürdige Erscheinung, soviel Zartheit und Festigkeit vereinigt zu sehen. Erzählt er die Geschichte seiner Bildung, so ist zu bewundern, wie er seine Lehrer alle kennt und, von dem steifsten Pedanten bis zum Ultraliberalen, von einem jeden gelernt, das ihm Gemäße aufzunehmen gewußt. Zugleich schilderte er seine Lage in Breslau; sie ist unbequem und würde es vielleicht gegenwärtig in jeder großen Stadt seyn; aber nöthig ist ihm, unter Menschen zu kommen, denn jetzt hat er kein Gespräch, wenn er nicht von dem spricht, was ihn interessirt.

Was ihm gegenwärtig am allervortheilhaftesten wäre, wie er es auch recht gut begriff, würde eine Anstellung seyn, wo er nach Zwecken, die er selbst kennt und billigt, humanen, ästhetischen, wissenschaftlichen, religiosen, pädagogischen, unter Anleitung und[276]Befehl einsichtiger Männer wirken müßte, damit er sehe, inwiefern unsere guten Vorsätze in's Leben eingreifen, Förderung und Hindernisse finden. Dieses hielt' ich für günstiger als eine Reise, wo er doch nur immer sich selbst suchen und finden würde; vielleicht trifft auch dieses gerade mit der Möglichkeit einer Versorgung zusammen. Sein Äußeres ist zart und gefällig, er drückt sich gut aus. Daß er bey schwachem Gesicht eine Brille trägt, mußte ich ihm erst in Betrachtung seiner übrigen Vorzüge verzeihen, denn ich bin von diesen Glasaugen, hinter denen man die natürlichen aufsuchen muß, ein großer Feind.

Doch dieß war bald und gern beseitigt. Verwundersam erschien die Congruenz dieses jungen Mannes mit sich selbst. Aus einem Mittelpuncte, wo er seine sämmtlichen Menschenkräfte gar einig beysammenhält, geht er aus nach allen Seiten, betrachtet, erfaßt, beurtheilt alles aus seinem Standpunct, den man nicht beschränkt nennen darf, obgleich ein Individuum daselbst verharrt. Mehr darüber zu sagen verbietet mir der Drang des Augenblicks. Nur soviel sag ich, es war mir seltsam genug, vierundzwanzig Jahre gegen zweyundsiebzig antreten zu sehen, ohne daß eine Differenz sich gezeigt hätte, die ich nicht selbst zu seinen Gunsten sogleich hätte auflösen mögen.

Alles würde Ihnen, mein Theuerster, in wenigen[277]Tagen des Umgangs deutlicher werden, als ich mit diesen und andern Abstractionen annähern kann.

Nun aber muß ich zum Schlusse dringend bitten, daß Sie Ihren Blick auf die physiologen Farben neuerlichst wenden; denn Sie sagen ganz richtig: "nun ist es freylich Zeit, die Sache in's Ganze zu überarbeiten und die einzelnen Theile der Lehre in sich so zu ründen, daß sie in ihrem einfachen Grunde fest zusammen schließen."

Ihre Untersuchungen sind Anfang und Ende des Ganzen, Sie gründen das, was ich voraussetze, und erfüllen, was ich hoffen lasse.

Die physischen Farben erhalten auch durch das Entoptische eine unglaubliche Vollendung. Es ist, als wenn sich nach diesem Schlußstein das Gewölbe erst recht setzen wollte. Freylich, daß ich gar niemand neben mir habe, der an diesen Sachen eigentlich gründlichen Antheil nimmt, läßt mich öfter zaudern und stocken, als es bey lebendigem Umgange geschehen würde, doch wollen wir den Glauben nicht verlieren, da es an Muth nicht fehlt. Tausend Lebewohl! Auf die übrigen Puncte Ihres werthen Schreibens nächstens das Weitere. Meyer bereitet sich zur Abreise. Mögen unsere allseitigen Zwecke erreicht werden!

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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 1. Oktober 1820. Goethe an C. L. F. Schultz. Z_1820-10-01_c.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-1312-8