Friedli der Kolderi
Mit solchen Knechten, wenn es bald vier Uhr am heiterhellen Tag ist und die Sonne schon hinter den Bergen und man doch heuen sollt', und faulenzen einem auf dem Spreuersack herum, als wären sie das vornehmste Herrenpack, soll der Teufel fuhrwerken!» schimpfte Matthys der Senn, während er mit der Faust an die Tür der Gesindekammer polterte.
Drinnen ächzten die Betten und stöhnte verdrossenes Gähnen, zwischen Munkeln und Maulen.
«Es hat einem ja nicht können träumen, daß Heuwetter kommt. Den ganzen Sonntag hat es ja gestern heruntergeschüttet wie nicht gescheit, und noch um zehn Uhr nachts ist der Oberluft gegangen.»
Und eine dröhnende Stimme rief herausfordernd:
«Es wäre halt auch besser, wenn der Meister am Sonntag selber zu Hause bliebe, anstatt unten im Dorf bis Mitternacht in den Wirtshäusern herumzuhocken. So ist es keine Kunst, vor den andern auf zu sein, wenn man am Montag früh noch die Sonntagshosen von gestern abend an den Beinen hat.»
Ein unterdrücktes Kichern folgte diesen Worten.
[82]Der Senn, welcher sich bereits getrollt hatte, schnellte zurück, beugte den Kopf gegen das Schlüsselloch und schrie:
«Ich habe nicht nötig, Friedli, mir von meinen Knechten vorschreiben zu lassen, was ich am Sonntag tun oder nicht tun darf. Wenn's etwa einem bei mir nicht gut genug ist, so ist ja die Welt groß; ich halte niemand mit Gewalt.»
«Davor wäre mir jedenfalls nicht bange!» grölte es trotzig zurück, «ich habe noch allezeit meine Arbeit recht getan, und es müßte übel zugehen, wenn man nicht einen manierlicheren Meister im Lande fände.»
«So kannst du dir gleich einen suchen.»
«Mir auch recht. Lieber heute als morgen.»
Vom äußersten Ende des Ganges mahnte zischelnd eine Mädchenstimme:
«Vater! Du weißt ja, daß der Friedli ein Kolderi ist; man darf es mit ihm nicht so genau nehmen, was er sagt. Und die Arbeit macht er ja sonst auch recht.»
«Willst du wohl auf der Stelle heim ins Bett, Mareili? Im Hemd und bloßen Füßen!»
Da schloß sich hurtig die Tür, und der Senn klapperte in seinen Holzschuhen die Treppe hinab, in den Hausflur, das Tor aufzurammeln.
Einer um den andern erschienen die Knechte in dem kalten, schmutziggrauen Dämmerdunkel des Ganges, taumelnd und schnaufend vor Schlaftrunkenheit. Und so oft einer zum Vorschein kam, tat sich am Gangende die Tür ein wenig auf und gleich darauf wieder zu.
[83]Inwendig in der Kammer aber rumorte und spektakelte der Friedli, unter Verwünschungen und Flüchen. Unversehens schoß er hervor, unwirsch, wie ein Eber aus einem Haselbusch, mit Rock und Hut, eine Tasche über die Achseln gehängt und einen Knebelstecken in der Hand.
«Friedli», wisperte es dringend vom Ende des Ganges aus der Türspalte, «Friedli! ich bin's! Mach doch keine Schneckentänze und sei vernünftig! Du weißt ja, der Vater meint es nicht so, wie er sagt.»
Der Friedli, statt der Antwort, schmiß die Tür ins Schloß und stampfte grimmigen Trittes die knarrenden Stufen hinab, mit den Schultern Rechen und Becken von den Bolzen streifend, daß es vor ihm her kesselte und wetterte.
Vor dem Hause umringten ihn die Knechte, staunend und kopfschüttelnd.
«Ja was, Friedli? Du wirst doch etwa nicht!»
«Was werde ich nicht? Meint ihr vielleicht, es brauche mir's einer zweimal zu sagen, wenn ich gehen soll?»
Hierauf drückte er sich ohne weiteres der Mauer entlang um das Haus, schwerfällig, doch entschlossen.
Die Meisterin trippelte ihm keuchend nach, holte ihn jenseits der Ecke ein, zupfte ihn am Rock und riß ihn am Arm.
«Friedli», rannte sie ihm zu, «mach doch nicht immer den Kolderi! Es ist ja alles nur der Zorn und die Täubi, weil der Matthys gestern im Kartenspiel verloren hat. Am Nachmittag ist er wieder wie ein umgekehrter Handschuh.»
[84]Der Friedli tat einen Ruck und strich stumm und störrisch weiter.
«Mein Gott», zeterte sie ihm nach, «so trink doch wenigstens zuerst noch ein Taßli Kaffee! So stark wird es deswegen nicht pressieren. Und der Lohn? hast du denn auch den Lohn? Herr Jesus Christus im Himmel oben, Friedli, du wirst doch nicht etwa fort wollen ohne den Lohn?»
«Ich brauche keinen Lohn; ich bin schon bezahlt.»
Über den Zaun des Pferchs, welcher den Hof umfriedete, klomm er leicht, ohne sich mit den Knöcheln zu stützen.
Jenseits raffte er zwei handgroße Steine vom Boden, schleuderte den einen an das Hundehäuschen, daß der Spitz heulend vor Entsetzen an rasselnder Kette sich in den hintersten Winkel verkroch, den andern wirbelte er in gewaltigem Bogen hoch über das Hausdach in die Krone des Lindenbaumes, wo er sausend durch den Wipfel an den Stamm schlug und mit faulem Fall, von Ast zu Ast prallend, in den Rasen plumpste, gefolgt von raschelnden Blättern und einem Regen von schweren Tautropfen.
Hernach stieg er langsam berghinan, gegen die Paßhöhe.
Weidende Herden bimmelten und schellten zu beiden Seiten des Pfades. Neugierig nahten die Kühe, pflanzten sich steif vor ihn hin wie Holzfiguren und glotzten ihn unverwandt an. Mit vorgehaltener Hand lockte er die vorderste, kraute ihr in den Stirnlocken, kniff sie in die Wampen und nannte sie kosend beim Namen.
Dem Stier, welcher ihn zwischen Zorn und Furcht anstarrte, schritt er behutsam im Zickzack entgegen, begütigte ihn mit der Stimme, reizte ihn jedoch gleichzeitig, [85]indem er mit geschwindem Griffe ein Horn um das andere packte und wieder freigab. Mit Wohlgefallen betrachtete er, wie die Augen immer röter unterliefen, wie das Tier bald mit dem Schweif, bald mit dem Hinterhuf, bald mit dem Haupt unruhig schlug, wie es mit der Zunge links und rechts den Rücken leckte und mit kurzem hochtönenden Gebrüll den Schaum aus dein Maule warf.
Aber als jetzt der Stier mit dumpfem Murren den Kopf senkte, versetzte er ihm mit einem lustigen Jauchzer einen festen Fußtritt in die Weichen, daß er verdutzt um eine Körperlänge zurücksprang.
Hierauf stieg er stetig bergan, gleichmäßigen, langsamen Schrittes, Windung um Windung, den Pfad abschneidend, an der Quelle und dem Vergißmeinnichtsumpfe vorbei, durch das nasse Gras, über Tümpel und Weiden nach dem Kreuz und vom Kreuz steil den Sturz hinauf, ohne Atem zu schöpfen, im selben Schritt, bis auf die Paßhöhe.
Oben auf der Höhe schwenkte er seitwärts nach dem Bödeli und steuerte nach einer Erdmulde, welche mit einem Kranze von gelben Enzianen wie mit brennenden Kerzen umleuchtet war.
Am Rande der Mulde stand eine einsame riesige Wettertanne, als Paßzeichen von der Gemeinde geschont.
Dort warf er Hut, Stecken und Tasche von sich, unter das dunkelgrüne Geäst, und ließ sich gleichgültig auf die weiche Matte fallen, das Gesicht talwärts gekehrt, so daß er gerade nach dem Matthysenhof unten in der Tiefe sehen konnte.
[86]Und wo er lag, blieb er liegen, das Kinn in die hohle Faust gestützt, mit der andern Hand Gras abstrupfend und mit den Zähnen zerkauend.
* * *
Hinter ihm rauschte es im Grase von schlurpenden Schritten, und Steine rollten in die Mulde.
«Was ist, Friedli?» fragte gedämpft eine Stimme, «hat dir der Matthys aufgekündigt?»
Friedli antwortete nicht, schaute sich auch nicht um, sondern rupfte das Gras büschelweise ab.
Der andere kam näher und fuhr fort:
«Mir meiner auch. Auf nächsten Samstag. ‹Ue-Ue-Ueli›, hat er zu mir gesagt, ‹Ue-Ue-Ueli, meine Geduld ist a-a-aus›, hat er gesagt, der Hansjörg.»
Beide stießen ein gezwungenes Gelächter aus, dann stierten sie selbander ins Tal, Friedli liegend und Ueli stehend.
Unten im Matthysenhof, aus dem Sennhaus, klein wie eine Schachtel und gelb wie eine Schindel, krochen winzige Zwerge mit Sensen, Gabeln und Rechen hervor. Die zogen wie Ameisen am Stall vorbei, beim Brunnen vorüber, den Bühl hinab ins Tobel, versanken bei den Weiden, tauchten jenseits am Brücklein wieder auf und kletterten, immer kleiner, immer kleiner, rechts über der Alp, dem Rain entlang zur Matte vor dem Wald. Dort legten sie die Joppen unter einen Kirschbaum, banden sich Nastücher um die Stirn, rote und blaue, wie ein Strauß von Mohn- und Kornblumen, rückten zum [87]Viereck dicht aneinander und drehten sich langsam nach allen Seiten um.
«Jetzt jauchzen sie», erklärte der Friedli sachgemäß, «aber es ist viel zu weit, man kann davon nichts hören.»
Das Viereck löste sich auf und dehnte sich in zwei lange Reihen, die im gleichmäßigen Takt sich bückten und wieder aufrichteten.
«Es ist schön mähen heute», urteilte Ueli mit Respekt. «Aber ein wenig spät sind sie; um halb fünf, wenn die Sonne schon über dem Holderbachfelsen ist.»
Der Friedli drehte sich heftig um und schrie ihn an:
«Was? zu spät? Noch lange nicht zu spät, deswegen! Man muß nur rechtschaffen werken und nicht den Faulhund spielen wie du. Wenn ich dabei wäre, die Handvoll Gras wollte ich ihnen in zwei Stunden am Boden haben. – Was machen die Hansjörgen heute für Arbeit?»
«Sie sind niederwärts, ins Tal, der Stadt zu; auf den Markt; Lebwar verkaufen. Aber jetzt sag doch selber, ob sie nicht zu spät sind. Was ist denn das dort, das über den Wald kommt, denk' wohl, die Sonne? Jedenfalls kein Kerzenstock.»
Eine rauchende Lichtwolke streifte über die Wipfel. Diesseits vom Wald, herwärts der Mähder, zwischen Alp und Tobel, fiel ein hellgelber, scharf begrenzter Fleck in die saftige Weid, wuchs nach allen Seiten, stieg, immerfort sich ausdehnend, den Berg hinan, vereinigte sich mit einem zweiten kleinen Fleck, verdoppelte sich, lief plötzlich nach unten und oben bis zum Bach und zu den Felsen und eilte dann groß und ruhig, in breiter [88]Fläche, fliegend und schwimmend dem Walde entgegen. Ein Blitz zuckte von einer Sense, dann noch einer, und einen Augenblick später standen die Arbeiter im hellen Sonnenschein.
«Was sagst du jetzt dazu, Friedli? Ich will auch lieber hier oben den Kühen zusehen, wie sie malmen, als dort unten in der Sonnenhitze werken.»
Der Friedli murrte ärgerlich und sah weg.
Von dem Matthysenhof brodelte ein feines blaues Rauchwölkchen in die Luft, und beim Brunnen vorbei wackelte ein Kinderwagen, in Winkelzügen lavierend, nach dem Tobel. Das Wäglein hielt von Zeit zu Zeit still, und ein Mädchen machte sich an der Decke zu schaffen; dann kutschierte es ein wenig weiter, um bald wieder von neuem zu stocken. Als das Fuhrwerk über das Brücklein gekommen war, sprang ihm vom Walde her ein weißer Spitz entgegen, hüpfte erst an dem Mädchen, dann an den Rädern empor, umkreiste einige Male den Wagenkorb und schritt dann feierlich voran, immerfort mit aufwärts gekrümmtem Schweife wedelnd und sich dann und wann umsehend, den Rain hinauf. Die Mähder empfingen den Wagen, breiteten ein weißes Tuch in den Schatten des Kirschbaumes und legten etwas aus dem Wagen darauf. Der Spitz streckte sich daneben in die Sonne, das Mädchen kletterte auf den Kirschbaum.
«Hast schon Kaffee getrunken?» fragte Ueli.
«Ich habe keinen Hunger.»
«Aber ich. Und was für einen! Bleibst liegen, bis ich zurückkomme, oder geht es gleich weiter?»
«Frage nicht, so wirst du nicht angelogen.»
[89]Ueli entfernte sich und kam nach einer Stunde wieder zurück.
«Bist noch da, Friedli? Gelt, es reut dich? Ich begreif's; du hast es sonst nicht zum schlechtesten gehabt beim Matthys.»
«Vom Reuen ist nicht die Rede.»
«Meinst, ich merke es nicht? Gelt, du wartest auf jemand? Ich kann mir ungefähr vorstellen, auf wen. Ist es etwa die dort drüben am Wald mit dem gelben Strohhut und einem Maieli darauf? – Ja, wegen deines Fortgehens, was dann mich betrifft, so habe ich's soeben mit dem Hansjörg anders ausgemacht; ich bleibe noch ein wenig. – Halt, siehst du dort den Habicht auf dem Weidenbaum hocken, unten am Bach, im Tobel?»
Der Friedli schielte böse nach dem Sprechenden, richtete sich auf und entgegnete bestimmt:
«Das ist kein Habicht, das ist ein Hühnervogel.»
«Was ist's?»
«Ein Hühnervogel ist's.»
«Ein Hühnervogel? das? Sein Lebtag hockt kein Hühnervogel zuoberst auf einem Weidenbaum.»
Der Vogel flog ab, und beide Männer reckten die Köpfe.
Er strich, ohne sich zu beeilen, in Haushöhe über die Matten in der Richtung nach dem Walde bergan, rötlich anzusehen, wenn ihn ein Lichtstrahl traf, im Schatten aber braun oder grau; den Mähdern wich er aus, strolchte dem Waldsaum entlang eine Weile abwärts nach dem Bache, zuweilen durch die Gebüsche gleitend, erhob sich in der Bachsohle plötzlich in die [90]Luft und eilte mit Windesschnelle über die Baumwipfel, der Ebene zu.
«Was ist's jetzt? ein Hühnervogel oder ein Habicht?» fragte der Friedli feindlich.
«Es ist, wie ich gesagt habe, ein Habicht ist's.»
Der Friedli, der hinter dem Ueli stand, knickte unversehens zu Boden, haschte seinen Knebelstecken, verbarg ihn hinter dem Rücken und schnellte wieder empor.
Der Vogel, welcher hinter dem Walde versunken war, stieg als winziger Punkt wieder auf, kam wieder zurück, schoß plötzlich den gegenüberliegenden Bachfelsen zu und verlor sich, in Mannshöhe längs den Steinen schwebend, zwischen den Flühen.
Da ließ der Friedli den Stecken unvermerkt ins Gras gleiten und urteilte.
«Du hast recht, Ueli, es ist doch ein Habicht.»
«Das kommt davon», versetzte der Ueli, «wenn man einem blindwütig wie ein Stier alles abstreiten will. Mich wundert es nicht im geringsten, daß du mit dem Matthys Streit angefangen hast; mit dir kann ja der friedfertigste Mensch nicht auskommen. Jetzt muß ich aber allgemach die War in den Stall treiben: die Fliegen setzen ihnen böse zu, bei der Hitze.»
Hiermit entfernte er sich zum zweiten Male.
Der Friedli wartete, bis jener hinter dem Hausjörgengupf herumbog, dann kramte er einen halben Laib Brot aus der Tasche, säbelte mit dem dicken, schartigen Sackmesser ein gewaltiges Stück los, steckte es auf der Messerspitze ganz in den Mund und kaute umständlich. Als er damit fertig war, stach er die Klinge bis ans Heft dreimal in den Boden, wischte sie ab, [91]klappte das Messer zu und drehte sich um, teilnahmslos in das Gras schauend.
Eine Ameise schleppte einen Wurm herbei, an seinem linken Auge sich festbeißend; eine zweite klammerte sich an des Wurmes Hinterteil, seine Krümmungen lähmend; eine dritte und bald darauf eine vierte hängten sich als Hemmschuh an seine Füße.
Der Friedli sperrte dem Gespann den Weg mit einem Hölzchen, und als die Ameisen nicht losließen, quetschte er eine um die andere tot, vorsichtig, damit er den Wurm nicht verletze; als dieser aber nach seiner Befreiung in langen Zügen einem Graszopf zusteuerte, zerdrückte er ihn ebenfalls, unmittelbar vor dem Grasbusch, hernach begrub er ihn sorgfältig mit Erde.
Zwischen unterschiedlichen Halmen unter seinem Gesicht stand ein Mäntelikraut, niedrig, aber groß in der Breite, mit fünf kreisbogigen, befransten Blättern, von denen jede Rippe in gleichen Winkeln nach dem Becher leitete, wie in der Schule, wenn er ein Fünfeck zeichnete. Und der Becher war halb ausgefüllt mit kristallenem Tauwasser. Allmählich schrumpfte das Wasser zu einem kirschgroßen Tropfen zusammen.
Er brach das Kraut vom Stengel und neigte es, bald auf diese, bald auf jene Seite, bald schräg, bald windschief. Da rollte der Tropfen groß und schwer in dem samtnen Becher herum, ohne ihn zu netzen, wie das Wasser auf einer Ente, und ohne sich zu zerteilen, wie das Quecksilber im Wetterglas.
Damit spielte er lange Zeit, bis der Tropfen nicht mehr größer war als eine Erdbeere, dann hob er das Blatt sorgfältig nach dem innern Augenwinkel, erst [92]dem rechten, nachher dem linken, und benetzte die Lider, methodisch, pedantisch.
Hierüber wurde er zufrieden, fing an mehrmals zu gähnen, drückte den Hut auf den Kopf und schritt über das Bödeli zurück, quer über den Paßweg, etwas seitwärts tiefer in den Schatten einer Steinwuhr.
Dort wälzte er sich auf den Rücken, schützte das Gesicht mit dem Hute und schlief ein.
* * *
Als er aufwachte und auf den Ellbogen gestützt sich emporrichtete, waren die Mähder drüben am Walde verschwunden. Über dem Dache, im Matthysenhofe, quirlte wieder der Rauch, aber nicht mehr blau, sondern glasig glitzernd wie ein Kornfeld am heißen Mittag.
Er verzehrte einige Brotkrumen, die in den Falten seiner Hosentaschen übrig geblieben waren; doch was ihn jetzt hauptsächlich plagte, war der Durst. Kirschenbäume wuchsen da oben keine; und zur Quelle hinunter mochte er nicht, denn man hätte ihn daheim vom Hause gesehen. Wenn nur jemand den Verstand hätte, mit einem Weinkrug den Paß herunter- oder heraufzukommen.
Da erschien unten über der Weide beim Kreuz ein gelber Strohhut mit einem Maien, bewegte sich unsicher in verschiedener Richtung, und ein Mädchen stieg durch die Matten den Sturz herauf, hastig und ängstlich, stets in den innersten Winkeln der Biegung sich haltend. Ein weißer Spitz umkreiste ihre Füße, schweifwedelnd, schnuppernd und niesend.
[93]Der Friedli drückte sich enger an die Mauer, bewegte sich hurtig rückwärts, um die Ecke, und hielt den Atem an.
Erst stieg das Mädchen nach der Mulde, wo er am Morgen gelegen hatte, stand vor dem Rock und Hute verblüfft stille, drehte sich mehrmals fragend um und versuchte endlich einen unterdrückten Jauchzer.
Der Friedli preßte seinen Rücken noch flacher ins Gras und blieb regungslos auf der Lauer.
Aber der Spitz witterte, stieß ein kurzes, klägliches Jubelgeheul aus, rannte schnurgerade zu Friedli hinüber, stürzte über ihn und leckte ihm stürmisch das Gesicht und die Hände.
Jetzt wandte sich das Mädchen um, erschrak, schob sich zögernd längs der Mauer bis auf zehn Schritte heran; dann blieb sie stehen, kehrte das Gesicht abseits und legte die bloßen Arme übereinander, mit jeder Hand einen Ellbogenknöchel fassend.
«Friedli», begann sie nach einer Weile, «die Suppe ist gerüstet.»
Und als der Friedli sich nicht regte, wagte sie zwei Schritte mehr und fuhr fort:
«Friedli, es ist dem Vater nicht ernst gewesen. Er weiß ja wohl, daß du nie etwas Unrechtes getan hast. Und den ganzen Morgen hat er darum herumgeredet, drüben im Heu, im Walde, die andern könnten alle nichts und du seiest der einzige, der im Notfall noch etwas leiste. Komm jetzt endlich, und mach nicht den Kolderi.»
[94]Der Friedli wandte sich ab und bröckelte schweigend mit einem Steinchen den Mörtel von der Mauer; dann versetzte er finster, ohne aufzusehen:
«Ich kann nicht! Mareili!»
Das Mareili kam noch näher und mahnte dringender:
«He! wegen ein paar ungerader Wörtlein hin und her! Du brauchst ihn ja nicht um Verzeihung zu bitten. Tu einfach, als wäre nichts gewesen; es ist ihm selber das liebste. Komm jetzt nur mit und setz dich unten an den Tisch, und wenn sie nachher ins Heu gehen, so nimm den Rechen. Ich habe dir ihn parat gelegt.»
«Ich kann nicht!» schrie Friedli.
Das Mareili unternahm eine Bewegung, als ob es an ihn herankommen wollte, blieb jedoch mutlos stecken und zupfte ihre Unterlippe, indem sie steif nach des Hansjörgen Herde hinübersah.
Nach einer langen Zeit seufzte sie tief auf und sprach:
«Das braune Gusti (Rind), das er im Herbst gekauft hat, ist auch schon trächtig.»
Während sie das sagte, schob sie ihren Arm bis zur Beuge in die Schürzentasche, holte einen funkelnden Fünflibertaler hervor und legte ihn wie zufällig auf einen breiten Mauerstein; hierauf zog sie sich scheu vor dem Schatze einen Schritt zurück.
«Das ist der Lohn für dich, vom Vater», erläuterte sie; dann beugte sie die Arme über den Magen und brütete vor sich hin.
Da schlug der Spitz zornig an: der Ueli kam über den Hag gestiegen. Das Mareili, zusammenschreckend, [95]tat schnell noch einen Taler zu dem andern und stahl sich flüchtend wieder der Tiefe zu.
Bei alledem rührte sich der Friedli nicht. Als aber der Ueli sich unterwegs bückte, um die Steine aus den Holzschuhen zu klopfen, juckte er in die Höhe, haschte mit einem geschickten Handgriff die beiden Taler und legte sich geschwind wieder an den alten Ort.
«Friedli, an deinem Platze hätte ich's rückgängig gemacht», meinte der Ueli, indem er dem abziehenden Mareili mit den Augen folgte.
Dumpf und verdrossen warf der Friedli hin:
«Ich kann nicht.»
Und als sich der Ueli verwundert umkehrte, um in seinem Gesicht zu lesen, fügte er vertraulich hinzu:
«Die neue wollene Bettdecke für sechzehn Fränkli dem Meister verschimpfiert. Mit dem Messer dareingeschnitten.»
Der Ueli prallte vor Schrecken zurück, sperrte den Mund groß auf, streckte die Arme vor sich und starrte ihn staunend an. Darauf verzog er das Maul gegen die Ohren, zwinkerte mit den Augen und versetzte bedeutsam, nachdrücklich, mit eigentümlicher Betonung: «Es gäbe mancher viel darum, wenn man ihm bloß allein die Bettdecke verschimpfierte.»
Der Friedli stand auf und forschte in seinen Zügen; dann verzog er ebenfalls das Maul, und plötzlich erhoben beide gleichzeitig ein schallendes Gelächter. Doch bald ernüchterte sich der Ueli und nahm eine besorgte Miene an.
«An deinem Platze», murmelte er, «würde ich aber jetzt nicht mehr zu lange da oben bleiben. Sonst kommt [96] der Meister mit den Knechten schneller den Berg herauf, als du auf der andern Seite unten bist.»
Der Friedli zuckte verächtlich die Schulter, und seine Augen funkelten.
«Es soll nur einer heraufkommen. Ich warte nur gerade auf ihn.»
Während er das sagte, sprang er ungeduldig auf und schritt der Mulde zu; der Ueli hinter ihm.
«Und wohinaus in der Welt geht's?» fragte letzterer unterwegs freundschaftlich.
«Dem Teufel zu!»
* * *
Während sie den Paßweg überquerten, stapfelten von oben in überhastetem Lauf zwei Mädchen weinend über das Bödeli; das ältere, groß wie eine Erwachsene, zog das kleine so schnell nach, daß es sich fast überschlug.
«Wo fehlt's, Providenza?» heischte der Friedli, indem er das große Mädchen strenge musterte.
«Es hat mir einer ein Goldstück gezeigt!» rief sie mit verstörtem Atem.
«Wer?»
«Ich weiß nicht, ein Fremder mit einem Alpenstock.»
«Wo?»
«Unten im Rietwald, gerade bei der Krutalp.»
«Und wofür?»
«Ich weiß nicht. Er hat mir nur gewinkt und das Goldstück gezeigt.»
Der Ueli gab der Providenza einen Puff, daß die Erdbeerkratten, mit welchen sie behangen war, hin- und herwackelten.
[97]«So hättest du's doch genommen, du unvernünftiges Huhn!» rief er empört, «ein Goldstück ist, solange die Welt steht, noch nichts gewesen, wovor man sich zu fürchten brauchte.»
Die Providenza geriet in Verwirrung und stotterte reuevoll, sich entschuldigend:
«Er sah mich halt so sonderbar an.»
Jetzt brauste aber der Friedli auf.
«Meinst du vielleicht etwa gar, du rotznasiges Ding, es wäre ihm um dich zu tun gewesen? An den Ohren sollte man dich nehmen! Mager wie ein zweijähriges Rind, braun wie eine Zigeunerin, ungekämmt und ungewaschen dazu, nicht einmal Strümpfe an den Füßen, und Fingerlein, daß man sie wie Zündhölzchen zerbrechen könnte, und nirgends kein Vater und keine Mutter, daß das ärmste Knechtli sich schämen würde, dir vor den Leuten nur den Arm um den Hals zu legen, und bildet sich ein, ein Fremder werde sie ansehen! Die haben daheim in der Stadt ganz etwas anderes, wenn es darauf ankommt! – Weis her, was hast du für Erdbeeren? sind sie reif?»
Dabei stieß er sie herum, guckte in den vordersten Kratten, tauchte die Hand bis ans Gelenk in die Erdbeeren, wühlte mit gespreizten Fingern darin, zog die Faust heraus und führte sie in den Mund.
«So! Und jetzt laß das Heulen bleiben, sonst gibt es eins hinter die Ohren, zum Andenken an mich.»
Demütig senkte das Mädchen den Kopf und schlich stillschweigend davon.
Darauf verhörte der Friedli das Jüngere:
[98]«Was hast du da für ein Buch?» begehrte er, riß es ihm aus der Hand, blätterte darin herum und besah die Bilder. Darüber vergaß er sich, daß das Mädchen vor Angst zu zittern begann.
«Wie teuer gibst du das her?» fragte er endlich drohend.
«He, was Ihr mir etwa dafür geben wollt.»
Der Friedli zählte die Bilder, wog das Buch in der Hand, richtete den Blick ins Leere und rechnete und überlegte. Dann fing er zaudernd wieder an, die Bilder zu betrachten, das Papier zu mustern und die Seiten zu zählen.
«Bist du zufrieden mit einem Fünflibertaler?» polterte er plötzlich hervor, indem er die Stirn runzelte und ein grimmiges Gesicht schnitt.
Ein klarer Himmelsschein von Hoffnung und Seligkeit erleuchtete den Blick des Kindes.
«Da hast du ihn», sprach Friedli gebieterisch und drückte ihm den Taler mit wichtiger Gebärde in die Hohlhand.
Wie aus der Kanone geschossen, eilte das Mädchen der Schwester nach, darauf trippelten sie beide leichtfüßig, mit zusammengeschmiegten Köpfen dem Tal zu, öfters scheu mit mühsam verhaltener Seligkeit rückwärts blickend.
Der Friedli aber behielt das Buch andächtig in der Hand und begab sich feierlich nach der Mulde.
Dort bettete er sich mit dem Ueli im Schatten der Wettertanne vor dem Buche zurecht, umständlich und einträchtig.
[99]Zunächst buchstabierten sie den Titel, einer dem andern nachhelfend, denn es waren fremde, verschnörkelte Buchstaben.
«Märchen der Tausend und einen Nacht.»
Darauf betrachteten sie miteinander die gemalten Bilder, zweimal vom Anfang bis zum Ende. Als aber der Ueli den Finger hemmend auf ein Bild legte, um es noch länger zu schauen, verwies ihm Friedli strenge den Eingriff.
«Das Buch ist mein, ich habe es bezahlt. Niemand anders hat das Recht, den Finger darauf zu legen.»
Mit diesen Worten wischte er eifrig die Stelle ab, wo Uelis Finger hingetippt hatte, und als nun ein roter Erdbeerfleck entstand, klagte er den Ueli vorwurfsvoll an, daß er ihm das Buch beschmutzt habe.
Danach machten sie sich an den Text, angefangen beim Untertitel, und unvergessen die Auflagenzahl, den Drucker und den Verleger.
Die Einleitung wollte der Ueli übersprungen haben, doch der Friedli fuhr ihn zornig an: er habe das Buch gekauft, und er habe deshalb das Recht, alles zu lesen. Da gehorchte der Ueli ohne Widerrede.
Nachdem sie die Geschichten angefangen, kam es ihnen vor, als wären sie selber dabei gewesen und als ob sie nicht mehr da oben auf der Paßhöhe lägen, sondern in einem schönen, grünen Garten. Kaum war jedoch die erste Geschichte zu Ende, so waren sie wieder auf der Paßhöhe. Dann lasen sie die zweite Geschichte, und hierauf die dritte und so fort, abwechselnd, je nachdem der eine müde war.
[100]Einmal, als von einer Prinzessin erzählt wurde, welche vom Gürtel abwärts aus schwarzem Marmor bestand, stockte der Ueli mitten im Lesen.
«Das ist aber nicht wahr!» rief er entrüstet.
«Was nicht wahr?» tobte der Friedli. «Wenn's nicht wahr wäre, so würde die Erziehungsdirektion nicht erlauben, daß man es öffentlich im Buchladen verkaufte. Denn», ergänzte er in ruhigem, belehrendem Ton, «man muß eben auch wohl bedenken, daß die Geschichte in Asien spielt; da herrschen ganz andere Verhältnisse. Was wissen denn wir zwei dumme Bauern davon, die noch nie aus dem Kanton herausgekommen sind, geschweige denn aus der Schweiz? Unsereinem stände es auch besser an, stillzuschweigen und einfach zu lernen, als großmäulig abzusprechen über Dinge, von denen er nicht den mindesten Hochschein hat. – Und übrigens, dafür sind es ja Märchen, damit jeder davon glauben kann, soviel er will. Ich für meinen Teil glaub's; wenn du's nicht glauben magst, so kannst du's halten, wie du willst. – Lies jetzt einstweilen nur ruhig weiter; aus dem Zusammenhang merkt man dann schon, wie es gemeint ist.»
Aber der Ueli murrte und protestierte und war schlechterdings nicht zu überzeugen.
«So lies die folgende Geschichte», befahl der Friedli.
Und Ueli las vom Vogel Rock und von dem Diamantenfelsen und von dem Riesen, der das Auge in der Mitte der Stirn hatte; erbaut, ohne Anstoß zu nehmen.
Je länger sie lasen, desto besser gefiel ihnen das Buch, so daß sie nicht begriffen, wie das Mädchen die Herrlichkeit [101]für einen Fünflibertaler hergeben mochte, und mit Genugtuung wogen sie den Rest gegen das Gelesene, denn es blieb immer noch viel mehr übrig, als sie schon gehabt hatten.
Plötzlich jedoch, mitten in der spannendsten Erzählung, gebot der Friedli «Halt», zog das Buch an sich, klappte es zu und barg es sorgsam in der Rocktasche.
Umsonst schmeichelte der Ueli.
«Das Buch ist mein», erklärte der Friedli, und dabei blieb's.
Hierauf staunten sie in die Welt, Rücken an Rücken, und brüteten Betrachtungen über das Gelesene.
«Es wäre auch bei uns zulande manches besser», hub der Ueli nach einer Weile an, «wenn in den Höhlen wohltätige Zwergmännli wohnten statt Kreuzottern.»
«Oder», erwiderte der Friedli, «wenn jetzt so ein Heilandssakraments-Kalif auf einem Schimmeli den Paß herunterfuhrwerkte, an jedem Finger einen Edelstein, so groß wie eine welsche Nuß.»
Danach starrten sie schweigend vor sich hin, der Ueli nach den Felsen, der Friedli nach der Paßhöhe.
* * *
«Bst!» flüsterte der Friedli und stieß den Ueli mit dem Ellbogen, «lueg!»
Von jenseits tauchte über die Paßhöhe ein Alpenstock auf, hernach ein Hut und ein Gesicht und allmählich das übrige. Vor der blendenden Sonnenglut konnte man erst recht unterscheiden, was es war, als er stille stand und sich seitwärts drehte.
«Das ist bei Gott der Fremde, der dem Providenza [102]das Goldstück gezeigt hat», raunte der Ueli. «Wahrscheinlich ist es nicht das einzige.»
«Und ein kostbares Uhrgehenk hat er auch.»
«Und die Nadel im Halstuch ist gewiß auch nicht von Glas.»
«Was will der wohl?»
«Wahrscheinlich über die Hochweid ins Kurhaus hinunter. Da hätte er aber bei der Krutalp den Weg über den Bach nehmen müssen, statt links übers Riet. Es geht diesen Sommer von Fremden über die Hochweid wie eine Narrenfuhr. Einer verrückter als der andere, rot und grün und gescheckt, wie die Fastnacht. Mich nimmt nur in der Seele wunder, was sie dort oben zu sehen haben.»
«Vor lauter Fressen und Saufen und Nichtstun wissen sie halt zuletzt nicht mehr, was anfangen!»
Der Fremde kehrte sich mehrmals unschlüssig um, tat in verschiedener Richtung einige Schritte, lehnte den Alpenstock an die Schulter und zog eine Landkarte hervor, die er eifrig studierte, hin und wieder aufblickend und über Tal und Ebene die weißen Berge ins Auge fassend.
Der Friedli verzog spöttisch das Gesicht.
«Dem wird sein Kärtli auch nicht viel helfen! Es ist ja gar kein Weg von hier nach dem Kurhaus; man muß entweder über die Matten und die Felsen oder wieder zurück auf die Krutalp.»
«Wenn jetzt einer käme und ihn wiese, so hätte er auch einen schönen Batzen zum Taglohn! Friedli, du hast Weile und nichts zu tun; an deinem Platze ging' ich.»
[103]«Erst müßte mich einer wenigstens darum fragen. Das Herrenpack ist ohnehin stolz genug; man muß sie nicht noch eigens dazu verwöhnen.»
«Du redest nicht gescheiter als ein unvernünftiges Tier. Zuerst, bevor er dich fragen könnte, müßte er dich doch jedenfalls erst sehen. Das Stadtvolk ist ja gar blind; am hellen Tage müssen sie die Brille aufsetzen wie ein altes Weib, wenn sie auf hundert Schritt eine Kuh von einem Stier unterscheiden wollen. Du mußt ihm halt Zeichen machen; begreife.»
Und ohne Friedlis Antwort abzuwarten, hüstelte er ein wenig und schneuzte die Nase.
Der Fremde blickte rasch auf wie ein lauschender Hase, spähte steif nach der Richtung, von wo der Ton gekommen war, klemmte ein Glas vor das Auge und winkte mit nachlässiger, stolzer Handbewegung.
Die beiden Knechte hatten sich unwillkürlich zurückgezogen, als der Fremde gegen sie blickte; aber sobald er winkte, faßten sie sich wieder.
«Der kann mir meinetwegen winken bis zum Jüngsten Tag», spottete der Friedli lachend, «ich bin nicht sein Hund. Wenn er etwas von mir will, so darf er sich schon die Mühe geben, zu mir zu kommen. – Und ein grober, ungebildeter Heilandsdonnerwetter ist er auch, nicht einmal den Hut abzuziehen, wenn er einem Menschen begegnet! Das weiß ja bei uns zuland das jüngste Knechtli besser, was sich schickt und was sich gehört.»
«Friedli, mach nicht den Kolderi! Es ist ein Fremder. Der kann ja nicht wissen, was hierzulande der Brauch ist.»
[104]Der Fremde winkte eifriger und herrischer. Plötzlich bewegte er ungeduldig die Schultern, stieß das Glas vom Auge und kam mit leichtfüßigen, wohlgefälligen Schritten stracks heran, selbstbewußt in den Hüften sich wiegend, bis auf vier Mannslängen. Dort stutzte er, warf das Glas wieder vor das Auge und betrachtete einen Moment die Knechte, ohne ein Glied zu rühren; aufrecht, wie ein Gemsbock, wenn er meint, er sehe etwas. Hierauf wich er, ohne ein Wort zu sagen, behutsam zurück, erst langsam, später schleunig.
«Ich glaube gar, er fürchtet sich vor uns», hohnlachte der Ueli, und Friedli lachte mit.
Und als der Fremde bei dem Gelächter noch deutlicher abseits schwenkte, steckten sie beide den Daumen und Mittelfinger in den Mund und stießen ein halbes Dutzend gellender Pfiffe aus.
Der Fremde steuerte im Rückzug gegen den nächsten Felsen.
«Ja, wohin will jetzt der?» rief der Ueli belustigt. «Ich glaube gar auf die Teufelsfluh!»
«Sei nur ruhig und zufrieden! der kommt geschwind wieder herunter.»
«Vorwärts jedenfalls kommt er nicht weit! Übrigens, Friedli, es kommt dir zugute. Denn wenn er sich versteigt und in die Nacht hineingerät, so schenkt er dir mehr. – Weiß Gott, der meineidige, verdammte Himmelssakrament zottelt auf das Stiereköpfli! Sich doch nur selber! Der Teufel soll mich holen, wenn er auf dem Wege anderswo hinkommt als auf das Stiereköpfli! – Ich wollte bloß, er bliebe mit der Uhrkette an einem Haselstock hangen, den Kopf zuunterst, daß [105]ihm die Goldstücke aus den umgekehrten Taschen hüpften wie junge Geißlein. Ich würde sie ihm schon suchen helfen.»
«Nein, was ich wollte, das wäre, daß er sich auf das Känzeli verirrte und weder vorwärts noch rückwärts könnte. Ich würde dann einfach sagen: ‹Gibst mir sechzehn Fränkli, wenn ich dich herunterhole? gibst mir sie? Oder meinetwegen kannst du da oben übernachten.›»
«Warum just gerade sechzehn? Ich weiß warum. Gelt, die Bettdecke liegt dir im Magen, die du dem Matthys verschimpfiert hast?»
Inzwischen war der Fremde in den krausen Büschen der Fluh entschwunden.
«Mich nimmt nur wunder, wo er wieder zum Vorschein kommt», sagte Friedli.
«He, wo anders als den Schuttstein herab? Es wird nicht lange dauern.»
«Es ist mir lieber, er kommt den Schuttstein herab, als daß er über die Stierenfluh hinunterstolpert. In zwei Stunden ist es Nacht. Und was will so einer in der Nacht dort droben, wo unsereiner am Tag Mühe hat.»
Während er noch sprach, kollerte zwischen einer Wolke von Staub und Geröll der Fremde die Schutthalde herab, ohne Hut und Alpenstock, übrigens ohne sich zu überschlagen.
«Komm, Ueli», mahnte der Friedli besorgt, «es kann leicht sein, er hat sich etwas zerbrochen.»
Der Ueli sah scharf hin, dann tröstete er:
«Es tut ihm nichts. Da steht er ja schon wieder auf. [106]Er ist nur ein wenig unsinnig und aufgebracht; lueg, wie er mit den Armen fuchtelt. Ich nehm' ihm's nicht übel, es ist kein Spaß, den Schuttstein hinunter, besonders mit so feinen Höslein und Schühlein.»
Diesmal eilte der Fremde ohne Aufenthalt zu den Knechten heran, außer sich vor Zorn und sich bitter beschwerend, daß man einen Nebenmenschen, der sich verirrt habe und hierzuland fremd sei, auf die gefährlichsten Felsen lasse, ohne ihn mit einem einzigen Wort zu warnen.
«Es hat mich ja kein Mensch gefragt», entgegnete der Friedli gelassen. Zugleich erhob er sich, zog seinen Rock an, hängte die Tasche darüber, stülpte den Hut auf den Kopf und ergriff den Stecken.
«Wohin wollt Ihr, wenn es erlaubt ist?» fragte er im höflichen Ton. «Wahrscheinlich über die Hochweid? dem Kurhaus zu?»
Der Fremde überfiel die Frage mit ungeduldiger, angeekelter Gebärde.
Der Friedli beruhigte ihn väterlich:
«Wir kommen noch wohl vor Nacht an; Ihr müßt Euch deswegen nicht aufregen. Es ist wahr, es hat Euch ein wenig bös mitgespielt; es ist jammerschade um die feinen Höslein. Aber den Hut und den Alpenstock findet man morgen schon, darum braucht Ihr keinen Kummer zu haben.»
Hierauf, um ihn zu trösten, klopfte er ihm sanft die Erde von den Kleidern und las ihm die Halme aus dem Schnurrbart:
«Kommt jetzt nur mit», schloß er freundlich, «ich gehe voran.»
[107]Mit diesen Worten schritt er der Paßhöhe zu, in der Richtung, wo der Fremde zuerst heraufgestiegen war.
Dieser jedoch verneinte unwillig und verächtlich mit dem Kopfe, schnalzte ärgerlich mit der Zunge, zog seine Karte hervor und schlug einen Augenblick später zuversichtlich eine andere Richtung ein.
«Dort hinaus gelangt Ihr Euer Lebtag nie auf die Hochweide», mahnte der Friedli gütig. «Dort führt es nach dem Taubenloch.»
Und der Ueli, aufstehend, rief warnend:
«Es ist nicht gut, Herr, im Taubenloch, um diese Tageszeit. Ihr könntet über die Wand stürzen. Es ist gar leicht ein falscher Tritt geschehen!»
Der Fremde brummte etwas vor sich hin, schlenkerte das Bein und beharrte entschlossen mit festen Schritten auf seiner Richtung.
Friedlis Stirn verfinsterte sich.
«Du, Ueli, hör einmal: das Beinschlenkern hat mir nicht gefallen. Es ist gerade so, als wenn er einem Hund einen Tritt hätte versetzen wollen.»
«Du mußt das nicht so genau nehmen; sie sind gar unflätig, die Herrenleute. Geh! hilf ihm, weis ihn! Sonst könnte ihm noch etwas passieren.»
«Und was hat er vor sich gebrummt? Es ist nur gut, daß ich's nicht deutlich gehört habe.»
«Geh! mach nicht den Kolderi! Wenn er in die Nacht hineingerät, so schnellt es ihn so sicher über die Wand, als ich hier stehe. Wenn es nicht wegen dem Melken wäre, so ginge ich selber. Man kann doch beim Kuckuck nicht einfach ruhig zusehen, wie einer narrenmäßig dem Tod entgegenstrolcht, aus lauter Trotz und [108]Eigensinn. Das wär' jetzt so etwas, wie du gesagt hast: Gibst mir sechzehn Fränkli, wenn ich dir helfe.»
Der Friedli sah ihn gierig an und rief hitzig: «Meinst, er gibt mir sechzehn Fränkli?»
«He, du Narr, wenn doch einer für einen einfachen Kratten Erdbeeren ein Goldstück zahlt, meinst du darin, es komme ihm auf Hunderte oder Tausende an, wenn es ihm ans Leben geht?»
«Weiß Gott, du hast recht. Und was er mir mehr gibt als sechzehn Fränkli, das bekommst du für den guten Rat. Bleibst da, bis ich wieder zurückkomme?»
«Nein, ich muß heim, melken; es ist die höchste Zeit; der Sonne nach ist es schon mehr als sechs. Aber ich warte dir nachher am gleichen Ort. Oder wenn du etwa früher zurück bist, so warte du mir. Aber du darfst dich jetzt nicht versäumen, sonst liegt er dir unten im Krachen, bevor du zu ihm kommst.»
* * *
Der Ueli ging heim, melken; und da ihm der Hansjörg befahl, eine Heugabel zu feilen, mußte er bleiben, bis es dunkelte.
Darauf tat er, als ob er schlafen wollte, holte sein Geldbeutelchen aus der Matratze hervor und schlich dann hinter dem Hause nach dem Wald und dort durch das Gesträuch, am Waldsaum gegen das Bödeli hinauf.
Halbwegs, auf einem Gupf, unmittelbar am Walde, sah er das Mareili stehen; das guckte nach der Wettertanne hinauf und hielt den Arm über die Stirn, wegen der Blendung.
«Es macht schön diesen Abend, Mareili», meinte [109]der Ueli dicht hinter ihr, so daß sie nicht Zeit fand, in den Wald zu schlüpfen.
Das Mareili schreckte zusammen, faßte sich jedoch gleich und antwortete gleichgültig, ohne sich umzuschauen:
«Ja, es macht nicht so heiß wie um Mittag.»
«Wie ist es gegangen heute beim Heuet?»
«He, es könnte besser sein.»
«Was tust du da oben? Spazierst ein wenig.?»
«Maien such' ich, für das Kind.»
«Ich glaube, das Kind ist einen Kopf größer als ich und hat einen Nacken wie ein Stier und einen feinen, blonden Bartflaum neben den Ohren. Aber gelt, den Maien, den er dir genommen hat, wenn du den wieder bekommen könntest, so gäbest du auch viel darum?»
Das Mareili zog die Schürze über die Augen und duckte sich in den Wald.
Als er auf dem Bödeli anlangte, war der Friedli noch nicht zurück. «Wenn er mir nicht selber gesagt hätte, er komme wieder, so würde ich fast glauben, er käme überhaupt nicht», murmelte er vor sich hin.
Gelangweilt ging er ihm ein wenig entgegen, erst nur ein paar Schritte, dann noch ein paar und noch ein paar, bis an die Kante, zum Taubenloch. Aber von der Sonne wurde ihm so rot vor den Augen, daß er je länger, desto weniger sehen konnte. Deshalb kehrte er um und ging langsam wieder ein paar Schritte zurück; denn auf diese Weise vermochte er doch wenigstens das Bödeli zu übersehen wie am hellen Tage.
Nachdem die Sonne schon ganz hinter dem Taubenloch verschwunden war, hörte er oben auf dem Felsen das Holz knacken, wie wenn ein großes Tier flüchtete.
[110]«Friedli, bist du's?» rief er vertraulich.
«Wo steckst, Ueli?»
«Gerade unten an den Flühen. Komm nur herab, es ist gleich wo, ich finde dich schon. Wenn ich dich nicht sehe, so höre ich dich.»
Bald darauf sprang der Friedli mit einigen verwegenen Sätzen von den Blöcken in die Kluft, von der Kluft in das Gestrüpp und von da rutschend auf das Bödeli.
«Da lueg, Ueli», schrie er wütend, «was ist das?»
«Kehr dich doch zuerst um; ich kann ja vor der Sonnenröte nichts sehen.»
«Und jetzt? das? was ist das?»
«He, ein Zweibätzner ist das.»
«Den hat mir der Fremde geschenkt, für den Taglohn», brüllte der Friedli keuchend vor Grimm.
«Ein Zweibätzner», urteilte der Ueli bedenklich, «ein Zweibätzner, um einem den Weg zu weisen, abends um halb sieben, über das Taubenloch, das ist nicht viel. Da hätte ich mein Geldsäckli ebensogut daheim lassen können.»
«Was den Weg weisen?» schnaubte der Friedli, «es handelt sich nicht darum, den Weg zu weisen. Tragen habe ich ihn müssen, tragen wie ein Kind, über die ganze Wand, so hat er mit den Knien geschlottert. Und unten, auf dem schönsten, saubersten, manierlichsten Weg, fährt mir der Chaib, weiß Gott, zusammenfüßlings über eine Platte hinaus; und wenn ich ihn nicht am Arm gepackt hätte, so könnte man ihn morgen früh unten im Graben mit Schaufeln zusammenlesen.
«Warum hast du ihm denn nicht gesagt, als du ihn [111]gepackt hattest: Gibst mir die sechzehn Fränkli oder ich laß dich platschen?»
Kleinlaut und beschämt antwortete der Friedli:
«Es ist mir halt in der Geschwindigkeit nicht in den Sinn gekommen, als er so über dem Abgrund hing und vor Angst schnappte wie ein Fischli an der Angel. – Und später war mir's wieder, jetzt sei's zu spät und es schicke sich nicht, ihm die Rechnung zu machen, als wüßte er nicht von selber, was sich gehört.»
«So bist du halt einfach selber schuld. Man darf mit den Fremden nicht so zimperlich tun; sie meinen ja ohnehin schon, es sei eine Ehre, wenn man sie nur anrühren dürfe. Aber ein räudiger Geizkragen bleibt er dennoch, trotz alledem. Ein einfältiger Zweibätzner! nachdem man ihn über die ganze Wand hat tragen müssen! Wenn ich ja mit einer Brändte Milch übers Taubenloch muß, bekomme ich fünf Batzen dafür.»
«Ich wollte von allem gar nicht reden. Aber die Art, wie er mir's gegeben hat! ‹Da nehm' Er›, hat er gesagt und mir den Bätzner so rückwärts in die Hand gedrückt wie ein Almosen. Begreifst du? ‹Er›, das war ich gemeint. Und nicht einmal ‹gute Nacht› oder ‹vergelt's Gott›, sondern nichts als ‹nehm' Er›, durch die Nase, wie der Schulmeister in der Kirche. Es ist mir nur nicht sogleich deutlich geworden. Erst hintendrein, als er schon fort war, hat mir's in den Ohren geklungen, wie er's sagte. Sonst hätte ich ihm eine andere ‹gute Nacht› mit auf den Weg gegeben. – Aber das kannst du dir leicht einbilden: unten auf dem Flückiger Mättli hab' ich ihn stehenlassen, er kann jetzt selber luegen, ob er einen andern Narren findet, der [112]ihn für einen Zweibätzner in der Nacht nach dem Kurhaus begleitet.»
«Auf dem Flückiger Mättli, Friedli, das ist nicht gut. Er könnte in der Dunkelheit den Krachen hinunterrutschen, dem Wasserfall zu.»
«Wenn er in den Wasserfall serbelt, so ist das seine eigene Schuld. Ich habe ihm so deutlich wie etwas gesagt, er solle links halten.»
«Links oder nicht links, deutlich oder nicht deutlich: ein Fremder, lueg, das ist wie ein Kind, man darf ihn nie allein lassen.»
«So sollen sie daheim bleiben, wenn sie nicht einmal rechts und links verstehen.»
«Ich habe nichts dagegen, ich habe sie nicht gerufen, und ich brauche sie auch nicht. Meine Meinung ist einfach die: wenn er jetzt mit zerbrochenen Gliedern unten im Wasser weißget (winselt), so hat ihn die ganze Gemeinde auf dem Gewissen?»
«Meinst, sie habe ihn auf dem Gewissen?»
«Wer sonst? Der Papst nicht. Und eine Schande wäre es dazu, für den ganzen Kanton, wenn es am nächsten Schützenfest hieße, es wäre ein Fremder in unserer Gegend umgekommen wie ein Hund, der niemand gehört, bloß weil man ihm nicht einmal den Weg gezeigt hat, in der Dunkelheit, mitten auf dem Flückiger Mättli.»
«Kommst mit?»
«Denk' wohl. Hoffentlich. Hilft man doch einem einfältigen Tierli, wenn es sich verstiegen hat, geschweige denn einem Menschen. Ohnehin ist es gescheiter, man sei bei dir. Du bist ein Kolderi, das weißt du ja am [113]besten selber. Ich muß nur noch zuerst das Gitter zusperren, damit mir die Ware nicht über die Felsen hinunterzottelt. In gegenwärtigen Zeiten gibt es Stieren und Gusti, sie sind fast so dumm wie ein Mensch.»
Mit diesen Worten verschwand der Ueli in der Dämmerung.
Kaum war er fort, so hörte der Friedli ein Schluchzen hinter sich, und das Mareili zupfte ihn furchtsam am Ärmel.
«Komm heim, Friedli», mahnte sie. «Der Vater läßt dir sagen, es tu' ihm leid. Du sollest nur wiederkommen und tun, als wenn nichts gewesen wäre. Es gäbe ja dann schon wieder einmal eine Gelegenheit, daß man's wieder gutmachen könne.»
Während ihrer Rede zerrte sie ihn ruckweise bald an dem einen, bald an dem andern Arm, um ihn wegzuziehen
Der Friedli ließ es geduldig geschehen, mit Brust und Leib nachgebend, so daß sie ihn links und rechts drehte, wie wenn er mähen wollte. Aber mit den Schenkeln hielt er stand, und mit den Füßen wich er keinen Zoll vom Platze.
«Ist's etwa wegen der verschimpfierten Bettdecke?» flüsterte das Mareili. «Gelt, es ist wegen der verschimpfierten Bettdecke? Aber wegen der Bettdecke braucht sich nichts. Ich habe meine dafür hingelegt und deine statt meiner, so daß es der Vater nicht gemerkt hat.
Jetzt ließ sich der Friedli zaudernd wegführen, wurde indessen nach einigen Schritten plötzlich wieder störrisch.
[114]«Ich muß erst etwas mit dem Ueli reden; ich habe ihm's versprochen.»
«Aber nachher, nachher kommst du?»
Und schon zufrieden, daß er nicht widersprach, bettelte sie dringend:
«Darf ich das Fenster für dich offen lassen?»
Ausweichend brummte der Friedli:
«Mach, daß du fortkommst! Schämen solltest du dich, eine Meisterstochter, und nachts spät um neun Uhr den Knechten im Wald nachzulaufen.»
Diese Beschämung scheuchte sie in die Flucht. Im Abgehen rief sie ihm nochmals gedämpft zu:
«Ich lasse dann also, wie gesagt, das Fenster offen ...»
«Was ist, Friedli», zischelte der Ueli, der unbemerkt herbeigekommen war, «hast du dich anders besonnen? Gehst du die Nacht durchs Fenster? Es wäre vielleicht das Gescheiteste von allem.»
«Wenn ich will, so gehe ich, und wenn ich gehe, so brauche ich keinem Menschen auf der ganzen Welt Rechenschaft abzulegen.»
Darauf zogen sie miteinander angestrengt durch den Wald dem Flückiger Mätteli zu.
* * *
Als sie auf dem Flückiger Mätteli anlangten, war alles so still, daß man hätte meinen sollen, man müßte die Sterne, wenn sie so büschelweise wie reife Walnüsse herunterhagelten, zischen und kläpfen hören.
«Ich hab' ihm doch deutlich genug zugejauchzt», [115]machte der Friedli maßleidig. «Er hätte einfach brauchen stehen zu bleiben.»
«Es ist mir fast vorgekommen, je verfluchter man ihm zujauchzte, desto verfluchter ist er weggelaufen. – Übrigens, der Mond kann nicht mehr weit sein; es muß sich jetzt bald weisen.»
Sie warteten den Mond ab, suchten dann mit den Augen unter sich und ließen miteinander gellende Jauchzer los.
«Jetzt fehlt sich nichts mehr, Friedli, jetzt ist er irgendwo hinuntergerollt. Es kann auf der ganzen Welt nirgends anders sein als höchstens in dem Krachen, dem Wasserfall zu.»
Der Wasserfall toste immer stärker. Die Bachhöhle obwärts davon brauste und donnerte. Blaue Mondlichter sprenkelten die Grotte. Der vorankletternde Ueli hielt plötzlich an, bückte sich und schrie:
«Da liegt er! Es ist ihn! Unten im Bach! auf dem Grien (Kies)!»
Und Friedli, nachdem er herbeigesprungen, urteilte:
«Der braucht keinen Doktor mehr! Lueg, wie er die gläsigen Augen aussperrt Es nimmt mich nur wunder, wie er in den Kessel hineingeraten ist. Wenn einer schon wollte, so hätte er die elendeste Mühe.»
«Es wird ihn halt über den Krachen heruntergeschnellt haben!»
Und wie sie nun auf- und abspähten, was für eine Sturzbahn er etwa möge genommen haben, hing ein Fetzen Zeug oben an einem Ast, und unten auf einer Platte lag eine Geldbörse mit aufgesperrtem Maul, und weit darum herumgestreut glitzerten viele Goldstücke.
[116]«Donnerwetter!» entfuhr es dem Ueli, und sein Atem keuchte vor Aufregung.
Der Friedli starrte lange Zeit nach dem blinkenden Golde, dann schloß er traurig und mutlos!
«Da ist jetzt nichts anderes zu machen; das muß man halt einfach alles zusammensuchen und wieder in den Geldsäckel tun; es gehört halt doch niemand anders als ihm. Und eine Schande für die ganze Gemeinde wäre es auch, wenn es hieße, es wäre ihm ein einziger Rappen verloren gegangen.»
Also suchten sie mühsam, mit verwegenem Klettern, ob nicht noch andere Goldstücke etwa noch einzeln sich verirrt hätten.
«Es ist nichts mehr», sprach endlich der Ueli bestimmt.
«Es ist nichts mehr», bestätigte der Friedli.
Hierauf wischten sie mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, hoben den Leichnam aus dem Bachkessel und trugen beides, den Körper und das Gold, vorsichtig nach dem Flückiger Mätteli hinauf. Dort betteten sie den Toten bedächtig auf das Gras, steckten ihm die volle Börse säuberlich in die Rocktasche zurück, setzten sich links und rechts neben ihn und jauchzten verzweifelt.
«Es wird's zuletzt wohl jemand hören.»
«Und aus dem Kurhause werden sie ihn wahrscheinlich auch suchen, wenn er nicht zum Nachtessen heimgekommen ist.»
Doch mit der Zeit wurde ihr Jauchzen seltener, ihr Atem aber lauter, und allmählich mit Brust und Kopf tiefer sinkend, glitten sie schlummernd längs dem Leichnam ins Gras.
[117]Von beiden Seiten aber legte jeder im Schlaf den Arm schützend über die Rocktasche.
* * *
Laternenschein und Stimmengewirr schreckte sie aus den Träumen. Eine Schar Männer stand um sie herum, und eine junge, fremde, schöne, fürnehme Frau, wie eine Prinzessin aus dem Märchenbuch, warf sich mit gräßlichem Schreien auf den Leichnam und tat ganz unsinnig.
Die beiden Knechte, ganz verlegen, beteuerten unaufhörlich, es sein kein Rappen verlorengegangen, bis die Kurhausmannen die schöne Frau wegzogen und den Leichnam forttrugen, den Flückiger Hubel (Hügel) hinab durch den Gaißwald.
Solange man die Laternen sehen und das Jammergeschrei der jungen, fürnehmen Frau hören konnte, sagte keiner der Knechte ein Wort.
Dann fing der Ueli ernst an:
«Die hat aber geweißget!!»
Nach einigem Schweigen gab Friedli nachdrücklich zur Antwort:
«Es ist halt doch schön, wenn einer wenigstens jemand auf der Welt hat, der um ihn weißget, wenn er auf dem Schragen liegt.»
Nach einer Weile, da ihn die vielen Sterne am Himmel so sonderbar anguckten, versetzte er:
«Auf was für einem von allen denen dort oben er jetzt wohl herumstolpern mag?»
Über diese Frage geriet der Ueli in Verwunderung, und vor Verwunderung schlief er zum zweiten Male ein.
[118]Eine Meise piepte traurig im Holz, und gleich darauf schlug eine Lerche an.
Der Ueli fuhr schnaufend in die Höhe, stöhnte tief auf und blickte sich fröstelnd um.
Der Friedli war verschwunden.
Lange staunte der Ueli auf den leeren Platz; endlich brummte er vor sich hin: «Aha! jetzt ist er also doch fort.» Und je mehr er auf dem Heimweg daran dachte, desto mehr begriff er, daß das Mareili jetzt frei sei und daß es mit seinem Stolz jetzt wohl nicht mehr so gefährlich beschaffen sein werde, jetzt, da es froh sein müsse, wenn sich überhaupt nur noch einer mit ihr abgeben wolle, sei er nun Bauer oder Knecht oder gar nur ein Jungknecht und Stallbursch.
Und oben auf dem Bödeli, als es schon heiterheller Tag war und er den Matthysenhof in den Weiden unter sich sah, sauber wie ein gemaltes Osterei in einem Garten, und das frische Gras roch, das dem Matthys gehörte, fiel ihm ein, wer des Matthysen Mareili zum Schatze habe, dem würde es schwerlich zum schlimmsten in dieser Welt gehen, so daß er sich witziger vorkam als sonst und stillestand, um sich das alles von oben gründlich anzusehen, ehe er heimginge.
Da jauchzte ihm jemand so ungattig ins rechte Ohr, daß er beinahe erschrocken zusammengefahren wäre.
«Ja was? Friedli, du bist's?»
«Denk' wohl, ich bin's. Oder ich müßte mich gewaltig verändert haben, seit drei Stunden, wenn ich's nicht mehr wäre.»
«Weißt du auch, was mir diese Nacht geträumt hat?»
[119]«Was wird dir geträumt haben? Daß du in der ‹Eintracht› beim Vinzenz sitzest, vom Samstag sechs Uhr bis Sonntag nachts um zwölf Uhr, mit einem mordsmäßigen Rausch, bis du den letzten Rappen verspielt hast?»
«Nein, das hat mir nicht geträumt. Etwas anderes hat mir geträumt: Du seiest wie ein Ungeheuer durch die Luft geflogen, mit schwarzen Fledermausflügeln, die Augen außen vor dem Kopfe, und habest in einem fort gerufen: ‹Ueli, jetzt ist's gefehlt, jetzt habe ich ihn hingemacht.› Und der Fremde, aber eigentlich nicht der Fremde, sondern der Kalif, unten im Krachen, mit den gläsernen Augen, hat mir ein Zeichen gemacht und dann mit der Hand einen Hahn am Wasserfall gedreht, daß es lauter Dublonen spritzte. Aber wie ich mit dem Milchkessel drunterfahren will, so tanzt das goldene Zeug wie unsinnig in der Luft herum, wie ein Mückenschwarm in der Abendröte, wenn man mit der Geißel dazwischengeknallt hat.»
«Es träumt manchem Narren manches Narrenhafte.»
«Und dir, was hat denn eigentlich dir geträumt, Friedli, daß du so frühzeitig auf und davon bist?»
«Gelt, wenn ich dir's sagte, so würdest du's wissen? – Das gleiche wie dir, nur ganz anders. Aber es ist doch an allem auch nicht ein Brosämlein wahr, daß ich ihn hätte sollen hingemacht haben. Das kannst du ja selber am besten bezeugen. Oder sag selber?»
«Es ist mir lieber für dich, es sei nicht wahr. Denn wenn er hätte sollen hingemacht sein, so ist er ja jetzt doch hin, und dir ist wohler auf diese Art. Aber was ist jetzt eigentlich Trumpf bei dir?»
[120]«Was jetzt bei mir Trumpf ist? Heimzu geht's jetzt. Das ist jetzt bei mir Trumpf. Zum Matthys, oder zum Mareili, wenn's dir besser gefällt. Lueg, das Fensterli ist noch offen.»
Nach diesen Worten hielt er beide Hände als Muscheln vor den Mund, schöpfte saugend die ganze gewaltige Brust voll Atem, hob sich auf die Zehen und ließ einen mordsmäßigen Jauchzer ins Tal, daß es an allen Flühen widerhallte bis zu den Holderbachfelsen.
Gleich darauf rührte sich etwas am Fensterli, und ein verschrockener, verweinter Jodler hauchte bebend und kaum vernehmbar:
«Ju, ju!»
Friedli verzog glückselig den Mund.
«Das ist sie, das Mareili», erklärte er lachend.
Dann plötzlich mit gerunzelter Stirn und rollenden Augen knirschte er:
«Aber heute hin ich am ersten auf. Heute will ich ihnen zeigen, was Mähen ist! Die traurigen, elendigen, miserablichten Schnaufer, die sie sind, nicht einmal das nichtige, jämmerliche Waldmätteli zu Boden mähen können, ihrer zwölfe, vom Morgen bis zum Abend! Aber zuerst trink' ich einen währschaften Kaffee! Lueg, wie es brodelt, zum Kamin heraus, dies Wölklein. Es ist das Mareili. Die Donnerskrott ist zum Bett ausgesprungen und barfuß in die Küche gelaufen, nur damit ich den Kaffee geschwinder bekomme.»
Damit marschierte er unter taktmäßigem Jodeln rüstig und lustig den Sturz hinab, im Sprungschritt, dem Matthysenhof zu.
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