Wir begrüßten nun zunächst unsere neuen Kartellbrüder, die es bereits zu einem Banner gebracht hatten, woran bei uns noch lange nicht zu denken war, und [42]zogen dann zusammen singend nach Säckingen. Beim Mittagessen wurden die nötigen offiziellen Reden ausgetauscht. Seinen Gipfelpunkt aber erreichte der Tag erst in Stein, wo zur gegenseitigen Ehrung die nötigen Salamander gerieben wurden. Im Salamanderreiben waren wir nämlich auf der Höhe. Darin übten wir uns oft, und ein „Nachklappen" gab es bei uns nicht. Was nach dem Salamander noch ging, weiß ich nicht mehr: denn mir wurde wind und weh. Ich mußte ins Freie. Ich spazierte im Städtchen umher und verpaßte nicht nur den Abschied von der „Industria“, sondern auch den Zug, der die „Basilea“ davontrug. Nun war das allerdings nicht der letzte Zug; aber – mein Geldbeutel gähnte mir wieder einmal fürchterlich leer entgegen, und meine Fahrkarte hatte der Quästor Flott in der Tasche. Ich half mir, indem ich am Bahnschalter meine mehr durch ihr ehrwürdiges Alter als ihre Ansehnlichkeit sich auszeichnende silberne Taschenuhr versetzte.

Nach Hause kamen wir immer, wenn auch oft auf wunderbaren Wegen. Am wunderbarsten waren sie allerdings, als wir einst im „Kreuz“ zu Mariastein zu lange sitzen geblieben waren. Wir hatten dort einen Rotwein getrunken, den die Wirtin „Afrikaner“ oder auch bloß „Afrique“ nannte, und waren dabei kreuzfidel geworden. Als die Wogen am höchsten gingen, setzten sich zwei alte grauhaarige Mannen zu uns, der eine in einer blauen, der andere in einer grauen Bluse. Der Blaue erhob sich, stellte sich als Gemeindepräsident von Hofstetten vor und hielt uns eine wohlgesetzte Rede. Nachdem er auf unser Wohl getrunken, ersuchte er uns, das „Gaudeamus“" zu singen. Wir willfahrtem seinem Wunsche und hörten zu unserem Erstaunen, daß er kräftig mitsang. Er war nämlich, wie er uns nachher mitteilte, Schüler des Basler Gymnasiums gewesen, ein Grund [43]mehr für uns, unsere Sitzung um unsern „Afrikaner“ und den Gemeindepyräsidenten herum auszudehnen. Endlich aber entwischte uns der Präsident, und nun wurden wir erst recht auf seinen Mitbürger in der grauen Bluse aufmerksam. Der sang weder das „Gaudeamus" mit uns, noch hielt er eine Rede; doch hatte er darum nicht weniger Freude an den lustigen „Studenten“ und lud uns zu sich nach Hause, nach Hofstetten ein. Wer hätte einer solchen Einladung widerstehen können? Wir auf alle Fälle nicht!

Sein Wein enttäuschte uns allerdings schwer; denn er war miserabel, und da wir allmählich inne wurden, daß unser graubebluster Gastgeber einen Mordsrausch hatte und seine Frau im Nebenzimmer heulte, schlichen wir davon und suchten den Gemeindepräsidenten auf, von dem man uns erzählt hatte, daß er eine Wirtschaft betreibe. Wir fanden ihn auch glücklicherweise und sezten den Jubeltag bis in die späten Nachmittagsstunden fort, bis es uns dünken wollte, wenn wir nur eine Fahrgelegenheit nach Basel hätten. Da teilte uns zu unserer unbeschreiblichen Freude die Wirtstochter mit, der Bierwagen der Aktienbrauerei Basel komme noch diesen Abend bei ihnen vorbei, um ein paar leere Fäßchen mitzunehmen, sie wolle den Fuhrmann ersuchen, uns nach Basel mitfahren zu lassen. Der Wagen kam. Fröhlich nahmen wir auf den leeren Fäßchen Platz, brachten ein Hoch aus auf den Gemeindepräsidenten und seine ganze Dynastie und fuhren unter den Klängen des „Gaudeamus" talwärts in die herniedersinkende Dämmerung

Unglücklicherweise hatte der Wagen aber nicht nur in Hofstetten leere Bierfässer abzuholen. Wo auch immer erleuchtete Fenster eine Wirtschaft ahnen ließen, hielt der Fuhrmann an und lud Fässer auf, genehmigte dann seinen Freischoppen mit aller Seelenruhe und ließ [44]die Gäule samt „Basilea“ allein in der Nacht zurück. Die Ladung Bierfässer stieg auf dem umzäunten Pritschenwagen höher und höher wie eine rüttelnde, schüttelnde, polternde, hölzerne Sintflut, und mit der Flut stiegen auch wir höher. Als wir in Binningen beim letzten Wirtshause abfuhren, war der Wagen zu einem fahrenden Bierfaßgebirge geworden, auf dessen Grat hoch oben sich die „Basilea“, mehr tot als lebendig, an den Rändern der Fässer hielt und ängstlich in die gähnende Tiefe blickte. Endlich, beim Margarethenstich, mußte der Führer in die Gundeldingerstraße einschwenken und half uns vom Wagen herunter. Wir waren erlöst.

Von diesem Tage an hatten wir eine gewisse Vorliebe für Hofstetten, und nach kurzer Frist führte uns diese Vorliebe von neuem zu unserm Unikum von einem Gemeindepräsidenten. Diesmal – und das verlieh diesem Bummel sein besonderes Gepräge – kam Phylax mit.

Phylax war während einiger Zeit unser Konkneipant. Er stand als solcher nicht allein. Schon bei meinem Eintritt hatte ich zwei Konkneipanten (junge „Schwünge", die nicht aktiv werden konnten) mit Namen Merkur und Schnok, vorgefunden, zwei herzensgute, fröhliche Kumpane. Aber so etwas wie Phylax, das blieb den Zeiten der hereinbrechenden Götterdämmerung vorbehalten. Über ihn ließe sich ein Buch schreiben. Er hatte ein bleiches, aufgedunsenes Bybeligesicht, ausdruckslose wasserblaue Augen, dünnes, bis zur Farblosigkeit blondes, immer schwer pommadisiertes Haar und war in Villingen heimatberechtigt. Seinen Kropf versuchte er hinter einem Celluloidstehkragen zu verbergen, und seine Plasstronkrawatte war beständig so weit verrutscht, daß ein braunschwarz gewordenes Jägerhemd etwas Aussicht genießen konnte. Im Nacken [45]hatte er jahraus, jahrein eine kleinere oder größere bepflasterte „Aisse", konnte infolgedessen den Kopf nicht bewegen und schnitt ein Gesicht, als ob er am Galgen hinge. Sein Anzug war Sonntags und Werktags der gleiche. Im Sommer schwitzte er und im Winter fror er darin. Hatten sich die Hosen unten abgestoßen, so schnitt er die Fransen wieder ab. Dadurch erhielten sie mit der Zeit das Aussehen des Abgesägtseins. Zwei Dinge fehlten bei seinem Auftreten nie: ein paar viel zu weite Manschetten, die er am Rande immer mit den Fingern zurückhalten mußte, damit er sie nicht verlor, und Glassehandschuhe von einem undefinierbaren Braun, die er in der linken Hand trug, ohne sie je anzuziehen. Das Haupt zierte ein grüner Lodenhut mit Gamsbartl und die Füße ein paar krummgetretene Stiefel. Seine hohe Stimme gurgelte wie aus einem verschleimten Kehlkopf. Ob und was Phylax arbeitete, das wußte kein Mensch. Man konnte ihn zu jeder Tagesstunde in den Straßen treffen. Wo er aß und pernokttierte, davon hatte ebenfalls keiner von uns eine Ahnung. Eines aber wußten wir, daß er nicht im Gelde schwamm, und das war eigentlich der einzige Berührungspunkt zwischen ihm und der „Basilea“. Um uns zu imponieren, sprach er zwar viel von Schiller; aber gelesen hatte er ihn nicht. Ob er wirklich so dumm war, wie er aussah, konnte ich nie ergründen. Anders als bescheiden sah ich ihn nur einmal. Das war vor seinem Wegzug von Basel. Da kam er in einem nagelneuen Anzug und bezahlte uns ein Faß Bier. Er spielte den Großartigen und klimperte vor unseren Augen mit Zwanzigmarkstücken. Auf dem Heimwege von der Kneipe rächte er sich an mir für all die Schnödigkeiten, die ich ihm im Laufe der Zeit an den Kopf geworfen hatte, indem er mir ins Gesicht schrie:

„Aber gelt, moi Bier hasch gsoffe heut Abend!“

[46]

Dieser Phylax spazierte also eines Tages mit uns über den Blauen nach Hofstetten, und da er – es war im Hochsommer - Durst hatte und den Wein nicht vertrug, so konnte es nicht ausbleiben, daß er bald einen bedenklichen Hieb offenbarte. Unter dem Einfluß des Alkohols — der Himmel möge mir diesen in Mißkredit gekommenen Ausdruck verzeihen! ~ zeigt man der Mitwelt Charaktereigenschaften, die man sonst ängst- lich verbirgt. Eine solche Charaktereigenschaft zu verbergen hatte auch unser Phylax. Er war nämlich ein schrecklich liebebedürftiger Kerl und zwar wahllos liebebedürftig. Das Ewigweibliche bewunderte er noch in der häßlichssten Stallmagd, aber sichtbar oder hörbar eben nur dann, wenn er gekneipt hatte. Nüchtern machte er im Gegenteil stark in Moral. Phylax war also nicht mehr nüchtern, als wir uns in Hofstetten auf den Heim- weg machten, wenn man ihm auch am Gange nicht das Geringste anmerkte ; denn er blieb aufrecht wie der echte, trinkfeste Teutone. Aber jedes weibliche Wesen, dem wir begegneten, wollte er küssen, und wir begegneten nicht wenigen, da die Feldarbeit eben zu Ende war. Einige der bäuerlichen Feen begnügten sich damit, ihm durchzubrennen, wenn er mit offenen Armen auf sie losstürzte, andere applizierten ihm eine mehr oder weniger saftige Ohrfeige und wieder andere genossen den ausgiebigen Schutz männlicher Begleiter. Und bei jeder Begegnung hatten wir unser erneutes Vergnügen, sanken vor Lachen in die Knie und wälzten uns am Straßenbord. In der Nähe von Flüh verloren wir ihn. Er war zwei Mädchen übers Feld nachgerannt, und seine Rückkehr hatte uns zu lange gedauert.

Ein Unglück ist ihm nicht zugestoßen; denn ich traf ihn am nächsten Tage wieder gesund und munter. Als ich ihn über den Verlauf seines Abenteuers befragte, éniff er geheimnisvoll ein Auge zu und schwieg.

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Durch die Ausflüge in corpore wurde jedoch mein Wandertrieb natürlich noch lange nicht gestillt. Sobald die Sonne lachte und mir die Schule kein Hindernis in den Weg legte, streifte ich durch Feld und Wald, über Tal und Hügel, hinaus, hinaus mit dem brennenden Wunsche, mich mit der Erde verbunden zu fühlen, aufzugehen in der Wärme, im Leuchten, im Grünen und Blühen der großen, schönen, lachenden Welt, entweder allein, singend und jauchzend, verstohlen Blätter und Blüten küssend, oder mit Pollux, schwärmend, Unsinn schwatzend.

Pollux, ein Deutscher, hatte es verstanden, mich dem Einflusse meines Leibburschen Topf, der mit der geistigen Beweglichkeit des Baslers damals welschen Kulturgütern und welsschen Mädchen huldigte, zu entziehen und mich für das Teutonentum zu gewinnen. Wir sangen zusammen im Walde „Alt Heidelberg, du feine", und „Burschen heraus!“ Und dazwischen erzählte mir Pollux von den deutschen Burschenschaften, von den deutschen Universitäten, von den Einigkeitsbestrebungen in der deutschen Geschichte und vom Glanz und von der Größe Deutschlands. Wenn er ins Feuer kam, dann übertrieb er gewaltig, und ich war mein Leben lang zu kritisch veranlagt, um ihm alles zu glauben. Ich zog von seinen Behauptungen vielleicht mehr ab, als der Wahrheit zuliebe nötig war; aber nur im Stillen. Merken ließ ich ihn nichts, um mir die Freude an seinen Übertreibungen nicht zu verderben. Pollux war selig, in mir einen Jünger gefunden zu haben, und ich ließ ihn in seiner Seligkeit schwimmen. So wandelten wir durch Feld und Wald im leuchtenden Grün des Frühlings, durch die Glut des Sommers, im Rauschen der fallenden Blätter und über das weiße Bahrtuch der erstarrten Erde. An seiner Seite lernte ich die Schönheit des unbedeutendsten Erdenflecks kennen und [48]lieben, und wenn ich ihm nur das zu verdanken hätte, es wäre wahrhaftig genug.

Wir landeten immer im gleichen Wirtshaus, ließen bei schönem Wetter im Garten die Sonne im flüssigen Gold unseres Weines funkeln oder saßen, besonders im Winter, im Nebenstübchen und schwatzten uns die Köpfe voll. Und brach dann der frühe Abend herein, so kamen die drei Töchter der Wirtin mit den Spinnrocken und sangen zum surrenden Rädchen „O Blüemli my" und „Wie heißt König Ringhangs Töchterlein? Rothraut, schön Rothraut !“ Leise wob die Nacht ihre Schleier um Haus und Garten und Dorf, hüllte uns ein im traulichen Raum und ward schuld daran, daß Lied und Geflüster und Lachen und goldener Markgräfler uns so heimelig, so warm umrieselten, daß der Schluß zu Polluxens Freude immer echt teutonisch war. Es erging uns jedesmal wie dem ehrenwerten Ritter Spazzo, als er zuviel Klosterwein getrunken hatte, immerhin nur punkto Kopfweh.

Es kam aber auch für mich die Zeit, da ich die Gesellschaft mied: die Zeit der ersten Liebe und zwar der ersten unglücklichen Liebe. Auch sie gehört hieher; denn sie galt natürlich der Schwester eines Komilitonen.

Außer der glücklichen ist jedenfalls die unglückliche Liebe das Stimmungsvollste, was es gibt. Auf der einen Seite die wunderbare, heiße, süße Sehnsucht, das Stammeln der Liebe in Worten und Briefen, Prosa und Poesie, auf der andern das mitleidende Versagen, des Trostes warmes Küssen! Der Gedanke an die Eine war mein Morgen- nnd Abendgebet, aus jedem Kegelschnitt, aus jedem Lehrsatz, aus jeder chemischen Formel leuchteten mir ihre großen Augen entgegen, und in der Nacht erfüllte sie mein Traumleben mit der Weichheit ihrer Formen und Bewegungen. War ich an ihrer Seite, so schien mir alles in Glanz und Sonne getaucht, [49] der Himmel war blauer, der Wald grüner und der Gesang der Vögel schöner, und ohne sie war mir alles Nacht und Grauen. Ich war nicht mehr, aber auch nicht weniger verrückt, als alle verliebten Jünglinge bis zu Adam oder noch höher hinauf, lebte aber der felsenfesten Überzeugung, daß so, wie ich, noch kein Mensch geliebt habe.

Mein Fiasko war von Anfang an besiegelt, und doch schleppte mich die Hoffnung zwei Jahre lang hinter der Angebeteten her, trug mich auf den Berg des Glücks und warf mich ins Tal der Schmerzen, bis ich endlich wagte, die verhängnisvolle Frage zu srtellen. Es kam wie ich befürchtet hatte. Da schloß ich mich in mein Zimmerchen ein, schrieb ihr einen langen Abschiedsbrief, markierte mit nassen Fingern einige Tränen darauf und wünschte ihr zum Schlusse, daß sie so glücklich werde, wie ich unglücklich sei. Dann aber war's überstanden!

Aber nicht nur in dieser Schülerliebe trat der Ernst in seiner ganzen nackten Härte in mein Leben. Ihr folgte der Tod eines Kameraden, der Tod Strupps. Hier überrannte aber der Schreck den Schmerz. Zum ersten Male sah ich dem Tod ins grauenhafte Antlitz, und ich hatte bei der Furcht vor ihm, die mich umkrallte, für die Lücke in meinem Herzen zunächst kein Verständnis. Erst allmählich kam das Empfinden dafür, was ich verloren, verließ mich aber dann nie mehr. Noch heute, wenn ich zurückkehre in jene Zeit, taucht Strupps Beethovenkopf neben mir auf, und in stillen, einsamen Stunden sprudelt mir seine naive Lebensfreude entgegen oder sein Schatten sitzt vor mir am Klavier und spielt mir das Vorspiel zum „Tannhäuser“. Mit ihm schied mein erster Freund. Viele sind ihm seither nachgefolgt. Mit jedem versank ein Stück grüner Jugendwelt. So werden wir mit jedem Sterben verlassener, [50]bis wir des Lebens Wanderschaft beschließen auf des Berges eisgekröntem Gipfel, allein mit unsern letzten Atemzügen, aber auch dem Himmel nahe.

Es war erst nach der Bestattung, als ich die Kluft in meinem Innern zu fühlen begann. Die Bestattung selbst war mir lange in unangenehmer Erinnerung wegen gewisser eigener innerer Erlebnisse. Ich fühlte nämlich das Bedürfnis in mir, eine pompöse Rolle zu spielen, und nahm mir ernsthaft vor, am Grabe zu zeigen, wie ein Stern erster Größe trauert. Aber angesichts des versinkenden Sarges, als die Erde auf dem Deckel niederrollte, da war's mit meiner Pose aus, und durch die zuckenden, feuchten Wimpern sah ich nur noch die Grube, die meinen Freund verschlungen hatte.

Die „Basilea“ hatte einen Kranz gestiftet mit seidener Schleife in den Farben der Verbindung. Nach der Bestattung suchten wir unser Lokal auf, um den Verstorbenen durch einen Totensalamander zu ehren. Die Tochter des Wirtes sah, wie wir die Fensterläden schlossen, damit unser Lokal in Nacht getaucht würde, und wünschte zu wissen, was wir zu tun beabsichtigten. Man erklärte ihr die Institution des Totensalamanders, und da bat sie uns, zum Zerschlagen doch alte Gläser zu nehmen. Sie habe eine ansehnliche Kollektion von Gläsern mit beschädigtem Rande oder mit Rissen. Wir sollten diese benützen, damit uns die Sache billiger käme. Wir gingen bereitwillig auf den Vorschlag ein, und die Kellnerin brachte uns die nötige Anzahl der mit Bier gefüllten Glasinvaliden. Dann wurde der Raum geschlossen. Topf, der nach dem Übertritt Polluxens an die Universität das Präsidium übernommen hatte, kommandierte mit fester Stimme:

»Exercitium Salamandris in memoriam amici nostri Struppi fiat! – Salamander – – eins – – zwei – – drei – – er! – – – – – Salamander [51] – – eins – – zwei – – drei – – eins –zwei – – – drei!“

Auf das letzte „drei" wurden die leeren Gläser rückwärts an die Wand geworfen. Dabei duckte ich mich unwillkürlich, weil ich befürchtete, es könnte mir irgend eines infolge eines ungeschickten Wurfs an den Kopf fliegen.

Stolz wie Könige verließen wir den Schauplatz.

Mit der „Basilea“ ging es abwärts. Strupp war gestorben, Pollux und Topf an die Universität, Rueß und X an das Polytechnikum übergesiedelt, Flott trat aus der Schule aus, Kauz widmete sich nach absolviertem Maturitätsexamen dem Handel. Wohl waren im Laufe der Zeit zwei neue Füchse eingetreten: Frosch und x. Aber die machten das Kraut nicht fett, abgesehen davon, daß beiden die begeisterte Hingabe an die hehren Ziele der Verbindung fehlte. Frosch nahm die Sache viel zu wenig ernst; er war die verkörperte Ironie und sein überlegenes Lächeln konnte einen zur Verzweiflung bringen. x war ein großer Mathematiker, aber ein unzuverlässiges Mitglied. Ich war — faute de mieux! — Präsident geworden und besschleunigte als solcher das Verhängnis.

Eines Abends waren wir wieder zusammen und sangen auf Mord und Brand: „Es hatten drei Gessellen ein fein Kollegium“. Da meinte r, das Kollegium sei ja recht fein, aber die Umgebung gehe in die Brüche. Die Draperien und die Wappenschilder seien verstaubte Fetzen, die Rapiere verrostet und der Gips-Schiller kaput. Er beantrage, die Verbindung an den Nagel zu hängen und die Kasse zu versaufen. Frosch, der neue Quästor, machte rasch im Kopf einen Überschlag und konstatierte, daß unser Verbindungsvermögen gerade noch für ein Fäßchen Bier von zwanzig Litern ausreiche. Der Vorschlag wurde angenommen und an [52] einem Samstag Abend saß das „feine Kollegium" um ein Faß Bier, das der Bequemlichkeit wegen vor uns auf den Tisch gestellt worden war und sang noch einmal all die schönen Lieder von der „alten Burschenherrlichkeit’. Und als das Faß zur Neige ging, schloß ich die Sitzung mit einer Grabrede, die in Würdigung unserer Bedeutung in Leuthold’s Worte ausklang:

Und bei Posaunenstößen, Die eitel Wind, Laßt uns lachen über Größen, Die keine sind!

[54]

Roßwiler Geschichten.

[55]

Der Bauherr.

Wenn es einem an allen Ecken und Enden zu wohl ist und man über genügend Kleingeld verfügt (oder auch nicht), so baut man ein Haus und wird „Bauherr“. Es gibt Leute, denen ich alles Schlechte wünsche; aber daß sie ein Haus bauen müssen, das wünsche ich ihnen nicht. Warum? ~ Ich habe nämlich ein Haus gebaut und weiß, was das heißt. Wäre ich nicht mein ganzes Leben lang Pessimist gewesen, mein Hausbau hätte mich dazu gemacht. Ein Hausbau ist halber leiblicher Tod, er überwiegt an Aerger den Äerger des ganzen Lebens eines Nichtbauherrn. Ein Stoiker kann kein Haus gebaut haben, sonst wäre er eben nachher kein Stoiker mehr. Seit mehr als zwanzig Iahren ist mir bekannt, daß die Menschheit außer mir und einigen Genies keinen Schuß Pulver mehr wert ist; aber die ganze Ausdehnung ihrer Schlechtigkeit nach Länge und Breite erfuhr ich erst beim Bau meines Hauses.

Zwar der Anfang war schön. Mit lieben Freunden ~ und wie lieb! — zusammen unternahm ich Ausflüge nach dem Orte meiner Sehnsucht, nach Roßwil. Das Gelände wurde besichtigt, jeder steigenden Lerche zugejubelt, die Nase in jede Blüte gesteckt. Schließlich kaufte ich einen Bauplatz an wundersamer Lage, am smaragdgrünen Hügel, über den die Wolkenschatten flogen wie meine Gedanken nach der fernen Traumheimat, der [56]übersät war mit tausend Tauperlen und umrauscht von der Frühlingshymne des nahen Waldes.

Picknicks wurden nun veranstaltet und die halbe Welt eingeladen zum Genießen der Aussicht. Ach, und erst die unterhaltenden Verhandlungen mit dem Architekten, das Durchgehen der Pläne, der Bauverträge! Da war der Vertrag mit dem Maurermeister, mit dem Zimmermeister, dem Gipser, dem Schreiner, demSchlosser, dem Spengler, dem Elektriker, dem Maler. „Der unterzeichnete Maurermeister verpflichtet sich“, „der Schlosser verflichtet sich", „der Maler verpflichtet sich“, kurz, alle Unternehmer verpflichteten sich zu etwas. Ich verstand nicht alles, wozu sie sich verpflichteten. Andererseits hatte der Bauherr fast in jedem Artikel der Verträge „das Recht", das und das zu tun oder nicht zu tun. So gehört sich's auch! Andere sollen sich verpflichten, und ich habe das Recht. Ich hatte lange genug unter der Umkehrung dieses einfachen Grundsatzes gelitten. Mein Architekt war ein Engel, und von den Unternehmern war einer liebenswürdiger und entgegenkommender als der andere. Alle meine Wünsche waren ihnen ebenso viele Befehle.

„Gewiß, das sollen Sie haben!" so hieß es bei jeder neuen Forderung.

„Glauben Sie, daß es teuer komme?“ fragte ich dann schüchtern.

„Nur keine Angst! Das mache ich gratis. Ich habe eine kolosssale Freude an Ihrem Hause. Das beste Material wird geliefert! Es muß etwas feines werden, Ihr Haus!"

Ach, was das reizende Menschen waren, diese Unternehmer! Sie ersstickten mich unter ihren Wohltaten.

Im Juli sollten laut den Verträgen die Arbeiten beginnen, im Oktober der Rohbau fertig und Ende März das Haus bezugsbereit sein. Diese Termine [57]einzuhalten „verpflichteten“ sich sämtliche Unternehmer, und ich hatte „das Recht“, am 1. April einzuziehen. Außer meinen bürgerlichen Rechten war dieses das einzige Recht, das mir je eingeräumt worden war. Sonst hatte ich mein Lebtag immer unrecht gehabt. Es war am 26. August, am Iahrestag der Schlacht bei St. Jakob an der Birs, als ich, statt nach St. Jakob zu „pilgern“, nach Roßwil fuhr, um zu sehen, wie sich der Bau anließ. Der Keller mußte jedenfalls schon ausgegraben und das Gerüste aufgerichtet sein. Wer weiß, vielleicht war der Keller schon ausgemauert oder am Ende schon das Parterregebälk gelegt? Mit dem Legen des Parterregebälkes begann nämlich eine neue Epoche bei meinem Hausbau: der Anfang meines Baukredites. Von diesem bedeutsamen Momente an konnte ich aus Papier Geld machen. Ich hatte meiner Bank dann nur noch zu schreiben: Zahlen Sie gegen diesen Scheck an die Ordre usw.! Das Scheckbuch trug ich immer bei mir, um es hie und da aus Versehen aus der Tasche zu ziehen, damit die Leute aufmerksam wurden und mich fragten, was das sei, worauf ich dann stolz erwidern konnte: „Ein Scheckbuch !" Ich fuhr also nach Roßwil und eilte nach meinem Bauplatze. Dort angelangt, schnürte sich mir das Herz zusammen. Hatte ich mich verirrt? War das denn nicht mein Bauplatz ? ~ Freilich war er's! Da stand der Apfelbaum, dessen Früchte die Bauernjugend schon unreif heruntergeschlagen hatte, der Kirschbaum, dessen Blusst erfroren war, und der Zwetsschgenbaum, dessen Zwetschgen wegen der andauernden Hitze herunterfielen. Die Bäume standen da, und aus ihnen ertönte das langweilige Gezwitsscher der ihre Brunsstzeit überstanden habenden Amseln. Aber kein menschliches Wesen war zu entdecken, kein ausgegrabener Keller, kein Gerüst, keine Mauer und kein Parterre-Gebälk! An diesem Nachmittage [58]des 26. August erhielt mein Glauben an die Menschheit den Todesstoß. Und noch etwas erhielt den Todesstoß: mein schöner Sonntagsstrohhut! In meiner Niedergeschlagenheit hatte ich nicht bemerkt, daß ein schweres Gewitter heraufgezogen war, und als mir die Tatsache zum Bewußtsein kam, prasselte schon ein Regen hernieder, der mich an meinem Hügel herunter ins Tal zu schwemmen drohte. Mein schöner Sonntagsstrohhut hing mir über die Ohren herunter, und meine Kleider waren durch und durch naß. So kam ich nach Hause, ein Bild des Jammers, ich, der Bauherr.

Am nächsten Morgen wappnete ich mich mit der ganzen Energie, die mich kennzeichnet, und eilte zum Architekten. Ohne Gruß schrie ich ihn an:

„Laut den Verträgen sollten die Arbeiten in Roßwil im Juli beginnen! Und jetzt ist Ende August und noch gar nichts gemacht! Wenn das so weiter geht, sind wir geschiedene Leute."

Er eilte ans Telephon und kurbelte. „Nummer 9999, bitte!“

Der Bauunternehmer stellte sich, und mein Architekt kapitelte ihm herunter, bis ich in Wonneschauern erbebte.

„So", wandte er sich dann wieder an mich, ,der hat genug! Morgen beginnt er. Ich werde ihn nun Tag für Tag kontrollieren. Seien Sie ohne Sorge! Das Haus wird zur Zeit fertig. Es langt noch largement bis zum ersten April.“

Mein Architekt war also doch ein Engel!

Bei einem weiteren Besuch in Roßwil fand ich wirklich etwas Lochähnliches auf meinem Bauplatz, und drum herum lagen einige Gestalten, neben sich die leere Bierflasche. Das war wenigstens ein Anfang!

Ein regnerischer Herbst hatte eingesetzt, und die bodenlosen Wege erschwerten die Zufuhr des Baumaterials. [59] Jeden Sonntag fuhr ich hinaus, um die Fortschritte zu konstatieren, und jeden Sonntag mußte ich bis über die Knöchel im Kot waten. Wer schon beim Regenwetter um einen Neubau herumspazierte, der kann meine Gefühle teilen, die ich bei meiner Heimkehr jeweilen empfand. Ich habe nicht wenige Bekannte, und alle traf ich auf meinem Heimwege.

„Heiliges Gewitter!“ hub der erste an, „wo hast du all den Dreck her an Schuhen und Hosen?“

„Ich baue,“ antwortete ich kleinlaut.

„Wo baust du ?"

„In Roßwil."

Es klang noch kleinlauter und löste bei meinen Bekannten ein dröhnendes Gelächter aus, das unverschämt durch die sonntagsstillen Gassen gellte.

„Wie kommst du nur in dieses Saunest?“

„Roßwil ein Saunest? Roßwil ist das schmuckste Dorf weit und breit!“

„Schmuck, ja! Aber rückständig, und die ganze Gemeindeverwaltung nur auf die Bedürfnisse der Bauern zugeschnitten! Du wirst deine heiligen Wunder noch erfahren! Adieu!“

Zum Tode erschrocken konnte ich mich nicht mehr vom Flecke rühren. Also Roßwil war rückständig. Und das hatte mir kein Mensch gesagt, bevor ich das Land kaufte. Alle hatten gerühmt und Roßwil in den Himmel erhoben, und nun war Roßwil –

„Salu, Alter! Wo kommst du her? Hast du ein Schlammbad genommen?"

Das war der zweite Bekannte. Ich sagte ihm ebenfalls, daß ich von Roßwil komme und daß ich baue. Dieser zweite Bekannte konnte lateinisch, was ich daraus schloß, daß er mir erwiderte :

„Quem Jupiter perdere vult dementat.“

[60]

Da ich ebenfalls lateinisch kann, verstand ich ihn und flüsterte tonlos:

„Und so geht's dreimal rum!"

Dann gab ich meinen Stillstand auf, trennte mich von ihm und traf —- na, ich traf also alle meine übrigen Bekannten. So erging es mir jeden Sonntag.

Ein Lichtblick in dieser Nacht meines Hausbaues war das Richtfest. Ein Tannenbäumchen mit bunten Bändchen wiegte sich auf dem Dachstuhle im Winde, und in der „Krone" in Roßwil wurde auf meine Kosten ein opulentes Nachtessen, bestehend aus Rauchwürsten und Kartoffelsalat, verzehrt. Dazu tranken die Arbeiter Bier und die Unternehmer, der Architekt und der Bauherr Wein. Der Architekt hielt eine schöne Rede und ließ den Bauherrn hoch leben. Ich blickte sschamhaft errötend vor mir nieder; denn so viel Gutes hatte noch kein Mensch von mir gesagt. Nachher sang ein italienischer Maurer ein sentimentales Lied mit fabelhaft schönen Koloraturen und einem Refrain, den alle mitgröhlen konnten, und zum Schlusse schlugen sich die Maurer und Zimmerleute die Köpfe voll.

Dieses Richtfest hatte anfangs Dezember stattgefunden, und nun sollten vor Eintritt der Kälte die Gipserarbeiten beginnen. Meine Kontrollbesuche mußten daher fortgesetzt werden. Bei einem solchen wollte auch meine Frau mitkommen. Sie hatte von Anfang an eine feindliche Position zu dem neuen Hause eingenommen.

„Nie in meinem Leben werde ich nach Roßwil ziehen! Geh’ du nur allein in deine Hütte!“ So hatte bis jetzt der Bericht gelautet. Endlich hatte die Neu- gierde, wie die „Hütte" wohl aussehen möge, über den Haß gegen meinen Neubau den Sieg davongetragen. Es war an einem düstern Regensonntag, als wir nach Roßwil ausrückten. Meine Stimmung war trostlos; [61]denn nach meinen bisherigen Erfahrungen mußte ich schließen, daß die Gipser noch nicht angefangen hatten. Kam aber die Kälte dazwischen, so war es mit meinem „Recht", am 1. April einzuziehen, aus, und dieser Gedanke quälte mich Tag und Nacht; denn meine Stadtwohnung war auf den 1. April an einen andern vermietet. In Roßwil regnete es natürlich mindestens in gleicher Güte wie in der Stadt, und wir, d. h. meine Frau, meine damals zweijährige Tochter und ich, wir zogen unter unendlichen Mühsalen zu unserm Neubau.

Es war so, wie mir geschwant hatte: die Gipser hatten noch nicht gegipst. Ich unterdrückte einen sprungbereiten Seufzer und begann, sorgsam auf Schutt und Holzlatten umherspazierend, meine Erklärung:

„Hier links ist die Küche. Da führst du das Regiment, meine Teuerste, und mir ist, als stiegen mir die Forellen-, Geflügel- und Bratendüfte deiner erhabenen Kochkunst schon in die Nase. Daneben die Speisekammer, dann ein kleiner Raum für Besen, Flaumer usw., hier das Klosett. Vor uns liegt die geräumige Diele. Diese Türe führt ins Eßzimmer und jene in den Salon, der hoffentlich nicht zu klein ist für den persischen Teppich, welchen ich dir zur silbernen Hochzeit einst schenken werde. Durch die dritte Türe ~ dort rechts + geht's ins Wohnzimmer. Schon hier, vom Parterre aus, hast du eine Aussicht, die ihresgleichen sucht. Heute ist sie allerdings verhängt durch Regenwolken. Aber wenn sich das lichtet, so glaubst du, einen Blick ins Paradies zu tun. Über dem Wohnzimmer, im ersten Stock, liegt mein Arbeitszimmer, das später einmal, wenn mein Onkel in Klondyke stirbt, hochmodern eingerichtet wird, über dem Salon das Kinderzimmer ~ ganz in weiß natürlich ~ und dann folgt von rechts nach links unser Schlafzimmer, das Badezimmer und das Gasstzimmer. Im Dachstock – [62]Hörst du nicht auch Schritte? –~ Komm, wir wollen hinauf! Vielleicht ist der Gipser oben.“

Keuchend stiegen wir die zu ihrem Schutze vor den Schuhen der Handwerker mit rohen Holzbrettern verkleideten Treppenstufen hinan, während meine Frau etwas von „Größenwahn“ murmelte. Oben angelangt, wollte ich eben meine Erklärungen wieder aufnehmen, als es über unsern Häuptern zu poltern begann. Das Gepolter nahm in einem kurzen und überaus heftigen Crescendo zu, und vor meinen Augen fiel inmitten einer Staubwolke aus dem Dachstock etwas Menschenähnliches herunter. Ich näherte mich der Gestalt, um mich nach ihrem Befinden zu erkundigen, als ich instinktiv die Augen schloß, weil mich noch eine dichtere Wolke einhüllte, während es wie Blei auf meinem Haupte lastete. Die Augen wieder öffnend, entdeckte ich, daß ich mindestens die Hälfte des Inhalts eines Zementsackes auf mir trug. Vor mir richtete sich jemand auf: es war mein Architekt.

„Entschuldigen Sie die Überraschung“, begann er, indem er Ellenbogen und Kniee rieb. „Ich machte soeben Kontrolle. Als ich Sie unten hörte, wollte ich die Leiter heruntersteigen, verfehlte den Tritt und riß einen offenen Zementsack mit, an dem ich mich halten wollte. Glücklicherweise hat's mir nichts geschadet.“

Das war also die Hauptsache am ganzen Vorfall, daß es ihm nichts geschadet hatte. Aber daß ich in Zement gehüllt war und aussah wie das Standbild meines zukünftigen Denkmals, das rührte ihn nicht. Ein Wunder, daß er seinem Zement nicht noch einen Kessel Wasser nachgesandt hatte, um von mir bei Lebzeiten einen Abguß zu nehmen. Während er Frau und Tochter begrüßte, schüttelte ich das Gröbsste ab; alles wegzubringen gelang mir nicht, da mir eine Bürste fehlte und der feine Staub sich auf meinem regenfeuchten [63]Hute und dito Mantel festgesezt hatte. Von weitem glich ich also immer noch einer wandelnden Sandsteinfigur, wie der Architekt behauptete.

Bei dieser Gelegenheit brachte ich meine Reklamation wegen des nicht begonnenen Gipsens an.

„Morgen werden die Gipserarbeiten in Angriff genommen“, bekam ich zur Antwort. „Seien Sie ohne Sorge! Bis zum 1. April ist das Haus fix und fertig."

Er kümmert sich also doch um mich, sagte ich mir, und stieg den anderen voran die holprige Treppe hinunter. Während ich mit dem Architekten im Keller noch etwas besichtigte, ging meine Frau mit der Tochter um’s Haus herum, um sich die Sache von außen anzusehen. Auf einmal brüllte meine Kleine, als ob sie am Messer steckte. Da mußte etwas Furchtbares geschehen sein! Hinauf und hinaus! Was wars ? Meine Tochter lag im Kalkloch! Verletzt war sie nicht. Nicht einmal aus der Nase blutete sie! Ich wagte einen leisen Vorwurf an die Adresse meiner Frau:

„Warum gibst du aber auch nicht besser acht auf das Kind?“

Da kam ich schön an. Ietzt müsse sie wieder schuld sein! Ob sie etwa das Haus gebaut habe? Erst baue man Häuser, ohne sie zu fragen und ohne etwas vom Bauen zu verstehen, ruiniere die Kleider, und zum Schlusse, wenn alles schief gehe, müsse sie die Suppe ausessen. Aber niemals ziehe sie nach Roßwil! Das gebe sie mir schriftlich.

In der „Krone“ wurden etwelche Reinigungsversuche gemacht, und dann zogen wir gebeugten Hauptes, wie von einem Begräbnis kommend, heimwärts.

Ich kam acht Tage später wieder nach Roßwil; aber von Gipserarbeiten war nichts zu sehen. Dann trat die Kälte ein, und erst jezt, als Stein und Bein gefroren war, begann die Gipserei. Nach dem Gipser [64]kam der Anschläger: das Gleiche in grün. Zum Austrocknen des Baues waren einige eiserne Ofen aufgestellt worden. Auf einem dieser Öfen kochte sich der Anschläger vom Morgen bis zum Abend Beefsteaks (der Himmel weiß, wo er das Fleisch her hatte) und trank zu den Beefsteaks Flaschenbier. Einmal, auf einer Überraschungstour, traf ich den Schreinermeister und seinen Gesellen in edler Eintracht sternhagelbesoffen in einem Zimmer schlafend. Für die zwei war die soziale Frage gelöst; aber angeschlagen wurde nichts. Wir waren im Januar, und am 1. April sollte ich einziehen! Grauen erfaßte mich. So konnte das nicht weiter gehen. Ich mußte mit meinem Architekten Fraktur reden. Zunächst teilte ich ihm meine Beobachtungen mit und richtete dann die für mich bedeutsame Frage an ihn:

„Wer entschädigt mich eigentlich, wenn ich am 1. April nicht einziehen kann?"

„Derjenige unter den Bauhandwerkern, der nachgewiesenermaßen die Verzögerung verschuldet hat“.

„Und wer hat sie verschuldet?“

„Das müßte erst noch eruiert werden. Übrigens: Seien Sie ohne Sorge! Am 1. April können Sie ~"

„Ich will Ihnen etwas sagen: Wenn's im gleichen Tempo weiter geht wie bis jetzt, kann ich nicht einmal über's Jahr einziehen!"

„Wo denken Sie hin, mein lieber Herr! Heute geht ein Chargé ab an den Schreinermeister, worin ich ihm androhe, daß wir ihn, wenn er in vierzehn Tagen nicht zu Ende komme, für allen Schaden haftbar erklären. Ist der Schreiner fertig, dann geht's rasch. Bodenleger, Tapezierer, Elektriker, Spengler, Schlosser und Maler: das ist eine Kleinigkeit. Am. 1. April können Sie einziehen. Seien Sie ohne Sorge."

Ich begann wieder zu hoffen, aber umsonst. Der [65]Schreiner war zwar mit dem Anschlagen bis Ende Februar fertig. Aber dann kamen sich Maler, Tapezierer und Bodenleger gegenseitig derart in die Quere und in die Haare, daß mir zu Mute wurde, als baute ich den Turm zu Babel. Einzig der Spengler, der Schlosser und der Elektriker arbeiteten, am sichtbarsten der Elektriker; denn so oft ich hinauskam, hingen zu allen Löchern Drähte heraus.

Der 1. April rückte näher und mein Haus war noch immer eine Höhle. Keine Tapeten, kein Inlaid, nichts geweißelt, nichts gemalt! Mein Möbelwagen war bestell. Da kam am Vorabend meines Auszuges mein Architekt zu mir und machte mir den Vorschlag, von Strohmayr in Konstanz ein Zelt kommen zu lassen, meine Möbel unter dieses Zelt zu stellen und im Gasthof zu logieren, bis das Haus fertig sei. „Hören Sie mal," entgegnete ich ihm, „wollen Sie mich eigentlich am Seil herunter lassen? Ich ziehe morgen in mein Haus und mache Sie verantwortlich für allen mir entstehenden Schaden. Haben Sie mich verstanden?"

Ich lief zu einem Advokaten, um mir guten Rat zu holen.

„Ja, haben Sie einen Vertrag mit dem Architekten?"

"Nein."

„Da ist Ihnen nicht zu helfen."

„Aber ich habe Verträge mit den Bauhandwerkern, worin sie mir den Bezug auf 1. April garantieren.“

„Das nützt Ihnen nichts ; denn keiner wird der Schuldige sein wollen. Da müßten Sie schon mit einem nach dem andern prozessieren, und schießlich würden Sie doch verlieren.“

Es blieb mir also nichts übrig, als die Faust im Sack zu machen und einzuziehen.

Der 1. April brach an, und es regnete natürlich in Strömen. Meine Frau hatte sich ins Unvermeidliche [66]geschickt, gleichzeitig aber doch noch behauptet, sie habe alles das vorausgesehen. Die Frauen sehen ja bekanntlich alles voraus! Nachdem der Möbelwagen geladen war, fuhren wir per Bahn nach Roßwil, und da machte ich eine neue unangenehme Entdeckung. Damit mir nichts erspart blieb, war die einzige Zufahrtsstraße zu meiner Liegenschaft am Morgen meines Auszuges aufgerissen worden zum Zwecke des Legens der Kanalisationsröhren.

Das war der Gipfel! Die ganze Welt hatte sich gegen mich verschworen! Ich mußte den Kelch leeren bis zur Neige! Ich donnerwetterte, ich fluchte wie ein Heide (ich weiß zwar nicht, wie die Heiden fluchen), ich verglich die Menschheit mit allen Tieren, die ich als zoologische Rückstände aus der Schule gerettet habe, und die Vergleiche fielen sehr zu Ungunsten der Menschheit aus! Ich holte mir auf der Gemeindekanzlei das Obligationenrecht und versuchte, den Verantwortlichen festzustellen! Ich brüllte die Erdarbeiter an, nannte den Parlier eine malacietta creanza, drohte dem Gemeindepräsidenten mit der „schwarzen Hand“, verlangte die Intervention der Regierung, des Bundesrates, des Bundesgerichts, die Pikettstellung zweier Bataillone Infanterie und einer Schwadron Dragoner! Aber alles nützte nichts. Die Straße blieb aufgerissen.

Als die Besinnung in mir zurückgekehrt war, ging ich zu meinem zukünftigen Nachbarn, der seinen Hof zwischen meinem Garten und der Landstraße hatte, und erbat von ihm die Erlaubnis, meine Möbel durch seinen Baumgarten transportieren zu dürfen. Ich erhielt nicht nur die Erlaubnis, sondern überdies seinen Pritschenwagen. Auf diesen wurden an der Landstraße die Möbel geladen, dann die Pferde angespannt, und im Galopp ging’s durch den besagten Baumgarten den Hügel hinan. Zehn solcher Fuhren hatte ich. Unterwegs [67]fiel dann gewöhnlich einiges ins nasse Gras. Ich ließ anhalten, laden, und weiter ging die wilde Jagd, bis wieder etwas herunterrutschte. Stühle und Tische verloren die Beine! Das Geschirr wurde zer- und die Spiegel eingeschlagen! Endlich war eingezogen, d. h. die Möbel lagen in unbeschreiblichem Wirrwarr auf den rohen Zementböden umher. Ich aber stand davor und dachte:

Hoffnungslos

Weicht der Mensch der Götterstärke,

Müßig sieht er seine Werke

Und bewundernd untergehn.

Durch meine Frau wurde ich aus meinen Gedanken aufgeschreckt.

„Es ist ja kein Kochherd in der Küche!“

„Ja so, der Kochherd! Den habe ich ganz vergessen.“

„Und so was nennt sich „Bauherr"!" hörte ich noch schimpfen und versank wieder in meine Gedanken. Bodenleger, Tapezierer und Maler hatten sich mittlerweile geeinigt. Der Bodenleger begann zuerst. Er bezeichnete mir jeweilen für den folgenden Tag das Zimmer, in welchem er arbeiten wollte und welches daher geräumt werden mußte. Er kam, schnitt das Inlaid zurecht und blieb wieder zwei Tage weg. Dann kam er wieder, befestigte das Inlaid und blieb wieder zwei Tage weg. In die Räume mit belegtem Boden zog der Maler und schließlich der Tapezierer. Jawohl, der Tapezierer ! Das Erste, was er tapezierte, war das Schlafzimmer. Ich hatte die teuerste Tapete in himmelblau ausgewählt. Ein himmelblaues Schlafzimmer ist sehr hübsch! Oder nicht? Das Schlafzimmer war also himmelblau tapeziert, und mit paradiesischem Wohlbehagen legte ich mich im ersten vollendeten Raume meines Hauses zur Ruhe.

[68]

Gegen morgen erwachte ich mit dem Gefühl, als ob mein Bauherrnhaupt von irgend etwas Knisterndem zugedeckt sei. Ich hob das knisternde Etwas mit der Hand empor: es war Papier. „Seltsam, bei Gott! Höchst wunderbar und seltsam!" Ich schaffte das Papier beiseite und drehte den Knopf des elektrischen Lichts. ~ Die ganze, schöne, himmelblaue Tapete war von den Wänden heruntergefallen und bedeckte die selig schlummernde Familie.

Was tun? – Der Architekt wurde hergezaubert, der Gipser und der Tapezierer wurden einvernommen, Expertisen fanden statt; aber nichts kam heraus dabei. Der Tapezierer behauptete, der Gipser habe toten Gips verwendet, der Gipser behauptete, der Tapezierer könne nicht tapezieren, und der Maler als Superexperte entschied, der Gips sei erfroren. Ob nun aber der Gips tot oder erfroren war, das half mir nichts. Den Wänden mußte eine besondere Behandlung zuteil werden, und die Kosten trug ich, der Bauherr.

Das war ein kleines, aufregendes Intermezzo. Als dann der Tapezierer endlich fort war, artete das Fertigstellen des Hauses in ein Idyll aus. Von Morgen bis Abend vergnügte sich ein Maler mit dem ersten, zweiten und dritten Anstrich, mit dem Masserieren, Marmorieren, Schablonieren und Dekorieren. Der Malermeister, dem die Arbeit übertragen war, beschäftigte sechzig Gesellen; aber bei mir malte die längste Zeit nur einer. Es sei besser so, meinte der, der erste Anstrich könne trocknen, bis der zweite komme, und der zweite bis der dritte komme. Er pinselte und pfiff und pfiff und pinselte, und fragte ich ihn, ob er noch nicht am dritten Anstrich sei, so erwiderte er:

„Nein, am ersten!"

Ich hatte mich an ihn gewöhnt, wie an ein Haustier. Er soff mir zwar meinen Wein, wie ich erst später [69]bemerkte; dafür wußte er aber Mittel, mit welchen man die Delfarbe aus den Kleidern entfernen konnte. Das war für mich wichtig; denn während dieser Anstreicherei trug ich alle Farben des Regenbogens an mir herum: ein .Aermel war grün, der andere rot, ein Hosenbein weiß, das andere gelb. Die einzige Abwechslung während der Woche war, daß die Aermel, die Hosenbeine und die Farben unter sich ebenfalls abwechselten.

Am Sonntag hatte ich wieder eine andere aparte Unterhaltung. Da die Umzäunung zu meinem Garten noch fehlte, füllte er sich jeden Sonntag einige Male mit Spaziergängern, die den „Neubau“ besichtigen wollten, und wenn ich behauptete, der „Neubau“ sei bewohnt, sie sollten sich zum Teufel scheren, so lachten sie mich noch aus, mich, den Bauherrn.

Am Abend vor dem eidgenössischen Dank-, Buß- und Bettag hatte der letzte Handwerker seine letzten „Pflichten“ erfüllt und ich das „Recht“, endlich allein zu sein. Schon früh erhoben wir uns am Sonntag Morgen, um nach der Kirche zu gehen und dort zu danken, zu büßen und zu beten. Während ich meinen Hochzeitszylinder bürstete, hörte ich Hammerschläge gegen die Haustüre. Ich trat hinaus und sah noch, wie mein Architekt wie der Wind davon stob. An der Haustüre aber hing ein Papierschild mit den vergißmeinnichtumrankten Worten: „Der Herr behüte deinen Eingang und deinen Ausgang.“

[70]

Mein Jagdstück.

Mein sogenannter ,sehnlichster“ Wunsch war erfüllt. Ich wohnte auf dem Lande und hatte einen Garten.

„Nun lebst du im Paradies,“ sagte ich mir. „Rechts von dir der an deinen Garten stoßende tiefgrüne Hochwald, vor dir im Tale das alte, erst wenig verschandelte Dörfchen und links die Aussicht in blauende Weiten. Am Morgen wecken dich die „Finken des Waldes“, und am Abend singt dir die Nachtigall das Schlaflied. Im Frühjahr öffnet sich mit den Knospen deines Gartens dein Herz der Pracht der Erde, und im Herbst klagt es mit dem Herdengeläute über entschwundene, schöne Tage.“

Und ich arbeitete in meinem Garten. Ich spatete, rechte, säte, setzte, düngte, jätete; - aber es wuchs nichts. Die Erbssenbeete blieben leer, die Bohnenkeimpflänzchen streckten die Köpfchen heraus und verschwanden wieder von der Bildfläche, vom Spinat kam nur der zehnte Teil, die Kohlköpfe entwickelten sich zu Krüppeln und zwar jeder Kopf zu einer besondern Spezialität, der Blumenkohl war ein stinkendes Gemengsel von faulen Blättern und Raupendreck. Nur das Unkraut wuchs. In meinem Garten gab es weit und breit die schönsten Exemplare von Löwenzahn, Vogelkraut, Steinklee, Hahnenfuß und Disteln. Ging jemand daran vorbei, so mußte [71]er unwillkürlich lachen. Ich aber verbarg mich. Ich hätte heulen mögen.

Endlich klagte ich einem Kenner mein Leid.

„Da wird nie etwas wachsen; denn das ist kein Garten, das ist ein Steinbruch. Lesen Sie erst einmal fleißig Steine heraus und misten Sie gehörig. Amzuträglichsten ist für diesen Boden der Stallmisst vom ersten, besten Bauern: Roß-, Kuh- und Schweinemist untereinander. Roßmist allein ist zu hitzig."

Ich befolgte den Rat, las Steine heraus, bis ich eine ganze Stadt hätte mit Schotter versehen können und spatete herrlich duftenden, echten Bauernmist hinein.

Aber es wuchs nichts, und ich wandte mich an einen zweiten Kenner.

„Das will ich glauben, daß nichts wächst. Die Erde ihres Gartens ist viel zu schwer. Da gehört Pferdemist hinein, Torfstreumist. Der macht den Boden leicht.“

Von einer Fuhrhalterei bekam ich einen mächtigen Wagen Pferdemist und hoffte, damit den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben.

Während ich ihn hinunterspatete, blieb ein dritter Kenner am Garten stehen und sah mir zu. Nach einer Weile bemerkte er:

„Ich gebe gar nichts auf den Stallmist. Kunstdünger ist das einzig Richtige! Nur mit Kunstdünger können Sie dem Boden Stickstoff, Phosphorsäure, Kali und Kalk im richtigen Verhältnis zuführen."

Ein abgrundtiefer Seufzer entwand sich meiner Brust, und ich kaufte bei einem Großbauern einige Säcke Thomasmehl, Chilisalpeter, Kalidüngsalz, Kainit und wie das Zeug alles heißt.

Aber es wuchs nichts oder wenigstens beinahe nichts, und als ein vierter Kenner seine Arme auf den Gartenzaun legte, brüllte ich zum Voraus:

[72]

„Machen Sie, daß Sie fortkommen! Ich habe alles probiert: gemischten Mist, Roßmist und Kunstdünger!“

„Ich will mich ja nicht aufdrängen! Aber Sie misten viel zu viel. Ihrem Garten tut nicht der Mist not, sondern das Ausrotten des Ungeziefers. Sehen Sie die Löcher überall im Boden? Das sind Mausselöcher. Sie haben den Garten voll von Mäusen. Und in jedem Beet erblicke ich Werrengänge. Es muß bei Ihnen wimmeln von Werren. Und die Erdflöhe und die Raupen, die Ihnen den ganzen Kohl zerfressen haben! Und da! Sehen Sie, wie sich dieser Kohlsetzling bewegt? Graben Sie nach! Da liegt ein Engerling darunter! Ihr Garten ist jedenfalls dick voll von Engerlingen!“

Ich machte die Probe auf's Exempel, und richtig, da lag ein fetter Engerling und krümmte sich vor Lachen. Aber das Lachen verging ihm, denn ich machte ihm den Garaus. Dieser vierte Kenner schien etwas zu verstehen, weshalb ich ihn um Entschuldigung bat wegen meines barsschen Wesens und ihn ersuchte, fortzufahren.

„Sehn Sie," fuhr er wirklich fort, „die Gärtnerei muß rationell betrieben werden. In erster Linie müssen Sie sich die einschlägige Literatur verschaffen und dann gründlich ans Werk gehen.“

Er diktierte mir die Titel einiger Gartenbücher. Meine „einschlägige Literatur“ wuchs bald auf ca. 100 Bände an, und in jedem Buche wurde etwas neues empfohlen. Ich probierte alle Bände durch, ging auf die Jagd nach allen möglichen Schädlingen und brachte es im fünften Jahre meines Gartenbesitzes zu einigen Kocheten Erbsen, Bohnen, Wirsing und Rotkraut. Da kam mir ein neuer Feind ins Gehege.

Als ich eines Abends für meinen Haushalt Erbsen holen wollte, waren eine Menge Schoten aufgepickt oder aufgebissen und der Inhalt gefressen. Stracks wandte ich mich an den mit den Feinden der Gartenkultur vertrauten [73]Kenner Nr. 4 und zeigte ihm einige leere Hülsen.

„Da ist guter Rat teuer," lautete die Antwort. „Aber auf alle Fälle war's ein Vogel. Sehn Sie, die Vögel, das ist alles Lumpenpack! Ich dulde keinen einzigen mehr im Garten. Bei mir finden Sie nur noch Eidechsen, Frösche und Kröten."

„Aber ich bitte Sie," wagte ich schüchtern zu erwidern, „die Finken, die Meisen ~"

Doch er unterbrach mich und geriet in einen nicht gelinden Eifer. „Daß die Buchfinken im Frühjahr die Erbsen aus dem Boden hervorholen, werden Sie aus Erfahrung wissen. Und die Meisen? Ich kann Ihnen zwei vollständig unbescholtene Zeugen stellen, die mit mir konstatierten, daß eine Blaumeise an einer reifen Birne herumpickte.“

„Ja, Birnen, freilich! Aber hier handelt es sich um Erbsen."

„Hören Sie, wenn es keine Meise war, dann war's ganz sicher ein Buchfink."

Ich war im Begriff, ein Todfeind der Buchfinken zu werden, und machte aus meiner Todfeindschaft kein Hehl, als ich an einen fünften Kenner geriet.

„Buchfinken?“" meinte der. „Niemals! Derartige Verwüstungen richten nur die Spatzen an."

Ich hatte also den Buchfinken in Gedanken schweres Unrecht getan. Dieses hundsgemeine Spaztengesindel war ja, wie man mir wiederholt geklagt hatte, zu allem fähig. Die Spatzen hatten mir meine Erbsen gefressen! Ich besah neuerdings die Erbssenbeete. Wo das Auge hinsah, waren wieder die schönsten und größten Schoten ausgehöhlt. Da überkam mich die Wut, und ich eröffnete ein Steinbombardement auf die Strolche. Ich habe in meinem Leben viele Steine geworfen, ohne je zu treffen, und traf auch jetzt keinen der Missetäter. Sie blieben denn auch sitzen, blinzelten mich vergnügt an [74]und schienen zu einander zu sagen: „Du kennst den Schützen! Suche keinen andern!“ Jedem einigermaßen bekannten Menschen, dem ich fortan begegnete, erzählte ich mein von den Spatzen verschuldetes Mißgeschick und wies ihm Muster von leeren Erbsenhülsen vor, von welchen ich immer einige in der Tasche auf mir trug.

Unterdessen nahm das Verhängnis seinen Fortgang. Mit jedem Tage nahm die Zahl der leergefressenen Hülsen zu, und mit jedem Tage wurde mein Grimm über die Spatzen größer, bis ein Kenner Nr. 6 mir gegenüber bezweifelte, daß die Spatzen die Uebeltäter seien.

„Die Amseln werden das Unheil anrichten!“

Natürlich! Die Amseln fressen Kirschen, Erd-, Him-, Brom- und Johannisbeeren! Warum sollten sie keine Erbsen fressen?

Meine Pflicht war es nun, in meinem ganzen Bekanntenkreise den von mir untergrabenen guten Ruf der Spatzen wiederherzusstellen und die Amseln zu verdächtigen. Bei einer solchen Gelegenheit erzählte mir ein siebenter Kenner, der es wissen mußte, weil er in der Schule der Beste in der Naturgeschichte gewesen war, weder Spatzen noch Amseln könnten Erbsenhülsen öffnen.

„Ja, aber hören Sie mal! Sie werden doch nicht behaupten wollen, es seien Nachtigallen?“

„Nein, das nicht, aber ~ aber ~ vielleicht Krähen?"

„Krähen? Unsinn! Die Krähen finden im Felde draußen genügend Futter.“

„Das schon! Aber Erbsen schmecken ihnen vielleicht besser."

„Genug, genug! Schließlich kommt noch einer und behauptet, es seien Lämmergeier gewesen.“

Einst machte ich wieder meinen abendlichen Rundgang und verjagte Amseln, Buchfinken und Spazgen, der Sicherheit wegen alle drei Spezies, als mein Blick unter dem Apfelbaum einen angebissenen unreifen Apfel [75]liegen sah. Ein angebissener, unreifer Apfel ist auf dem Lande keine Seltenheit. Aber wie kommt unter meinen Apfelbaum ein angebissener, unreifer Apfel?

Meine sechsjährige Tochter wird einvernommen:

„Hast du in einen unreifen Apfel gebissen und ihn wieder weggeworfen?'

„Nein, ich nicht; aber der Edi.“

„Wer ist der Edi?"

„He, der Edi ist der Edi. Er war ganz grün."

„Wer, der Edi?“

„Nein, der Apfel, nicht der Edi‘ - und meine sechsjährige Tochter legte sich vor Lachen nieder bei dem Gedanken, daß der Edi grün sein sollte.

Am nächsten Abend fand ich unter dem Apfelbaum drei angebissene Aepfel. Neues Verhör meiner sechsjährigen Tochter.

„Sag’ mir die Wahrheit! Hast du im Garten unreife Aepfel gefunden und davon gegessen ?"

„Ganz sicher nicht: Der Edi“.

„Was ist denn mit diesem Edi? – War er im Garten?"

"Nein, er hat unreife Aepfel gegessen. – Das darf man doch nicht?“

„Wo hat er die Aepfel geholt ?“

„Drüben auf der Matte."

Ich atmete auf, ganz nach dem Rezept der Pintschgauer. Aber ich mußte der Sache auf den Grund kommen.

„Warum sprichst du denn immer vom Edi ? Was hat er sonst noch getan ?“

„Der Edi?“

„Ja, der Edi!“

„Er ißt immer unreife Aepfel. Das darf man doch nicht ?“

„Nein, das darf man nicht, sonst ?"

[76]

„Bekommt man Bauchweh und stirbt und wird ins Grablöchlein gelegt.“

„Ganz recht! Weißt du noch etwas von Edi?“

„Er ißt immer ganz grüne Aepfel, ganz grüne!

Das – ?“

„Schon gut. Macht er sonst nichts ?“

„Ich habe gesagt, er darf nicht in den Garten, und dann hat er gesagt, er steigt über den Hag.“

Aha! Nun kamen wir der Sache näher!

„Wer ist denn dieser Edi ?“

„He, der Edi !“

Es hatte keinen Zweck, weiter zu fragen. Aber ich schien wenigstens auf der richtigen Fährte zu sein. Zufällig wußte meine Frau, wem der Edi gehörte, und ich nahm mir vor, seinen Vater zur Rede zu stellen.

Da entdeckte ich schon am folgenden Tage, daß nicht der Edi der Sünder sein konnte. Denn niemand hatte das Haus verlassen, und der Edi war nie in der Gegend gesehen worden, und trotzdem lag unter dem Apfelbaum ein halbes Dutzend angebissener Aepfel. Ich befürchtete, schwermütig zu werden. Wenn das so weiter ging, dann war in einigen Tagen die Apfelernte zu Ende.

Eines Morgens ~ es war Sonntag und ich hatte schlecht geschlafen ~ erhob ich mich um fünf Uhr, um ein bischen im Garten zu spazieren. Ein wunderbar schöner Tag hatte seinen Anfang genommen. Die Morgensonne vergoldete die Höhen um mich her, während Haus und Garten noch im Schatten lagen. Nach mehrmaligem Rundgange setzte ich mich auf eine an der mit Ampelopsis überwachsenen Nordseite des Hauses stehende Bank. An diesen Teil meines Gartens stößt der meistens aus Eichen und Buchen bestehende Gemeindewald Dem Gartenzaun entlang zieht sich dichtes Gestrüpp von Hagebuchen, wilden Himbeer- und Brombeersträuchern. [77]Ich versenkte meine Blicke in das dichte Grün und lauschte dem leisen Rauschen der grünen Wipfel und dem zaghaft erwachenden Vogelgezwitscher.

Wie ich so hinsah, bemerkte ich, daß sich ein Zweig wie unter einer für ihn zu schweren Last auf einen Pfosten des Gartenzaunes neigte, und auf dem Pfosten erschien ein allerliebstes Eichhörnchen. Die Eichhörnchen haben mir immer viel Spaß gemacht, und ich verfolgte daher auch diesmal die niedlichen Bewegungen des Tierchens mit großem Vergnügen. Es sprang vom Pfosten herab, huschte lautlos über den Kiesweg und verschwand in ~ einem Erbsenbeet.

Sollte –– ?

Ein furchtbarer Verdacht stieg in mir auf. Unterdessen raschelte es zwischen den Erbsenstöcken, und das Rascheln wollte kein Ende nehmen. Schon drohte meine Ungeduld über mich Herr zu werden, als das Eichhörnchen wieder auf dem Wege erschien und direkt auf den Apfelbaum los marschierte. Ich hielt den Atem an. Im Nu war das flinke Tierchen am Stamm hinaufgeklettert und spazierte hier von Ast zu Ast. Was es trieb, ward mir erst klar, als ein Apfel herunterfiel und noch einer und noch einer.

Du neunhundertneunundneunzigmal verdammtes Aas! Da steigt es ruhig am Baumsstamme herab mit dem größten Apfel im Maul, wandert nach dem Zaun, schlüpft darunter durch und ist verschwunden.

Was nun? Ich bohrte meinen unheilbrütenden Blick in die Stelle, an der ich das Tierchen verschwinden sah, und versuchte, meinen Zorn niederzukämpfen. Aber es wollte mir nicht gelingen. Im Gegenteil! Meine Entrüstung nahm ungeheure Dimensionen an und richtete sich allmählich gegen die gesamte Tierwelt, einschließlich der Mollusken, Polypen usw. Ich, der edelste Tierfreund unter der Sonne, ich, der ich alle [78]Jahre mindestens einmal den zoologischen Garten besuche, ich wurde von Tieren geplündert! Also ausgerechnet in meinen Garten mußte das Vieh, und den schönen großen Garten meines Nachbars verschonte es!

Eine Stunde verging, bis der Zorn ausgetobt hatte und der kalte, grausame Rachedurst mich den Weg finden ließ, auf dem ich die Vernichtung des Eichhörnchens herbeizuführen hoffte. Ersschossen wird's, erschossen! und zwar mit einem Flobert! Ich habe zwar noch nie geschossen und besitze auch kein Flobert; aber ich entlehne eines, um das Eichhörnchen abzuschießen.

Jawohl, „abschießen“ nennt man das. Ich schieße ab, du schießest ab, er schießt ab. Großartig! Wenn ich so rede, wird jedermann sofort merken, daß ich schießen kann.

Um acht Uhr versammelte sich die Familie samt Besuch von teuren Anverwandten zum Frühstück, und bei dieser Gelegenheit eröffnete ich meinen Mordplan. Aber kaum war ich mit der Sprache herausgerückt, so flosssen schon Tränen des Mitleids mit dem armen Eichhörnchen. Tu’s nicht! Tu's nicht! ertönte es von allen Seiten.

"Laß es lieber die Aepfel holen!“ bat meine liebenswürdige Ehehälfte.

„Ach ja, ach ja! Laß es die Aepfel holen!“ bestätigte die Korona.

Nur meine sechsjährige Tochter schien ebenso grausam zu sein wie ich; denn sie sagte, der Papa habe ganz recht. Außerdem ward ich von meinem zu Besuch weilenden Neffen unterstützt, dem wie mir Jägerblut in den Adern rollt (sein Großonkel mütterlichersseits war Wildbrethändler gewesen). Allein auch ohne diese Unterstützung hätte ich mich von meinem Plane nicht abbringen lassen.

[79]

„Das Eichhörnchen wird abgeschossen!“ sagte ich und richtete mich in meiner ganzen Jägergröße auf. –„Es wird abgeschossen!"

Die Ruhe, mit der ich das erklärte, in Verbindung mit meiner Jägersprache, wirkte. Niemand hielt mich zurück, als ich mich sofort zu einem Freunde begab, von dem ich glaubte, daß er ein Flobertgewehr besitze. Diesem erzählte ich die ganze Geschichte von den gefresssenen Erbsen und Aepfeln bis zu meinem mörderischen Entschluß. „Da ich das Eichhörnchen abzuschießen D verstehst du! abzuschießen ? — gedenke, ersuche ich dich um Ueberlassung deines Flobertgewehrs.“

„So, so, fressen die Eichhörnchen Aepfel ? – Unglaublich!“ erwiderte er. „Ich habe übrigens kein Flobert.“

„Nicht? Ich glaubte _“.

„Ich hatte einmal eines entlehnt, hab's aber wieder zurückgegeben. Solche Sachen muß man eben zurückgeben. Dagegen weiß ich, wo du eines bekommst : geh’ einmal zum Kronenwirt. Der muß eines haben wegen den Spatzen.“

Ich sah nach der Uhr. Erst halb zehn und schon zum Frühschoppen! ,„Tut nichts, der Jude wird verbrannt, “ d. h. das Eichhörnchen abgeschossen! Ich ging also zum Kronenwirt, der einen ausgezeichneten Walliser ausschenkt, und bestellte einen Zweier. Mit dem ersten Schlucke erwachte mein etwas geschwundenes Selbstbewußtsein.

„Herr Wirt“, begann ich, „würden Sie mir auf einige Tage ihr Flobert leihen? Ich muß ein Eichhörnchen abschießen!“

Beim Worte „abschießen“ faßte ich ihn gehörig ins Auge und bemerkte, wie seine Achtung vor mir wuchs. Aber sein Flobert bekam ich nicht.

[80]

„Mein Flobert ist nichts mehr wert. Vollständig ausgeschossen! Ich muß bei nächster Gelegenheit ein neues kaufen. – Nebenbei bemerkt: das habe ich nicht gewußt, daß die Eicherli Aepfel fressen.“

„Da kennen Sie die Viecher schlecht! Wie verrückt fressen die Aepfel! – Wissen Sie mir sonst niemand, der mir ein Flobert leihen könnte ?“

„Doch! Der Doktor Fürbringer drüben hat ein ausgezeichnetes Flobert."

Doktor Fürbringer wohnte eine halbe Stunde von der „Krone“ entfernt, am Abhange des Fuchsberges. Ich trank meinen Zweier aus und setzte einen gemäßigten Trab an, bis mich das ansteigende Gelände zur Vernunft brachte. Die Sonne brannte mir mit ihren herrlichen Auguststrahlen breit auf den Rücken.

Doktor Fürbringer war nicht zu Hause. Ich mußte also die Geschichte von „Erbsen“ bis „abschießen“ seiner Frau erzählen. Die gute Seele! Sie bedauerte außerordentlich, daß sie mir den Gefallen nicht erweisen konnte; allein das Fürbringersche Flobert befand sich in Reparatur. Dafür mußte ich ihren Kirsch versuchen. „Wir haben ihn von unsern eigenen Kirschen brennen lassen. Er ist sehr gut !“

Sie schenkte mir aus der bereitstehenden Flasche ein Gläschen ein, und ich nippte daran, indem ich die Miene eines Fachmannes aufsetzte und das Getränk über die Zunge rieseln ließ wie ein echter Weinhändler. Sie benützte die Pause, um die mir nicht mehr unbekannte Frage an mich zu richten:

„Ei, ei, die Eichhörnchen fressen auch Aepfel?

„Gewiß fressen die Eichhörnchen Aepfel“ antwortete ich und leerte das Glas.

„Bitte, noch eines!"

„Nein, ich danke! Ich trinke sonst vormittags nie Schnaps."

[81]

Ich entfernte mich nach einigen Minuten ohne Flobert, aber mit einem Schnaps im Magen, der suchen mochte, wie er sich mit dem Zweier Walliser vertrug, und mit dem gutem Rate, einmal beim Rößliwirt nachzufragen. Der habe auch ein Flobert.

Der Röüßliwirt war bekannt wegen seines guten Elsässerweines. Ich marschierte also, die ersten schweren Schweißtropfen von der Stirne wischend, nach dem Dorfe zurück zum „Rößli“, bestellte einen Zweier Elsässer und trug mein Anliegen vor. Doch der Rößliwirt hatte kein Flobert. Er habe einmal eines gehabt; aber die Kinder hätten es ihm kaput gemacht. Das habe er übrigens auch noch nie gehört, daß die Eicher Apfel fressen.

Ich hatte die beste Lust, ihm eine an die Ohren zu hauen. Diese Zweifel an meiner Wahrheitsliebe begannen mich aufzuregen. „Der Ochsenwirt –" Ich wußte schon! Der Ochsenwirt hatte ein ausgezeichnetes Flobert! Aber konnte ich mit meinen zwei Zweiern und einem Kirschwasser noch zum Ochsenwirt? Und zudem war der Ochsenwirt berüchtigt wegen seines gewässerten Weines. Doch es mußte sein!

„Was ist gefällig ?“ fragte mich die liebliche Tochter, die mit ihren süßen Augen die Aufmerksamkeit der Gäste vom Weine ablenken mußte. Ich streichelte ihr molliges weißes Patschhändchen, das sie berechnend auf den Tisch gelegt hatte, und bestellte ein Bier.

„Ist der Vater zu sprechen?"

„Ja, ich will ihn rufen." Und dann kam die Eichhörnchengeschichte mit Flobert-Schluß."

„So? Gehn die Eicherli auch an die Äpfel?"

Ich blieb ruhig. Man sah mir nicht an, daß ich von meinen Vorvätern heißes Blut geerbt habe. Aber innerlich kochte es. Unter Zusammennahme meines letzten Restes an Selbstbeherrschung konnte ich ihn nochmals an das Flobert erinnern.

[82]

„Ja so, mein Flobert! Das kann ich Ihnen leider nicht geben. Ich habe es an meinen Bruder ausgeliehen. Wissen Sie, der hat so viele Spatzen! O, also Spatzen hat der! Davon macht man sich keinen Begriff. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, so gehen Sie zu Herrn Lehrer Habermann hinüber am Wolfshag. Der hat einen ganz neuen Flobertstutzen."

War das eine Gemeinheit oder war es keine? Existierte eine Verschwörung gegen mich ? Habermann wohnt ausgerechnet dreiviertel Stunden vom „Ochsen“ entfernt. Nun, ich nahm den Weg unter die Füße. Bis zum Mittagessen konnte ich zurück sein. Der Marsch war beschwerlich ; denn in meinem Magen ruhten zwei Zweier Wein, ein Kirsch und ein Bier. Aber meine Energie sollte sich diesmal in ihrer strahlendsten Größe zeigen.

Herr Habermann war zu Hause. Ich begrüßte ihn und begann mit meinem Vortrag.

„Gestatten Sie, daß ich Sie unterbreche! Ich habe ein ausgezeichnetes Nußwasser angesetzt."

„Um Gottes Willen machen sie mich nicht unglücklich! Ich kann nicht.“

„Nur ein Gläschen! Sie beleidigen mich, wenn Sie ablehnen.“

Ich wollte ihn nicht beleidigen, bevor ich den Flobertstutzen hatte, und trank während zwei Minuten zwei Gläschen Nußwasser. Das macht also: ein Zweier Walliser, ein Kirsch, ein Zweier Elsässer, ein Bier und zwei Gläschen Nußwasser.

„Und nun wollen Sie", fragte Herr Habermann, als ich mein Anliegen vorgebracht hatte, „von mir einen Flobertstuzen? Einen Stutzen habe ich nicht. Dagegen kann ich Ihnen ein Flobert leihen. Aber tragen Sie Sorge dazu! Es gehört nämlich nicht mir, sondern einem meiner Freunde. Und wenn Sie schießen, so [83]halten Sie immer vom Ziel aus etwa 20 Zentimeter weiter nach rechts und 10 Zentimeter weiter nach unten. Ich habe es ausprobiert.“

Ich war selig. Mit Liebe umfaßte ich den Lauf und steckte die Schachtel mit den Kugeln in die Tasche.

„Vielen Dank, Herr Habermann!" stammelte ich und wollte mich verabschieden. Habermann begleitete mich an die Türe; denn die unselige Frage mußte doch noch heraus :

„So, so ? Die verflixten Eicher gehen auch an die Aepfel ?"

„Ja“, antwortete ich, in mein Schicksal ergeben, ,sie gehn auch an die Aepfel."

Unterwegs memorierte ich: 20 Zentimeter weiter nach rechts und 10 Zentimeter weiter nach unten. Eine Bäuerin kam mir entgegen. „Grüß Gott!“ ,20 Zentimeter weiter nach rechts und 10 Zentimeter weiter nach unten." Sie schüttelte den Kopf und ging weiter. Aber ihr Kopfschütteln war mir egal; denn ich hatte ein Flobert. – 20 Zentimeter weiter nach rechts und 10 Zentimeter weiter nach unten.

Es ward einsam um mich her, so daß ich wenigstens aufblicken konnte, ohne zu riskieren, gefragt zu werden, ob die Eichhörnchen Aepfel fressen. Tiefblauer Himmel und die gelben üppigen Kornfelder, vom Ostwind leicht gekräuselt! Die Feuerblumen lachten daraus hervor, und über den Blumen torkelten, trunken vom Blütenduft, die Schmetterlinge. Unten am Berge leuchtete das weiße Dorf. Kaum hatte jedoch die wunderbare Mittagsstille mich mit der Welt versöhnt, so begann eine Bremse, mich zu umkreisen. Ich schlug mit dem Gewehrkolben nach ihr; es nützte nichts, sie kehrte immer wieder zurück. Da ließ ich sie auf meiner silbergrauen Weste absitzen und versetzte mir mit der flachen Rechten [84]derart einen Hieb auf den Magen, daß ich das Feuer im Elsaß zu sehen glaubte. Unterdessen hatte mich eine andere Bremse in die linke, das Gewehr haltende Hand gestochen. Was blieb mir übrig, um diesen Unholden zu entgehen, als einen erneuten Laufschritt anzuschlagen?

In Schweiß gebadet, kam ich um ein Uhr nach Hause. Die zwei Zweier Wein, der Kirsch, das Bier und die zwei Nußwässer spritzten förmlich aus meinen Poren, so daß mein Kopf dem Verteiler einer Gießkanne in Aktion nicht unähnlich war. Auf zwölf Uhr präzis war das Essen gerichtet gewesen, und nun war alles kalt geworden. Allein was hatte das zu sagen angesichts der Tatsache, daß ich im Besitze eines Floberts war, daß die Tage des Eichhörnchens gezählt waren?

Der Nachmittag wurde zum größten Teil zu Schießübungen verwendet. Vorerst zielte ich auf ein Blatt Papier von 20 Zentimeter im Quadrat. Keine Spur von einer Spur! Dann nahm ich ein Blatt von einem halben Meter im Quadrat. Nichts! Schließlich setzte ich aus mehreren Pappendeckeln eine Scheibe von einem Quadratmeter zusammen. Endlich ein Resultat] Der Schuß saß in der untern rechten Ecke, vom Zentrum aus gemessen 40 Zentimeter zu weit rechts und 45 Zentimeter zu weit nach unten. Probieren wir's noch einmal! Da saß der Schuß links oben in der Ecke, und ein dritter Schuß saß gar nicht mehr auf der Scheibe. „Das Gewehr muß höchst minderwertig sein,“ sagte ich mir und schoß weiter, und jeder Schuß ging irgendwo anders hin.

„Herr Habermann wird's doch besser wissen als du," mischte sich nun meine Frau in die Sache, „wie das Gewher schießt, und wenn er dir sagt, du müßest 20 Zentimeter nach rechts und 10 Zentimeter nach unten halten, so wird's wohl so sein."

[85]

Die Frauen haben immer recht. Ich stellte daher meine Uebungen ein.

Beim Nachtessen drehte sich das Gespräch ausschließlich um die Eichhörnchenjagd, und ich unterließ es nicht, darauf aufmerksam zu machen, daß die Eichhörnchen ein seltener Leckerbissen seien.

„Ein Eichhörnchen reicht aber kaum für die ganze Familie," behauptete mein Neffe mit dem Jägerblut.

„Ja, meinst du," gab ich zurück, „ich schieße nur eines? Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß sich mehrere, vielleicht ein Dutzend, auf meinem Apfelbaum verproviantieren. Die schieße ich alle der Reihe nach ab! Sie sollen übrigens sehr leicht zu treffen sein. Sobald sie bemerken, daß man zielt, halten sie still und blicken einem direkt ins Rohr.“

Allgemeines Gelächter.

„Ja, da gibt's nichts zu lachen," fuhr ich fort. „Das hat mir ein alter, routinierter Jäger erzählt."

Dann wandte ich mich an meine Frau:

„Kannst du Eichhörnchen zubereiten ?"

„Triff sie nur erst einmal! Zubereitet sind sie dann bald."

„Und denk’ dir: all die hübschen Felle!“ wagte ich noch zu bemerken.

„O, da bekomme ich eine Pelzkappe und einen Muff!“ jubelte meine sechsjährige Tochter, in diesem Momente der einzige Mensch auf Erden, der noch an den Jäger in mir glaubte. Auch sie erntete nur ein gerührtes, mitleidiges Lächeln, und zwar galt die Rührung ihr und das Mitleid mir.

Frühzeitig legte ich mich aufs Ohr, um bald ins Reich der Träume zu versinken. Natürlich träumte ich von Eichhörnchen, nichts als von Eichhörnchen. Sie saßen vor mir in Reih und Glied, hielten mit den Vorderfüßen große, rotbackige Aepfel, knabberten daran [86]herum und blicken mich höhnissch an. Ich wollte schießen, fand aber mein Gewehr nicht. Ich faßte nach einem Stock, konnte ihn aber nicht heben. Ich wollte mit den Fäusten auf sie los, war aber am Boden festgewachsen und kam nicht vorwärts. Da hüpfte das mir zunächst sitende Eichhörnchen auf mich zu, und siehe: es war gar kein Eichhörnchen, sondern mein Neffe. Er packte mich am Arm, und plötzlich war ich nicht mehr festgewachsen, sondern ging mit ihm, wohin er mich führte. „Hier ist Bern!“ sagte er mir und hielt an. Bern mußte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert haben. „Das ist nicht Bern!“ behauptete ich. „Doch, das ist Bern. Du wirst es gleich an den vielen Eichhörnchen erkennen, die am Münster den Feuerhaspel drehen." Ich sah mich nach dem Sprechenden um. Da stand nicht mehr mein Neffe, sondern ein längst verschollener Jugendfreund, der mich eine Gasse entlang führte, bis wir uns einer mächtigen Eichhörnchentrülle gegenüber befanden, in welcher es von Eichhörnchen wimmelte, die aber trotzdem stille stand. „Wenn diese Trülle losgelassen wird, treibt sie den Feuerhaspel. Das geht nämlich so,“ sprach mein Freund, der ein mir vollständig unbekanntes Gesicht angenommen hatte, und durchschnitt ein Seil, mit welchem die Trülle festgebunden war. Sie setzte sich in Bewegung und trieb wirklich den Feuerhaspel, der einen durchdringenden Lärm machte.

Ich schreckte auf. Es war mein Wecker, der herunterrasselte und den ich schnell abstellen muße, damit nicht das ganze Haus in Aufregung geriet. Vier Uhr! Notdürtig angekleidet, schlich ich aus dem Schlafzimmer und setzte mich an das Fenster einer Mansarde, von welchem aus ich den Garten überblicken konnte. Das Gewehr wurde geladen und ans Gesims gelehnt, und nun harrte ich des Eichhörnchens.

[87]

Es war noch beinahe Nacht. Die Dämmerung hatte erst ihre leisen Vorboten hinausgesandt. Kaum waren die schwarzen Baumkronen des Waldes vom dunkeln Nachthimmel zu unterscheiden. Am Fenster huschten mit unhörbarem Flügelschlag die Fledermäuse vorbei und aus dem Dickicht schallte von Zeit zu Zeit der Schrei eines Käuzchens.

Und diese wunderbare Einsamkeit, die mich im tiefsten Innern bewegte, die alle Saiten meines Gemütes erklingen ließ und meinen Geist auf ferne, sonnige Höhen trug, diese Einsamkeit und in ihr diese heilige, grüne Waldesnacht wollte ich durch einen Schuß ins Tierreich entweihen! Ich kam mir vor wie Tell einst in der hohlen Gasse:

Am wilden Weg sitzt er mit Mordgedanken!

– – – – – – – – – – – –

Während ich in die Stille hinausgeträumt hatte, war ganz allmählich die Dämmerung herangeschlichen, um der Allsssiegerin Sonne den Weg zu bereiten. Vom Dorfe herauf tönten die ersten Kikerikis, die ersten Dengelschläge der Bauern, und nun begann der Wald zu erwachen. Die Rotschwänzchen fingen mit dem Reigen an. Es folgten die Amseln, die Drosseln, die Finken, die Meisen. Die Spagen piepsten dazwischen, und als die aufgehende Sonne die Baumwipfel des Waldes rötete, setzte ein Lärm seiner gefiederten Bewohner ein, daß einem Hören und Sehen verging.

Unbeweglich dem Konzerte lauschend, bemerkte ich im Gebüsch starke Bewegung. Den Atem anhaltend, riß ich mein Gewehr an mich. Es kam aber kein Eichhörnchen, sondern eine Amsel, die sich auf den Rand des Kompostbehälters setzte und nach Kohlblättern zu picken schien. „Dort schadet sie nichts", sagte ich mir und stellte meine Waffe wieder ans Gesims. Eine [88]zweite, eine dritte Amsel kam. Endlich war es ein halbes Dutzend. Sie flatterten hin und her, kehrten aber immer wieder zum Komposthaufen zurück.

Da pochte es an die Kammertür, und auf mein "Herein !" erschien mein Neffe mit dem Jägerblut.

„Guten Morgen, Onkel!" rief er fröhlich.

„Halt's Maul!" zischte ich zurück. „Du verscheuchst mir ja das Eichhörnchen."

„Ja, ist's schon da ?"

„Nein! Aber es kommt doch nicht, wenn du brüllst wie ein Ochse !"

Die Amseln verzogen sich nach andern Teilen des Gartens, und es erschienen erst zwei Buchfinken und dann ein Spatz nach dem andern.

„Schieß doch auf die Sperlinge, Onkel!" Als gut erzogener Reichsdeutscher spricht mein Neffe nur von "Sperlingen“.

„Das kann ich doch nicht. Sobald ich schieße, mache ich die Eichhörnchen scheu, und dann ist's aus."

Die Kammertür öffnete sich von neuem, um meine Frau einzulassen. Sie wollte nur nachsehen, ob mir bei der eckelhaften Schießerei nichts passiert sei. Almählich versammelte sich die ganze Verwandtschaft und schließlich trippelte, um das allgemeine Hallo noch zu vergrößern, meine sechsjährige Tochter im Nachthemdchen herbei. Und bei dem ganzen Manöver sollten sich die Eichhörnchen zeigen? Das Stärkste war dabei, daß alle behaupteten, das Eichhörnchen sei schon dagewesen; ich hätte es aber gefehlt.

Was blieb mir da anderes übrig, als meine Schießfertigkeit an einem Spatz zu beweisen?

„Seht ihr den Spatz dort auf dem Spalierbäumchen?

– Der wird abgeschossen."

[89]

Dieweil ich aber mein Gewehr an die Wange riß, flog er davon.

„Die Jagd ist dort hinaus !“ deklamierte der Neffe mit dem Jägerblut, und meine sechsjährige Tochter lachte königlich über den Witz.

Mittlerweile hatte ich aber schon auf einen andern Spagt; gezielt. Zwanzig Zentimeter weiter nach rechts, zehn weiter nach unten – ein Schnappen des Hahns und ein feines blaues Räuchlein!

„So, den hat's", behauptete ich mit einem tiefen Seufzer der Befriedigung.

„Absolut nicht!“" erwiderte die Festversammlung unisono. „Er ist davon geflogen."

„Ich habe doch deutlich gesehen, wie die Federn stoben. – Geh," wandte ich mich an den Neffen, ,sieh nach! Links vom Bäumchen muß er liegen."

Er ging, fand aber nichts. „Noch weiter links |“ rief ich hinunter. „Etwas weiter hinten — jetzt wieder mehr rechts ~ oder vielleicht vorn." Er fand nichts.

„Wahrscheinlich hat er sich, schwer verwundet, ins Dickicht geflüchtet," bemerkte ich und schoß weiter ~ zwanzig Zentimeter nach rechts, zehn Zentimeter nach unten ~, und mein Neffe suchte jeweilen nach der Beute, die sich leider immer wieder, schwer verwundet, ins Dickicht geflüchtet hatte. Um sieben Uhr stellte ich das Feuer ein und hielt folgende Ansprache :

„Hochansehnliche Versammlung! Das Jagdglück ist launisch. Es versagte mir diesmal den Tod meines Erzfeindes, des Eichhörnchens. Ich lebe aber der sichern Hoffnung, daß es durch mein Feuern auf die Spatzen derart eingeschüchtert worden ist, daß es sich jedenfalls zweimal besinnen wird, ehe es wieder an meine Aepfel –" „Unsere Aepfel,“ warf meine Frau dazwischen, [90]– ehe es wieder an unsere Aepfel geht. – Waidmannsheil !"

Als ich eine Stunde später den Garten betrat, lagen wieder sechs Aepfel mit deutlichen Spuren von Nagezähnen unter dem Apfelbaum, und eine neue Ladung von Erbsen war gefressen.

[91]

Wie ich beinahe Gemeinderat geworden wäre.

Ich und die Politik oder vielmehr die Politik und ich standen nie in einem erfreulichen Verhältnisse zu einander. Wenn ich hier von Politik rede, so denke ich nicht etwa an die Politik der hohen Diplomatie; denn für diese habe ich auffallend viel Verständnis, und ich bedaure nur, daß mich das Schicksal nicht auf irgend einen Botschafterposten oder in einen Ministersessel des Aeußern setzte. Doch das Schicksal hat es nun einmal anders bestimmt, wie es — nebenbei bemerkt - auch mein sstrategisches Genie zur Verkümmerung verurteilte. Ich war nämlich mein Leben lang ein großer Stratege. Schon als Knabe habe ich einen ungeheuren Verbrauch an Bleisoldaten erzielt, und als späterer Manöverbummler wußte ich immer alles besser als die Manöverleitung. Für jeden Generalstab in- und außerhalb Europas halte ich einen Kriegsplan zur Verfügung, der unfehlbar zum Siege führt, und ich bin wirklich neugierig zu erfahren, welche Großmacht zuerst den Prinz Eugenius redivivus entdeckt.

Kehren wir indessen zur Politik zurück! Wenn ich hier von Politik rede, so meine ich die Parteipolitik, den Streit zwischen den Parteien des „unentwegten", des „gesunden“ und des „vernünftigen“ Fortschritts. [92]Zu dieser Politik, der Parteipolitik, stand ich also, wie schon gesagt, nie in einem angenehmen Verhältnisse. Zwar wage ich nicht, wie dies böse Mäuler schon getan haben, die Parteipolitik als eine Schule der Korruption zu bezeichnen. Aber ~ für Pflanzstätten des Seelenadels halte auch ich die politischen Parteien nicht. Von dieser Ueberzeugung bringen mich keine noch so ernsthaften Bekehrungsverssuche ab. Trotzdem mußte es ausgerechnet mir, wenn auch ein einziges Mal in meinem Leben, passieren, daß ich in den politisschen Strudel gezogen wurde, nicht etwa als unschuldiges Subjekt, als Stimmvuieh, sondern als Objekt, als Kandidat einer Partei bei einer Gemeinderatswahl. Wie es mir dabei erging, das will ich dem geneigten Leser zu schildern versuchen.

Ich hatte das reizend zwischen liebliche Hügel gebettete Roßwil zum Wohnsitz und Adoptivvater-Dorf gewählt. Wo Roßfßwil liegt, ist durchaus Nebensache, und ich möchte meine zukünftigen Biographen schon jetzt darauf aufmerksam gemacht haben, daß Roßwil auf der Landkarte nicht zu finden ist. Item, das Dorf gefiel mir vom ersten Besuche an nach allen Richtungen. Nicht in den Kram aber paßten mir einzelne seiner Bewohner, namentlich die maßgebenden unter ihnen. Ueber alle Methoden, nach welchen Menschen schikaniert werden können, genoß ich einen Anschauungsunterricht von seltener Gründlichkeit. Einige Beispiele:

Kaum eingezogen, war ich an einem Sonntagmorgen im Garten beschäftigt, als mir ein Gemeinderatsmitglied über den Zaun zurief:

„Es ist Sonntag !"

„Ich weiß es," entgegnete ich.

„Man darf am Sonntag nicht arbeiten."

„Ich arbeite nicht, ich erhole mich.“

„Die Sonntagsarbeit ist verboten!"

[93]

Da riß mir die Geduld.

„Ich sehe euch Bauern doch jeden Sonntag Gras heimholen. Ist das etwa keine Sonntagsarbeit ?"

„Das Grasen und Heuen ist laut Sonntagsgesetz nicht verboten !"

„Das heißt: was euch paßt, ist erlaubt, und was mir paßt, ist verboten. – Adieu"

Ich wurde verzeigt, kam aber mit einer Warnung davon. – Doch weiter:

In einer stürmischen Novembernacht, zwischen einem Samstag und einem Sonntag, hatte ein wolkenbruchartiger Regen allen Kies aus meinem windschiefen Garten hinausgeschwemmt, und es blieb mir daher nichts anderes übrig, als ihn am Sonntagmorgen korbweise wieder hereinzutragen und mit dem Rechen auszubreiten. Da schreckte mich mitten in der Arbeit Iocki, der Bannwart, auf:

„Sie, das Rechen ist am Sonntag verboten!"

„Notstandsarbeit !" seufzte ich.

„Notstandsarbeit hin oder her! Sie dürfen am Sonntag nicht rechen !"

„Aber ich bitte Sie, bester Herr Jocki, wann soll ich's denn tun? An Werktagen bin ich tagsüber in der Stadt. Bevor ich morgens wegfahre, ist's finster, und wenn ich abends heimkehre, ist's Nacht."

„Das geht mich nichts an!“

„So steigen Sie mir gefälligst den Buckel hinauf !"

Ich wurde mit fünf sauer verdienten Franken gebüßt und trug mein Ungemach mit Geduld, bis mit dem neuen Zivilgesezbuch und mit der Neuanlegung des Grundbuches neues Elend über mich kam. Ich wurde eines Tages aufgefordert, die zu meinen Gunsten lautenden Dienstbarkeiten anzumelden. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, sondern meldete sofort auf Mord [94]und Brand an. Erstens, zweitens, drittens u. s. w.! Ich besaß massenhaft Servituten oder – glaubte, sie zu besitzen, bis mich „eine hohe Behörde“ eines bessern belehrte. Unter anderem hatte ich angenommen, daß ich berechtigt sei, die einzige nach meiner Liegenschaft führende Straße für meine Zwecke zu benugzen, und verlangte getrost die Eintragung meines Wegrechtes. Da erfuhr ich zu meinem Schrecken, daß ich kein Wegrecht habe. Prost Mahlzeit! Kann sich der geneigte Leser so etwas vorstellen? — Aehnliches passierte bis jetzt nur dem Papste, mit dem einzigen Unterschied, daß der Papst seinen Vatikan nicht verlassen will, ich aber den meinigen nicht verlassen d ar f. Ob ich das Wegrecht in meinem Garten besitze, wagte ich schon gar nicht zu fragen aus Angst, es werde mir ebenfalls entrissen. Was tun? – Ich usurpierte für fünf Minuten mein nicht vorhandenes Wegrecht und eilte zum Präsidenten „einer hohen Behörde“.

„Sie," begann ich möglichst diplomatisch, „Sie enthalten mir das Wegrecht vor; aber ich muß doch einen Weg zu meinem Hause haben !“

„Das haben Sie ja! ~ Nur kein Wegrecht haben Sie!“

„Was nützt mir der Weg, wenn ich kein Wegrecht habe ?“

„Daran hätten Sie früher denken sollen!“

„Warum habe ich dann die Baubewilligung bekommen ?“

„Weil das Land damals noch ihrem Nachbarn gehörte und dieser Nachbar von der andern Seite her eine Zufahrt hatte.“

Der Interpellant erklärte sich für nicht befriedigt und ging kopfschüttelnd nach Hause. Ich hatte also eine Baubewilligung bekommen, weil mein Nachbar eine Zufahrt besaß! Eine seltsame Begründung für [95]meinen Wegrechtsmangel! Offen gestanden; ich hatte kein Verständnis für derartige zivilrechtliche Verhältnisse und sah mich daher genötigt, mich in stiller Resignation nach den Preisen für Luftschiffe und Flugapparate zu erkundigen; denn das Luftwegrecht konnte mir niemand entziehen. Allein angesichts der Preise für den simpelsten Eindecker wuchs sich meine Resignation zur Verzweiflung aus. Schon sah ich im Geiste die zukünftige Verbottafel neben meiner Gartentüre stehen und zitternd las ich:

Dieser Weg ist kein Weg. . Wer es dennoch tut, bekommt 5 Franken oder einen Tag Haft.

Der Gemeinderat.

In meiner höchsten Not suchte ich nach einem Leidensgenossen, fand ihn in Gestalt meines Roßwiler Freundes Schaaggi Kurzmeier und schüttete ihm mein vielgeplagtes und vielverkanntes Herz aus. Schaaggi hatte zufällig ähnliches erlebt, und schüttete mit. Was aus diesen beiden Herzen ausgeschüttet wurde, das staute sich zu einem ansehnlichen Haufen. Der Haufe wurde sortiert, das Wichtigste beiseite gelegt, und aus diesem Wichtigsten brauten wir einen Aufruf an unsere Roßwiler Mitgeplagten zusammen, einen Aufruf voll revolutionierender Gedanken, voller Hingabe an das gemeinsame Ganze, voll blendenden Feuers. Von der Tyrannenmacht, die eine Grenze hat, schrieben wir und von dem einigen Volk von Brüdern, das wir sein wollten. Der Erfolg war wunderbar! Die ganze Roßwiler Villenkolonie erklärte sich mit uns solidarisch. Ich träumte schon von gewaltigen Protestversammlungen mit anschließenden Demonstrationszügen, von einer Revolution, gegen welche die große französische ein Kinderspiel war.

Haaruus !

[96]

„Einem gemeinsamen Vorgehen,“ bemerkte ich Schaaggi Kurzmeier, „stellt sich insofern ein Hindernis entgegen, als hier alle Wirte mit dem Gemeinderate unter einer Decke stecken. Und irgendwo müssen wir doch zusammenkommen ?"

„Im schlimmsten Falle,“ erwiderte Kurzmeier, „können wir uns abwechslungsweise in unsern Privatwohnungen treffen. Die Präliminarien zum Rütlischwur fanden auch nicht in einer Wirtschaft, sondern bei Walther Fürst statt."

Nach einigem Nachdenken fiel mir ein, daß der Rößliwirt im ersten Stocke ein nettes, kleines Lokal hatte, in welchem der neueste Rütlischwur geschworen werden konnte, ohne daß wir indiskrete Zuhörer zu fürchten hatten. Im Einverständnis mit Schaaggi Kurzmeier lud ich sämtliche Roßwiler Villenbesitzer auf einen Samstagabend ins „Röüßli“ ein zur Beratung über ein Schutz- und Trutzbündnis. Der von mir mit Inbrunst erwartete Tag kam herbei. Ich war der erste auf dem Platze und konstatierte mit freudigem Erstaunen, daß alle, alle erschienen! Der schlaue Habermann und der joviale Dr. Fürbringer, der fröhliche Kurzmeier, der schöne Rumpler und wie sie sonst noch heißen mögen. Man stellte sich gegenseitig vor, soweit dies noch nicht geschehen war, setzte sich um den großen runden Tisch herum, machte sich gegenseitig Komplimente und beglückwünschte mich zu meiner großartigen Idee.

Ich eröffnete die Sitzung, indem ich etwas wie ein Exposé von mir gab. Was ich sagte, war mir selber nicht ganz klar; denn ein Redner bin ich nie gewesen, und noch heute bekomme ich das Lampenfieber, wenn ich mehr als zwei Augen auf mich gerichtet sehe. Doch im großen und ganzen schien ich verstanden worden zu sein, was ich daraus schloß, daß mich der schlaue Habermann unterstützte, während mir der joviale Dr. Fürbringer[97] für die Initiative dankte. Das Eis war gebrochen, und einer nach dem andern erzählte von seinem Kolonistenjammer. Damit war aber die Sache noch nicht erledigt. Man beschloß schon beim zweiten Dreier Elsässer mit großer Begeisterung, sich zusammenzuschließen, um vereint den Widerstand der Bauern gegen zeitgemäße Reformen zu brechen. Zum Schlusse schritten wir zur Wahl einer Kommission. Präsident wurde natürlich ich. Ich hatte nichts anderes erwartet ; denn so oft ich in meinem Leben einen Verein gründen half, so oft wurde ich Präsident. Das Präfidentwerden lastet wie ein schwerer Fluch auf meinem ganzen Leben. Bald hatten wir Erfolge aufzuweisen. Wenn wir in der Gemeindeversammlung geschlossen auftraten, geschah es, daß sich auch etliche mit Vernunft begabte Köpfe unter den Bauern unsern Argumenten nicht verschlosssen und für unsere Anträge stimmten. Der Kamm schwoll uns daher gewaltig, und als eines Tages ein Mitglied des Gemeinderates zurücktrat, beanspruchten wir den Pofsten für uns.

Der Verein sollte den Kandidaten bestimmen. Seine Aufstellung bildete das Haupttraktandum unserer der Wahl vorausgehenden Sitzung. Ich eröffnete sie wieder mit einem Exposé, in welchem ich die Notwendigkeit unserer Vertretung im Gemeinderat begründete. Männiglich war mit mir einverstanden, so daß man der Kandidatenfrage näher treten konnte. Ich schlug Herrn Alois Habermann vor. Allein der schlaue Habermann lehnte ab wegen Mangel an Zeit. Ich ging weiter und fragte Herrn Dr. Fürbringer an. Der hatte leider auch keine Zeit. Ich sette meine Umfrage fort, und mir wurde heiß und immer heißer und schließlich siedend heiß; denn alle hatten aus plausiblen Gründen abgelehnt, so daß ich befürchten mußte, die Sache bleibe an [98]mir hängen. Meine Ahnung hatte mich nicht betrogen. Schaaggi Kurzmeier verlangte das Wort und sprach :

„Meine Herren! Wir haben nun seit einer Reihe von Monaten getagt unter der umsichtigen und flotten Leitung unseres Herrn Präsidenten und haben ihn alle kennen und schätzen gelernt. Wenn wir Erfolge aufzuweisen hatten, so verdanken wir es nicht zuletzt seiner Energie und seinem Geschick. Ich nehme daher an, daß Sie, meine Herrn, alle mit mir einverstanden sind, wenn ich unsern verehrten Herrn Präsidenten als Kandidaten für den erledigten Posten eines Gemeinderatsmitgliedes vorschlage. Er verfügt über die nötige freie Zeit, und ich lebe der bestimmten Ueberzeugung, daß unser Herr Präsident der rechte Mann am rechten Platze sein wird."

Beifälliges Gemurmel und einzelne Bravos folgten dieser Rede. Ich aber blickte bescheiden errötend vor mich nieder und suchte nach einer Begründung für meine Ablehnung; denn aus meinem tiefsten Innern rang sich ein kategorisches „Niemals“ empor. Ich dankte für das allseitige Zutrauen, machte aber geltend, daß ich unmöglich annehmen könnte wegen ~ Mangel an Zeit. Das wollte mir kein Mensch glauben. Man bat mich und bestürmte mich, bis ich mir zuletzt nach berühmten Mustern eine Bedenkzeit von zweimal vierundzwanzig Stunden erbat. (Was ich während dieser Zeit bedenken sollte, wußte ich zwar nicht, weil ich bestimmt vorhatte, auf die Ehre zu verzichten.) Allein nicht einmal diese Bedenkzeit wurde mir gewährt. Die Versammlung ging über alle meine Proteste hinweg zur Tagesordnung über und stellte mich mit brutaler Einstimmigkeit als Gemeinderatskandidat auf.

Ich trat meinen Heimweg mit gemischten Gefühlen an. Sollte ich mein Präsidium niederlegen und meinen Austritt aus dem Verein, aus meiner eigenen Schöpfung [99]nehmen, um der ganzen Unannehmlichkeit aus dem Wege zu gehen? Eine Gemeinderatswahl ist ein politischer Vorgang, und Politik wollte ich nicht treiben. Anderseits aber durfte ich doch meine Leidensgenossen nicht im Stiche lassen. Mein Schicksal als Einwohner von Roßwil war mit dem ihrigen zu enge verknüpft. Schließlich klammerte ich mich an den einzigen Strohhalm, der mir übrig blieb: ich hoffte inbrünstig auf meine eigene Niederlage.

In meine schweren Gedanken versunken, war ich meinem Hause näher gekommen. Der Vollmond beschien seine weißen Mauern und verwandelte es in eine geheimnisvolle Gralsburg. Bäumeund Sträucher, durchleuchtet vom silbernen Stamm einer Birke, schwankten wie die Schatten Abgeschiedener im Garten und rauschten und flüsterten und kicherten. Mutlos betrat ich mein Eigentum und schloß die Gartentüre. Die eben erst erblühten Akazien schütteten ihre schweren, süßen Düfte hernieder, unterstützt vom betäubenden Geruch des Pfeifenstrauchs. Mit ihnen wetteiferten die stillen Rosen vom dunkelsten Rot bis zum schneeigsten Weiß. Auf knisterndem Kiese schritt ich die schmalen Gartenwege entlang, dem bellenden Schrei des Waldkauzes und dem Ruckuhucken der Schleiereule, die im Walde ihr eintöniges Nachtkonzert veranstalteten, lauschend. Meine Gedanken aber weilten ferne von der lichten Schönheit, die mich umspielte. Ich sah mich im Geiste als Mitglied eines hohen Gemeinderates an dem mir wohlbekannten Tische der Gemeindekanzlei sitzen, an welchem ich einst mit meiner schönen Unterschrift mein Roßwiler Elend durch einen Landkauf besiegelt habe. Ich sah mich vier aalglatten Gemeinderäten gegenüber, ich als reiner Tor, unfähig den Schlichen und Ränken einer hohen Behörde“ zu folgen. Und ich sah mich wieder hinausfliegen bei der nächsten Wahl, weil ich „versagt“, [100]weil ich das in mich gesetzte Vertrauen des Roßwilervolkes getäuscht hatte. – War es nicht möglich ? Konnte der Kelch nicht an mir vorübergehen?

Patsch! Patsch!

Was war das ? Wer störte meine tiefen Gedanken ?

Patsch, patsch, patsch! – Da nahte sich im Mondenschein eine niedliche Kröte, die sich tagsüber in meinem Alpinum aufhielt und nachts zur Jagd auf Schnecken und andere unwillkommene Bewunderer meiner Kulturen auszog. Ganz in meiner Nähe blieb sie stehen und sah mich an, als ob ich nicht in den Garten, sondern ins Bett gehörte. Sie mochte recht haben, die gute Kröte, von ihrem Standpunkte aus. Hätte sie aber geahnt, daß ich Gemeinderatskandidat war, sie hätte gewiß meinem Schmerz und meiner Sehnsucht nach Einsamkeit mehr Verständnis entgegengebracht. Sie sah so klug in die Welt, daß ich mir vornahm, sie mit meinem Kummer vertraut zu machen.

„Liebi, glaini Grott!“ begann ich –

Patsch, patsch, patsch! ~ Da hopste sie schon vergnügt weiter nach den Erdbeerbeeten, wo sie mit Recht reiche Beute witterte.

Neue Enttäuschung für mich: Auch die Zoologie verließ mich in dieser erhabenen, furchtbaren Stunde. Voll tiefster Verachtung für die ganze Erde samt ihren Kreaturen überließ ich mich daher dem weichen Pfühl des Bettes und dem Reich der erlösenden Träume.

Ein Sturm der Entrüstung durchbrauste die Herzen aller währschaften Roßwiler, als meine Kandidatur bekannt wurde. Dafür, daß sie möglichst schnell bekannt wurde, sorgte der Rößliwirt. Seine Tochter hatte in unserer Sitzung während des Servierens etwas weniges aufgeschnappt, es ihrem Vater brühwarm hinterbracht [101]und dieser das Unglaubliche seinen Stammgästen mitgeteilt. Bis zum nächsten Mittag wußte es das ganze Dorf.

Um die Entrüstung zu verstehen, muß man wissen, was ein Herr Gemeinderat in Roßwil bedeutet. Er ist die oberste Stufe der politischen Gemeindetreppe und überragt an Bedeutung den Wächter, den Brunnmeister, den Wegmacher, den Schermauser, den Zuchtstierhalter und den Schulmeister. Dem Herrn Gemeinderat merkt man seine Wichtigkeit auf hundert Schritte an. Wenn er auch nicht viel denkt, so gibt er sich doch den Anschein, als ob er denke. Um keine der schwerwiegenden Gemeinderatsbeschlüsse vorzeitig preiszugeben, spricht er wenig oder nichts. Fragst du ihn, ob die Gemeinde diese oder jene Arbeit schon in Angriff genommen habe, so erwidert er dir, es sei gegenwärtig ausgezeichnetes Wetter zum Durlipssetzen, und dringst du auf eine definitive Antwort, so wirst du angelogen. Im Staatsinteresse darf man ja bekanntlich lügen. Das wissen nicht nur die Kabinette der Großmächte, sondern auch die Gemeinderäte. Und solch ein erhabenes Werkzeug der Roßwiler Menschheit hatte ich die Keckheit werden zu wollen?

Bald vernahm ich, daß ich noch keine Angst vor meiner Wahl zu haben brauchte. Im Haupte des Schuhmachermeisters Spinnhirny war schon längst die Sehnsucht nach dem Strahlenkranze gemeinderätlicher Glorie erwacht. Spinnhirny war ein durch und durch netter Mann, und das bischen politischen Ehrgeiz konnte ihm niemand verübeln. Er war für das Gemeindewohl besorgt und opferfreudig, was von mir mein stärkster Feind nicht zu behaupten wagt. Die Sorge für das Gemeindewohl und die Opferfreudigkeit habe ich aber an anderen Leuten immer sehr gerne gesehen, und ich kann mich noch heute aufrichtig entrüsten darüber, daß [102]es Leute gibt, welche die Sorge für das Gemeindewohl als eine mildere Art moralischen Schwachsinns bezeichnen. Spinnhirny verdiente also, Gemeinderat zu werden. Ratlos wandte er sich an seinen Freund Spenlihauer.

Spenlihauer, Dorfzeitung und rechte Hand des Gemeinderates zugleich, ist ein Mensch, der das Maul auf dem rechten Flecke hat. Einem jeden weiß er das zu sagen, was dieser am liebsten hört, und er ist felsenfest überzeugt, daß jedermann Esel genug sei, ihm zu glauben. Dem Spinnhirny sprang er sogleich hilfreich bei und verschwor sich mit ihm gegen mich, und mir teilte er bei nächster Gelegenheit mit, er werde das Gewicht seiner ganzen Persönlichkeit für mich in die Wagschale werfen.

Was Spinnhirny nnd Spenlihauer beschlossen hatten und was gegen mich unternommen wurde, das erfuhr ich erst später und glücklicherweise zum Teil erst nach dem Wahlakte. Die beiden Kampfhähne ließen durch den Dorfwächter eine Vorversammlung einberufen. Alle Häuser, mit Ausnahme derjenigen, die einen meiner „Parteiangehörigen" als Besitzer hatten, wurden abgeklopft und die Bewohner zum Aufsehen gemahnt.

Sie kamen, die Roßwiler, mit wuchtigem Schritt und dampfender Pfeife, um zum rechten zu sehen. Um acht Uhr abends sollte die Tagung beginnen. Es ward neun Uhr, und kein Mensch hatte noch ein Wort gesagt. Endlich erhob sich Spenlihauer, lobte den „unentwegten“ Fortschritt, focht gegen die schwarze Reaktion und schlug die Gründung einer fortschrittlichen Bürgerpartei vor. Allgemeines Kopfsschütteln folgte seiner Nede. Die einen trauten offenbar dem „Fortschritt“ nicht recht, und die andern sahen Spenlihauers Bürgertum nicht für solider an als das meinige. Für den Fortschritt, hieß es, seien immer nur die fremden Fötzel eingetreten; der echte Bürger sei und bleibe konservatio. [103]Lange wurde hin- und herberaten, bis der gemeinsame Zorn gegen meine Anmasssung schließlich den „Fortschritt" mit dem „Bürgertum“ versöhnte. Die Partei der Roßwiler „Schwarzen Hundert" wurde gegründet und der Fortschrittsmann Spinnhirny als Kandidat für die Gemeinderatswahl aufgestellt. Meine gemeinderätlichen Aussichten waren auf den Nullpunkt gesunken.

Doch mein traditionelles Pech wollte, daß zufällig einer meiner „Anhänger“, der von der Versammlung gehört hatte, anwesend war. Der erhob sich und hielt eine lange Rede zu meinen Gunsten, in welcher er meine Weisheit, mein Gerechtigkeitsgefühl, meine Aufopferungsfähigkeit für das gemeine Wohl, meine geradezu fanatische Wahrheitsliebe und meine parlamentarische Gewandtheit in so glühenden Farben schilderte, daß Spinnhirny in einer unbegreiflichen Anwandlung von Schwermut eine Kandidatur ablehnte. Dadurch wurde die Situation für die unter so günstigen Auspizien gegründete neue Partei prekär. Was saollte sie machen? Ein zweiter Kandidat von der Bedeutung Spinnhirnys war nicht aufzutreiben. Spenlihauers Latein war zu Ende. Er hätte sich gewiß gerne selbst geopfert, d. h. als Kandidat vorgeschlagen, aber er wußte wohl, daß nicht die Liebe zu ihm seine Partei geeinigt hatte.

Die Lage war verzweifelt; denn männiglich hatte sich bereits erhoben, um sich bei einem Iaß im „Rößli“ von der verdammten Politik zu erholen, als im Rößliwirt der neuen Partei ein Retter, a second Daniel erstand. Der Rößliwirt beantragte, der Gemeindeversammlung in Spinnhirny und mir eine Doppelkandidatur – so quasi zur Auswahl -- vorzulegen. So ward beschlossen, und Spinnhirny atmete auf. Das Ei des Kolumbus war wieder einmal auf die Spitze gestellt worden.

[104]

Die Agitation begann. Ich sah meinen ehrlichen Namen auf allen Starkstromleitungsträgern prangen. Errötend folgte ich meinen Spuren und verwünschte meine Nachgiebigkeit. Wie ich an den Starkstromleitungsträgern, so paradierte bald darauf Spinnhirny an allen Scheunentoren. Seine Plakate, von „einigen unabhängigen Wählern“ unterzeichnet, waren noch größer als die meinigen. Sie empfahlen ihn als Mann des unentwegten Fortschritts und wiesen darauf hin, daß man bei mir, seinem Gegner, einen Sprung ins Dunkle tun würde.

Aber nicht genug damit! Spinnhtirny als Vertreter einer anerkannt fortschrittlichen Partei, hatte sogar die fortschrittliche Presse für sich und ich gegen mich und zwar nicht etwa nur einen Roßwiler oder Lauchheimer Anzeiger, sondern ein Stück wirklicher „Presse“. Ein großmächtiges Zeitungsblatt legte sich für den Fortschritt ins Zeug, als ob ich Kandidat der schwärzesten Reaktion gewesen wäre, und packte mich mit der ganzen Wuscht, die der siebenten Großmacht eignet, am Kragen.

Jeder Mensch hat bekanntlich seine Fehler. Nur weiß der Schlaue sie zu verbergen, während der Harmlose sie gutmütig zur Schau trägt. Ich habe nie zu den Schlauen gehört, und darum bot ich meinem Zeitungsblatte eine unheimlich große Angriffsfläche. Aber auch wenn ich ohne Fehl, wenn ich im weißen Engelsgewande direkt vom Himmel herabgestiegen wäre, die siebente Großmacht fände gewiß etwas an mir auszuzusetzen und wenn sie mir aus meiner Unschuld einen Strick drehen müßte. Sie hat es ja so leicht; denn der Gemeinderatskandidat wehrt sich nicht. Geduldig hält er aus und freut sich nur auf den Augenblick, da der ganze Schmutzkübel, der ihm über den Kopf gestülpt wurde, leer wird und ihn wieder schnaufen läßt. Nein, es gibt für die siebente Großmacht kein dankbareres [105]Objekt für den Angriff, als so einen Gemeinderatskandidaten, besonders wenn er nicht als Engel vom Himmel herabgestiegen, sondern mit der sündhaften Erde und ihren Bewohnern während bald eines halben Jahrhunderts engste Fühlung hatte, wenn warmes, mitunter sogar heißes Blut durch seine Adern rinnt. Die Art des Angriffs der siebenten Großmacht ist von verblüffender Einfachheit. Schießesst du Spatzen ab, weil sie dir den Salat oder deine Beeren fressen, so wirst du zum Wilddieb gestempelt. Legst du einem Halunken das Handwerk, in dem du die Aufmerksamkeit der Behörde auf ihn lenkfst, so bist du ein Denunziant. Bewirbsst du dich um eine Nachtwächterstelle, so bist du ein politischer Streber. Läßt du dir nicht von jedem Tropf den Weg verlegen, so bist du ein unheilbarer Querulant. Und so weiter, froh und heiter, gewürzt mit französsischem Esprit und verarbeitet mit deutscher Gründlichkeit! Dann ade, du armer Teufel von einem Gemeinderatskandidaten !

Ich wurde politisch mit Stumpf und Stiel ausgerottet, und die vielen schönen Hoffnungen, die meine Anhänger an meine Wahl heimlich oder offen knüpften, waren dahin. Mit dem Kantonsrat, dem Kreiseisenbahnrat, dem Nationalrat, dem Bundesrat usw. war’s aus.

Der Wahltag kam. Ich setzte mich in die Reihen der Wählenden und starrte teilnahmlos vor mich hin. Der Gemeindepräsident wappnete sich mit seiner Würde und eröffnete die Sitzung. Ich hörte ihn wie aus weiter Ferne. Der Schreiber verlas das Protokoll der letzten Gemeindeversammlung. Ich verstand nichts davon. Ich konnte keinen Gedanken fassen. Schließlich betrachtete ich einige Gipslatten, die von der blessierten Zimmerdecke herab ihrer stillen Verwunderung über all’ die [106]Leute da unten freien Lauf ließen. Minute um Minute, eine furchtbarer als die andere, verrann. Jetzt kam die Wahl. Ich wußte es, weil Zettel ausgeteilt wurden. Meine Freunde hatten mir eingeschärft, nicht etwa den „noblen Hund" zu spielen, sondern mir selber die Stimme zu geben. Das ging mir nun bei meiner allbekannten Bescheidenheit und bei meinem bis zur Krankhaftigkeit ausgeprägten Taktgefühl gegen den Strich. Aber — durfte ich den schwarzen Verrat begehen und mir nicht stimmen? Hing unter Uniständen nicht von dieser einen Stimme das Wohl und Wehe meiner Partei ab ? Es war wohl nicht Zufall, daß plöglich Habermann und Dr. Fürbringer zu meinen beiden Seiten und Schaaggi Kurzmeier und Rumpler hinter mir saßen.

„Die kontrollieren dich!“ sagte ich mir. „Nimm dich zusammen und stimm’ für dich selbst!“

Der Präsident hatte die Stimmenzähler ernannt. Sie nahten sich mit ihren Körbchen. Bei ihrem Anblick überkam mich ein stiller Zorn. Warum sollte ich mich pressen lassen? „Gemeinderat hin, Gemeinderat her! Ich bin ein freier Schweizer!" so schwur ich in diesem feierlichen Momente, zog meinen Bleistift hervor und schrieb auf meinen Zettel, troß meiner vierfachen Bewachung :

Pompejus Spinnhirny, Schuhmachermeister.

„Alea jacta est!“ sprach ich, als ich den Bettel ins Körbchen legte, und gab mich einem Zustande hin, den man gewöhnlich mit Apathie zu bezeichnen pflegt, während Habermann und Dr. Fürbringer, wie übrigens der größte Teil der Versammlung, mit gespannter Aufmerksamkeit dem Verlesen der Stimmzettel folgten und Schaaggi Kurzmeier mit Rumpler eine Flasche wettete, daß ich gewählt sei.

Endlich verkündete der Präsident das Resultat. Es waren 119 Stimmen eingelegt worden. Das absolute [107]Mehr betrug 60. Stimmen hatten erhalten: Spinnhirny 60, ich 59. Spinnhirny war gewählt.

Während wir uns alle erhoben, schmetterte die Schulhausglocke der Sonne ein jubelndes : Habemus Papam! entgegen. Spinnhirnys Partei ging zur Siegesfeier nach dem „Rößli“ und meine Partei, geschlagen und niedergeschlagen, nach Hause, nachdem mich alle meine Anhänger ihrer tiefgefühlten Teilnahme versichert hatten. Innerlich versöhnt, betrat ich meinen Heimweg, auf dem ich trotz allen politischen Frühlingsstürmen immer noch kein Wegrecht besaß. Der süße Wahnsinn des Verzeihens kam über mich, und im Uebermaße meines Glückes vergab ich allen meinen politischen Schuldnern, d. h. ich sprach mit Niet;sche-Zarathustra : „Ich vergebe dir, was du mir tatest; daß du es aber dir tatest, ~ wie könnte ich das vergeben!‘ Ich nahm mir sogar vor, mich den Schrullen eines widerssinnigen Sonntagsgesetzes zu fügen.

Den mit so glänzenden Aussichten ins Leben getretenen Politiker in mir hängte ich aber für immer an den Nagel.

[110]

Meine Weggenoßsen.

[111]

Der Schnittenfritz.

Der Schnittenfritz war mein Freund und Mitschüler. Man nannte ihn „Schnittenfritz", weil er erstens den seltenen Namen Fritz trug und zweitens an jeden, den zum Zweikampfe herauszufordern er irgend eine Ursache hatte, die Frage richtete:

„Wotsch Schnitte ?"

Schnittenfritz ließ sich nämlich die gleiche Beleidigung nicht zweimal gefallen, und unterstand sich einer, auf die bedeutsame Frage nicht sofort klein beizugeben, so erhielt er ohne Erbarmen die in Aussicht gestellten „Schnitten“, d. h. Hiebe von links und rechts.

Schnittenfriz war daher eine gefürchtete Persönlichkeit. Er imponierte schon beim ersten Anblick durch seine kräftige Gestalt mit den breiten Schultern, deren Wucht er durch das Zuknöpfen nur des untersten Knopfs seiner Jacke noch zu erhöhen wußte. Aus seinem gelbbraunen, breiten und knochigen Gesichte, blickten finster zwei unheilverkündende wassserblaue Glotzaugen, zu welchen das sorgfältig gescheitelte blonde Haar und das lustig auf dem linken Ohre sitzende schwarze Filzhütchen einen merkwürdigen Gegensatz bildeten. Der leichte, beinahe grazisss Gang verriet den gewiegten Kunstturner. Schnittenfritz galt nämlich für einen der besten Turner der Klasse und glänzte bei allen Uebungen, vom Bauchaufzug bis zum Riesjee, durch die tadellose [112]Eleganz seiner Bewegungen. Beim Ringen und Schwingen aber nahm er unbestritten den ersten Rang ein und übte unermüdlich an jedem seiner Mitschüler seine „Griffe“. Fiel jemand in Schnittenfritzens Nähe, scheinbar ohne Ursache, geräuschlos und möglichst rasch rückwärts zu Boden, so konnte man mit Sicherheit annehmen, daß Schnittenfritz einen neuen „Griff“ probiert hatte. Veraltete Methoden, wie z. B. das Beinstellen, verachtete er. Darum waren seine „Griffe“ immer originell.

Bei den Kadetten hatte es Schnittenfritz bis zum Major gebracht. Das war eine respektable Leistung, wenn man bedenkt, daß er seine Beförderung ausschließlich seiner militärischen Tüchtigkeit verdankte. Wie beim wirklichen Militär, so setzte auch bei den Kadetten die Möglichkeit, Offizier zu werden, im allgemeinen eine gewisse soziale Stellung voraus, und diese Stellung hatte Schnittenfriz nicht inne. Seine Eltern wohnten im äußersten „wilden Viertel“, in einer Gegend, die von den Göttern, wenn sie noch gelebt hätten, mit Nacht und Grauen bedeckt worden wäre. Das „wilde Viertel“ bestand aus wenigen Straßen, die durch einen Eisenbahnstrang von der übrigen Stadt getrennt waren. Woher es seinen schlechten Ruf hatte, weiß ich heute noch nicht. Von der Hautevolée war es allerdings nicht bewohnt; doch es gibt ja auch außerhalb der Hautevolée noch ganz rechtschaffene Leute. Item, Tatsache ist, daß bessere Aerzte und Advokaten das Viertel entweder gar nicht oder nur gegen Vorausbezahlung betraten. Die langweiligen Häuserreihen waren bis zur Schäbigkeit öde und alle Hauseingänge schwarz vom Entlangrutschen des Kindersegens. In jedem fünften Hause befand sich ein Spezereilädelein, aus welchem alle Waren entweder nach Petroleum oder nach Seife rochen. Und da wir uns gerade mit dem Geruche beschäftigen, [113]so darf nicht unerwähnt bleiben, daß auch dem ganzen Viertel ein gewisser Geruch eigen war. Das rührte daher, daß sich an seiner Peripherie eine chemische Fabrik, eine Kerzenfabrik und eine Cichorienfabrik befanden. Die Gerüche dieser drei Fabriken vermischten sich und gaben dem ganzen Viertel das Cachet, das immerhin von Tag zu Tag, manchmal von Stunde zu Stunde variierte, indem das eine Mal die Anilinverbindungen, das andere Mal der Talg und das dritte Mal der „Schigori“ den Vorrang hatten. Daneben besaß noch jedes Haus, oft auch jedes Stockwerk seinen Privatgeruch.

Unter allen Fenstern lag zum Auslüften bestimmte Bettwäsche, und vor jedem Hause spielte ein Dutzend Kinder Ringelreihen nach der schönen Melodie des „Iungfern-Kranzes“ oder des „Herrn mit ein'm Pantoffel.“

Ich betrat einmal in eigener Person die engere Heimat Schnittenfritzens, wenn auch nur mit Zittern und Zagen und für mein Leben fürchtend. Um aber bei einem allfälligen räuberischen Angriffe nicht ruhm- und kampflos unterzugehen, steckte ich vorher heimlich einen verrosteten Schlagring zu mir, den ich einst auf einem Schuttablagerungsplatze unter altem Eisen aufgestöbert hatte. Meine Vorsichtsmaßregel war indessen überflüssig, da mir auch nicht der Schatten eines Haares gekrümmt wurde. Es enttäuschte mich sogar, daß in den von Weibern, Kindern und Faulenzern belebten Straßen niemand von meiner faszinierenden Erscheinung Notiz nahm.

Bei meiner Ankunft vor Schnittenfritzens Behausung tönte mir aus dem Erdgeschoß die Sprache meines berühmten Zeitgenossen Gabriele d’Annunzio entgegen. Unwillkürlich griff ich in der Tasche nach meinem Schlagringe. Aber wie alles an der lateinischen Rasse, so löste [114]auch dieser Spektakel sich in Harmonie auf. Ein „Manssardentlavier“ begann, sich Geltung zu verschaffen, und riß die erst noch krakehlenden Stimmen zu einer südländisch weichen Weise hin. Und als ich nun gar durch ein geöffnetes Fenster sah, wie die schwarzgelockten Söhne des Südens auf einem Bett, einem zerrissenen Sofa und zerbrochenen Stühlen friedlich dahingegossen waren, da verließ mich jede Furcht, und ich stiefelte tapfer die Treppe hinauf zu Schnittenfritz. Ich wurde freundlich aufgenommen, und von diesem Tage an war Schnittenfriß mein Intimus und offenbarte sich mir in Eigenschaften, die ich um so höher schätzte, als sie mir unerreichbar waren.

Am angenehmsten berührte mich seine Liebe zur Musik. Denn während ich nur unter unaufhörlichem Schelten zum Ueben auf meiner Geige gebracht werden konnte, musizierte Schnittenfritz aus freien Stücken, ohne Unterbruch, mit einer Hingebung bis zur Raserei, bis man ihm sachte bedeutete, man nehme Reißaus, wenn er nicht aufhöre. Er spielte allerdings keines der gebräuchlicheren Instrumente, weder Klavier, noch Geige, noch Cello, noch Flöte, nicht einmal „Manssardenklavier“, sondern nur Mundharmonika, „Schnuregyge“, wie er sein Instrument liebevoll nannte. Die aber beherrschte er wie ein Künstler. So oft er sie aus der Tasche zog, beliebte er vorauszuschicken, daß er auch in moll musiziere. Gewöhnlich spielte er eigene Kompositionen, unter welchen ein Walzer, ein Trauermarsch und eine Symphonie hervorragten. Die Symphonie war Programmusik schlimmster Sorte: die Schilderung eines Essens von 6 Gängen mit Hors d’oeuvre, Dessert und Kaffee mit Kirsch.

Am dankbarsten waren wir für Schnittenfritzens Musik auf den Schulspaziergängen. Da zog er uns auf den staubigen Landstraßen mit seiner „Schnuregyge“ [115]voran, und die ganze Klasse marschierte im Schritt zu seinen Klängen. Man vergaß die Beschwerden des Marsches, den Hunger, den Durst und die fehlenden Zigaretten. Machten wir Rast, um uns auszuruhen und zu erfrischen, so blies der Unermüdliche noch auf besonderes Verlangen den Trauermarsch. Den größten Dienst aber leistete Schnittenfritz durch sein Musizieren sich selber, weil er dadurch alles Trennende zwischen sich und vielen seiner Mitschüler beseitigte, indem er dadurch den Beweis erbrachte, daß er, trotz seines lebenslänglichen Aufenthaltes im „wilden Viertel“, im Grunde ein guter Mensch geblieben war; denn böse Menschen haben ja bekanntlich keine Lieder.

Immerhin hätte sein großes musikalisches Talent allein nicht genügt, ihm die Sympathie aller Klassengenossen zu erwerben, da sich unter ihnen auch höchst unmusikalische Leute befanden. Was ihm eigentliche Popularität verschaffte, das war ein Charakterzug, auf dessen Entstehung seine engere Heimat wohl nicht ohne Einfluß war und der ihn zum willkommenen Werkzeuge für jeden Klasssenulk befähigte: eine Unverfrorenheit, die ans Uebernatürliche grenzte, die uns oft überraschte wie das Walten des Schicksals. Er inszenierte Streiche, an die wir andern nicht zu denken gewagt hätten, und führte sie in der Hauptsache auch selber aus. Dazu sette er die harmloseste Miene auf und gab sich, wurde er einmal erwischt, einen Anschein von Unschuld, der einfach verblüffte. Besschloß z. B. die Klasse, in der Stunde des Lehrers A. Schwefelwasserstoff zu entwickeln, so stellte Schnittenfritz heroisch sein Tintenfaß zur Verfügung, und konstatierte der Lehrer durch, eigenes Riechen an allen Tintenfässern beim Schnittenfritz den Herd des Gesstanks, so spielte dieser derart den Verständnislosen, daß der Lehrer felsenfest überzeugt war, ein anderer habe Schnittenfritzens Tintenfaß ohne dessen [116]Wissen mißbraucht. Wurde vor Beginn der Stunde des Lehrers B. auf den obern Rand der nur spaltenweit geöffneten Türe - natürlich durch Schnittenfrit;! der tropfnasse Schwamm gelegt, damit er beim Eintritt des Lehrers auf dessen Glatze tätschte, so wälzte sich beim Gelingen des Anschlages die ganze Klasse vor Lachen; Schnittenfritz nur blieb ernst, und der Lehrer B. war überzeugt, in ihm den einzigen Schüler der Klasse zu haben, der einer so ruchlosen Tat nicht fähig war.

Diese Eigenschaften stempelten Schnittenfritz zum Klassenhelden. Man verzieh ihm seine unangebrachtesten Turnergriffe, ja man trug geduldig in corpore die vom Rektor über die ganze Klasse verhängten Strafen, weil das Puntenöri verbot, Schnittenfritz zu verraten.

Den Gipfel des Ruhmes erstieg er durch einen Vortrag, den er in der Englischstunde hielt. Unser Englischlehrer, von uns kurzweg Iohny genannt, ein gutmütiger alter Herr, verlangte nämlich von einer gewissen Schulstufe an von jedem Schüler die Fähigkeit, einen Vortrag in englischer Sprache halten zu können. Das hört sich großartiger an, als es in Wirklichkeit war; denn Johny gab sich mit allem, selbst mit der schlimmsten Mißhandlung seiner an und für sich schon nicht schönen Muttersprache zufrieden. Ieder machte sich die Aufgabe so leicht als möglich. Man übersetzte irgend einen Abschnitt aus einem Buche historischen, literarischen, naturwissenschaftlichen oder technischen Inhalts ins Englische und lernte ihn notdürftig auswendig. Das Konzept übergab man einem in der vordersten Reihe sitenden Mitschüler, der die Funktion des Souffleurs übernahm. Einige der Bequemssten gingen so weit, aus der in unserm Gebrauche stehenden englischen Literaturgeschichte irgend eine Biographie auswendig zu lernen und vorzutragen, und ihre Faulheit wurde dadurch belohnt, daß sie für ihr gutes Englisch eine bessere Note [117]erhielten, als diejenigen, die sich ihren Vortrag mühsam aus dem Wörterbuch zussammengeflickt hatten.

Was in diesen Vorträgen, sofern sie wirklich das eigene Produkt des Vortragenden waren, hie und da für ein Englisch verbrochen wurde, davon kann sich die kühnste Phantasie kein Bild machen. Trotzdem gab Johny selten schlechte Noten. Die beste Note war 1, die schlechteste 5. Um aber bei Iohny nur ein 2 zu erhalten, mußte man schon im Schlamme eines fürchterlichen Kauterwelsschs oder vielmehr Kauderenglisschs stecken geblieben sein.

Nun war Schnittenfriz weit davon entfernt, zu Johny'’s besten Schülern zu gehören. Schon die Aussprache machte ihm auffallende Beschwerden, und wenn er englisch sprach, spie er um sich, als ob er Gift erwischt hätte. Iedenfalls schlug er sich mit einem Minimum von Arbeit und Kenntnissen durch den englischen Unterricht. Machte Johny Miene, jemanden zum Uebersetzen aufzurufen, so duckte sich Schnittenfritz so tief hinter den Rücken des Vordermannes, daß der kurzbeinige Johny ihn nicht sehen konnte, und wessen Kopf Johny’s Blick nicht traf, der war sicher, von ihm nicht aufgerufen zu werden. Mißlang Schnittenfritz gelegentlich einmal sein Manöver, so wurde ihm von allen Seiten so deutlich eingeblasen, daß Johny das Lachen kaum zu verbergen vermochte.

Wir waren daher alle nicht wenig erstaunt, als Schnittenfritz, nachdem die Reihe, einen Vortrag zu halten, an ihn gekommen war, uns erklärte, er werde den ausgetretenen Weg verlassen und einen vollständig freien englischen Vortrag halten. Und wirklich : Schnittenfritz wies uns, als der große Tag herbeigekommen war, einen kleinen Zettel vor, auf dem sich nichts als die Disposition zu seinem Vortrage befand. Die Erholungspause vor der kritischen Englischstunde benutzte er, [118]um - offenbar zu Demonsstrationszwecken ~ ein ganzes Warenlager breitzulegen. Außer einem versiegelten Patet, das erst während des Vortrages geöffnet werden sollte, kamen Schnüre, Holzlatten, Steine, hartgesottene Eier, Geldstücke aus Nickel und Kupfer, Biermarken usw. zum Vorschein. Auf den Tisch, der ihm als Rednerpult diente, stellte er das sonst für die Reinigung der Wandtafel bestimmte Becken mit Wasser, und zu beiden Seiten derselben wurden Stearinkerzen auf die Tischplatte gepappt.

Sobald Johny das Klassenzimmer betreten hatte, stellte sich Schnittenfritz hinter den Tisch, zündete die beiden Kerzen an und begann mit schmetternder Kommandostimme :

„On a market-day in a village.“

Diese Worte sollten besagen, daß er das Leben und Treiben eines ländlichen Marktes zu beschreiben gedenke. Er begann, im schauderhaftesten Englisch, das je an ein menschliches Ohr geklungen, die Reize eines solchen Markttages zu schildern, und legte Zeugnis ab für die Gründlichkeit, mit welcher er die ländlichen Kirchweihfeste der Umgebung besucht hatte. Er vergaß nichts, weder den Pruntruter Gesschirrhändler, noch den Verkäufer von Mülhausser Stoffresten. Aus seinem versiegelten Pakete holte er Muster hervor: als Geschirrmuster ein sehr intimes Gefäß und als Stoffmuster eine Windel, auf welcher er mit gelber Farbe ein Dessin angebracht hatte, wie es sich Säuglinge in gewissen Lebenslagen leisten. Er schilderte das Gebahren des „billigen Jakob“ und bot als solcher Hosenträger zum Verkaufe an, die von acht Pferden nicht zerrisssen werden könnten, Tintenstifte mit einer Ausdauer von zwei Jahrhunderten, Geschirrkitt, der das Geschirr solider mache, als es vor dem Zerbrechen war, Krawatten, die das Leben jedes Methusalem aushielten, u. s. w. Er beschäftigte sich mit der Psseudonegerin, [119]die Glücksbriefe verkaufte, und wies einen solchen Glücksbrief samt Photographie der „Zukünftigen“ vor. Zum Schluß aber kam der Clou des „Vortrages“, eine Zaubervorstellung, wie sie etwa an einem Markttage auf dem Lande geboten werden könnte.

Schnittenfritz war immer ein großer Zauberer gewesen. Ich kannte ihn schon längst von dieser Seite. Er konnte Steine verschlucken und sie mir dann aus der Nase ziehen; er konnte eine Schnur vor meinen Augen zerschneiden und sie ohne Knopf wieder ganz machen; er konnte unter seinem Hute ein Ei verbergen, und das Ei besand sich bei näherem Zusehen in meiner Tasche; er konnte + o er konnte unendlich vieles! Alle seine Kunststücke machte er uns vor, begleitet von seinem englischen „Vortrag“. Zum Schlusse kam das wichtigste Zauberstück. Er behauptete, er könne jedem, der es wünsche, die Zukunft prophezeien und zwar nicht etwa nur von ungefähr, sondern mit mathemathischer Sicherheit. Diejenigen, die Vertrauen zu seiner Methode hätten, sollten sich melden. Es meldeten sich ihrer zwölfe, unter ihnen auch der gutmütige Iohny. Ich blieb weg; denn so vertrauensselig ich sonst bin, diesmal war ich mißtrauisch.

Schnittenfritz nahm eine der seinen Tisch flankierenden Stearinkerzen, hielt sie über das Wasserbecken und lies für jeden der zwölf Neugierigen einen Tropfen ins Waser fallen. Ieder Tropfen nahm bei dem raschen Erkalten im Waser eine andere Form an, so daß jeder Zuschauer seinen Tropfen im Auge behalten konnte. Schnittenfritz begann nun, das Wasser mit der Hand umzurühren, hielt aber wieder inne, um jedem zu empfehlen, sich seinen Tropfen genau zu merken.

„Do you see him?“ wandte er sich an Johny.

„If I can see it? – Oh yes!"

Dann beschleunigte er das Umrühren. Die Tropfen [120]bildeten nur noch einen milchweißen Ring, und die Köpfe der Neugierigen kamen immer näher zusammen und gruppierten sich im Kreise, wie die Karpfen im Teiche um einen fetten Brocken. Da –

Beng! Flätsch!

Ein Moment atemloser Stille ~ und dann brach ein Orkan von Gelächter los, ein Huronengelächter, ein Gelächter, das die Wände erzittern machte. Schnittenfritz hatte, als alle zwölf Köpfe nahe genug beim Becken waren, mit der flachen Hand ins Wasser geschlagen, und alle zwölf, Johny inbegriffen, troffen wie zwölf aus dem Meere auftauchende Seehunde.

Ich hatte mich unter dem ersten Eindrucke dieses Bildes auf die Schulbank gelegt und einfach hinausgebrüllt und gestrampelt vor Vergnügen. Als ich wieder aufsah, trockneten sich meine durchnäßten Mitschüler mit den Taschentüchern die Gesichter, während sich Iohny, offenbar zum gleichen Zwecke, hinter die Wandtafel zurückgezogen hatte. Der Schnittenfritz aber stand in seiner elegantesten Kadettenhäuptlingspose da, den linken Arm in die Hüfte gestemmt, die rechte Hand noch tropfend, und blickte erstaunt um sich, als ob er nicht begriffe, was unser Gelächter zu bedeuten habe. Nur um die Mundwinkel huschte ein leichtes Zucken, das aber verschwand, als Iohny, erfrischt wie eine Rose im Tau, hinter der Wandtafel hervortrat und ihn im heiligem Zorne anfistelte:

„Have you finished?“

"Yes, Sir!“

„Sie bekommen die schlechteste Note für diese Frechheit! – Wochner, notieren Sie ihm eine Fünf!“

Die Fünf saß bis zur nächsten Englischstunde. Dann bereute der gute Johny seine Strenge und wandelte die Fünf in eine Zwei um, was der Schnittenfritz mit einem fröhlichen Zwinkern des rechten Auges quittierte.

[121]

Der bescheidene Hansli.

Ist die Bescheidenheit eine Tugend ? – Ich bezweifle es sehr und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie am lautesten von denjenigen als Tugend gepriesen wird, die sie nicht besizen. Doch ob Tugend oder nicht, sie ziert den Menschen wie ein paar schöne, dumme Augen ein Gesicht zieren. Sie gewinnt alle Welt für sich, und darum hat der Besscheidene so viele Freunde, die ihn ausnützen. Wenn also die Bescheidenheit auch keine Tugend ist, eine Zierde, ohne die man allerdings weiter kommt, ist sie unbedingt, und Goethe tut daher manchem Bescheidenen bitter unrecht mit seinem: „Nur die Lumpe sind bescheiden.“ Wie es unbescheidene Lumpe gibt, so gibt es auch besscheidene Brave. Die Bescheidenheit ist ein Pflänzchen, das auf jedem gehörig mit Schüchternheit oder Dummheit gedüngten Grunde gedeiht.

Hätte Goethe zum Beispiel unsern Hansli, den Helden dieser Geschichte, gekannt, seine harten Worte wären unausgesprochen gehlieben; denn Hansli ist kein Lump, und trotzdem ist er nur ein bescheidenes Veilchen oder noch weniger in dem wuchtigen Blumengarten der Menschheit. Schon als er noch ein Buschi war, sagten seine Eltern von ihm, er „fremde“, weil er sein Mündchen beim Anblick jedes unbekannten Gesichtes zu einem Brieggeli verzog, und sobald ihn ein fremder Arm, selbst derjenige seiner Patin, wiegen wollte, schrie er, als ob er am Messer steckte. Als er gehen konnte und [122]die ersten Höschen trug, verbarg er sich beim Anblick fremder Leute hinter dem Rocke seiner Mutter, und noch später verkroch er sich, sobald Besuch gemeldet wurde, im dunkelsten Winkel des Dachbodens. Es wäre also durchaus nicht nötig gewesen, ihm zu sagen, daß die Bescheidenheit die schönste Zierde der Jugend sei. Trotzdem ließ sein in allen Lebenslagen korrekter Papa keinen Tag vergehen, ohne ihn zu ermahnen, sich in dieser angeblichen Tugend zu üben.

Der Erfolg entsprach den Erwartungen. Hansli brachte es in der Kunst, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, zu einem unglaublichen Raffinement. War er in seiner Schulklasse der einzige, der auf eine Frage die Antwort wußte, so sagte er diese Antwort nicht dem Lehrer, sondern blies sie einem seiner Mitschüler heimlich ein, der sich dann mit der fremden Feder schmückte und das Lob einheimste. Rühmte jemand seine blonden Locken, so behauptete er, sein Freund Gussti habe noch viel schönere. Belohnungen für Botengänge wies er zurück mit der Begründung, daß ihm der Gang selbst Vergnügen gemacht habe und er dadurch genügend belohnt sei. Gelang ihm zu Hause eine hübsche Arbeit, bei welcher ihm ein Kamerad mit guten Ratschlägen beigestanden, so vergaß er nicht, diesem das Hauptverdiensst zu überlassen. Er sprach im Kreise älterer Personen nie, ohne daß vorher das Wort an ihn gerichtet worden wäre, und auch dann immer nur unter leichtem Erröten. Keinem Menschen drängte er seine Bekanntschaft auf, und jedem, der sie suchte, sprach er dafür seinen verbindlichsten Dank aus. Trat man ihm auf die Hühneraugen oder brannte man ihm mit der Zigarre ein Loch ins Kleid, so entschuldigte er sich.

Die Berufswahl bereitete ihm keine großen Schwierigkeiten. Seinen persönlichen Neigungen hätte am ehesten die bescheidene Stube eines gelehrten Forschers [123]entsprochen. Den Papa begann aber die Bescheidenheit seines Sohnes zu ängstigen, und da ihm die geistigen Fähigkeiten desselben nicht besonders bedeutend erschienen und er wußte, daß der „bescheidene Gelehrte“ der Geschichte angehört, gab er ihn in eine kaufmännische Lehre, wogegen Hansli nichts einzuwenden hatte. Auch hier gewann er die Freundschaft seiner Vorgesetzten und seiner Kollegen. Einen goldenen Charakter nannten ihn die einen und ein goldenes Herz die andern, und die Inhaber der Firma bezahlten ihn miserabel, weil er mit jedem Gehalt zufrieden war, während ihm die Kollegen alle Arbeit aufhalsten, weil er willig alles auf sich nahm.

So war er glücklich auf dem Wege, ein Liebling der Gesellschaft zu werden, das heißt der männlichen Gesellschaft; denn bei der weiblichen litt er elend Schiffbruch. Die jungen Mädchen hatten keinen Sinn für Hansli’s Bescheidenheit. Während er à la Schiller errötend ihren Spuren folgte, ließen sie ihn errötend folgen und zogen ihm den Unbescheidenen vor, der die Küsse in lachendem Uebermut von ihren Lippen trank, und so sehr die Mütter heiratsfähiger Töchter an dem bescheidenen Hansli den Narren gefressen hatten, immer wieder mußte er bescheiden einem Unbescheidenen Platz machen.

War nun aber Hansli auch nicht unbescheiden, so war er doch beharrlich, und diese Ameisentugend führte ihn zum Ziele. Ein strammer Ruedi von einem Mädchen, das von den Küssen der Unbescheidenen übergenug hatte und zu fürchten begann, es verpasse den Anschluß, wußte den Hansli zu einem Heiratsantrag anzusspornen und neutralisierte seine Bescheidenheit, indem es nach der Hochzeit selbst die Hosen anzog. Vorher aher spielte die Bescheidenheit Hansli noch einen Streich, der ihn mit Freuden das Pantöffelchen seiner Frau begrüßen ließ.

Er war als zwanzigjähriger Mann in einen Kreis [124]junger Leute getreten, die, außer einer edlen Geselligkeit, der schönen Sitte huldigten, jedem Mitglied beim Eintritt in den Ehestand ein Geschenk zu überreichen. Jeder der ungefähr zwanzig jungen Männer spendete bei solchen Gelegenheiten fünf Franken, so daß bei jeder Hochzeit eine Gabe von ungefähr hundert Franken zusammenkam. Bei Hansli’s Eintritt in den Verein waren noch alle ledig gewesen, und als er sich verlobte, blieben als Junggesellen nur noch zwei hartgesottene Weiberfeinde übrig. Er hatte somit beinahe bei allen am Brautgeschenk mitgewirkt und durfte hoffen, ohne unbescheiden zu sein, auch bei sein er Heirat mit einem Geschenk bedacht zu werden. Richtig nahm ihn auch Migger, der Kassier, einige Wochen vor der Hochzeit auf die Seite und sprach zu ihm:

„Hansli, wie du weißt, wird jedem Mitgliede unseres Vereins bei der Hochzeit etwas geschenkt. – Hast du einen besonderen Wunsch ?“

„Laßt doch das sein!“ antwortete Hansli bescheiden wie immer. „Ich habe ja alles, was ich brauche, oder“ (er vermutete plötzlich, daß seine Braut anderer Ansicht sein könnte) „wenn es absolut etwas sein muß, dann nur irgend eine Kleinigkeit."

„Ziehst du,“ fuhr Migger fort, „ein Geschenk für dich persönlich vor, zum Beispiel ein schönes Buch von Karl May, oder etwas für die Haushaltung ?“

Hansli liebte die Bücher, konnte aber von Miggers literarischem Geschmack, nachhem ihm ein Buch von Karl May angetragen worden war, nichts Gutes erwarten und wünschte sich daher „etwas für die Haushaltung“.

Als er seiner Braut von dieser Unterredung berichtete, ergingen sich die beiden unter der bräutlichen Aegide in den verwegensten Hoffnungen. Sie ratschlagten immer wieder, was es wohl sein werde: ein [125]großer Bodenteppich für das gute Zimmer, ein Kronleuchter, eine Wanduhr, ein Spiegel mit Konsole, ein Bücherschrank oder vielleicht noch etwas Schöneres.

Um jene Zeit war in Löfflers Glasladen Ausverkauf wegen Geschäftsaufgabe. Dahin begaben sich die Brautleute eines Tages, um Küchengesschirr einzukaufen. Während die Braut ihr Geschirr zusammensuchte, bebetrachtete Hansli ein aus einem Glaskruge mit sechs Gläsern bestehendes und auf einer runden hölzernen Tablette aufgestelltes Bierservice, einen offenbar alten, sehr dem ländlichen Geschmack angepaßten Ladenhüter. Auf rotem Glase prangten zwischen überladenem Goldschmuck blaue vergißmeinnichtartige Blümlein. Hansli rief seine Braut herbei, und beide hatten ihre helle Freude an der Geschmacklosigkeit des Glaskünstlers.

„Der Preis ist auch darnach," meinte Hansli, nachdem er die am Henkel des Kruges angebrachte Etikette betrachtet hatte. „Das ganze Zeug kostet drei Franken fünfundsiebzig.“

Dann packten sie ihr Geschirr zusammen und ließen es sich nach Hause schicken.

Der Hochzeitstag näherte sich. Nach und nach trafen bei der Braut Geschenke der Verwandten und Freunde der beiden sich verschwägernden Familien ein, vom Verein immer noch nichts. Migger schien zögern zu wollen, um die Ueberraschung voller wirken zu lassen.

Endlich, am Polterabend, wurde ein Paket abgegeben mit einer Adreßkarte Miggers und einem Schreiben des Vereins, in welchem dem jungen Paar alles Gute und noch mehr gewünscht wurde. Fieberhafte Hände entfernten die Umhüllungen, die fast ausschließlich aus Reklamen für Miggers Geschäft bestanden, und heraus schälte sich + das Bierservice aus Löfflers Ausverkauf für drei Franken fünfundsiebzig.

[126]

Eine Schicksalstragödie.

"Bevor wir Freundschaft schließen, muß ich dir mitteilen, daß ich ein Unehelicher bin !"

Cosimo Simon sah mir dabei fest in die Augen. Wir saßen in der dunkeln Ecke einer Wirtschaft im Industriequartie. Am Stammtische vor dem Buffet hatten zwei Kohlenfuhrmänner mit Lederschürzen und ein Bahnarbeiter soeben in schweren Halblitergläsern frischen Anstich bekommen. Sie ergriffen die Gläser, setzten sie noch einmal schwer ab, stießen an, wischten mit den schwieligen Handflächen über den Glasrand und schlürften hörbar den Gerstensaft, während sich ihre rußigen Schnurrbärte wie halbruinierte Fabrikkanalrechen in den weißen Schaum versenkten. An einem Tischlein neben der Türe machten vier Arbeiter einer chemischen Fabrik mit roten und blauen Händen einen Schieberjaß. Einer von ihnen schlug mit kräftiger Faust eine schmutzige Karte auf den Tisch und meldete mit dröhnender Stimme die „Stöcke“. Hinter dem Buffet saß die dicke Wirtin mit bleichem, zerfallenem Gesicht, und neben ihr stand ihr Mann, dem Aussehen nach ein ehemaliger Bierbrauer, mit roter Nase und triefenden Augen.

In diese unappetitliche Umgebung hatte mich Cosimo Simon geführt, um mir zu eröffnen, daß er gerne mit mir Freundschaft schließen möchte. Er habe bemerkt, [127]sagte er, daß ich ein aufgeweckter Bursche sei und daß ich mir ~ ganz wie er ~ nicht alles gefallen lasse. Gegen all’ das hatte ich nichts einzuwenden; aber daß er mir seine uneheliche Herkunft so brutal an den Kopf warf, das berührte mich unangenehm. Was ging das mich an? Was hatte seine Herkunft mit unserer Freundschaft zu tun ?

Als er sah, daß ich mit meiner Antwort zögerte, lehnte er sich verstimmt an den nächsten Stuhl, und ein häßliches Lächeln glitt über sein Gesicht.

„Sie müssen mein Schweigen nicht mißversstehen, Herr Simon,“ gab ich schließlich zurück. „Ich schätze Ihre Offenheit. Aber es gibt Dinge, von denen ich nicht gerne spreche und nicht gerne sprechen höre. Daß ich die Menschen nach dem beurteile, was sie sind, ohne Rücksicht auf Abstammung und Besitz, das hätten sie wahrhaftig seit dem Beginn unseres Verkehrs wahrnehmen können.“

Cosimo Simon war mit mir zufrieden. Wir stießen an auf du und du.

Wie war wohl Cosimo’'s Mutter auf den Namen des stolzen Florentiners geraten, um ihren Knaben unter diesem pompösen Schmuck ins Leben zu senden? Niemand wußte es und niemand hatte sie je darnach gefragt. Sie war von ihren selbst nicht mit Glücksgütern gesegneten Eltern verstoßen und mit ihrem Kinde ins Elend gejagt worden und brachte sich mit Waschen und Putzen mühsam durch's Leben. Während sie ihrer Arbeit nachging, wuchs Cosimo einsam auf in einer Manssarde, seiner mütterlichen Wohnung. Er sprach später selten von seiner Kindheit; wenn er aber davon sprach, dann zitterte der Haß des Enterbten in seiner Stimme. Er wurde ein fleißiger und intelligenter Schüler, mußte sich jedoch mit dem, was in acht Jahren [128]in der Primarschule zu holen war, begnügen. Nach Verfluß seiner Schuljahre, kam er als Arbeiter an die Bahn und brachte es bis zum Weichenwärter. Allein sein Ehrgeiz und sein Wissensdurst ließen ihm keine Ruhe. Jede freie Minute wurde zum Studium der französischen Sprache, der Geschichte, der Mathematik und volkswirtschaftlicher Lehrbücher benutzt. Sein einziger Wunsch war, es zum Beamten irgend eines Dienstzweiges der Bundesverwaltung zu bringen; denn er hoffte, im Genussse einer besseren Besoldung und günstigerer Arbeitsbedingungen seine Bildung erweitern und innerhalb der Bundesverwaltung von Stufe zu Stufe steigen zu können.

Die erste Stufe wurde erreicht. Er bestand das Eintrittsexamen als Beamter. Bald aber mußte er erfahren, daß er nicht zum Beamten geschaffen war. Er war sein Leben lang arm gewesen, aber nie ein Knecht. Vor Hohlköpfen Bücklinge zu machen und vor der Falschheit die Segel zu streichen, das verstand er nicht. Außerdem fehlte es ihm an der Kinderstube. Er war wie ein Höhlenbewohner aufgewachsen und blieb ein Höhlenbewohnq4r. Nicht durch seine Schuld; allein die Welt richtet nicht nach der Ursache, sondern nach der Wirkung. Seine alternde Mutter unterstützte er, vergaß ihr aber nie, daß sie an seinem elenden Dasein schuld war. Um zu etwas Geld zu kommen, heiratete er, seine Stellung als festbesoldeter Beamter ausnützend, die Besitzerin eines kleinen Mercerieladens mit etwas Vermögen. Als Frau eines Bundesbeamten mußte sie ihr Geschäft aufgeben. Sie verfiel in Schwermut und erschwerte Cosimo das Leben nach allen Richtungen. Regelmäßig zweimal im Jahre mußte er die Wohnung wechseln, weil seine Frau überall Gespenster sah. Infolgedessen wurde er ungeduldig und grob gegen sie. Sie aber beging die Torheit, sich [129]bei seinen Vorgesetzten über ihn zu beklagen. Das war natürlich keine Empfehlung für ihn zur Erlangung höherer Stellen. Um sich rasch zu bereichern, machte er mit dem Gelde seiner Frau Wuchergeschäfte, die er so fein einzufädeln wußte, daß ihm kein Gericht der Welt etwas anhaben konnte. Auch das schlug ihm zum Unheil aus; denn die gerupften Opfer beschwerten sich bei der Verwaltung, der er als Beamter angehörte, über ihn.

Als ich Cosimo kennen lernte, hatte er bereits eingesehen, daß ihm höhere Stufen der Beamtenhierarchie unerreichbar waren, und sich ins Unvermeidliche geschickt, aber nur ungern und grollend. Ich war damals als junger Beamter nach der Kreisdirektion versetzt worden und fand mich da in prächtigen hellen Räumen mit einem halben Dutzend jener Originale zusammen, wie sie nur das Beamtentum hervorbringt. Da waren zwei Querulanten, die unter sich und mit dem übrigen Personal in beständiger Fehde lagen und sich gegenseitig zweimal im Tage Ohrfeigen offerierten, ferner zwei Halbinvalide, von welchen der eine immer schwitzte und der andere immer fror, der eine im Winter die Heizkörper schloß und im Sommer die Fenster öffnete, während der andere die Heizkörper wieder öffnete und die Fenster wieder schloß. Der Kaltblütige warf dem Heißblütigen vor, er saufe zuviel und habe aus diesem Grunde immer heiß, und der Heißblütige forderte den Kaltblütigen auf, sich pensionieren zu lassen, wenn er die frische Luft nicht mehr ertragen könne. Außer diesen vieren saßen auf ihren hohen Stühlen noch ein schweigsamer, geriebener Hinterwäldler mit großer Anpassungsfähigkeit an die Ansichten seines Chefs, und Cosimo Simon. Dieser machte mir von allen sechsen äußerlich den unangenehmsten Eindruck. Sein leichenfarbiger Kopf mit den halbgeschlossenen breiten Augenlidern [130]glich einer Totenmaske. Ein kohlenschwarzer, ungepflegter Bart umrahmte sein Gesicht und auf seiner breiten Nasenwurzel hing verwegen ein Kneifer mit verrostetem Stahlgestell, befestigt an einer hinter dem Dhre liegenden schwarzen Schnur. Der ursprünglich weiße Hemdenkragen war gelbgrau, die Weste wies eine Kruste von allen möglichen Speiseresten auf und über den Schultern hing ein unter der Einwirkung der Jahre glänzend gewordener schwarzer Kammgarngehrock, offenbar der letzte Rest der Hochzeitsgewandung. Ohne diesen Rock hätte er einem verkümmerten Mansardenschuster ähnlich gesehen. Als ich ihm vom gemeinsamen Vorgesetzten als neuer Direktionsbeamter vorgestellt wurde, reichte er mir wortlos eine behaarte, weiße, feuchte Hand, kaum von seiner Arbeit aufblickend. Erst etwa acht Tage später trat er eines Morgens an mein Pult mit der Frage:

„Man hat mir gesagt, Sie hätten studiert ?“

„Ja, ich habe während einiger Semester Vorlesungen besucht."

„Was für Vorlesungen?"

„Philosophische, nationalökonomische nnd einige juristische.“

„So, so ? – Nationalökonomisches habe ich ziemlich viel gelesen : Adam Smith, List, Rodbertus, Brentano. ~ Es würde mich freuen, wenn ich hie und da mit Ihnen Gedankenaustausch pflegen könnte."

Er kehrte an seine Arbeit zurück.

Von diesem Tage an begleitete er mich oft abends nach Bureauschluß nach Hause, um vor mir seine Kenntnisse auszubreiten und mir seine Ansichten mitzuteilen. Er verfügte über ein außerordentliches Gedächtnis, und was er einmal gelesen hatte, das saß in seinem Gehirnkasten fest, sich allerdings eines oft unverstandenen Daseins erfreuend. Errötend gestand [131]er mir schließlich, daß er auch schon verschiedenes geschrieben habe, und lud mich ein, seine Arbeiten gelegentlich anzusehen.

An einem Sonntagmorgen erfüllte ich seinen Wunsch und suchte ihn in seiner Wohnung auf. Aus dem Glasabschluß, den er mir selber öffnete (seine Frau verbarg sich, wenn er Besuch erhielt), strömte mir ein widerlicher Geruch, wie von einem Gemisch von Sauerkraut mit Schweiß entgegen. Das Zimmer in welchem er arbeitete, war hübsch möbliert und machte einen reinlicheren Eindruck als sein Bewohner; aber auch hier folterte der gleiche Geruch meine Nase. Ich setzte mich neben ihn an seinen Schreibtisch, worauf er Berge von Manuskripten hervorzog und mir bei jeder einzelnen Arbeit den von ihm verfolgten Plan erläuterte. Im allgemeinen behandelte er verwaltungstechnische Fragen und entwickelte in den Zielen, die er sich gesteckt hatte, eine außerordentliche Kühnheit. Einzelne Gedanken waren direkt bahnbrechend und sind auch später ohne Simons Zutun verwirklicht worden. Seine umfangreichste Arbeit betraf die Reorganisation der gesamten schweizerischen Bundesverwaltung. Sie setzte eine erstaunliche Kenntnis aller eidgenössischen Betriebe voraus. Seiner Schreibweise haftete aber der Mangel ungenügender Schulung an. Sie war weitschweifig, schwerfällig und unübersichtlich bis zur Unversständlichkeit. Ich machte ihn darauf aufmerksam, und das war das erste Mal, daß ich ihn verletzte. Er reagierte mit einer giftigen Bemerkung, von der ich tat, als hätte ich sie nicht gehört. Auf meine Frage, was er mit all’ diesen Manuskripten anfange, erklärte er mir, er werde alle seine Arbeiten auf seine Kosten drucken und im Selbstverlage erscheinen lassen.

Ich hatte mich bereits erhoben, um nach Hause zu gehen, als mich Cosimo bat, noch ein bischen zu verweilen, [132]er habe mir noch etwas Interessantes zu zeigen. Es war ein Buch über Theosophie, von deren Bestrebungen ich damals keine Ahnung hatte. Auch Cosimo schien noch nicht tief in die Geisteswissenschaft eingedrungen zu sein; denn er konnte meine vielen Fragen über Sinn und Zweck derselben nur unklar oder gar nicht beantworten. Zwei Dinge, sagte er mir, hätten ihn bestimmt, der Sache seine Aufmerksamkeit zu schenken: sein Glaube an die Seelenwanderung und seine prophetische Begabung.

„Ich habe mich früher viel mit dem Buddhismus beschäftigt, in welchem ich das erhabenste Religionssystem bewundere. Mit der Seelenwanderung hat es seine Richtigkeit. Ich bin überzeugt, daß ich in diesem Leben nicht das erste Mal die Erde betreten habe. Durch Träume sind mir häufig Szenen aus meinem früheren Erdenwanderungen in die Erinnerung zurückgerufen worden. Durch sie habe ich z. B. erfahren, daß Ramses der Große kein anderer als Cosimo Simon und Cosimo Simon Ramses der Große war.“

Ich konnte mich nicht enthalten, ihm ins Gesicht zu lachen,

„Sie lachen, wie alle gelacht haben, denen ich bis jezt davon erzählte. Ich werde Ihnen aber, sofern Sie es erleben, noch beweisen können, daß alle meine Träume Offenbarungen von Vergangenem oder Zukünftigem sind. Es ist heute ein Iahr seither; da träumte mir, am 9. April 1910 trete in meinem Leben eine bedeutende Wendung zum Bessern ein. Sie werden sehen, daß es zutrifft. Alle meine Traumprophezeiungen sind bis jetzt in Erfüllung gegangen.“

Wir waren Freunde geworden, als ich Cosimo zum zweiten Male zu Hause aufsuchte. Er hatte mittlerweile [133]seine Wohnung dreimal gewechselt und hauste ganz in meiner Nähe. Den Anlaß zu diesem zweiten Besuche bildete nicht mehr die Neugierde nach Cosimo’s wissenschaftlicher Betätigung, sondern der bittere Kampf um mein Dasein. Ich fühlte mich in meiner Beamtenehre gekränkt und zurückgesetzt und focht mit scharfer Klinge für mein Recht. Alle Beschwichtigungsversuche wohlmeinender Vorgesetzter fruchteten nichts ; ich beharrte auf meinem Schein. In der Not sah ich mich nach Verbündeten um, und als erster und —~ meiner Ansicht nach - furchtbarster Bundesgenosse schloß sich mir Cosimo an. Er besitzz Waffen gegen die Verwaltung, erklärte er mir, wie kein anderer.

Wir saßen also wieder wohlgeborgen vor seinem Schreibtische, als er ein Geheimfach öffnete und ein umpfangreiches Buch, nebst einem Schnellbinder hervorzog, sein „Material“, wie er das nannte. In seinem dicken Schreibbuche hatte er sich alle Ungehörigkeiten und Vergehen seiner Vorgesetzten und Kollegen, soweit sie seine Laufbahn berührt hatten, notiert. Alle Beamten – auch ich, wie ich beim Umblättern bemerkte hatten in diesem unheimlichen Buche einen Konto. Ich könne mich darauf verlassen, versicherte mir Cosimo, daß es gewissenhaft nachgeführt sei. Im Schnellbinder befanden sich die Belege.

Dieses „Material' bot mir Cosimo zu meiner Unterstüßzung an. Er dachte sich die Sache so, daß ich von Zeit zu Zeit besonders krasse Fälle zu Zeitungsartikeln verarbeiten und der Öffentlichkeit übergeben sollte. Seine Belege seien vollständig. Im Notfalle könne er vor Gericht alles beweisen.

Ich ging auf das Anerbieten nicht ein, weil ich das Gefühl hatte, Cosimo wünsche uon mir, daß ich für ihn die Kastanien aus dem Feuer hole. Vielleicht tat ich ihm unrecht. Ich weiß es nicht. Aber abgesehen [134]davon, hatte die von ihm vorgeschlagene Art des Kampfes für mich etwas Stoßendes, Hinterlistiges. Ich verzichtete auf seine Mitwirkung und unterlag ehrlich.

Cosimo aber konnte sich nicht enthalten, in der Folge mit einem der saftigsten Kapitel seines „Materials“ einen Versuch zu wagen. In einer Tageszeitung erschien bald nach unserer Unterredung ein heftiger Angriff auf die Verwaltung. Der angegriffene höhere Beamte klagte, wurde aber kostenfällig abgewiesen, weil der beklagten Redaktion an Hand von Cosimo’s „Material“ der Wahrheitsbeweis gelungen war. Cosimo hatte seinen Artikel nicht unterzeichnet. Aber alle Welt war überzeugt, daß er der Verfasser sei. Alsbald wurde er verfolgt mit allen Mitteln, derer rachsüchtige Verwaltungsmuftis fähig sind. Er suchte daher nach neuen Waffen und wurde dabei unterstützt und gehetzt von Kollegen, die sich ebenfalls benachteiligt fühlten, denen aber der Mut der Selbstverteidigung fehlte. Nationalräte wurden von ihm aufgesucht und ihnen das „Material“ vorgelegt. Die Nationalräte stellten ihm in Aussicht, die Sache in der Bundesverssammlung zur Sprache zu bringen, und Cosimo wartete von einer Session auf die andere, aber umsonst.

Hatte nun einer der Nationalräte mit dem Departementsvorsteher gesprochen oder war durch andere Kanäle Näheres über Cosimo's Bemühungen bekannt geworden, genug: er wurde scharf überwacht, und eifrig fahndete man nach Blößen, die sich Cosimo im Verlaufe seines Beamtenlebens gegeben hatte. Und man fand eine Blöße. Cosimo hatte sich einmal im Bureau in einer Art und Weise aufgeführt, die nicht auf die Minderwertigkeit seines Charakters, wohl aber auf ein bedenkliches Defizit an Erziehung schließen ließ. Der Vorfall wurde durch gesinnungstüchtige Kollegen bezeugt [135]und nach oben gemeldet. Der Entscheid war ebenso prompt als für Cosimo vernichtend. Er wurde ins Provisorium versetzt mit verkürztem Gehalt, demjenigen Chef unterstellt, der ihn bisher am kräftigsten verfolgt hatte und mit einer Arbeit betraut, die allen Beamten als die unangenehmste galt.

Eine tiefe Verbitterung bemächtigte sich seiner. Seine Freunde zieh er des Verrats und mir besonders warf er Untreue vor, weil ich mich geweigert hatte, an seinem verunglückten Feldzuge teilzunehmen. Er erinnerte sich der kleinsten Meinungsversschiedenheiten zwischen uns in unserm langjährigen Verkehr und rieb sie mir als Beweise meiner Undankbarkeit ihm gegenüber unter die Nase. Er wandte sich denjenigen zu, die ihn nur deshalb in den ungleichen Kampf gehetzt hatten, um sich für angeblich von Seiten der Verwaltung erlittene Unbill zu rächen oder um sich über die unaufhörlichen Zänkereien zu amüsieren, und wurde von ihnen immer tiefer in den Sumpf geritten. Eines Tages ließ er sich zu Grobheiten gegen seinen Vorgesetzten hinreißen und wurde darauf kurzer Hand entlassen. Damals schrieb er mir ein Billet folgenden Inhalts:

„Komme morgen, Mittwoch, über Mittag bei mir vorbei! Ich habe dir wichtiges mitzuteilen."

Er wohnte damals in einer ganz entlegenen Straße, eine gute halbe Stunde von mir entfernt, und da ich nur eine zweistündige Mittagspause hatte, antwortete ich ihm, es sei mir nicht möglich, seinem Wunsch zu entsprechen. Wenn es ihm jedoch passe, so würde ich einmal abends nach dem Nachtessen oder Sonntag vormittags bei ihm vorsprechen. Mein Brief kam postwendend zurück wit dem Vermerk :

„Wenn Du für einen alten Freund nicht einmal tuge Minuten übrig hast, so verzichte ich auf Deinen Besuch."

[136]

Von nun an mied er mich, und ich hörte nur noch durch Dritte von ihm. Immer noch lebte er im felsenfesten Glauben an die am 9. April 1910 eintretende „Wendung zum Bessern“, und alle Welt machte sich lustig über ihn. Er hatte wieder eine Anstellung erhalten, aber mit bedeutend niedrigerem Gehalte, als er ihn früher bezogen hatte. Doch er ließ sich nicht entmutigen. Er vertraute seinem Stern.

Der Morgen des 9. April 1910 war herangekommen. Als sich Frau Simon erhob, um den Kaffee zu kochen, und an Cosimo’s Bett vorüberging, lag dieser bleich und tot in seinen Linnen. Die „Wendung zum Bessern" war eingetreten.

[137]

Die Prüfung.

Himmelsbach ist ein schweizerisches Mustersstädtchen. Es liegt an der Landesgrenze und ist Bezirkshauptort. Als solcher besitzt es eine Bezirksschule für Knaben und Mädchen, eine Vorstufe zur Kantonsschule, und die Himmelsbacher sind nicht wenig stolz auf diesen Besitz. Sie betrachten ihr Städtchen als halbe Universitätsstadt und hätten ihren Bezirksschulmeistern schon längst den Professorentitel verliehen, wenn vom Regierungsrate nicht ein entschiedenes Veto eingelegt worden wäre. Um diesem Juwel von einer Bezirksschule trotzdem eine Ausnahmestellung zu verschaffen, beschloß eines Tages die Himmelsbacher Schulbehörde, woran sie niemand hindern konnte, bei der Aufnahme neuer Schüler nicht mehr nur auf die Zeugnisse der Primarschule abzustellen, sondern von jedem und jeder der zwölfjährigen Knirpse und Knirpsinnen eine Aufnahmeprüfung zu verlangen. So kam es, daß die Himmelsbacher Bezirksschüler bei ihrem Übertritt in die Kantonsschule alle ihre neuen Kameraden geistig um Haupteslänge überragten.

Der Lehrkörper der Himmelsbacher Bezirksschule, samt und sonders im Besitze des Mittelschullehrerpatents, zum Teil sogar akademischer Grade, war bei der Ernennung sorgfältig ausgewählt worden und hätte jeder Schule zur Ehre gereicht. Umsomehr mußte es Aufsehen erregen, als eines schönen Tages zum Bezirksschullehrer [138]der Primarlehrer Udo Storz ernannt wurde, von dem viele Leute behaupteten, es fehle ihm nicht nur die nötige Bildung, sondern auch jeglicher Charakter. In Bezug auf Udo Storzens Chardckter irrten sich diese Leute allerdings schwer. Das muß zur Steuer der Wahrheit hier öffentlich festgestellt werden. Udo Storz hatte einen Charakter, ja sogar einen ganz interessanten Charakter, einen En - tout - cas-Charakter, den er in allen Lebenslagen ausprobiert hatte. Dieser En-tout-cas-Charakter leistete ihm vorzügliche Dienste. Udo besaß nämlich ein entsetzlich dummes Maul, ob infolge seines Temperaments oder eines Herzfehlers, darüber schwanken die Angaben seiner Zeitgenossen. Tatsache ist nur, daß er heftiger Art war und hie und da. aus purem Mißtrauen den oder jenen beleidigte. Um dadurch nicht zu Schaden zu kommen, war er dann jeweilen genötigt, zu seinem Charakter zu greifen und seine Beleidigungen zurückzunehmen. Auch in andern wichtigen Lebensfragen war ihm sein Charakter unentbehrlich. So erlaubte er ihm, da ihm sein eigenes Wohl suprema lex war, sich einflußreichen Leuten, die ihn fördern konnten, huldvollst zu Füßen zu legen.

Was Udo Storz bewogen hatte, die Pädagogenlaufbahn zu wählen, war, außer dem Glauben an seine Unfehlbarkeit, die aus seiner Schulzeit stammende Freude an den Schulferien. Darin berührte er sich mit den meisten Menschen, da diese im allgemeinen die Erholung der Arbeit vorziehen. Die Ferien wurden ihm so zum Bedürfnis, daß er, wenn ihm die Schulzeit zu lange dauerte – etwa zwischen Neujahr und Ostern oder zwischen Ostern und den Sommerferien ~ vor lauter Sehnsucht nach Natur und Freiheit schwer erkrankte, wobei es nie ohne einige Wochen Krantheitsurlaub abging.

[139]

Punkto Religion ließ Udo mit sich reden. Er war von Haus aus strenggläubig, konnte aber auch Freidenker sein, wenn es absolut verlangt wurde. Von allen Geboten war ihm das elfte am liebsten: „Laß dich nicht erwischen!‘ Wurde er trotzdem einmal erwischt, so geschah es sicher nicht durch seine Schuld.

Äußerlich war Udo Storz ein hübscher Mann, nicht von großer Gestalt, aber mit einem netten, runden Bürgermeisterbäuchlein. Über seinen von Gesundheit stroßzenden roten Wangen blickten ein paar ganz vergnügte Augen in die Welt, und seine breite Stirn war von dichtem Blondhaar umrahmt. Seine männliche Schönheit war so eindrucksvoll, daß er eines höflichen und taktvollen Auftretens wohl entbehren konnte. Er gehörte von Kindheit an zur société des chapeaux vissés und gewährte weder dem Alter noch dem schönen Geschlechte den Vortritt, was ihm übrigens beim schönen Geschlechte keineswegs schadete, sondern ihn vielmehr als Naturburschen besonders begehrenswert machte, umsomehr als er die Gabe besaß, unterhaltend zu sein. Er sprach gern und viel und konnte stundenlang sprechen, ohne etwas zu sagen. Als zielbewußter Mann hatte er seine Bildung, wie alles Überflüssige, auf das Notwendigste beschränkt. Bücher besaß er keine und entlieh auch keine; dagegen war er auf den „Himmelsbacher Tagesanzeiger“ und auf das „Kleine Wigblatt“ abonniert. Er war ein fröhlicher Gesellschafter, lachte viel und liebte den Wein und die gesottenen Forellen.

Wie die meisten Männer beschäftigte ihn das Problem der Ehe lange und eingehend. Als vernünftiger Mensch verlangte er von seiner Lebensgefährtin weder Schönheit noch Geist, sondern möglichst viel Barvermögen. Damit ließ sich das Einkommen aufrunden, und was zur Befriedigung der Herzensbedürfnisse fehlte, [140]das konnte bei einem gelegentlichen Juheirafssa mit einem Liebchen in Weißkirchen oder einem Schätzchen in Rothdorf nachgeholt werden.

Als die Lehrstelle an der Himmelsbacher Bezirksschule im Amtsblatte ausgeschrieben war, meldete sich Udo als erster, troßdem er wußte, daß die Wahlbehörde das Mittelschullehrerpatent verlangte. Er sagte sich eben, daß Grundsätze Grundsätze bleiben, ob man sich an sie hält oder nicht. Die einflußreichen Persönlichkeiten, denen er sich zur rechten Zeit huldvollst zu Füßen gelegt hatte, wurden mobil gemacht und auf die Wahlbehörde gehetzt. Iedes Mitglied wurde derart eingeseift, daß es vor lauter Schaum die Welt nicht mehr sah. Man rühmte die Gediegenheit von Udo's Charakter, die goldene Lauterkeit seines Herzens, seine ssittlich-religisöse Weltanschauung. Von seinen erzieherischen Erfolgen erzählte man Wunder, die unbedingt zu seiner Heiligsprechung genügt hätten. Gegen Schluß der Wahlperiode wurden die also Vorbereiteten durch den Besuch des Herrn Storz in Person überrascht, der mit seinem gewinnendsten Lächeln, bescheiden und doch männlich auftretend, die noch Schwankenden von seiner Eignung zum Lehrer der Bezirksschule vollends überzeugte. Die Wahl ging rasch und geräuschlos vorüber, und er war bereits gewählt, als seine giftgeschwollenen Feinde, wie er diejenigen nannte, denen er Fußtritte versetzt hatte, weil sie ihm hindernd im Lebenswege gestanden, sich wider ihn erhoben.

„Ein Glück für die Bezirksschule !" seufzte er und ließ seine Blicke bewundernd über sein Bäuchlein gleiten.

Die neuen Kollegen, deren Vorrechte durch die Wahl verletzt worden waren, standen anfänglich gekränkt abseits. Doch die Zeit heilt alle Wunden. Udo legte sich ihnen vorderhand huldvollst zu Füßen.

[141]

Es war an einem Junimorgen von strahlender Schönheit. Seit Ende April waren keine Ferien gewesen, und eine schwere Krankheit hatte daher den Udo Storz heimgesucht. Der Arzt fand allerdings nichts heraus, und Udo glich einer blühenden Rose. Aber ein Kopfweh plagte ihn, ein abscheuliches Kopfweh! Es mußte unbedingt an den Nerven liegen. Die Nerven seien zerrüttet, meinte Udo. Er habe sich jedenfalls überarbeitet. Der Arzt konnte das Gegenteil nicht beweisen. Er bescheinigte zuhanden des Schulvorstehers, daß Herr Storz während vier Wochen aussetzen müsse, und riet seinem Patienten, sich sehr viel im Freien zu bewegen. Frau Storz trug ihrem armen kranken Manne das Fahrrad aus der Wohnung die beiden Treppen hinunter auf die Straße, küßte ihm die Schmerzen von der Stirn und wünschte ihm gute Genesung.

Udo radelte davon. „Ein vortrefflicher Arzt!" sagte er sich. Den mußte er sich warm halten. Gewiß, gegen diese heillose Nervosität gab es nur ein Mittel, und das war die Bewegung im Freien. Er radelte über Berg und Tal, durch üppige Wiesen und plätschernden Bächen entlang. Im Schatten rauschender Buchen und Eichen pflegte er der Ruhe, um dann mit erneuter Kraft weiter zu radeln.

Die Uhr am Kirchturme von Grüneck schlug die Mittagstunde, als Udo in das breit ins Tal ausladende, behäbige Dorf einzog. Unter der Jahrhunderte alten Linde vor dem geräumigen Gassthause zum schwarzen Ochsen sprang er vom Rad, schloß dieses fest und stieg die breite Freitreppe hinan. Eine auffallend schöne Frau in der Mitte der Dreißigerjahre empfing ihn und führte ihn in das Gastzimmer, wo bereits einige Udo unbekannte Ausflügler des Mittagessens harrten.

Während Udo sich einen Plat; suchte, trat die Wirtin, Frau Witwe Kunigunde Holzschuh, zu den übrigen [142]Gästen, um sie zu begrüßen und die üblichen Worte vom schönen Wetter und vom reichen Kirschenertrag auszutauschen. Unterdessen wurde sie von Udo genau betrachtet. Sie war etwas größer als er, hatte dichtes kastanienbraunes Haar, das über der hohen weißen Stirn in der Mitte gescheitelt und am Hinterkopfe in mächtigen Zöpfen aufgesteckt war. Große dunkelgraue Augen, von kräftigen Brauen überwölbt und langen Wimpern überschattet, blickten klug, manchmal auch etwas mutwillig in die Welt. Die Wangen waren von einem gesunden Rot übergossen und verrieten, gleichwie die etwas fleischige, aber nicht unschöne Nase, die bäuerliche Abstammung ihrer Besitzerin. Der schön geschnittene, festgeschlossene Mund und das wuchtige Kinn ließen auf eine nicht gewöhnliche Energie schließen. Ein schlichtes schwarzes Wollkleid umschloß die feste, beinahe üppige Gestalt und ließ einen tadellosen weißen Hals frei. Die Hände, welche, als Udo mit seinen prüfenden Blicken bei ihnen angelangt war, eben die Bänder des schwarzseidenen Schürzchens fester knüpften, waren keine roten Mägdehände, trotzdem man ihnen ansah, daß Frau Kunigunde vor der Arbeit nicht zurückschreckte, wenn die Not es erforderte.

Frau Kunigunde war seit zwei Jahren verwitwet und führte seither den weit und breit vorteilhaft bekannten und gerne besuchten schwarzen Ochsen weiter. Einer Wiederverheiratung war sie nicht abgeneigt; aber der erste Beste durfte ihr nicht kommen, und ein Dutzend abgeblitzter Freier war bereits mit mehr oder weniger gebrochenem Herzen abgezogen. Es war ihr auch nicht entgangen, daß Udo’s Augen vom Momente seines Eintrittes an ihr mit sichtbarem Wohlbehagen gefolgt waren, daß aber, wenn er auch den Trauring in der Westentasche verborgen haben mochte, der Goldfinger der linken Hand vor dem Fingeransatze eine leichte [143]Einbuchtung, den untrüglichen Beweis für das Verheiratetsein Udo’s, aufwies. Als gewandte Geschäftsfrau ließ sie sich nichts anmerken, sondern setzte sich, nachdem er sein Mittagessen mit glänzendem Appetite verzehrt hatte und beim schwarzen Kaffee angelangt war, zu ihm, um einige Minuten bei ihm zu verplaudern.

Udo war früher bei manchen seiner Vergnügungsfahrten in den schwarzen Ochsen gekommen, hatte sich aber damals nicht stark um die Wirtsleute gekümmert, da sich die Frau selten unter den Gästen gezeigt hatte und mit dem Wirt, einem freundlichen, aber robusten blonden Hünen, nicht zu spasssen war. Später fand er anziehendere Ausflugsziele und blieb weg. Vom Ableben Holzsschuh’s hatte er nie etwas gehört und war nun angenehm überrascht, dieses Kleinod von einer Witwe entdeckt zu haben. Er stellte sich als Lehrer der Bezirksschule in Himmelsbach vor und suchte sich bei der Frau anzubiedern durch das Flatternlasssen äußerst solider Ansichten über Staat, Gemeinde, Familie und Erziehung. Mitten im Schwadronieren wurde er unterbrochen durch den Eintritt eines reizenden elfjährigen Blondkopfs von einem Mädchen mit prachtvollen, tiefblauen Augen. Frau Kunigunde bezeichnete das Kind als ihr Töchterchen Elisabeth und giug mit ihm, sich Udo gegenüber entsschuldigend, davon. Dieser wartete noch eine gute Stunde auf die Rückkehr Frau Kunigunde’s, doch umsonst. Schließlich bezahlte er dem aufwartenden Mädchen die Zeche und radelte heimwärts, mit rotglühendem Kopfe vor lauter Alkohol und Liebe.

Die Fahrten nach Grüneck wurden wiederholt, vorerst in größern Abständen, gegen das Ende seines Krankheitsurlaubs beinahe täglich. Nach und nach wurde er bei Frau Kunigunde zutäppisch, verlängerte unnötigerweise seinen Händedruck, ließ anzügliche Bemerkungen [144]fallen und versuchte endlich gar, die hübsche Frau um die Taille zu fassen, wobei er allerdings elend Fiasko machte; denn Frau Kunigunde entfernte seinen Arm mit einer Kraft, die er in ihr nicht vermutet hätte, und ließ ihn allein sitzen.

Udo, weit entfernt, sich dadurch abkühlen zu lassen, verdoppelte seine Anstrengungen. Beim Wiederantritt seiner Schultätigkeit standen ihm hiezu allerdings nur noch die freien Nachmittage zur Verfügung. Die aber benützte er regelmäßig zu seinen Fahrten nach Grüneck. Hie und da schleppte er, um den Schein zu wahren, seine Freunde mit, rühmte ihnen den Wein und das gute Esssen im schwarzen Ochsen und richtete in ihrer Gegenwart kein überflüssiges Wort an Frau Kunigunde. Kam er aber allein, so schmachtete er sie an und schwatzte ihr all’ das ungereimte Zeug vor, dessen sich Verliebte bei schönen Frauen so gerne bedienen, nicht ahnend, daß diese Frauen denselben Unsinn schon Dutzende von Malen zu hören bekamen.

Ein unscheinbares Ereignis brachte Udo eine kleine Abkühlung. Beim Hervorziehen einer Banknote aus der Westentasche war in Frau Kunigundens Gegenwart sein Trauring auf den Boden gefallen. Das war Pech! Udo wurde zündrot und bückte sich rasch, um den Ring an sich zu nehmen und wieder in die Tasche zu stecken.

„Behalten Sie ihn ruhig am Finger! Sie verlieren ihn weniger," bemerkte Frau Kunigunde lächelnd.

„Ich trage ihn stets in der Tasche beim Velofahren, damit er nicht zerkratzt wird,“ entgegnete Udo, streifte aber den Ring doch an den Finger.

Das Erscheinen der kleinen Elisabeth machte seiner Verlegenheit ein Ende. Er nahm das Kind bei der Hand und fragte es freundlich:

„Wie alt bist du eigentlich, Elisabeth ?"

[145]

„Elf gewesen, Herr Lehrer."

„In welche Klasse gehst du jetzt?“

„In die sechste."

„Da kommt sie ja nächstes Jahr zu uns in die Bezirksschule?“ wandte sich Udo an die Mutter.

„Nein, ich habe die Absicht, sie hier die Schule beendigen und dann im Welschland das Fehlende nachholen zu lassen."

„Warum das, wenn man in der Nähe so eine ausgezeichnete Schule hat?" fuhr Udo fort.

„Das Kind ist allerdings begabt und hätte die Aufnahmeprüfung nicht zu fürchten,“ gab Frau Kunigunde zur Antwort. „Allein mit diesen Prüfungen ist es so eine eigene Sache. Die Kinder vom Lande sind im allgemeinen schüchtern und befangen, und Elisabeth übertrifft an Menschenscheu alle ihre Kamerädchen. Solche Kinder bestehen Prüfungen nur schwer oder gar nicht, und ein Mißerfolg würde hart auf Elisabeth lasten."

„Befürchten Sie nichts, Frau Holzschuh! Ich bin in der glücklichen Lage, die Aufnahme Ihres Kindes in die Bezirksschule durchsetzen zu können. Ich habe nämlich die Prüfungen abzunehmen, und mein Wort gilt etwas! Den Rektor habe ich vollständig in der Tasche. Der tanzt nach meiner Pfeife.“

„Pst! Ihr Rektor sitzt im Gastzimmer nebenan und klopft mit dreien Ihrer Kollegen einen Zuger.1)"

Udo ging in den Flüsterton über.

„Das hätten Sie mir auch gleich sagen können! Ich habe übrigens nur bildlich gesprochen. Aber tatsächlich habe ich mir durch meine Tüchtigkeit, meinen Ernst, meine restlose Hingabe an die großen Erziehungsprobleme der Gegenwart “

Frau Kunigunde lächelte.

1) Zuger-Jaß, ein Kartenspiel.

[146]

„Lachen Sie nicht, Frau Holzschuh! Ich habe mir eine Stellung erworben, die mich hoffen läßt, selbst Rektor zu werden, wenn einmal der Alte abkratzt! Freiwillig geht er ja nicht.“

„Pst! Er sitzt nebenan."

„Ich rede ja nur bildlich, Frau Holzschuh. Doch sehen wir von meiner Persönlichkeit ab! Wir Lehrer sind im allgemeinen eine Macht im Staate. Gesett, wir haben einen Feind: wissen Sie, wie wir uns rächen können? Ganz einfach! Der Feind hat Kinder, er muß sie der Schule übergeben, wir kriegen sie in die Finger und können sie quälen bis auf's Blut."

Frau Kunigunde war starr. Iede Antwort wäre ihr im Halse stecken geblieben. Ein solches Maß von Herzlosigkeit war ihr unbegreiflich an einem Menschen, dem es vergönnt war, täglich seine Blicke in den reinen Blütengarten der Kindheit versenken zu dürfen. Wollte er ihr imponieren oder gar drohen mit dieser vom Zaune gerissenen Bemerkung? Udo schien ihre Gedanken zu erraten; denn er fügte bei:

„Das war natürlich nur bildlich gesprochen. Ich liebe die Kinderlein und könnte keinem das geringste Unrecht antun. Mein einziger Fehler ist meine Offenheit. Ich trage das Herz auf der Zunge, und jeder Gedanke, mir oft kaum bewußt, fliegt mir durch den Mund davon.“

Allein das verhängnisvolle Wort war gesprochen. Frau Kunigunde war zu sehr Mutter, um das Davonfliegenlassen derartiger Gedanken leicht zu nehmen. Sie sah im Geiste die blonde Unschuld ihres Kindes in den Händen Udo Storzens, „gequält bis auf's Blut,“ und die Lust, sich mit ihm zu unterhalten, war ihr vergangen. Sie wurde einsilbig, und Udo empfahl sich schließlich, sich bittere Vorwürfe über seine „Offenheit“ machend.

[147]

Die Äußerung Udo’s hatte Frau Kunigunde von dem Gedanken, ihr Töchterchen in die Bezirksschule nach Himmelsbach zu schicken, abgebracht. Die beiden Grünecker Lehrer kannte sie und vertraute ihnen. Der eine war ein braver alter Mann, geistig schwer beweglich, aber ein erfahrener Erzieher, vor dessen Augen die Kinderherzen ausgebreitet waren wie aufgeschlagene Bücher. Der andere war ein junger Idealist, noch etwas unreif, aber erfüllt von den edelsten Absichten. Eine Gelehrte wollte sie aus ihrem Kinde nicht machen, und für den Hausgebrauch genügte das Grünecker Pensum.

Udo Storz ließ jedoch nichts unversucht, um die Elisabeth Holzschuh als Schülerin für die Bezirksschule zu gewinnen. Bei keiner Gelegenheit vergaß er, die Bezirksschule, sich und seine Methoden herauszustreichen. Frau Kunigunde war es unklar, warum er in dieser für ihn so untergeordneten Angelegenheit eine so zähe Ausdauer bewies. Schließlich glaubte sie in ihrem Mutterstolz, Udo wisse vielleicht von einem Grünecker Lehrer, welch ausgezeichnete Schülerin Elisabeth sei und er wünsche als Pädagoge mit ihr zu glänzen. Sie kam auf ihren Entschluß zurück und meldete ihr Kind in der Bezirksschule Himmelsbach an. Udo fühlte seine Stellung bei ihr wieder neu gefestigt, und er setzte auch im strengsten Winter seine Besuche in Grüneck fort.

Ende Februar hatte ein in seiner Lieblichkeit seltener Vorfrühling eingesezt. Die roten Blütenknospen der Aprikosen waren über Nacht aufgebrochen und die unerfrorenen und unverfrorenen Brummfliegen patschten an die Scheiben der Vorfenster. Die Sonne lockte den ersten Veilchen, und unter dem Einflusse ihres milden Lichtes war Udo Storz wieder schwer nervenleidend geworden. Vier Wochen Erholungsurlaub hatte ihm der Arzt vorgeschrieben, was absolut nicht zu viel war, wenn [148]man bedenkt, daß das öde Einerlei der Schule nun schon wieder seit Neujahr dauerte. Was sind vier Wochen zum Auskosten der schönen, weiten Welt? Frau Kunigunde Holzschuh hatte wieder ihren täglichen Kurgast, und schon überlegte sie sich ernsthaft, wie sie sich den aufdringlichen Menschen fern halten könne, als ihr der Zufall zu Hilfe kam.

In den ersten Tagen des März war Udo an einem Vormittage mit seiner Frau über die Grenze spaziert, um im deutschen Nachbarorte für sie einen Mantel zu kaufen. Dort waren nämlich aus irgend einem Grunde, über welchen die Himmelsbacher heute noch nicht einig sind, die Kleider billiger als in Himmelsbach, namentlich aber dann, wenn es gelang, den Zoll zu umgehen. Udo Storz war nun kein Schmuggler von Profession; es war ihm nur zu umständlich, den Zoll zu bezahlen für Waren, die er jenseits der Grenze holte. Seiner Ansicht nach war der Zoll überhaupt nur für diejenigen da, die wagenladungsweise. Waren einführten, oder für die dummen Teufel, unter keinen Umständen aber für den Udo Storz.

Frau Storz war ohne Mantel ausgerückt. Auf dem Heimwege zog sie das gekaufte Kleidungsstück an, und als das Paar die Grenze passierte, schritt Udo wie ein Triumphator daher.

Von dem abgenutzten grauen Bänkchen vor dem Zollhause erhob sich ein Grenzwächter und trat auf Udo zu.

„Haben Sie etwas zu verzollen?“

„Nein, wir haben nichts,“ antwortete Udo.

„Sie auch nicht?“ wandte sich der Grenzwächter noch besonders an Frau Storz. Da brauste Udo auf:

„Wenn ich sage, daß wir nichts zu verzollen haben, so gilt das auch für meine Fraul Ich bin Lehrer an der Bezirksschule und verbiete Ihnen, die Richtigkeit meiner Angaben zu bezweifeln!"

[149]

„Gut, so kommen Sie gefälligst ins Büro!“

Er wies den beiden den Weg und öffnete die Türe zum Zollamte, um Frau Storz vorangehen zu lassen. Udo aber, von dem einzigen Wunsche beseelt, dem Grenzwächter zu zeigen, wer Meister sei in der Familie Storz, drängte sich vor, um als Erster das Büro zu betreten, und begann alsbald, im Brusttone der Überzeugung auf den mit schriftlichen Arbeiten beschäftigten Zolleinnehmer einzureden und des Langen und Breiten zu erklären, daß er an seinem Kredite geschädigt worden sei und von der Zollverwaltung Schadenersatz verlange. Endlich ließ er den Grenzwächter zu Worte kommen.

„Der Herr verneinte meine Frage nach zollpflichtigen Waren, trotzdem seine Frau einen neuen, heute morgen drüben gekauften Mantel trägt."

„Beweisen Sie mir das!“ kreischte Udo, außer sich über die Anmaßung des Angestellten.

„Beweisen? –~ Ich habe mehrere Zeugen, die Ihre Frau heute morgen die Grenze ohne Mantel passieren sahen," gab der Grenzwächter ruhig zurück. „Dahinten hängt übrigens noch die Etikette."

Lächelnd trennte er eine Papieretikette vom Kragen. Udo erblaßte, aber nur für einen Augenblick; denn schon hatte er ersspät, daß die Etikette nur die Stoffqualität bezeichnete, ohne einen Firmenaufdruck zu enthalten. Er faßte sich rasch und bemerkte:

„Die Etikette beweist nichts. Der Mantel ist allerdings neu; allein ich selbst habe ihn hier in Himmelsbach gekauft. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Herr Einnehmer!“

„Bei wem haben Sie ihn gekauft?" fragte nun der Einnehmer.

Durch diese Frage einigermaßen überrumpelt, antwortete Udo:

„Bei Fri –bei Leh — bei Hasenfratz und Sie.“

[150]

„Gut, so bringen Sie uns eine Bescheinigung von Hasenfratz und Sie. oder die Rechnung!“ erwiderte der Einnehmer und wandte sich an Frau Storz: „Darf ich Sie bitten, den Mantel auszuziehen, damit ich ihn abwiegen kann?“

Nachdem sich Frau Storz ihres Mantels entledigt hatte, wurde er auf die Wage gelegt. Der Einnehmer stellte das Gewicht fest und fuhr fort:

„Sie haben zwanzig Franken zu hinterlegen für die allfällige Buße oder den Mantel hierzulassen, bis die Bescheinigung von Hassenfratz und Sie. vorliegt.“

Wütend warf Udo vier Fünffrankenstücke auf das Schalterbrett, gab zornschnaubend seine Personalien an und stürmte davon, gefolgt von seiner heulenden Frau. Daß so etwas gerade ihm passsieren mußte, ihm, dem Udo Storz, dem anerkannt besten, an die äußere und innere Vollkommenheit grenzenden Lehrer der Bezirksschule Himmelsbach! Und wer war schuld? Für wen war der Mantel bestimmt? Für seine Frau natürlich. Für seine Frau hatte er bare vierzig Mark ausgelegt, und zum Danke dafür bereitete sie ihm eine solche Blamage. Läßt man denn an einem Mantel, den man zu schmuggeln beabsichtigt, eine weiße Poapieretikette hängen?

„Du bist die größte Gans, die der Erdboden trägt!“ erklärte er ihr, als sie zu Hause angelangt waren. „Ich esse heute auswärts. Trag’ mir mein Velo vor's Hausl“

Beglückt darüber, daß es noch so glimpflich abgelaufen war, trug Frau Storz das Fahrrad die zwei Treppen hinab auf die Straße, und Udo fuhr nach Grüneck, um sich bei Frau Kunigunde Holzschuh Trost zu holen.

Seine Stimmung glich in nichts der Frühlingslandschaft, die er, wütend die Pedale bearbeitend, mit zwanzig [151]Kilometer Geschwindigkeit durchraste. Der Südostwind säuselte zärtlich über ihn hin, die Sonne sandte ihr liebreizendstes Märzlächeln hernieder, die Amseln rollten ihre Pfiffe und Finken und Meisen äugten ihn zwitschernd aus Busch und Hecken an. Udo aber hörte nichts und sah nichts. Der Gedanke an seine Hinterlage von zwanzig Franken erfüllte sein Gehirn bis in die letzte Windung, schnürte seinen Hals zu, bis er nach Luft schnappen mußte. Seine Mundwinkel zogen sich abwärts und seine Schelmenäuglein brannten in sehnsüchtiger Gier nach dem verlorenen Geld.

Auch nach Udo’s Ankunft in Grüneck trat zunächst in dessen Befinden keine Besserung ein, da sich Frau Kunigunde vorerst lange nicht zeigen wollte und er daher keinen Menschen hatte, dem gegenüber er sein Inneres erleichtern konnte. Hastig verschlang er sein Essen und noch hastiger trank er den ihm vorgesetzten neuen Walliser, so daß er, als Frau Kunigunde endlich herbeikam, ihn zu begrüßen, bereits am zweiten halben Liter saß.

Frau Kunigunde kam ihm so schön vor wie noch nie. Es war, als ob ein Teil des Frühlingstages sich in sie verkrochen hätte und aus ihr heraus sein Versteckspiel triebe, so glänzten ihre großen, lachenden Augen, so glühten ihre Wangen, so blitzten ihre Zähne zwischen den schwellenden Lippen hervor. Nach einem von Udo empfangenen zärtlichen Händedruck setzte sie sich zu ihm und hörte ihm wie geistesabwesend, den irgend eine tiefe Seligkeit wiederspiegelnden Blick an ihm vorbeigerichtet, zu, während er sein Mißgeschick schilderte und seines Zornes Schale über das ahnungslose Haupt seiner Frau ergoß. Er tönte eine wahrscheinliche baldige Scheidung von ihr an und erwartete nun, Frau Kunigunde werde ihm sofort um den Hals fallen. Da diese Wirkung ausblieb, trank er in seiner Enttäuschung immer mehr und vertraute in seinem [152]Dusel Frau Kunigunde Dinge an, die er bis jetzt seinem besten Freunde verschwiegen hatte. Daneben renommierte er mit seiner Iugend und seiner Kraft und behauptete, als die Frau scheinbar einen raschen Blick nach den leicht ergrauten Haaren an seinen Schläfen warf, das komme vom jahrelangen Brachliegen seiner haushohen Intelligenz an der Primarschule. Um seine Leistungsfähigkeit zu illustrieren, gab er seine Liebesabenteuer zum Besten, ohne auch nur die Namen seiner Opfer zu verschweigen.

Frau Kunigunde hörte nur mit halbem Ohre zu, ohne zu antworten. Udo’'s Geschwätz widerte sie an. Schließlich tat sie dergleichen, als ob irgend ein Vorgang auf der Straße sie interessiere. Sie erhob sich und trat hinter die Vorhänge ans Fenster. Udo, nachdem er sich überzeugt hatte, daß sie allein waren, folgte ihr. Er hielt den Augenblick für gekommen, der ihm die Erfüllung seiner Wünsche bringen mußte, umfaßte rasch ihren Hals und wollte ihren Mund küssen. Der Kuß traf aber auf die Nase; denn Frau Kunigunde hatte den Angriff geahnt und ihrem Kopf eine andere als die von Udo gewünsche Wendung gegeben. Mit einem Ruck machte sie sich frei und ging gemessenen Schrittes zur Gaststube hinaus und die breite Eichentreppe hinan, die nach dem oberen Stockwerke führte. Udo hatte sich alsbald von seiner Verblüffung erholt. Er eilte ihr nach, erwischte sie auf der Plattform, welche die Treppe unterbrach, und schlang seine Arme um ihren Körper. Frau Kunigunde drehte sich gegen die untere Treppenhälfte, packte Udo mit beiden Händen so kräftig um den Hals, daß er seine Arme sinken ließ, und warf ihn die Treppe hinunter. Unten empfing ihn der Hausknecht, der eben vom Flur aus seine handfeste Meisterin bewundert hatte, und beförderte ihn vollends auf die Straße.

[153]

Mühsam arbeitete sich Udo auf die Beine. Gebrochen war nichts: aber das rechte Knie und das Kreuz schmerzten ihn, und das zerschundene Gesicht brannte ihn wie das höllische Feuer. Seine schöne Hose wies am rechten Knie einen Riß auf, der sich fast rund um das Bein zog. Außerdem hatte ihm der Hausknecht alle Wesstenknöpfe weggerissen. Während er den Schaden betrachtete, versammelte sich ein Dutzend Kinder mit mitleidigen Gesichtern um ihn her.

Er hinkte deshalb so rasch als möglich zu seinem Fahrrad und fuhr nach Hause.

Seiner Frau erzählte er, er sei vom Rade gestürzt. Sie glaubte es ihm und machte ihm, still besorgt um sein Wohl, kühlende Umschläge und strich ihm Zinksalbe auf seine Schürfungen.

Seine Nervenkrankheit ließ er diesmal nicht volle vier Wochen andauern; denn mitte März fanden die Aufnahmeprüfungen in die Bezirksschule statt, und er war, wie er sich sagte, es sich selber schuldig, die Aufnahme der Elisabeth Holzschuh mit allen Mitteln zu verhindern. Diese Kunigunde mußte wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Er rechnete zusammen, was er im schwarzen Ochsen in Grüneck für Speisen und Getränke schon ausgegeben hatte, wobei er auf eine ungeheuerliche Summe kam, und schauderte ob der Undankbarkeit dieses Weibes.

„Alles für nichts und wieder nichts!“ stöhnte er. „Ich habe eine Schlange an meinem Busen genährt.“

Sofort nach dem Wiederantritt seines Schuldienstes überzeugte er sich, daß Frau Kunigunde ihr Kind zur Aufnahme angemeldet hatte. Mit den Prüfungen wurde jeweilen Uto vom Rektor betraut, und über das Ergebnis hatte er niemanden Rechenschaft abzulegen. Es war ihm daher ein Leichtes, ein Kind, das ihm nicht behagte, durchfallen zu lassen. Daß er Frau [154]Kunigunde selber bewogen hatte, Elisabeth anzumelden, verursachte ihm kein großes Unbehagen. Um so empfindlicher hoffte er, sie durch seinen Streich zu treffen. Vergnügt blickte er durch das Fenster des Lehrerzimmers und malte sich ihren Schmerz aus beim Empfang der Nachricht, daß ihr Töchterchen unfähig war, die Prüfung zu bestehen.

Der Tag der Rache kam. Elisabeth fuhr frohgemut nach Himmelsbach; denn ihr Grünecker Lehrer hatte ihr versichert, sie werde eine der Besten sein. Doch sie kehrte weinend zurück. Sie glaube nicht, daß sie angenommen werde, erzählte sie ihrer Mutter. Herr Storz habe sie gleich bei Beginn der Prüfung grob angefahren, ihr rasch aufeinander immer neue Fragen gestellt, bevor sie Zeit gehabt habe, die alten zu beantworten, und ihr fortwährend dreingeschwatzt, so daß sie schließlich ganz verwirrt geworden sei. Auch bei der schriftlichen Prüfung habe er sie immer am Schreiben gestört und ihr zum Schluß vor allen Kindern erklärt, sie sei zu dumm für die Bezirksschule.

Frau Kunigunde begann etwas zu ahnen.

„Bis wann erfahrt ihr, ob ihr aufgenommen werdet?“

„Morgen nachmittag um vier Uhr müssen wir uns wieder einfinden.“

„Ich werde mit dir gehen."

Trotz allem Hudelwetter, das eingesetzt hatte, ließ es sich Frau Kunigunde nicht nehmen, ihr Kind zu begleiten. Sie zog ihr bestes Kleid an, band sich den feinen weißen Spitzenschleier um den eleganten Hut und begab sich ohne viele Worte mit der ihre schöne Mutter immer wieder von der Seite anstaunenden Elisabeth nach der Bahn. Alle ihre Bekannten zogen tief den Hut vor der stattlichen Erscheinung.

Vor dem Schulhause angekommen, ließ sie Elisabeth allein eintreten und erwartete sie vor der Türe.

[155]

Bald stürmten die Kinder fröhlich jubelnd heraus. Sie waren beinahe alle, wenn auch nicht endgültig, so doch wenigstens zur Probe aufgenommen worden. Hinter den Letzten schlich Elisabeth heran, bleich wie der Tod. Frau Kunigunde wußte genug.

„Ist Herr Storz drinnen?"

„Im ersten Stock steht er vor dem Schulzimmer.“

„Erwarte mich hier, Elisabeth!"

Frau Kunigunde streifte rasch ihre Handschuhe ab, übergab sie samt ihrem Ledertäschchen Elisabeth und stieg ruhig die breite Steintreppe hinan. Von weitem schon hörte sie Udo’s gröhlendes Wirtshausgelächter. Im Korridor des ersten Stockes stand er, den sie suchte, mitten unter einer Gruppe von ältern, zu allerlei Handreichungen aufgebotenen Bezirksschülerinnen und ließ sich angackern wie der Hahn im Hühnerhofe. Frau Kunigunde zog ihren Schleier in die Höhe und trat festen Schrittes auf ihn zu. Die Mädchen wichen unwillkürlich zurück. Udo erblaßte.

„Ich bin gekommen, um mit Ihnen abzurechnen, Herr Storz! Sie sind nämlich der niederträchtigste Schuft, der mir in meinem Leben begegnet ist!“

Und = klaps! = hatte er links eine Ohrfeige und ~ klaps! — rechts eine. So ging's ein Weilchen hin und her. Ein von dem Geschrei der Mädchen herbeigerufener Kollege Udo's wollte ihm zu Hilfe kommen, flog aber unter dem Einfluß einer energischen Armbewegung Kunigunde's an die Wand.

Nach beendigtem Gericht wandte sich die schöne Frau, mit Tränen des Zornes in den Augen, aber stolz, wie eine Göttin, der Treppe zu und verschwand.

[156]

Anno 1914.

Fridolin Murzbacher von Basel war als ein tapferer Mann bekannt. Kein Mensch seiner Umgebung hätte je gewaat, ihn der Feigheit zu zeihen. Es wäre ihm schlecht bekommen; denn Fridolin Murzbacher erklärte allen, die es hören wollten, daß er jede Beleidigung mit einer Ohrfeige und jede Ohrfeige mit einem Totschlag räche. Schillers „Tell“ kannte er von vorn nach hinten und von hinten nach vorn auswendig und spickte seine Reden mit patriotischen Zitaten. Sein höchstes Ideal war Arnold von Winkelried, und seinen sechs Kindern schärfte er jeden Tag ein, daß der Tod fürs Vaterland das schönste sei auf Erden.

Als kinderreichem Familienvater war es Fridolin schwer geworden, eine Wohnung zu finden, und er hatte deshalb an der Peripherie der Stadt ein Häuschen gekauft und freute sich nun seit Iahren seines Besitzes, aber immer wieder mit der Stauffacherin betonend :

Wüsßt’ ich mein Herz an zeitlich Gut gefesselt,

Den Brand würf ich hinein mit eigner Hand.

So standen die Dinge, als Fridolin Mitte Juli des Kriegsjahres 1914 seinen dreiwöchigen Erholungsurlaub antrat. Er pflegte diesen Urlaub zu Hause zuzubringen, machte aber mit seinen Kindern fast täglich Ausflüge auf die Hügel und Burgen in der Umgebung der Stadt, zeigte den Kindern ihr schönes Vaterland von den fruchtbaren Tälern bis an die Schneekoppen der fernen Alpen und erzählte ihnen, wie dieses Land seine Freiheit nur der Tapferkeit der Ahnen verdanke. Dann jubelten alle und sangen:

[157]
Heil dir, Helvetia!
Hast noch der Söhne ja,
Wie sie Sankt Jakob sah:
Freudvoll zum Streit!

Als er eines Abends von einem solchen Spaziergange zurückkehrte und die Zeitung zur Hand nahm, schrack er zusammen. Österreich hatte Serbien ein Ultimatum übermittelt.

„Schrecklich Schrecklich!“ klagte er und starrte immer wieder nach dem Telegramm im Zeitungsblatt.

„Was ist dir?“ fragte seine Frau. „Was ist geschehen? ~ Du bist ganz bleich!“

„Ein Ultimatum!“ stöhnte Fridolin. „Der Österreicher hat an den Serben ein Ultimatum gerichtet.“

„Wenn das alles ist, so laß das Ultimatum Ultimatum sein und iß jetzt, sonst wird's kalt."

Fridolin betrachtete seine Frau halb mitleidig, halb mit dem Blicke des gereiften Politikers, legte die Zeitung neben sich auf den Tisch und hub an: „Weißt du, was dieses Ultimatum bedeutet? Dieses Ultimatum bedeutet den Weltkrieg. – Der Serbe nimmt die Forderungen des Desterreichers nicht an, weil ihm vom Russen der Rücken gestärkt wird. Der Österreicher erklärt daher dem Serben den Krieg. Der Russe läßt den Serben nicht im Stich und erklärt dem Österreicher den Krieg, der Deutsche dem Russen, der Franzose dem Deutschen, der Italiener dem Franzosen, der Engländer dem Deutschen, Italiener und Österreicher, der Spanier und der Portugiese ebenfalls, der Türke und der Japaner dem Russen, der Chinese und der Amerikaner dem Japaner, der Rumäne holt sich Bessarabien, der Bulgare Ost-Thrazien, der Grieche die Inseln. Der Montenegriner hilft dem Serben, der Aegypter, der Inder und der Marokkaner machen Aufstände "

[158]

„Und der Schweizer ?“ warf Frau Murzbacher endlich lächelnd in das ethnologische Sammelsurium.

„Der Schweizer bleibt natürlich neutral, wenn er kann. Aber auch wenn er neutral bleibt, ist seine Stellung äußerst schwierig. Von allen Seiten ist ihm die Zufuhr abgeschnitten. Er verhungert. Die Banken geraten in Konkurs. Er verliert sein Geld. Der Krieg ist da, basta! Nach dem Nachtessen wird eine Liste aller Bedarfsartikel aufgestellt. Am Montag nimmst du den Kinderwagen und Schangis Leiterwagen und kaufst ein, was ich dir aufschreibe. Unterdessen hole ich unsere Ersparnisse auf der Zinstragenden, der Kantonalbank, der Volksbank und der Handwerkerbank und miete mir einen Tresor auf der Handelsbank. Der kluge Mann baut vor, heißt es im „Tell“. ~ Halt, Kohlen! Ich weiß, wie ich's machen muß, daß ich sie bald bekomme. Ich sage im Kohlengesschäft, daß ich am Mittwoch verreise ins Berneroberland.“

Frau Munrzbacher erwiderte nichts, sondern begnügte sich mit einem stillen Lächeln. Ihr Fridolin war ja sonst ein guter Kerl und sorgte wacker für seine Familie. Man mußte ihm seine paar Schrullen lassen.

„Noch eines!“ begann er nach einiger Zeit von neuem. „Der Krieg hat Pest, Cholera, Typhus und Blattern im Gefolge. Du gehst am Dienstag mit den Kindern zum Arzt. Dort laßt ihr euch alle impfen!“

„Aber du kommst doch auch mit?"

„Nein, ich – ich – bin schon geimpft."

Es kam Fridolin hie und da auf eine faustdicke Lüge nicht an, und diesmal log er. Denn bis zu diesem Tage hatte er immer gegen den Impfzwang gewettert und damit geprahlt, daß er noch nie geimpft worden und trotzdem nie an den Blattern erkrankt sei. Er fühlte, daß er errötete und nahm die Zeitung vors Gesicht. Aber seine Frau ließ ihn noch nicht los.

[159]

„Seit unserer Verheiratung bist du jedenfalls noch nie geimpft worden! Und wenn nun gerade du, der Ernährer, krank wirst und stirbst ?"

„Aber einzige Lydia, man muß doch auch ein wenig Gottvertrauen haben !"

Und wiederum verbarg er sich hinter der Zeitung. Er stellte sich nun einmal das Geimpftwerden als etwas Schmerzhaftes vor und wollte daher nichts damit zu tun haben. Aber Frau und Kinder, die mußten geimpft werden, damit sie nicht die Blattern nach Hause schleppten und ihn am Ende noch ansteckten. Der Jubel der Kinder war groß. „Hurrah!“ rief der zwölfjährige Schangeli, „Zeimpft werden wir und Krieg gibts !“ Und der zweijährige Migger markierte das Echo: „Huah! Bimpft und Gieg!“" Dann aber wurde die kleine Schwefelbande, die in voller Verkennung der schweizerischen Neutralität sich sofort in zwei Lager teilte und als Deutsche und Franzosen aufeinander loszuhauen begann, in ihre Schlafkammern gebracht und ins Bett gejagt.

Als die Ruhe hergestellt war, las Papa Fridolin seine Zeitung zu Ende, holte mit einem tiefen Seufzer Tinte und Feder und begann die Vorräte zu notieren. Seine Frau setzte sich mit dem Strickzeug ihm gegenüber. Die Wanduhr tickte leise, und kratzend flog Fridolin Munzbachers Feder über's Papier. Draußen hängte die Dämmerung ihre Schleier ans Fenster, einen um den andern.

„Es wird dunkel, du könntest das Licht anzünden,“ meinte endlich Fridolin.

Die Frau tat so.

„Halt, die Streichhölzer habe ich noch vergessen!" warf Fridolin hin, notierte noch 100 Pakete Streichhölzer und las dann seine Liste vor: 10 Doppelzentner Mehl (Simmel), 1 Doppelzentner Salz, 1 Zentner Gries, 1 Zentner Erbsen, gebrochene, 1 Zentner Schnittbohnen, [160]Zentner Hafergrütze, 40 Pfund Cacao, 2 Zentner Würfelzucker, 2 Zentner Kochzucker, 1 Zentner Melis, 2 Zentner Kaffee, roher, 1 Zentner Maccaroni, 1 Zentner Nudeln, 60 Pfund Speck oder Schmer zum Auslassen, 2000 Eier, frische, zum Einlegen, 200 Büchsen kondensierte Milch, 1 Hektoliter Petroleum, 100 Patete Streichhölzer.

Als Fridolin zu Ende war, reichte er die Liste der Frau, streckte sich und sagte triumphierend:

„Daran denkt außer dem Fridolin Murzbacher natürlich wieder kein Mensch.“

Frau Murzbacher sah ihrem Manne lange prüfend ins Gesicht.

„Fridolin, darf ich dir die Wahrheit sagen?"

„Jawohl, heraus damit!“

„Du bist verrückt! Rettungslos irrsinnig!"

Fridolin war höchst erstaunt. Das hatte ihm noch kein Wensch gesagt, und nun mußte er so etwas ausgerechnet von seiner eigenen Frau hören.

„Wieso verrückt?“

„Wo willst denn du alle diese Vorräte unterbringen?"

„Aha, mhm, aha! Du hast eigentlich recht. Soviel Platz haben wir ja gar nicht. Afin, wir können von der Liste noch Verschiedenes abstreichen.“

Aufs Abstreichen verstand sich Frau Murzbacher großartig und Fridolin mußte sich für jeden Posten wie ein Löwe wehren. Einzelne wurden von hundert bis auf zwanzig, andere von fünfzig bis auf zehn Kilogramm reduziert. Beim Mehl blieben zwei Doppelzentner übrig, beim Salz ein Zentner, was Frau Murzbacher immer noch zu viel fand: denn das Mehl gehe ihr kaput und das Salz ziehe die Feuchtigkeit an. Das Petroleum wurde gänzlich gestrichen wegen der Feuersefahr.

Der folgende Tag war ein Sonntag. Fridolin [161]setzte sich frühzeitig an seinen Atlas, um die Chancen der kriegführenden Parteien abzuwägen. Trotzdem er keinen Militärdienst getan hatte + in seinem Dienstbüchlein prangte ein großes „Untauglich“ ~ hielt er sich für einen bedeutenden Strategen. Das sstrategische Genie lag bei ihm im Blut, hatte es doch sein Vater, ein geborener Deutscher, bis zum Grade eines Vice-Feldwebels gebracht. Diesem Umstand wird es auch zuzuschreiben sein, daß er steif und fest an den Sieg der Deutschen glaubte. Antipathie empfand er deswegen keine, weder den Franzosen noch den Engländern gegenüber. Denn er rechnete die Zeit, während welcher er in Paris und London gearbeitet hatte, zur schönsten seines Lebens. Einer aber von allen mußte siegen und das konnte seiner Ansicht nach nur der Deutsche sein. Zuerst schlug er die Karte von Frankreich auf. Im Gegensatz zum deutschen Generalstab rechnete er mit der Neutralität Belgiens.

„Die Franzosen werfen ihre ganze Armee gegen Elsaß-Lothringen, besetzen die Vogesenkämme und dringen im Norden gegen Metz im Süden gegen Mülhausen vor. Die Deutschen, die das Belforter Loch meiden, halten den Feind im Süden durch Scheingefechte fest, umgehen ihn im Norden und rollen ihn von Norden nach Süden auf. Damit ist die französische Elitearmee vernichtet, und Deutschland macht mit Frankreich rasch einen für dieses günstigen Frieden, um sich gegen den Russen wenden zu können.“ Dann wurde die Karte Rußlands aufgeschlagen. „Mit Rußland ist die Sache ebenfalls äußerst einfach. Die österreichische Armee, soweit sie nicht durch Serbien gebunden ist, maschiert zwischen Weichsel und Bug auf Warschau los, reicht dort einer deutschen Südarmee, die von Polen her gegen Warschau vorgedrungen ist, die Hand und revolutioniert Polen. Beide wenden [162]sich dann nach Norden und vereinigen sich in Petersburg mit der deutschen Nordarmee, die inzwischen die russischen Ostseeprovinzen erobert hat. Da gleichzeitig der Rumäne in Bessarabien, der Türke in Russisch-Armenien und der Japaner in der Manschurei eingedrungen sind und die russische Revolution ausgebrochen ist, kann der Russe nichts machen. Der Engländer sitzt auf seiner Insel und hat das Zusehen.“

Fridolin wollte seiner Frau die Sache erklären. Sie hatte jedoch keine Zeit, weshalb Schangeli herhalten mußte, der bereits etwas von Geographie verstand und daher mit Bewunderung zu seinem gescheiten Vater aufblickte. Bis zum Abend war der Weltkrieg entschieden, und Fridolin konnte nun eine ruhige Nacht verbringen. Doch schon der frühe Morgen sah ihn wieder an seiner Liste der nötigsten Bedarfsartikel. Zucker mußte er entschieden mehr haben; denn der Zucker würde im Preise enorm steigen. Es gelang ihm noch, 10 Zuckerhüte in die Liste einzuschmuggeln. „Wenn du die zugeschleppte Ware am Hause auspackst,“ schärfte er seiner Frau noch ein, „so gib acht, daß die Nachbarn nichts merken. Deck’ alles jeweilen zu mit der Schürze! Ich will nicht schuld sein, wenn eine Panik ausbricht. – Das Mehl gebe ich beim Müller direkt auf. Alles übrige holst du mit den Kindern."

Nach dem Frühstück verabschiedete er sich von der Familie, bestellte sich erst Kohlen mit „dem dringenden Ersuchen“, man möchte sie sofort liefern, da er verreisen müße, und erhob dann sein ganzes, bei verschiedenen Banken auf Kassabüchlein angelegtes Barvermögen. Tausend Franken behielt er für sich. Den Rest legte er in einen gemieteten Tresor.

„Aber ich denke noch weiter", sagte Fridolin zu sich selber. „Bei einem Kriege muß das Kleingeld sofort rar werden und zwar mit Naturnotwendigkeit ! [163]Also verschaffen wir uns noch Kleingeld !“ bei der Hauptpost und trat an den Schalter.

„Eine Fünfsantimmarke!“ Als Bezahlung legte Fridolin eine Hundertfrankennote hin.

„Ich muß Ihnen leider alles Fünffrankenstücke geben, da ich keine Fünfzigernote habe“, entschuldigte sich der ahnungslose Beamte.

„Macht gar nichts!“ besschwichtigte Fridolin und ließ das Silber in seine Taschen rollen. Dann suchte er nach dem nächsten Zigarrengeschäft, kaufte für fünfzig Rappen „Stumpen“ und bezahlte mit einer Hundertfrankennote. Diesmal erhielt er eine Fünfzigernote. Er ging weiter und wechselte ab zwischen Postfilialen und Zigarrenläden, bis er die Taschen voll Silber und Nickel hatte. Auf dem Heimwege bestellte er noch das Mehl, nahm in seiner Stammkneipe einen Frühschoppen und kehrte zum Mittagessen, in Schweiß gebadet und unter der Last seines Silbers fast zusammenbrechend, nach Hause zurück.

Fridolin Murzbachers Vorbereitungen glückten. Drei Tage vor dem Kriegsausbruch hatte er alles erreicht, was er wollte. Glückselng vom Scheitel bis zur Sohle wandelte er durch die Straßen, vorbei an überfüllten Lebensmittelgeschäften und belagerten Banken. Seine pfiffigen Schweinsäuglein strahlten, und der Stolz auf seine Weisheit wuchs ins Grenzenlose.

Damit war aber die Tätigkeit Fridolins nicht erschöpft. Er mußte Neuigkeiten haben. Er versicherte sich an den Fenstern der Zeitungen alle paar Stunden einmal, ob nicht neue Telegramme angeschlagen seien. Er bummelte nach den deutschen Grenzortschaften, um die Stimmung kennen zu lernen. Am Donnerstag, 30. Juli, abends, kehrte er totenblaß nach Hause zurück.

„Barrikaden |“ konnte er nur heraussstoßen.

Frau und Kinder hingen ihm atemlos an den Lippen, [164]bis sie endlich nach minutenlangem Warten erfuhren, daß die Straßen nach der deutschen Nachbarschaft verbarrikadiert seien. Sonderbarerweise erschrak niemand, Fridolin blieb der einzige Erschrockene. Das beruhigte ihn einigermaßen und ermöglichte ihm eine Nacht erquickenden Schlafes. Schon um sechs Uhr in der Frühe war er aber wieder auf den Beinen und auf dem Wege nach der Grenze. Bis Mittag war die Ausbeute an Neuigkeiten gering, um so größer am Abend, als er sich todmüde am Tische niederließ.

„Der Bahnverkehr nach Deutschland ist unterbrochen, ebenso die Telegraphen- und Telephonverbindungen. Deutschland, Oesterreich, Italien und Frankreich haben die Lebensmittelausfuhr verboten. Fortwährend werden französische Spione erschossen, darunter vierundzwanzig Pfarrer aus dem Elsaß und vierzig Rotkreuzschwestern. Iaurès ist ermordet worden und eine französische Revolution ausgebrochen. Paris steht in Flammen. 300,000 Franzosen, die um Delle zusammengezogen wurden, verlangen den Durchmarsch durch die Schweiz. Der schweizerische Landsturm ist aufgeboten und die gesamte Armee auf Pikett gestellt.“

Und so gings nun Tag für Tag fort. Die Kriegserklärungen kamen, eine nach der andern und jede den guten Fridolin erschütternd. Aber mit dem, was er in den Zeitungen las, begnügte er sich keineswegs. Es gab noch andere Nachrichten am Stammtisch und auf der Straße. Diese sammelte er ebenfalls und gab sie zu Hause mit phonographisscher Treue wieder:

„In der Schweiz werden massenhaft Spione gefangen genommen. Eine Brieftaube mit einer Photographie der Gotthard-Befestigungen und einem geheimnisvollen chiffrierten Schreiben wurde heruntergeschossen. Glücklicherweise konnte man es dechiffrieren und ihm entnehmen, daß der Bundesrat und der schweizerische [165]Generalstab in die Luft gesprengt werden sollten! Unter sämtlichen Linien der Bundesbahnen fand man Bomben!“

Endlich am Freitag, den 7. August, am zweitletzten Tage seines Urlaubes, kam Fridolin ganz verstört nach Hause.

„Alles zusammenpacken!“ kommandierte er mit heiserer Stimme. „Die Franzosen haben die Grenze überschritten. Sie stehen im Birs- und im Leimental. Delsberg brennt. Sobald sie in Basel sind, wird Basel von Istein und Tüllingen aus beschossen. Wir liegen hier unter der Schußlinie. Also rasch zussammenpacken! Wir fahren sofort nach Olten!“

„Aber Fridolin!“ beruhigte ihn seine Frau, „nimm doch Vernunft an! Wir lassen doch unser Haus nicht im Stich ?“

„Unser Leben ist wichtiger als unser Haus |“

„Mach’ was du willst! Ich und die Kinder bleiben hier. Denn erstens werden von zivilisierten Soldaten keine Unschuldigen getötet, und zweitens ist ja unsere Grenze besetzt.“

„So, besetzt? Das bischen Landsturm nennst du Besetzung ?“

„Ein bischen Landsturm? Die ganze Armee ist doch mobilisiert ?"

„Sitzt aber gemütlich an ihren Truppensammelplätzen."

„Wir bleiben hier, fertig!“

„Und ich reise nach Olten!" trotzte Fridolin und ging nach dem Schlafzimmer, um zu packen. Frau Munzbacher tat, als ob nichts geschehen wäre, setzte sich mit den Kindern an den Tisch zum Abendessen und brachte diese nachher zu Bette. Nach einer Stunde kehrte Fridolin ins Wohnzimmer zurück mit Hut und Handkoffer und nahm einige Bissen von dem inzwischen kalt gewordenen Essen zu sich. Seine Frau hatte ihren Flickkorb geholt und nähte, ohne aufzusehen.

[166]

„So kommst du also mit den Kindern nicht mit?" fragte endlich Friedolin. „Ich muß nämlich so wie so geschäftlich nach Olten.“

„Geschäftlich? Im Erholungsurlaub geschäftlich ?“

Fridolin erhob sich und wandte sich gegen das Fenster; denn er fühlte an der ihm in den Kopf steigenden Hitze, daß er purpurrot wurde. Nachdem ssich der Sturm in ihm gelegt hatte, reichte er seiner Frau die Hand hin und sagte möglichst unbefangen !

„Also, adieu! Ich hoffe, daß ich spätestens am Sonntag Abend zurück bin.“

Frau Murzbacher gab ihm keine Antwort, ließ seine Hand unberührt und blickte unverwandt auf ihre Arbeit. Fridolin ging. Als die Haustüre ins Schloß gefallen war, trat Frau Murzbacher klopfenden Herzens ans Fenster. Wahrhaftig, er nahm die Richtung gegen den Bahnhof.

„Meinetwegen l“ sagte sie schließlich zu sich selber mit einem kleinen Seufzer als Begleiter. „Aber schade ist's für das Reisegeld bei diesen schlechten Zeiten."

Sie legte sich erst spät zu Bette, konnte aber trotzdem den Schlaf nicht finden. Das Gefühl, mit den Kindern im ganzen Hause allein zu sein, ließ ihr keine Ruhe. Nach Mitternacht begannen Tatktschritte sie zu erschrecken. Von Zeit zu Zeit ertönten Kommandorufe. Sollten am Ende doch die Franzosen . . .? Sie trat hinter die Gardinen und blickte auf die Straße. Es waren Truppen, aber schweizerische. Zug um Zug und Kompagnie um Kompagnie! Dann begann ein ununterbrochenes Rasseln. Erst Wagen an Wagen : der Train. Dann kam etwas, das noch mehr rasselte: Geschütze und Munitionswagen. Lange zog es vorbei. Frau Murzbacher hatte sich wieder ins Bett gelegt. Durch die offenen Fenster drangen, troß dem Lärm auf der Straße deutlich vernehmbar, die aufgeregten Rufe der Nachbarn [167]an ihr Ohr. Ihr Fridolin war also nicht der einzige Angsthase.

Endlich. quoll grau die Dämmerung durch die Vorhänge. Frau Murzbacher erhob sich und begann ihr Tagewerk. Alles ging wie am Schnürchen. Aber gut aufgelegt war sie nicht, und die Kinder durften nicht mucksen, sonst flog ihnen die allzu leichte Hand der Mutter an den Kopf.

Im Laufe des Nachmittags wurde sie ans Telephon einer in der Nähe gelegenen Wirtschaft gerufen. Sie eilte, so schnell sie die Füße tragen konnten.

„Frau Murzbacher hier!“

„Fridolin! –~ Grüß Gott, Lydia!“

„Ah, du bist's? Guten Tag!“

„Ich wollte nur sehen, wie's euch geht. Brennt unser Haus auch?

„Warum ssoll's brennen ?"

„Basel steht doch in Flammen! Die Franzosen sind vom Clsaß her eingedrungen, und die Deutschen haben von Istein und Tüllingen her die Stadt unter ihr Feuer genommen, oder nicht? Beim Bundesrat soll eine Meldung eingegangen sein !"

„Sehr richtig! Basel brennt lichterloh, alle Dörfer in der Umgebung liegen in Schutt und Asche, von unserm Haus steht kein Stein anf dem andern, den Kindern wurden die Köpfe abgeschnitten und mich selbst haben sie gevierteilt. Am Telephon hängt nur noch der Kopf! Adieu!“

Frau Murzbacher läutete ab und ging lachend heim.

Am Sonntag Nachmittag traf Fridolin kleinlaut wieder zu Hause ein. Alles war noch wie vorher. Nur im vorsorglich eingekauften Mehl hätten sich Würmer einquartiert, berichtete seine Frau, und der Gries gehe wahrscheinlich zugrunde.

Fridolins Urlaub war abgelaufen. Als er seinen [168]Dienst antreten wollte, traf er nur noch seinen Chef im Kontor, der ihm eröffnete, daß er das Geschäft geschlossen habe. Er werde ihm, Fridolin Murzbacher, berichten, sobald er wieder Arbeit für ihn habe. Auf die Bessoldung hätten alle Angestellten verzichten müssen und auch ihm, Fridolin Murzbacher, bleibe nichts anderes übrig. Fridolin dankte und bemerkte, daß er das vollständig begreife. Man könne nicht sein eigenes Geld drauflegen, um die Angestellten zu besolden. Er halte sich bestens empfohlen bis zur Rückkehr geordneter Verhältnisse. Zu Hause aber entlud er seiner Frau gegenüber seine wuterfüllte, tapfere Seele:

„So, nun bin ich stellenlos, zum ersten Male in meinem Leben stellenlos! Und ich habe doch wahrhaftig meinen Posten ausgefüllt, treu und fleißig wie kaum ein anderer. Es ist himmeltraurig, daß ein Chef, der im Gelde schwimmt und mit etwas gutem Willen seine geschäftlichen Beziehungen aufrecht erhalten könnte, wegen dem bischen Krieg das Herz gleich in die Hosen fallen läßt! Eine solche wirtschaftliche Einssichtslosigkeit, eine solche Feigheit ist unerhört! Es gibt nicht nur eine Tapferkeit dem Feind gegenüber, sondern auch eine Tapferkeit angesichts unglücklicher Verhältnisse und diese zweite Sorte von Tapferkeit ist bei uns sehr selten. Außer dem Generalstab hat alles versagt: der Bundesrat, die Kantonsregierungen, das Rote Kreuz, der Konsumverein, die Geschäftsleute. Alle, aber auch alle haben versagt !“

„Nur du,“ warf Frau Murzbacher dazwischen, „du hast nicht versagt."

Da schwieg Fridolin Murzbacher und schämte sich.


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TextGrid Repository (2023). Swiss German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-gsw). Rosswiler Geschichten und anderes : ELTeC Ausgabe. Rosswiler Geschichten und anderes : ELTeC Ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001D-4718-7