[184][...] Seitdem Sie mich in Weimar mit Ihren Sammlungen bekannt machten, wo ich in jedem Augenblick einsah, wie viel ich zu thun habe, um Sie verstehen zu können, ließ es mich nicht länger ruhen; sollte diese mächtige Anregung ohne Erfolg vorüber gehen? Ich wußte wohl, daß ich für Sie keinen Werth haben konnte, als durch meine kleinen optischen Arbeiten; deshalb that ich mir Gewalt an, zu verbergen, wie viel mehr mich alles Andere beschäftigte. Mir selbst überlassen, habe ich aber nichts eifriger thun können, als Ihren mir in mancherlei Richtungen so liebevoll offenbarten Spuren nachzugehen, und ich rühme mich der erfreulichsten Fortschritte. Nun habe ich einen Grund gelegt, auf dem ich mein Lebelang weiter fortgehen kann; Ihre Propyläen kommen nicht von meinem Tische, und ich verstehe sie täglich besser. Höchlich erfreute mich der köstliche Aufsatz in einem der letzten Bände Ihrer Werke, über Nachahmung, Manier und Stil; warum haben Sie den uns so lange vorenthalten?

Sie sehen wohl, daß ich gestehen muß, mich in diesem Jahre mit der Optik weniger beschäftigt zu haben, als ich versprochen und mir vorgesetzt hatte; oft erinnerte ich mich daran als an eine übernommene Verpflichtung; zuletzt wandte sich mein Bestreben, wie unwillkürlich, zum Entwurf einer Theorie der Harmonie der Farben in der Malerei. Daß im physiologen Verhältnisse: Licht = Nähe, Schatten = Ferne, gibt den leitenden Grundsatz, woraus Sie ungefähr erkennen, wohin ich will. Doch bin ich meinem vorjährigen Bemühen nicht untreu geworden, obwohl nur langsamer vorgeschritten. Ich rechnete auf Ihre Gegenwart, und hoffte gewiß durch Seebeck ganz zur Optik zurückgeführt zu werden. Aber es sollte anders sein; Seebeck habe ich nur wenig vor meiner Abreise gesehen, weil ich damals in Potsdam wohnte. [...]

[...]

Wenn Sie nur sich ganz wieder hergestellt haben, dürfen wir [185] noch hoffen, Sie in Berlin zu sehen? Ich frage mit Zagen; denn in dieser Entfernung weiß ich mir von den Umständen kein sicheres Bild zu machen; und doch - sagten Sie nur einmal ja, wie würde ich eilen, wie gewiß wollte ich es auf eine oder die andere Art so einrichten, daß Sie gern bei uns wären! Soll ich Sie abholen und zu uns führen? Mein Plan ist bald gemacht und ausgeführt; ich traue mir schon etwas zu: denn meine Gesundheit ist befestigt; wäre es doch auch die Ihrige!

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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 9. September 1818. C. L. F. Schultz an Goethe. Z_1818-09-09_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-0E91-F