[3]

Der Sonderbündler

Romanvon

Carl Albrecht Bernoulli

Berlin

S. Fischer, Verlag

1904

[4]

Alle Rechte vorbehalten

[5]

Erstes Kapitel.

Sebastian Hieseb, der Bauer auf dem Rotmatthofe, trat, zusammen mit seinem Sohn Hans, aus dem Kuhstalle. "Du Eigensinniger! Du Meisterloser!" polterte er, "immer nur bockig tun und sich einbilden, niemand habe die Weisheit mit Löffeln gefressen, als man selber: die Sorte bringt es nicht weit. Du endest mir noch im Armenhaus oder am Galgen. Nicht daß du mir dann kommst und klagst. Geschieht dir ganz recht. Geh' nur, geh' nur und stoß dir die Hörner ab!" Hans war ein schlanker, sehniger Bursche von fünf⸗, sechsundzwanzig Jahren. Er stand da und sagte nichts. Seine Schwester Susann nahm sich seiner an und stellte sich dem zürnenden Vater mutig in den Weg. Den Ausbruch ahnend, hatte sie sich in der Nähe zu schaffen gemacht und alles mit angehört. "Aber Vater!" sagte sie furchtlos, "wie dürft Ihr nur den Hans so herunterkapiteln. Kann er denn anders handeln, als er handeln will. Die jungen Leute sind hier zu Lande sowie so nur mit halbem Herzen auf der guten Seite. Sie trödeln und drücken daran herum, als wüßten sie nicht, wollen sie oder wollen sie nicht. Ist es da nicht aller Ehren wert von ihm, daß er mit dem Beispiel voran gehen will und Ernst macht mit einer so wichtigen und heiligen Sache."[6]Der Alte maß seine Tochter erstaunt und böse. "So, Mädchen, nun kommst du mir auch noch. Marsch! Hier hinein! Rüben einschneiden! Dem Vieh futtern!" Susann wagte keinen Widerstand und verschwand in die Scheune; dort schnitzelte sie die Runkelrüben und weinte dazu. Sie war eine kräftige, starkknochige, etwas vierschrötig untersetzte Bäuerin und eine gerade, gesunde Seele, die über den äußeren Anschein hinaus eine Sache schwer nahm, ohne ein Wort zu verlieren, ganz mit sich allein. An Hans, ihrem ältesten Bruder, hing sie mit unverfälschter Geschwisterliebe. Ihr Beistand brachte den Alten vollends auf. Sie hörte ihn draußen wettern und fluchen. "Müssen denn die Weiber immer meinen, es gehe nicht ohne sie. Sie haben keine Ruhe, bis die Katze im Mehltopf sitzt. Ich habe es von Anfang an gesagt: es ist ein dummer Krieg. Und daß mir da am Ende noch du oder Faveri erschossen wird! Deswegen gar noch einen Knecht mehr eintun müssen, das wäre denn doch das Höhere." Brummend ging er weiter, und Hans folgte ihm in die Stube.

Es waren damals die Tage, da in der Schweiz der uralte Streithandel in Glaubensdingen und zwar, nachdem der friedliche Rechtsweg versagte, nicht ohne Waffengewalt, zum Austrag kam. Der historische Kern der Eidgenossenschaft, die Waldstätte, mit den übrigen katholischen Ständen zum Sonderbunde verschworen, widersetzte sich eigenhäuptig der ehrwürdigen, altverbrieften Eintracht, und so begab es sich in offenem Bruderkrieg, daß gegen Ende des Jahres Achtzehnhundertundsiebenundvierzig die eidgenössischen Truppen, unter[7]dem Oberbefehle des Genfer Generals Dufour, vorübergehend auch denjenigen Teil des Luzernergebietes feindlich besetzten, wo die Rotmatt lag. - "Vater, ich will Euch jetzt reinen Wein einschenken, wie es um mich steht," sagte Hans Hieseb, indem er die Türe zuzog, zum Alten, der sich auf der Steinbank des grünen Kachelofens niederließ und sich mit seiner erloschenen Tabakspfeife zu schaffen machte, "seht, meines Bleibens war ja hier doch nicht länger. Ich bin der Altere und auf dem Hofe gilt das Jüngstenrecht. Das ist eben mein Fluch. Nun soll der Kaveri Bauer werden auf der Rotmatt. Ich vergönn's ihm weiter nicht. Nur bin ich für mich selber noch nicht drüber hinaus. Darum bin ich auch so in einem Eifer, daß ich dem Sonderbund blindlings zulaufe; da kann ich noch etwas verteidigen, was ich von jung auf liebe und das mir doch nicht gehören soll. Beim Faveri einmal Knecht sein, will ich aber nicht. Ich wußte ja, daß es sein mußte und wollte schon lange von mir aus gehen; denn jedes Jahr später hätte wieder einen frischen Ring um den alten Stamm gelegt, und dann täte es länger weh, wenn ich die Säge ansetzte. Dennoch hab' ich's nicht fertig gebracht und wäre wohl garnicht weggekommen. Jetzt aber gilt's. Es muß gehen, wenn nicht hüstum, so hottum."

"Just eben so etwas!" hüstelte der Alte höhnisch, "da haben wir's ja. Weil dir's zuhause nicht gefällt, läufst du dem großen Haufen nach. Ich hätte nichts dagegen, wenn du rechtschaffen in fremden Dienst ziehen wolltest. Bin auch in Neapel mit den Bernern gewesen - das ist noch das rechte, altväterische Kriegs[8]handwerk. Aber so eine Lappalie, eine dumme, wie jetzt: ist ja doch nur alles pfäffische Machenschaft und die Eidgenossen haben recht, daß sie die Klöster ausnehmen - diese Ludernester - und dem ein für allemal ein Ende setzen."

Ein schwerer Zorn drohte den Sohn zu übermannen, als er seinen Vater so sprechen hörte. Sein blasses Gesicht errötete jäh und nahm einen starren, fanatischen Ausdruck an: "Vater, das rechte, altväterische Kriegshandwerk, sagt Ihr? Ist denn das alles? Und der rechte, altväterische Glaube? Ich denke, das wäre doch der Mühe wert, uns den nicht abstreiten zu lassen. Ich hange noch daran; ich kann Euch nicht helfen. Und Ludernester sind es einmal nicht: das laßt Euch schön gesagt sein." Der Alte zuckte die Achseln: "Meinetwegen hang du noch daran; ich bin auch kein Heide. Aber du bist immer zu viel um die Kapläne und Kapuziner herumgestrichen, schon als kleiner Pföder." - "Weil sie mir Heiligenbildchen schenkten, schöne Muttergöttislein mit rot und blauen Mänteln und gelben Kranzscheiben ums Haar. Und mir schöne Bücher zu lesen gaben. Und mich die Schönschrift lehrten." - "Damit hast du für manchen Batzen Briefe und Kunten abgeschrieben, ich weiß es wohl. So geh zu den Schreibern in ein Kontor, zu einem Fürsprech oder einem Notari, wenn du nicht dem Faver sein Meisterknecht werden willst. Ich glaube, du hättest es nicht bös; er ist ein Sanfter. Aber ich bin unserem Nesthöck auch draus und davon gelaufen, als der Vater starb und er zum Regieren kam. Die verkehrte Welt, daß immer der[9]jüngste nachher Herr sein soll! Aber es ist nun einmal nicht anders und immer Brauch und Herkommen gewesen auf der Rotmatt." Hans antwortete seinem Vater nicht; er verfiel in ein Sinnen und überschlug in Gedanken, nach welcher Richtung er sich nun aufraffen oder mäßigen sollte. Plötzlich fuhr er auf, weil der Alte mit seinem schweren Holzschuh aufstampfte, daß von dem Stoß die Diele krachte. Hans sah den Vater an und verstummte vollends über dessen Haltung und Gebärden. In dem bäuerlichen Dickschädel des Alten blitzte es für einen Augenblick auf, wie eine Summe seiner Existenz, wie eine Lebensbilanz, als er nun plötzlich mit zugekneiften Augen und übermütig vor Vergnügen seine letzte Weisheit offenbarte: "Ich rate dir wohl, Hans. Wo die Pfaffen die Finger im Spiel haben, da laß du deine aus dem Spiel. Den Jesuiten haben sie den Laufpaß gegeben. Laß sie laufen in ihren Unterröcken, sag ich dir. Ob du katholisch bist oder nicht, das ist gleich. Aber ob du Schweizer bist - das ist nicht gleich. Potz Hagel nein! Und darum bist du ein Narr, daß du dich gegen sie stellen willst, wenn sie jetzt dann heranrücken mit dem weißen Kreuz im roten Feld und den Berner Marsch blasen. Sapperment, ich möcht's hören! Ich mein', ich könnt auch noch mittreten. Schau, Hans, sei nicht dumm. Wir Hiesebe sitzen hier auf der Rotmatt seit der Tellenzeit und nie hat ein Fremder unbestraft hier befehlen wollen - vor vielen hundert Jahren ein Landsknecht; er ist im Baumgarten verscharrt. Dann wieder in der Franzosenzeit hat mein Vater ganz allein fünf Welschen das Plündern[10]verleidet. Wenn es um Haus und Hof ginge, da wollt ich dir raten: Vorwärts, Hans, stell deinen Mann. Aber für die Pfaffen? Da bist du mir zu schad'. Deine Mutter war doch auch nicht katholisch: sie ist vom See - und war weiß Gott eine rechte Bäuerin; wenn sie nicht so früh unter den Boden gekommen wäre - die Pfaffen wären auch nicht so Meister worden über Susann und dich und den Faveri. Aber ich konnte nicht wehren; ich hatte genug zu tun mit dem Viehfuttern und mit dem Pflanzen. Und vor allem dieser Hetzteufel - der Pater Augustin mit den baren Füßen."

Draußen war Susann, kaum hatte sie die Rüben gerüstet, über ihre Unruhe nicht Herr geworden und irrte, ihren Kummer trotzig in sich hineinwürgend, spähend um das väterliche Besitztum rings herum; sie hatte das Bedürfnis, ihr Herz auszuschütten. Und als sie nun vorn an der Landstraße stand und aus ihren stahlgrauen Augen wahre Sperberblicke hinauf und hinunter auf die Suche schickte, da gewahrte sie wirklich, wenn auch noch sehr im weiten, eine nahende Gestalt, die sofort Vermutung und Hoffnung in ihr aufweckte. Sollte es wirklich ihr geliebter Beichtvater sein. Schon unterschied sie ganz deutlich die braune Kutte, und nachdem nun gar unter einem geröteten Gesicht ein weißlicher Kranzbart erkennbar wurde, hielt es sie nicht länger; dankbar und in nicht zu bezähmender Ungeduld eilte sie dem Kapuziner entgegen. Sie hatte es ja gewußt, der Pater Augustin werde sie nicht im Stiche lassen, sondern unaufgefordert sie mit Trost und Beistand bedenken. In der Tat, der Barfüßermönch kam auf die Rotmatt.[11]Er war der eigentliche Hetzgeist dieser Gegend, in unermüdlichem Fanatismus die Bauern aufreizend.

Er ruhte nicht und drang bis in die Stube vor, wo Vater und Sohn standen und eben sein Name gefallen war. "Ihr habt hier nichts zu suchen, Pater," sagte der Bauer barsch. Aber der Mönch trat mit einem langen Schritt mitten in die Stube. An dem gürtenden Strick seiner Kutte schwang das Kruzifix hin und her. Das ergriff er mit seinen fetten, fleischigen Händen, küßte es schmatzend und hielt es hoch erhoben. Dazu ereiferte er sich in einem unaufhörlichen Redeschwall. "Doch!" schrie er, "gerade hier habe ich etwas zu suchen." Er hielt dem Rotmatter vor seinen Kindern seine Saumseligkeit und seinen Unglauben vor, daß er einst zu den Bernern statt zu den Päpstlern sich habe werben lassen, daß er eine Ketzerin zur Frau genommen. Daß er sich um Meß und Beichte den Teufel schere und keinen Rappen für die Kirche übrig habe. "Aber die Seelen Euerer Kinder lassen wir nicht untergehen. Die gehören der Mutter Gottes und allen Heiligen." Und nun erging er sich in beweglichen Worten, was alles auf dem Spiele stehe, so daß die Geschwister in jähem Entsetzen dastanden; ihnen war, sie müßten das Feuer in der Hölle prasseln und knistern hören. Der alte Bauer beschäftigte sich mit seiner Pfeife. Als er frisch Feuer geschlagen und sie brannte, wurde ihm das Benehmen des Mönches zu viel; er faßte ihn mit der einen Hand am braunen Armel, zog mit der andern die Türe auf und schob die Kutte hinaus.

Sowie Hans Hieseb das sah, rief er dem Pater, er[12]möge draußen auf ihn warten. Er stieg in die Kammer. Man hörte ihn rumoren, eine ganze Weile lang, er klirrte und stampfte. Dann kam er herunter gestiefelt und gespornt in der Uniform eines Kanoniers. Der Pater pries ihn als getreuen Sohn, der einen besseren Gehorsam an den Tag lege, als sein Vater und sein Bruder. "Der Xaver kommt auch, und die beiden Knechte auch," flüsterte Susann, die neben dem Pater draußen unter den Pappeln stand. "Es hat ja noch nicht Sturm geläutet." - "So seid ihr," eiferte der Mönch, "immer auf Nagelsnot. Je früher man die Mannschaft beisammen hat, desto besser. Es wird jetzt schon exerziert in Luzern innen auf Tod und Leben." Da ging Hans auf seinen Vater zu, der unter der Haustüre stand und streckte ihm die Hand hin. "Behüt Euch Gott, Vater!" Der Alte verabschiedete ihn trocken, aber nicht unfreundlich. Sein Auge hing mit Wohlgefallen an dem schmucken Soldaten; er war nicht umsonst ein alter Söldner. Das Handwerk gab den Ausschlag über das persönliche Mißfallen. "He so nun so dann!" machte er, "tu was du willst. Ich habe es dir schon gesagt: alt genug bist du. Und wundern tut's mich nicht an dir. Du bist immer ein Zwänger gewesen." Da kehrte sich der Kapuziner, der bereits an der Seite seines Schützlings den Weg unter die Füße genommen hatte, um und rief dem alten Hieseb zu: "Ja, aber ein Zwänger im Guten. Einer der nicht locker läßt, auch wenn es sich einmal um etwas anders handelt als um Geld und schnöde Lustbarkeit!"

* *

[13]

Der Rotmatthof lag da wie sonst. Reif hing am Strohdach und in den kahlen Kronen der Obstbäume. Der sauber geflochtene, mehrstöckig geschichtete Düngerhaufen sah, im kleinen, einer stahlgepanzerten viereckigen Bastei ähnlich. Vor der Scheune, die an das Haus angebaut war, hackte der alte Hieseb Holz. Die Scheite fielen mit hartem, trockenem Klingen auf die Pflastersteine. Aus dem Stall drangen verschlafene Atemzüge des Viehes oder der Schlag eines Pferdehufes. Ein kalter kristallklarer Wintertag, nur nach den Vorbergen zu etwas silberduftig. Sonniger, stiller Winterfriede. - - - - Kaum hörbar, seitwärts von einer Hügelschwelle her, drängte sich ein eigentümliches Knallen, Knattern und Prasseln heran, wie das Niedergehen eines mit Donnerschlägen untermischten Hagelwetters. Der Rotmattbauer hielt inne mit Holzspalten. Er drehte gemächlich den Kopf, um hinzusehen, sah aber nichts bestimmtes, weil die Ferne leicht verschleiert war. Vor der Einsenkung beim Waldeinschnitt, dort kam es her. Drei oder vier mächtige Rauchballen stiegen still gen Himmel, umgeben von einer Menge von Flöckchen und Knäuelchen. Sie gingen auseinander, mischten sich wieder, stiegen höher und schlossen sich scheinheilig zu einer stattlichen weißen Wolke zusammen, die alsbald himmlisch und wundervoll durch die höchsten Lüfte zog. Da knarrte das Holztor, und ein Offizier trat heraus. Hinter ihm stand die Scheune voll von Soldaten. An den Rockärmeln leuchtete die eidgenössische Feldbinde.

[14]

Es war eine Abteilung des Seelandbataillons, die im Zuzuge zur Hauptmacht begriffen, hier hielt, bestimmterer Nachrichten gewärtig. Handgreiflicher als die erst nur vagen Gerüchte schwirrten dort drüben sichtbare Anzeichen, daß das entscheidende Gefecht entbrannt sei. Es fehlte den zur Untätigkeit verurteilten Füselieren nicht an Stoff zu erregtem Austausch ihrer Gefühle. Das Gespräch beherrschte Korporal Fägschmied, zu Hause seines Zeichens Gastwirt und demnach auch in seinem Civilleben eine Art Machthaber. Nach altväterischer Auffassung ging man auf dem Dorfe ins Wirtshaus keineswegs nur um der Labung und Unterhaltung willen, sondern aus Bildungsbedürfnis. Da zeigte sich dann der gute Wirt, ob er aus den Zeitungen genügend vorbereitet, das in der Luft liegende Gespräch geläufig anzudrehen und den der Mehrheit seiner Gäste zusagenden Ton zu treffen wußte. Darauf verstand sich Fägschmied famos. Kam der kirchliche Hader zur Sprache, so setzte er mit einem Wetter ein, etwa: "Hol der Teufel die Jesuiten!" Handelte es sich dagegen um Fortschritte im Verkehr, so begann er um eine Note sanfter: "Ja, ja, die Eisenbahnen, da scheint denn doch etwas daran zu sein. Jetzt saß er mitten in der Scheune auf dem schwarzen Drusenfaß in seiner ganzen Korpulenz und nahm einen langen Schluck aus seiner Feldflasche: das gurgelte und klatschte, als gösse man eine Schöpfkufe von hoch oben auf den leeren Faßboden aus. Doch nur schon die Strapazen der letzten paar Marschtage hatten seiner Leibesfülle das Außerste zugemutet, und er machte es[15]sich bequem für jede Minute, während deren er nicht zu gehen brauchte. Die andern, ja auch jünger und schlanker als er, zudem jetzt im Felddienst seine Untergebenen, standen vergnügt um ihn herum, hatten ihren Spaß mit ihm, und als sie nun gar zu der waghalsigen Prozedur schritten, ihm über den Unterleib den Kaputt zuzuknöpfen, weil er eben vor Kälte mit den Beinen an die hohle Tonne schlug, da ließ er sie gutmütig gewähren. Dann aber lenkte er die allgemeine Aufmerksamkeit in ernst werdendem Ton von seiner Person weg wieder zu der Bedeutung des Tages über. Sie seien jetzt nicht hier auf dem Tanzboden, sondern im Sonderbundskrieg. Die Leute horchten auf und fanden, er habe recht. Der Ernst überwog wieder. Die Stunde war schwer. Sie entschied alles.

Draußen war der Leutnant, der Zumbühl hieß, an den Bauern herangetreten. Der hatte sich nicht weiter daran gekehrt und hatte weitergespaltet. Zumbühl jedoch verstand sich auf diese Sorte Menschen. "Haut's es?" fragte er. "Es tut's," versetzte der Rotmatter und drehte die Schneide seiner Axt in der Spalte um, weil der Schnitt nicht durchgedrungen war und die Scheite unten noch zusammenhingen. Jetzt fielen sie auseinander: "Das Tannige ist zäh," meinte Zumbühl von neuem. Der Alte verzog den Mund, es war Buchenes. Er hatte ausgeholzt und schob den Haufen zusammen, stellte den Klotz beiseite und hackte die Axt ein. Dann hauchte er sich die Hände an und schob sie in den Grund seiner Hosentaschen. Es sah aus, als wäre er jetzt für ein Gespräch zu haben.

[16]

"Habt Ihr nicht mitwollen?" Zumbühl deutete in der Richtung des Schlachtenlärms. Der Bauer schüttelte den Kopf. "Das ist ein dummer Krieg. Ein dümmerer ist nicht gefochten worden seit die Welt steht." Zumbühl zog die Augenbrauen hoch. "Leider notwendig. Ihr Sonderbündler müßt euch bei der eigenen Nase nehmen, wenn es euch jetzt fehlen will." Aber der Alte tat überlegen. "Fehlen will? Wem fehlen? Uns? Dem Volk? Ich denke, wir in den Waldstätten waren die ersten Eidgenossen und sind die schlechtesten immer noch nicht. Die paar Tiftler und und Spintisierer, die euch Wust in die Milch gemacht haben, hättet ihr euch immer holen können, man kennt sie ja. Dummheiten! Scharf auf einander schießen! Sich totstechen! Ein Schweizer den andern! Nicht, daß es mir Angst macht. Aber diesmal ist es wirklich schad nur schon um die Heugabel, geschweige denn ums Pulver."

Zumbühl mußte wohl oder übel lachen. Der Kauz gefiel ihm. "Heut. Abend wird es wohl aus sein mit eurer Herrlichkeit." Der Alte witterte in die Luft hinaus. Es war wenig mehr zu hören. "Ich habe beide Knechte dabei und meine beiden Buben." Seine Stirne legte sich doch in Falten, als er das sagte.

Dann erzählte er, wie um darüber wegzukommen, von Hans und von Faver, und von sich selber, daß er eigentlich als zweitjüngster keine Antwartschaft auf den Hof gehabt habe und dann, da der Erbe kinderlos starb, doch noch daran gekommen sei.

Zumbühl hatte sich früher der Rechte beflissen und[17]erfolglos ein Examen angestrebt. Etwas aber wußte er doch noch. "Ach was, ein Minorat," nickte er jetzt. "Interessant!" Und er tat sich nicht wenig darauf zu gute, daß er das Fachwort noch behalten hatte. Auch drängte es ihn nachgerade, die beginnende Vertraulichkeit des Alten einigermaßen zu erwidern. Er holte Atem: -"Wir sind vom See." - "So, so, vom See." - "Aus Neuenach." - "So, so, aus Neuenach." -Der Alte blitzte mit den Augen. Das fiel Zumbühl auf: "Seid Ihr bekannt bei uns draußen?" - "Wie sollt' ich nicht, ich habe ja bei euch geweibet." - Jetzt war die Reihe an Zumbühl mit dem Sososagen: "Nicht möglich? Seid Ihr der Sebastian Hieseb? Der die Susanna Ambrosmen zur Frau hatte?" In der Tat, es war der Sebastian Hieseb, der die Susanna Ambrosmen zur Frau hatte. Er besaß in Neuenach noch einen einzigen Verwandten, einen Neffen, kannte ihn aber nur vom Hörensagen. "Was macht der Sämi?" - erkundigte er sich. - "Er ist auch mit, aber als Krankenpfleger." Das wunderte den alten Bastian keineswegs. Die Ambrosmen seien nicht von den Kecksten; die Susann habe es auch nicht lange gemacht.

Da nahm die geruhsame Wartezeit ein jähes Ende. Ein Meldereiter kam im Galopp die Straße entlang und sprengte alsbald in die Zufahrt ein. Mit zwei Sätzen stand Zumbühl in der Wiese draußen. Er ließ unverzüglich antreten. Der Befehl, den er erhielt, lautete auf Abmarsch der Mannschaft unter Zurücklassung eines Postens. Dieser Wachtdienst fiel dem dicken Flügelmann zu. Daheim war Zumbühl Fäg[18]schmieds bester Stammgast und sein Busenfreund; im Militär konnten sie manchmal kaum das Lachen verbeißen wegen der seltsamen Umstände, denen dann plötzlich ihre Dutzbrüderschaft sich anbequemen mußte. Immerhin, jetzt im Ernstfall erfolgte Instruktion ohne schalkhafte Hintergedanken. Zumbühl setzte sich an die Spitze des kleinen Zuges und erreichte die Landstraße, an deren erster Biegung er alsbald verschwand. Fägschmied blieb mit den dreien zurück und überschlug seine Maßnahmen. Er beließ den ausgestellten Wachposten noch und vertröstete ihn auf die Ablösung in einem kleinen Stündchen. Dann wandte er sich an die beiden andern Untergebenen und blinzelte sie an. "Was meint ihr zu einem Kreuzjaß?" forschte er halblaut. Sie wußten nicht, was sagen. Gepaßt hätte es ihnen ja. Aber jetzt Kartenspielen? Daraufhin setzte Fägschmied nachdrücklicher ein und erhöhte die Kraft seiner Beweisführung, indem er seiner Allerweltsstimme weiter keinen Zwang mehr antat: "Was hat das Land davon, wenn wir hier stehen? Sollen wir ein paar Stunden lang Gang an Ort machen wie die Narren?" Die beiden Gemeinen, Fritz Wegmann und Adolf Kleinhannes sahen sich an und nickten zustimmend. Fägschmied warf dem alten Bastian Hieseb einen Blick zu: "Der Vater hilft uns." - "Es ist mir gleich." - "Nun aber wo? Eure Tenne ist nicht geheizt." - "Ihr könnt in die Stube kommen." - "Können wir? Das wäre nicht leid?" - "Wir machen eine Maß Landwein aus, Ihr werdet dafür Tabak haben zum Verspielen." - Fägschmied frohlockte über die[19]Willfährigkeit des Alten in allen Punkten. Der aber blieb dabei, das sei ein dummer Krieg, und wer noch für einen Batzen Verstand habe, kehre sich nicht daran.

In der Stube saß Susann, am Spinnrad in der Fensterecke und erwiderte weder den Gruß der eintretenden feindlichen Wehrmänner, noch machte sie sich etwas aus den Neckreden, die daraufhin von den Verschmähten zu ihr hinüberflogen. Als der Vater mit der gefüllten Maßflasche und den Gläsern kam und sich zu den dreien an den Tisch setzte, stellte sie das Spinnzeug weg und verließ, ohne ein Wort zu sagen, die Stube. "Die ist euch böse," lachte der Alte, "die Weiber reden alle den Pfaffen nach. Und wir hatten hier einen gar scharfen, einen Kapuziner, der hat gestüselt und gehetzt und ihnen den Kopf vollgeredet, daß keine mehr wußte, wo er ihnen stand." Weitere Mitteilungen gingen in der Sachlichkeit des Spieles unter, das nun anhob. Hieseb war in der Vorhand und verlor, dann kam Fägschmied ans Anspielen und verlor auch, desgleichen Fritz Wegmann im dritten Spiel. Nur Adolf Kleinhannes hatte in allen Runden gewonnen und gewann nun auch die vierte.

Er war blutjung und blickte aufgeweckt in die Welt hinaus. Jetzt hatte er sich über dem ihm zu teil gewordenen Glück in einen kaum mehr zu mäßigenden Feuereifer hineingespielt. Der für den Feind vergeblich aufgesparte Wagemut wurde durch die Wechselfälle des Kartenschicksals in ihm doch noch erregt. Er glaubte sich nun wirklich im Kampf und gebärdete sich, als ging es auf Leben und Tod. Mit durch[20]bohrendem Blick empfing er die Karte, die den Stich entschied, trumpfte von hoch oben mit schmetterndem Faustschlag ein, schimpfte jeder unliebsamen Überraschung nach, als hätte sie Ohren und jauchzte hellauf, wenn ein günstiger Zufall seiner Berechnung noch zuvorkam. Die andern drei hatten ihren Spaß an ihm, mißgönnten ihm auch seinen Gewinn nicht, da er sie belustigte. Doch erinnerte sich Fägschmied nun von ungefähr seiner befehlshaberischen Verantwortlichkeit und streifte eine schwere, plump tickende Uhr aus der Hosentasche. Er erhob sich und ging hinaus, um nach der Schildwache zu sehen und Ausschau zu halten. Wider Erwarten rasch war es dunkel geworden. Nicht nur weil die Nacht im Anzuge war. Der erst noch klare Himmel hatte sich unbesehn mit einer grauen Wolkenschicht bedeckt. Und schon fielen leise die Schneeflocken. Die Schildwache, bereits weiß überstreut, stampfte draußen mit den schwerbenagelten Schuhen vor Kälte, aber auch vor Ungeduld. Es war ein kleiner, zigeunerhafter, schwarzhaariger Bursche, den man zu Hause seiner Beschäftigung halber den Korberfranz nannte. Immer schon hatte er bald durch das eine, bald durch das andere der beiden Stubenfenster sehnsüchtige Blicke zu den Spielern hineingeworfen.

Fägschmied war rings ums Haus gegangen und rief jetzt die Gemeinen ins Gewehr. Nun mußte eben der Kleinhannes daran glauben. Adolf stand bolzensteif und biß die Zähne zusammen. Es half ihm nichts. Die drei andern verschwanden in der Stube, wo Hieseb unterdessen Feuer geschlagen und ein Talg[21]licht angesteckt hatte. Er sah auf seinen Platz jetzt den Korberfranz sich niederlassen und ärgerte sich über dessen Gleichgültigkeit. Konnte der nicht ein bißchen kecker zufahren? Wieder strich der Korporal den Stich ein, jetzt wieder und - Kreuzhimmelstrahl! - immer wieder. Wenn er noch dort säße, würde es anders gehn - Himmelherrgotts - "Nell," "Stöck," "Dreiblatt" ... Adolf konnte es nicht länger mit anhören; er nahm sein Gewehr unter den Arm und patroullierte der Längsseite des Hauses entlang, da vernahm er den Wortwechsel der Spieler nur noch gedämpft. Auch der scharfe Eiswind, die Schneeflocken, die ihm auf Stirn und Wangen zerflossen, taten das ihre, ihn abzukühlen. Dennoch wurde er seinen Arger nicht los. Dieser Fägschmied! Am liebsten hätte er ihm den Kolben seines Schießprügels in den Wanst gerannt. Spielte sich da als Vorgesetzter auf, nur um einen überlegenen Partner los zu werden. Aber er sollte nur warten, bis sie erst wieder daheim waren und das zweifarbige Tuch am Nagel hing - dann aber - am Wirtstisch - so am Abend im "Schifflein" - er wollte doch wissen, was der ihm dann noch zu befehlen hätte.

Für einen Augenblick fuhr er aus den Träumen empor, aufgeschreckt durch leise Schläge, die er von innen gegen das Scheunentor vernommen zu haben glaubte. Er stand dicht davor. Ohne lange Überlegung stieß er es auf. Er spähte, lauschte. Nichts. Niemand. Ein starker Windstoß! Das alte Holzwerk krachte von selbst. Das war es also gewesen. Und aufs neue sah Adolf vor seinen Augen die drei As und zwei Könige gaukeln.[22]Gleich beim erstenmal so ein Spiel in der Hand. Und auch nachher noch hatte er einmal übers andere Mariagen und dergleichen Vorteile weisen können. Die Versuchung überkam ihn aufs neue, einen verstohlenen Blick durch die Scheibe zu tun. Er bog, nur von diesem einen Gedanken erfüllt, um die Ecke wieder in die Frontseite ein. Da - da - undeutlich aus dem Stubenfenster angeschienen - ein Soldatenrock - aber solche Schnüre? - etwas Gelbes in der Hand. - Adolf erstarrte. "Werda? Paßwort!" entglitt seinen Lippen, er spannte noch den Hahn, schlug mechanisch an.

Drin in der Stube sank Fägschmieds rechte Hand, die gerade einen Trumpf durch die Luft schwang, schlaff auf den Tisch. Wie ein Vogel, den man im Fluge abschießt. Aschfahl torkelte er auf. Ein dumpfer Fall gegen die Mauer - ein verhaltener Fluch - alle vier vernahmen es in gleicher Weise. Also auf! Hinaus! Nachsehen! Helfen! Zitternd steckte der Rotmatter die Stalllaterne an und folgte den Soldaten.

Zwei Stunden später war die traurige Gewißheit schon zum Uberdruß erwogen und den neu Eintreffenden wieder erzählt. Was half es nun nachträglich, daß Fägschmied und die beiden Überlebenden unablässig unter Gewehr standen, die ganze Umgegend ordonnanzmäßig absuchten und sich an Eifer und gutem Willen überboten? Was half es, daß auf die Meldung hin ein Krankenwagen herbeikam in Begleitung des Feldgeistlichen und des Arztes? Adolf lag tot drinnen auf[23]dem Bett des alten Hieseb. Lautlos zusammengebrochen hatte er dagelegen, als sie ihn aufhoben mit eingeschlagener blutender Schläfe, neben ihm der Dreschflegel und frische Blutspuren im Schnee, die indessen die sachte nachfallenden Flocken rasch zudeckten.

Da das Ortskontingent auch im Felde möglichst beisammen geblieben war, gab es sich, daß der herbeieilende Krankenpfleger sowie Arzt und Pfarrherr alle drei aus Neuenach stammten. Als der alte Hieseb der sich nahenden Ambulanz entgegenging, erkannte er schon beim flackernden Schein der Laterne in dem Frater seinen Neffen Samuel Ambrosmen, nach dem er sich heute früh beim Offizier erkundigt hatte. Der aber hatte für das Familienwiedersehn wenig übrig, sondern verlangte unverzüglich zu der Leiche geführt zu werden. Der Erschlagene war sein Mündel und wenn auch jetzt mehrjährig und stimmfähig, doch seiner Obhut und Vormundschaft nicht völlig entwachsen gewesen. In tiefer Bewegung beugte er sich über den Leichnam.

Ambrosmen bekleidete zu Hause das friedliche Amt eines Spittelschreibers. Auf seinem schmächtigen Körper überraschte ein großer Kopf. Mit seinem glatten Milchgesicht und seinen spärlichen, flachshellen, schnittlauchsteifen Haaren sah er einem behäbigen, stillversonnenen Greise gleich. Jetzt freilich beraubte ihn der entsetzliche Anblick seines gemessenen Wesens. Er verfiel in ein krankhaftes, verzweifeltes Aufschreien und fand seinem Schmerz nicht Wehklagen genug.

Auch der Pfarrer Sandhuber vermochte nur müh[24]sam die Würde zu wahren, die er seinem Amte angesichts schwerer Schicksalsschläge schuldig war; für weitere Maßnahmen zu ohnmächtig, suchte er wenigstens den nächstliegenden Anforderungen an seine Trösterpflicht zu genügen. Er ergriff Ambrosmens Hand und zog ihn sachte zur Seite: "Nun ist die arme Ursula ganz allein." Er begnügte sich, den Gedanken, der menschlich betrachtet, am nächsten lag, ohne weitere Zutat einfach auszusprechen. Diese armselige Äußerung des Mitgefühls reichte hin, Ambrosmen soweit aufzurichten, daß er sich mit seinem ihm selbst ja noch unbekannten Onkel ins Einvernehmen zu setzen vermochte, in erster Linie darüber, wie in aller Welt es denn dazu habe kommen können. Der alte Hieseb und seine drei Gäste, obwohl frei von eigentlicher Schuld, konnten insofern kein ganz gutes Gewissen haben, als ohne ihre fahrlässige Sorglosigkeit, der Vorgang doch nicht so rätselhaft ohne jeden Anhaltspunkt zur Entdeckung des Täters verlaufen wäre. Nicht einmal Fußspuren waren zu verfolgen, der nun eingebrochenen Dunkelheit wegen und weil sie überdies alsbald wieder überschneit wurden. In ihrer gemeinsamen Not hatten sich die vier so weit verbündet, den Verlauf, dessen einzige Zeugen sie einstweilen waren, übereinstimmend mit unerheblichen Abweichungen von den wirklichen Tatsachen in einem für sie möglichst günstigen Lichte darzustellen.

In vorgerückter Nachtstunde traf der Leutnant Zumbühl mit einigen Leuten auf dem Hofe ein, den er einen halben Tag zuvor ohne Ahnung einer durch solche[25]Umstände veranlaßten Rückkehr verlassen hatte. Von dem gutmütigen Benehmen während des ersten Aufenthaltes war jetzt nichts mehr zu spüren. Mit seinen im niederen Rechtsdienst früher gesammelten Erfahrungen schickte er sich an, die notwendig gewordene Untersuchung selbst zu führen. Er fuhr zunächst Fägschmied nicht übel an und bedrohte ihn mit Dunkelarrest, wenn die Nachforschung zu keinem Ergebnis gelange. Steif, ohne ein Glied zu rühren, mußten die drei Wehrmänner ihrer Waffen bar in der Stube dastehen, indes er den alten Hieseb vor dem Feldprediger, dem Arzt und dem Frater in ein gründliches Verhör zog.

Aber der alte Bauer wußte schlechterdings nichts von Belang auszusagen. Die einzige Unwahrheit, die er sich erlaubte und die statt des gemeinschaftlichen Kartenspiels ihm selbst eine der Tageszeit entsprechende Beschäftigung im Stalle, den Soldaten dagegen einen ausspähenden Rundgang durch das Wiesenland zuschrieb, vermochte am wirklichen Tatbestand auch nichts wesentliches zu entstellen. "Aber der Dreschflegel!" Der gehörte allerdings zum Hause und hatte am Scheunentor gehangen. Da fiel dem Alten seine Tochter ein, die, seit sie die Stube verlassen hatte, nicht mehr gesehn worden war. Auch er hatte sich unmittelbar nach entdeckter Tat auf die Suche des Mörders gemacht, da seine loyale Gesinnung gegen die eidgenössischen Truppen ehrlich gemeint war, und er, abgesehen von der eigenen Unachtsamkeit, die er gerne verbergen wollte, keinen Grund einsah, aus der Wahrheit einen Hehl zu machen. Vielleicht wußte Susann etwas.

[26]

Man fand das Mädchen im Stall, wo es die Kühe molk. Es folgte ohne Widerstreben der Aufforderung und verriet weder Unruhe noch Erstaunen, als es vor die fremden Soldaten trat. "Wißt Ihr, was vorgegangen ist?" Sie wußte darum. "Wißt Ihr vielleicht auch, wer es getan hat?" Da heftete das Bauernmädchen seine blanken Augen fest auf den Offizier. Sie wußte auch das.

Durch Susanns Geständnis wurde der Sachverhalt soweit aufgeklärt, daß Hans, der ältere ihrer beiden Brüder, die Tat vollbracht hatte. Er war bei dem für den Sonderbund unglücklichen Entscheidungstreffen lebhaft beteiligt und um so verstimmter über die Niederlage gewesen, als sein Geschütz erfolgreich eingegriffen hatte. Durch einen Stich und einen Streifschuß leicht, aber schmerzhaft verwundet - das ergab nachher die Erkundigung bei seinen Kriegsßkameraden - mußte er gleich zu Fuß die zwei oder drei Stunden bis zum väterlichen Hof gelaufen sein. Als Susann aus dem Stall trat, sah sie ihn eben den Dreschflegel vom Scheunentor nehmen. Sie erkannte ihn und wollte ihn ansprechen, doch schüchterte er sie durch eine drohende Gebärde ein und ehe sie noch selber sich über das Rätsel seines plötzlichen Erscheinens klar werden konnte, war alles geschehen und hatte Hans das Weite gesucht. Infolgedessen reichten auch diese Angaben nicht aus, die Tötung von vornherein mit verbrecherischer Absicht in Zusammenhang zu bringen. Was für hundert Möglichkeiten taten sich da nicht auf, die keineswegs alle für den Flüchtling mit[27]einem Schuldig endeten! "Krieg ist Krieg!" sagte Zumbühl, indem er sich nach beendeter Untersuchung vom Tische erhob. Daß er aber von seiner spärlichen Mannschaft einen eingebüßt hatte, ohne vor dem Feinde gewesen zu sein, ärgerte ihn, weil es sich lächerlich ausnahm. Und deshalb versetzte ihn der beklagenswerte Vorfall mehr in schlechte Laune, als daß er ihn betrübte.

Noch in der Nacht selbst zogen die Soldaten mit dem Toten ab und am Morgen ging es auf der Rotmatt wieder zu wie alle Tage. Die beiden Knechte und der andere Sohn trafen im Laufe der nächsten Stunden unverletzt ein und nahmen gleich die Arbeit wieder auf. Nur Hans wollte sich nicht mehr blicken lassen. Doch erschien dann Pater Augustin auf der Rotmatt mit Nachrichten, die den Zurückgebliebenen alles erklärten. Er hatte hinter Hiesebs Kanone gestanden und im Augenblick höchster Gefahr furchtlos die Truppen noch einmal auf sein Kruzifix vereidigt. Das drückte nun Susann inbrünstig an die Lippen. Auch den Flüchtigen hatte er nach der verhängnisvollen Tat auf einen Augenblick gesehen, als dieser um Mitternacht an der Klosterpforte die Klingel zog und dann nach notdürftigster Erfrischung seine Flucht fortsetzte. Er hatte also den Verlauf des Totschlags aus dem eigenen Munde des Täters. Mit folgenden Worten hatte Hans ihm den Hergang erzählt:

"Ich kehrte aus dem Krieg heim todmüd und verwundet. Da sah ich meinen eigenen Vater in unserer Stube trinken und Karten spielen mit unseren Feinden.

"Und wie ich die nun also dasitzen sah, stieg mir's[28]heiß und kalt in den Kopf, und ich ging und holte den Dreschflegel vom Tenntor -" "Warum den Dreschflegel? Ihr ein bewaffneter Mann." Statt aller Antwort zog Hieseb den Pallasch aus der Scheide. Ein kurzer Stumpf. Die Klinge war bei der Abwehr des Sturmes an einem Gewehrlauf zersprungen. "Was sollte der Dreschflegel?" - "Ich wollte das Fenster einschlagen und den traurigen Himmelsherrgottketzern da drin, meinem Vater und den dreien die Meinung sagen! Oder sollt' ich nicht? Ich hatte mich tapfer geschlagen und mein Leben auf Spiel gesetzt für meinen Glauben. Und wie ich, so auch tausend und tausend andere, ob nun mit mir oder gegen mich, ist eins, sie haben doch das Ihre getan - weiß der Himmel, sitzen aber da ein Paar von diesen selben Dufourlern, die mir den Armel am Narrenbeinchen zerfetzt und die Wade durchschossen haben, bei meinem Vater, der es immer so halb und halb mit ihnen gehalten hatte, saufen, tubaken und jassen mit ihm, als hätten wir Kirchweih oder Fastnacht - ein meineidiger Anblick! - Gott straf' mich! -

"Ja, warum habt Ihr das Fenster dann nicht eingeschlagen, es wäre das beste gewesen?" "Warum nicht? Weil ich plötzlich dicht neben mir Schritte hörte und von der Schildwache angerufen wurde - ich hatte keine Ahnung gehabt, daß da noch ein Posten war - hätte ich einen Hufschlag lang überlegen können - ich hätte mich vielleicht ergeben - mit dem Sonderbund war es ja zu Ende - aber ich sah nur noch im trüben Schein des Talglichtes, wie der andere das Gewehr auf mich anschlug und wollte ihn mit einem Gegenschlag[29]entwaffnen, da muß ich ihn doch schwerer getroffen haben, er taumelte, sank um und schlug an die Mauer. Mir entfuhr ein Schwur. Ich rannte ins Feld hinaus, mich in der Finsternis zu bergen. Die aus der Stube kamen herausgezwirbelt, sie wußten erst nicht recht, wollten sie links oder wollten sie rechts. Aus ihren Flüchen und wilden Verwünschungen riet ich auf ein Unglück - beim Eid, ich hatte keins mehr anstellen wollen, ich hatte mein Teil den Tag über schon gehabt. Aber als es nun so stand, beschloß ich zu fliehn und rannte zurück. Ich stieß auf andere Sonderbündler und schlug mich durch, ungewiß, was aus mir werden sollte."

So hatte wörtlich der Bericht gelautet, den der Flüchtling dem Mönche erstattet hatte. Susann stellte, aus bitteren Tränen heraus, immer neue Fragen; aber der Pater wußte weiter nichts, als auf Grund jener Aussagen eben bald diesen, bald jenen Punkt ergänzend und verdeutlichend klarzustellen. Was seitdem aus Hans geworden war, was er zu tun gedachte, wohin er sich gewendet - darüber fehlte ihm jeder Anhalt. Sie hatten ihn verbergen, ihm weiterhelfen, ihn sicherstellen wollen. Er aber schlug alles aus, und sein einziges Wort war gewesen: "Es gibt nur eines, was ich zu tun habe, und das werde ich tun," dann war er verschwunden. "Aber um Himmelswillen!" schrie Susann auf, "jetzt - im Winter - bei Wind und Wetter - da ist er gestorben und verdorben." Und sie gebärdete sich wie verzweifelt. Die Männer aber, und zwar nicht nur der Barfüßer, sondern auch der Vater, der Bruder[30]Xaveri und die beiden Knechte malten sich das Schicksal des Verschollenen nicht allzu düster aus. Als Älterer hätte er den Hof doch über kurz oder lang verlassen. Dann werde in den Friedensbestimmungen ein allgemeiner Straferlaß erwirkt werden; Verfolgung für seine Tat hatte er von Staats wegen nicht zu befürchten. Er konnte also entweder einfach wieder auftauchen. Oder dann hätte er nicht der Hans sein müssen, wenn er nicht irgendwo draußen festen Fuß faßte.

[31]

Zweites Kapitel.

Das Dorf Neuenach liegt an einem der Seen im schweizerischen Mittellande. Es führt seinen Namen auf ein Kloster zurück. Die Gebäude der ehemals geistlichen Liegenschaft bestehen in ihren Fundamenten noch vollständig und sind zu einem kleinen Teile auch bis zum Dache hinauf unversehrt geblieben. Das Kloster, wie es nach wie vor heißt, ist als Spital, Altersasyl und Armenhaus seiner einstigen Bestimmung noch halbwegs treu. Auch steht die uralte Kirche noch. Nur dem frühern Pförtnerturm ist jede Beziehung auf die geistliche Vergangenheit abhanden gekommen; er dient zur vorläufigen Unterkunft für Gefangene. Alles in allem gilt es in Neuenach für gewagt, einen Ehrenmann zu foppen, wohin er denn wollte, doch etwa nicht ins Kloster - denn damit spielt man auf eine Reihe gleich schlimmer Zumutungen an: Lump, Schelm, Siecher, Narr, alle enden dortzuland im "Kloster".

Das "Kloster" stieß seitwärts an einen freien Platz, der nach dem See zu in eine breite Schifflände auslief. Etwas weiter oben stand der runde Dorfbrunnen, um den herum ein weiter Umkreis mit einer soliden, wenn auch etwas ländlich unebenen Pflästerung aus kleinen[32]spitzen Steinen versehen war. Dahinter aber, im Vergleich zum Seespiegel nun bereits auf einer Anhöhe, ragte eine schöne, alte Linde noch aus der Zeit, da solch ein Baum mit Bewußtsein zum Sinnbild der Dorfschaft gepflanzt zu werden pflegte. Etwas seitwärts davon erhob sich nicht so mächtig aber auch recht stolz der andere Ehrenstamm: ein Freiheitsbaum aus der Revolutionszeit. Auf der andern Seite, dem Kloster gegenüber, befand sich, am Platze selbst gelegen, ein einziges Haus. Ohne so besonders stattlich zu sein, wie etwa die eigentlichen Bauernhöfe, die hinter den Baumgärten hier und da auftauchten, kam es als vorderstes Anwesen doch zur Geltung. Über seinem Erdgeschoß hing an einem Eisenarm das sechseckige Weinzeichen. Eine besondere Namensaufschrift führte die Wirtschaft nicht - jedermann wußte, es war das "Schifflein".

Die Soldaten waren eben aus dem Sonderbundskriege heimgekehrt, so ziemlich die ganze wehrhafte Mannschaft nicht nur des Dorfes selbst, sondern auch der nächstumliegenden Ortschaften. Doch war der bunte Rock, in dem die Heerfahrt mitgemacht wurde, rascher zurechtgeklopft und reingebürstet, als die Erinnerung an das ernste und doch mit allerlei Einschlägen farbig durchwirkte Erlebnis. Kein Mensch dachte noch ans Arbeiten; die halbe Woche war ein einziger blauer Montag. Im Schifflein ging es aus und ein wie in einem Taubenschlag. Eine zweiseitige Treppe führte zu der Wirtstüre des hochgelegenen Erdgeschosses hinauf. Sie überwölbte zugleich den Eingang in den Keller. Auf diesem Vorbau stand Fägschmied, ein Zei[33]tungsblatt in der Hand und las mit weithindröhnender Stimme daraus vor. Er sah in seiner schlampig sitzenden Werktagskleidung noch ungeschlachter aus als in der knappanschließenden Montur und ging in der Schlaraffenexistenz eines Wirtes wieder auf wie ein wohlgeratener Pfannkuchen. Ein Ungetüm von Mensch. Beine wie Pfosten, und doch erwies sich dieses Untergestell der darüber sich türmenden Masse kaum gewachsen. Der breite Rücken nahm sozusagen kein Ende, dabei ein dreifaches Kinn und eine Schublade von Unterkiefer. Als Fägschmied den auf dem Platze müßig herumstehenden den Steckbrief zu Gemüte geführt hatte, der hinter dem flüchtigen Totschläger des Adolf Kleinhannes ordnungshalber erlassen worden war, reklamierten seine Gäste drinnen ihn samt seinen Neuigkeiten wieder, so daß er im gesteigerten Bewußtsein eines Volkstribunen und vielbegehrten Mannes in die Gaststube zurückkehrte und die Türe hinter sich schloß.

Unter den Zuhörern auf dem Brunnenplatze befand sich von ungefähr auch Ursula Kleinhannes, die einzige Schwester und lebende Blutsverwandte des im Felde unglücklich ums Leben gekommenen Adolf. Sie ließ das Wasser in ihrem Blechkübel noch geraume Zeit überlaufen, ehe sie oben abgoß und sich ihn auf den Kopf hob. Dann schritt sie mit ihrer Last die Halde des Platzes hinan nach der Ruchgasse, wo sie wohnte. Sie sah aus wie ein braves Mädchen, bescheiden und sauber. Doch streifte die Lieblichkeit ihres Gesichtes ans Flache und Unbedeutende. So ein hübsches Gesicht, bei dem es aber dann bleibt. Immerhin, in der Seitenansicht kam eine[34]eigentümliche Schablone zum Vorschein, so daß es denn doch wieder ein Gesicht war, das man nach einmaligem Sehn auswendig behält, also nichts rein Gewöhnliches! Da nämlich Stirn und Kinn hervorsprangen, die Stirn zugleich durch das nicht recht zu bändigende, darüberausquellende Kraushaar gewissermaßen noch weiter vorgeschoben wurde und zwischen diesem doppelten Kap die Profillinie anmutig in einer Rundung nach innen zu verlief, wobei die kußlich gewölbten Lippen nicht nur, sondern selbst die zierliche Nase noch innerhalb der Bucht geborgen waren, so kam ein Anblick zustande, der unwillkürlich an den antlitzförmigen innern Bogenrand der jungen Mondsichel erinnerte. Ihre Lippen murmelten immerzu vor sich her, was sie von der Beschreibung des Totschlägers eben noch behalten konnte. Sie hatte sich nie geschwisterlich mit ihrem Bruder gestanden. Aber es war doch ihr Bruder - sie hatte einen Beschützer an ihm gehabt - doch, das hatte sie; damals, als die Nachtbuben schon über die Holzbeige auf das Vordach gestiegen waren, warf und prügelte er die Eindringlinge herunter. Das wollte sie ihm nicht vergessen. Aber sonst? Adolf war auswärts Knecht gewesen und hatte seit zwei Jahren nicht mehr bei ihr gewohnt. An ihrem Tagewerk änderte sich nicht das geringste, wenn er für immer wegblieb, höchstens Sonntags hatte sie ihn zu sehen bekommen. Er war dagewesen und fehlte nun. Während sie dahinschritt, trat in diese Lücke als Gegenstand ihrer Erwägungen unversehens derjenige, der das Loch geschlagen hatte. Soeben hatte sie die Angaben über sein Außeres gehört und konnte der[35]Versuchung nicht wiederstehn, sich ein Bild von ihm zu machen. Wie er hieß, wußte sie nun, auch daß er groß war, nun hätte sie ihn noch ganz gerne mit Augen gesehn. Gesehn haben mußte sie ihn von Rechts wegen, wenn sie ihn mit Schimpf und Schande aus dem Bereich ihrer Gedanken verjagen wollte; denn hinter einem wesenlosen Schatten kann man doch nicht mit dem Besen her sein. So ging sie fürbaß durch einen schräg durch die Baumgärten führenden eingehegten Fußpfad auf eine Gruppe unansehnlicher Häuser zu, die, vom Kloster her schon ein gutes Stück landeinwärts, mitten in den leicht überschneiten Wiesen lagen. Diese Wohnungen bildeten die Ruchgasse, ein nicht gerade zu ärmliches, aber doch weit bescheideneres Quartier, als die der großen Straße entlang sich dehnenden Häuser und Höfe.

Unweit ihrer Hütte, auf drei übere inandergeschichteten entrindeten Eichenstämmen, saß ein Soldat. Um ihn herum Kinder, die ihn bestaunten. Er grüßte Ursula, als sie an ihm vorüberging. Unwillkürlich legte sie die Maße der eben vernommenen steckbrieflichen Beschreibung an den Unbekannten und überflog ihn mit einem vergleichenden Blick. "Fünf Fuß, sieben Zoll groß, breit in den Schultern, nach unten schlank, ausgeprägtes Gesicht, dunkelgraue Augen, Haare kurz geschnitten, hellbraun und im Wirbel steil." Der Soldat hatte den Tschako abgenommen und fuhr sich durch sein kurzes hellbraunes, wirbelsteiles Haar. Er trug eine andere Uniform als die hierzuland übliche: Ursula hatte Adolf die Montur noch geputzt und auf[36]gebessert vor dem Auszug, es fiel ihr gleich auf, daß hier manches anders war.

Sie besaß noch die Kraft, die paar letzten Schritte zu tun, die Tür in die Küche aufzudrücken, den Wassereimer vom Kopf zu nehmen. Dann wurde ihr schwarz vor den Augen; sie mußte sich setzen. Doch redete sie sich gleich hinterher ein, das sei ja töricht von ihr. Sie raffte sich auf und ging nach dem Ziegenstall. Dort wollte sie sich auf die Zehen heben und durch eine Ritze der Lattenwand, die sie auch schon zu Belauschungen verwendet hatte, nach den drei Eichenstämmen spähen; die befanden sich ja fast unmittelbar davor. Sie nahm sich zusammen und tat es. Der Soldat saß nicht mehr da, ebenso waren die Kinder weg. Sie wäre unfähig gewesen, die Musterung wirklich auszuführen; wieder überlief es sie heiß und kalt; sie sank aus ihrer emporgereckten Haltung auf die Sohlen zurück und grub ihr Gesicht schaudernd in ein Bündel Heu.

Ursula besaß die kleine Hütte zu eigen, teilte sie aber mit einer widerwärtigen alten Person, die weder Kleinhannes hieß, noch auch nur ihre Stiefmutter war. Dieses bösartige, versauerte Weibsbild humpelte durchs Dorf, Reisigbündel auf dem Rücken, an einem knorrigen Waldstecken und rechtfertigte auch durch Triefaugen, Hakennase und einen zahnlosen Mund den ihr angehängten Spitznamen zur Genüge. Das Hexenbabi nannte man sie. Die heimliche Stifterin vieles Schlechten, verdrehte sie den Mädchen den Sinn durch Wahrsagen und unnütze Ratschläge. Sie hatte sich jeder Strafe zu entziehen gewußt, da sie nirgends zu fassen[37]war; aber schon bei mehr als einem schweren Verdachte hatte sich im Dorfe die Faust eines Ehrenmannes geballt oder sich gar jemand zu der Behauptung verstiegen, in allen schweizerischen Zuchthäusern sitze kein solches Teufelsvieh wie dieses Höckerweib. Da war es aller Ehren wert, daß ihrem Sohne Korberfranz diese bedenkliche Herkunft weiter nicht nachging. Er war nicht der Feinste, hielt aber etwas auf einen guten Leumund, es mochte sein, geradezu aus einem Widerwillen, den die beständige Nähe bodenloser Gemeinheit in ihm großgezogen hatte. Er sah seiner Mutter scharf auf die Finger, ließ ihr nichts durchgehn, was sein allerdings grob siebendes Gewissen nicht gleiten ließ und behandelte sie im übrigen eher wie ein störrisches Vieh, als wie einen Menschen, indem er wie im Stall mit der Kuh, so auch in dem Wohngelaß mit derben Flüchen und zurechtschiebenden Püffen auf Ordnung hielt, ohne sonst mit derartigen Gewaltsamkeiten Mißbrauch zu treiben. Daß es in dem armseligen Haushalt immerhin zu einer Kuh, einer Ziege und zwei Schweinen reichte, hätte der größte Fleiß im Besenbinden und Körbeflechten von sich aus nicht herbeizuführen vermocht, ohne die Beziehungen, in denen das Hexenbabi zu der Kleinhannesschen Familie stand, ehemals zu den Eltern des von Hieseb Erschlagenen, dann zu diesem und seiner Schwester und nun seit dem Unglück noch zu Ursula allein. Sie nistete in einer ehemaligen Back⸗ und Waschküche, deren Wände und angebrannte Tür⸗ und Deckenbalken geschwärzt waren, während nebenan Ursula Küche und Stube mit den beiden teilte und dar[38]über eine Kammer für sich bewohnte. Nicht näher Eingeweihte machten sich keine Gedanken über diese Vereinbarung; wer sich jedoch um heimliches Gerede kümmerte, konnte zu hören bekommen, der vor Jahren am Trunk zu Grunde gegangene alte Kleinhannes habe nach dem Tode seiner Frau das Hexenbabi in sein Haus genommen, nachdem er überhaupt mit ihr zusammengelebt schon vor der Ehe, dann neben der rechtmäßigen Frau her und nun auch wieder als Wittling. Jedenfalls sah man in ihm auch den Vater des Korberfranz. Es sei ein unerfreulicher, aber nicht gewöhnlicher Mensch gewesen, der von seinen Vorfahren, meistens Wirten und Küfern, den Hang zum Trinken geerbt hatte und nach einem mißglückten Aufschwung zu einem höheren Beruf in ein um so größeres Elend zurückgesunken war. Um sich zu bessern, heiratete er Ursulas Mutter ein rechtschaffenes Bauernkind, das an seiner überlegenen Art den Narren gefressen hatte und ihn aus Mitleid und Verliebtheit an sich heranließ. Mit ihr erheiratete er, der gänzlich Mittellose, auch das kleine baufällige Heimwesen an der Ruchgasse und stellte es bei einem ersten Anlauf zu einem arbeitsamen Leben auch leidlich in Stand. Dann aber verfiel er den alten Lastern wieder und zugleich, als dem äußersten Gegenmittel, einer überreizten Religiosität, indem er, durch seine Trunksucht und seinen Umgang mit dem verkommenen Weibe, mit dem Teufel unter einer Decke steckte und zugleich durch übereifrige Teilnahme an einem abgelegenen Konventikelwesen sein haltloses Dasein durch seelische Berauschung noch mehr untergrub.

[39]

Als Ursula in die gemeinsame Wohnstube trat, hockten Mutter und Sohn nebeneinander auf der überheizten Ofenbank und flochten Körbe. Sie vermochte nicht lange an sich zu halten und rückte mit der Sprache heraus. Die Alte hatte kaum die schüchtern geäußerte Vermutung aufgeschnappt, so zeterte sie los: "Was? der Hund, der unserm armen Dölfi den Garaus gemacht hat, lungert im Dorf herum? Franz! Jetzt wird sichs weisen, ob es noch einen Gott gibt und eine Gerechtigkeit. So einen sollte man mit glühenden Zangen zwicken und bei lebendigem Leibe in Stücke zerren und mit den Fetzen im See die Fische ködern." Mit diesen Worten nestelte sie einige Münzen aus der Tasche und drückte sie zwischen den aufstarrenden Weidenruten hindurch Franz in die Hand. So leidenschaftlich war sie auf Skandal und öffentliches Argernis erpicht, daß sie angesichts einer Aussicht, dergleichen anstiften zu können, sogar Geld nicht reute. Er sollte flugs sich unter die Wirtshäusler im "Schifflein" begeben, dort seine Neuigkeiten anbringen und die Anwesenden aushorchen, was sie dazu dächten und meinten. Zunächst zeigte sich Franz über dieses Ansinnen wenig erbaut, er für sein Teil hätte vorgezogen, den Korb nicht aus der Hand zu geben, ehe er fix und fertig wäre.

Erst als Ursula in ihrer Ungeduld ihn ebenfalls um Ausspäherdienste bat, erklärte er sich bereit. Ursula schlug er nichts ab. Als seine Schwester durfte sie ihm zwar nicht gelten, dennoch bewirkte das vom Vater her gemeinsame Blut manches gleiche Gefühl und heim[40]liche Einverständnis. Außerdem war Ursula in seinen Augen die Grundbesitzerin und die Hochgeborene, die nie zu ihm anders als freundlich und hilfreich war. Was er ihr von den Augen ablesen konnte, tat er, und er wäre für sie durchs Feuer gegangen. Sie dankte ihm seine Willfährigkeit und ermunterte ihn, möglichst viel in Erfahrung zu bringen. Als aber auch sie ihm etwas an seinen Schoppen spenden wollte, weigerte er sich, litt jedoch, daß sie ihm an seinem Korbe fortfahre, und nahm daraufhin den Weg unter die Füße.

In dem Ufereinschnitt, der durch das Schifflein und das Kloster abgegrenzt wurde, lag seit einer halben Stunde einer jener ungeschlachten Lastkähne, von der Ausdehnung beinahe eines Dampfers, die hauptsächlich der Beförderung von Steinfrachten dienen. Sie werden, wenn nicht ein sehr entschiedener Wind die Aufrichtung des Segelmastes lohnt, durch zwei ungeheure Ruder fortbewegt; fünf oder sechs Schritte eines mit ganzer Kraft sich dagegenstemmenden Schiffers bedarf es zu einem einzigen Stoße. In diesem eintönigen und harten Handwerk, das wetterfeste Naturen voraussetzt, werden rauhe und verwegene Wasserleute groß, der Ausbund der "Seebuben". Der Lastkahn hatte sein breites turmartiges Hinterteil dem Lande zugekehrt. Auf dem Rande saß rauchend der eine Ruderknecht, er ließ faulenzend die Beine über Bord hängen und lehnte den Oberleib gegen den überragenden Teil des Balkens, an dem das Steuerruder hing.

Auf den ersten Blick erkannte Korberfranz seinen Kameraden Fritz Wegmann. Dieser wurde ihn eben[41]falls gewahr und schwang sich alsbald wie zur Bauchwelle auf das eine quer nach dem Strande hin ausgelegte Ruder, daran ließ er sich in den grünen Fischernachen, der ihm dicht unter den Füßen lag und kletterte von da weiter über zwei andere mäßig weit auseinander liegende Boote hinweg, bis er nach einem letzten Sprunge am Ufer stand. Doch war Korberfranz nicht der einzige der zugesehen hatte; aus einem Seitenpförtchen des "Klosters" war zur selben Zeit Zumbühl herausgetreten und hatte auf seinem Weg ins "Schifflein" hinüber ebenfalls Halt gemacht. Sogar der frische Schneefall hatte ihn in seiner Bequemlichkeit nicht zu beirren vermocht: in Pantoffeln, ohne Hosenträger, nur mit einem Lederriemen gegürtet und ein Hausröckchen übergezogen - so pflegte er von jeher über den Platz zu schieben - wozu mehr Umstände, nur ins Schifflein hinüber? Dafür wurde ihm jetzt über dem Stillstehn etwas luftig zu Mute. "Vorwärts mit frischem Mut," rief er den beiden andern als Reminiszenz vom Feldzug her zu, da diese Liedworte oft zum Freimarsch erschallt waren, und die drei hielten ihren Einzug in die Gaststube.

Diese war mit Tannenholz roh vertäfelt. Breite Rußflecken beschmutzten die Gipsdecke über den beiden blechernen Hängelampen. Ein niederes, dumpfes Gmach. Eine versimpelte Fischer⸗ und Bauernschenke. Voll Tabaksqualm, Weindampf und muffigem Menschengeruch. Da saßen sie in ihren Stallkitteln und Werktagswämsern am heiterhellen Tage und rieben sich die Schultern einer am andern, verlegten ihre Ellbogen[42]vor sich über die Tischplatte und falteten, um den Kreis zu schließen, die rauhen, groben, dickfingerigen Hände hinter dem Weinglas, daß es aussah, als umarmten sie etwas Liebes.

Die Lage der Dinge brachte es mit sich, daß heute im "Schifflein" Geschehnisse allgemeiner Art zurücktraten vor jenem besondern Vorfall, der, unterdessen ruchbar geworden, auf seiner Runde durch die Zeitungen die Mitkämpfer von Neuenach in erster Linie anging. Noch immer waltete beträchtliches Dunkel. Keine Spur vom Täter, trotzdem man ihn nun kannte. Es war nur eine Stimme, das Verbrechen heische seine Sühne, mit dem Vorbehalt, dann immer noch der vorherrschenden versöhnlichen Gesinnung Rechnung zu tragen und Gnade für Recht ergehen zu lassen. So hat zu allen Zeiten und überall der versöhnliche Appell an die allgemeine menschliche Güte in dem ursprünglichen Zugehörigkeitsgefüll einer begrenzten Sippe seine Schranke gefunden. Ist aus der eigenen Mitte heraus einer erschlagen, da schreit sein Blut gen Himmel, nicht nur bei den Beduinen der Wüste. Die Macht der Gesittung vermag den Trieb nur in Fesseln zu schlagen, nicht ihn zu ersticken. Auch bei den Bauern eines seit tausend Jahren christlichen und seit drei Jahrhunderten protestantischen Schweizerdorfes lehnt sich der heimliche Bluträcherinstinkt auf gegen das Gebot der Friedfertigkeit. Wohlverstanden schon der Friedfertigkeit. Denn gar mit Feindesliebe hätte diesen Leuten jetzt auch ihr Pfarrer nicht kommen dürfen.

Zumbühls Eintritt erregte unter den anwesenden[43]Gästen ein an Verlegenheit grenzendes Aufsehen. Als Leutnant hatte er, wo es nur immer anging, ein Auge zugedrückt und fünf gerade sein lassen; es war dies bei ihm keine Hascherei nach Beliebtheit, sondern entsprach seinem angeborenen Phlegma und seinem Widerwillen gegen alle und jede Aufregung. In seinem Civilleben war er allgemeiner Verwaltungsbeamter des Dorfes und was sich aus seinem ruhigen Wesen fast mit Notwendigkeit ergab, Friedensrichter. Seine zu Gemütlichkeit und verträglichem Leben neigende Natur schwächte jeden geräuschvollen Ausnahmefall grundsätzlich ab und ließ, wo nur immer nach seiner Meinung gefragt wurde, an sich und andern alle überflüssigen Gefühle möglichst beiläufig verrinnen. So hatte er es auch als Pflicht empfunden, die im Schifflein sich zusammenfindenden verabschiedeten Kriegsmänner nicht sich selbst zu überlassen; stundenlang untätig da zu sitzen, und nur sich die Köpfe heiß zu trinken, war auf alle Fälle nicht von erheblichen Nutzen. Und so wollte er ein halbes Stündchen lang zum Rechten sehen.

In allen solchen Dingen und Ansichten das gerade Gegenteil von Fägschmied, war er diesem eben deshalb ein stets aufs neue willkommener Besuch. Dadurch, daß Zumbühl seinen Einfluß im beschwichtigenden Sinne ausübte, kreuzte er den Ehrgeiz des Schiffleinwirtes jedenfalls nicht als dessen Nebenbuhler. Zwei Eigenschaften machten diesen zum Demagogen besonders geeignet: seine Korpulenz, und daß er Gastwirt war. Beleibte Leute werden durch ihren Körperumfang angewiesen, auch in ihrer öffentlichen Wirksamkeit einen [44]größeren Platz einzunehmen. Bei ihnen pflegt bescheidenes Betragen leicht zu enttäuschen und den Anschein wirklicher Schwäche zu erwecken. Und nun gar als Inhaber der Schenke lag es ihm vollends nahe, das große Wort zu führen. Durch seine schlau bemessenen Reden waren in zwei, drei Tagen die an sich nicht unversöhnlichen Gemüter der Neuenachener aufgereizt: man dürfe solch einen Vorfall nicht auf sich beruhen lassen, es sei einer aus dem Dorf erschlagen worden und zwar nicht in offener Feldschlacht, sondern meuchlerisch und hinterrücks. Da sich die kleine Vorsichtslüge, die von den Vieren unter sich verabredet worden war, über Erwarten dicht erwiesen hatte, so brauchte Fägschmied auf seine eigene Pflichtvergessenheit hin gar nicht besonders verschwiegen zu sein. Vielmehr schlug die Unruhe seines nicht ertappten bösen Gewissens in Eitelkeit um und verführte ihn nun erst recht, sich als Tugendwächter aufzuspielen. Sein Ehrgeiz war, das "Schifflein" zum geistigen und politischen Mittelpunkt Neuenachs zu gestalten, wo alle das öffentliche Wohl betreffenden Auseinandersetzungen für Dorf und Umgegend zum Austrag gelangen sollten. Um so mehr aber lag ihm daran, auch neutrale Tischgänger, zumal solche von Zumbühls Ansehen und Einfluß sich zu sichern; so einer erhöhte das Gewicht der gesamten Anhängerschaft um mehr als nur um seine einzelne Person. Er begrüßte daher den Freund deutlich und setzte ihm eine Ehrenhalbe vor mit der Bitte, sich zu der brennenden Tagesfrage zu äußern.

Jedesmal wenn Zumbühl merkte, es gelte Ernst und es handle sich drum, Farbe zu bekennen, kehrte er den[45]Diplomaten und Friedensrichter doppelt kräftig hervor und widerstand nun mit ebenso eindringlich gedachten als trocken vorgetragenen Einwänden Fägschmieds demagogischer Bausch⸗ und Bogenmoral; er erntete auch von verschiedenen Seiten beifälliges Gemurmel und Kopfnicken. Seine hausbackene Stimme wirkte in der überhand nehmenden Unsicherheit erlösend. "Ah was," nökte er, "da mögt ihr' nun Lärm verführen, so viel ihr wollt; davon steht der Adolf doch nicht von den Toten auf. Es ist schad' um ihn; aber im Krieg ist es nicht anders." Während Zumbühl noch eine Weile zögernd und fast im Tone der Entschuldigung sich in derartigen Erwägungen erging, ließ Fägschmied aus blinzelnden Augen einen kundschaftenden Blick über die Anwesenden huschen und setzte dann ein: "Mit Verlaub; aber ich denke doch, wenn der Totschläger zu seiner Tat nur so von ungefähr gekommen wäre, wie der Hund zu seinem Fußtritt, dann hätte er keiner Untersuchung auszuweichen brauchen und sich also melden können und weiter nichts zu fürchten gehabt. Aber gerade seine Flucht ist ein volles Geständnis, daß wir es mit einem Schuft zu tun haben, mit einem richtigen Meuchelmörder." Fägschmied hatte auf den Pöbelpunkt seiner Gäste abgezielt und ihn getroffen. "Allweg!" rief einer daraufhin, "er hätte sich gestellt." Und andere ergänzten: "Ja ja, der Kaspar, der hat's heraus." Jetzt glaubte Korberfranz den Augenblick gekommen, sich seines schwerwiegenden Auftrags zu entledigen. Er hatte bereits die zunächst Sitzenden flüsternd ins Vertrauen gezogen, so daß die Nachricht sich von Mann zu Mann[46]weitergab und Korberfranz unfähig, zusammenhängend zu erzählen, nun auf ihm gestellte Fragen hin Ursulas angebliche Begegnung vorbringen konnte. Aber man lachte den vor Aufregung stammelnden kleinen Kerl nur aus und fand es im übrigen begreiflich, daß die Schwester des Verunglückten von derartigen Traum- und Trugbildern heimgesucht sei.

Das Schifflein war wohl in Fägschmieds ehrgeizigen Plänen das maßgebende Wirtshaus von Neuenach, in Wirklichkeit jedoch keineswegs. Oben im Dorf an der großen Straße lag das "Weiße Kreuz", ein breites aus Quadern aufgeführtes städtisch anzuschauendes Gebäude, einer jener landauf und ⸗ab berühmten Schweizer Dorfgasthöfe, in denen der Wohlstand des ganzen Bezirkes sich gleichsam in einem Denkmal verkörpert. Mehr als nur Verkehrsstätte für den Tagesbedarf, ja vielleicht sogar froh, daß kleinere Wirtschaften wie das "Schifflein" sie von der trivialen Kundschaft minderer Stundentrinker und Schoppenstecher entlasten, gedeihen diese Aristokraten unter den ländlichen Gasthäusern innerhalb eines weitergesteckten Kreises und aus einem volleren Betriebe heraus. Eben standen wieder einige leere Schlitten, denen städtische Herrschaften auf einer winterlichen Vergnügungsfahrt entstiegen waren, unbespannt neben dem Hause vor den großen Stallungsräumen. Die Stadtleute saßen hungrig und erwartungsvoll an einem lan[47]gen gelblackierten Tische drin in der Gaststube, und zwei sauber gekleidete Aufwärterinnen spreiteten die schneebleichen, frisch feuchten Eßtücher über; auch Tassen und Gläser waren bald klirrend zur Stelle. Nur der Kaffee und eine besondere Art Spritzkuchen, der ausdrücklich Neuenachener Fladen hieß, forderten die Geduld der Gäste noch heraus. Die Herren und Damen überließen einem laut⸗ und wohlredenden Deutschen in ihrer Mitte das große Wort. Er schrie über die Bedienung und warf schließlich mit näselnder Stimme über die Schulter: "Na, Herr Wirt, den Kaffee? Ja?" Also angerufen stand ein gutaussehender, schlanker Mann, der allerdings eines zu kurzen Beines wegen beträchtlich hinkte, an einem Tisch im Hintergrunde ruhig auf und trat mit der Grandezza des Schweizerwirts auf den darüber bereits kleinlaut werdenden Frager zu. Dann sagte er in verbindlichem Tone leise und langsam: "Das kommt darauf an, wie Sie den Kaffee haben wollen. Wenn kalt, dann ist er schon fertig; wenn lau, so dauert's nur noch ein Weilchen; wenn aber heiß, so müssen Sie eben warten, bis er heiß ist." Dabei schaute er mit kleingekneiften Augen verschmitzt drein, so daß die übrigen Gäste erheitert in Beifall ausbrachen und ein anwesender älterer Herr dem Zurredesteller bedeutete: "Hören Sie mal, Sie können sich aber setzen."

Das war Jakob Rübstiehl, der Kreuzwirt. Pfarrer Sandhuber und Doktor Wanger, bei denen er soeben am Tisch gesessen hatte, freuten sich höchlich über diesen seinen neuen Streich. Ja ja, wieder einmal er, wie er leibte und lebte! Als unheimlich schlagfertig[48]kannten sie alle ihn längst. Dabei verpaßte er niemals die Stunde, wenn es galt, mit der Zeit Schritt zu halten, wie er sich ausdrückte, und wenn es auch bloß vorläufig war. Aus diesem Grunde lag ihm daran, ohne Säumen in seiner Gaststube die eingetretene geschichtliche Wendung irgendwie bildlich anzudeuten. Bereits vor zwei Wochen, als der Sieg der eidgenössischen Sache keineswegs entschieden war, hatte er von einem vorüberziehenden Italiener, der mit Gipsfiguren handelte, die schöne Büste eines französischen Marschalls oder gar eines russischen Kaisers erstanden; gelegentlichen Abbildungen nach zu schließen konnte sie zur Not auch den General Dufour vorstellen, und da nun durch diesen in der Tat der Bürgerkrieg mit glücklicher Hand beendet worden war, so hatte Rübstiehl den Pfarrer und den Doktor zu einer Flasche Waadtländer gebeten. Der gipsene Kriegsheld stand vor ihnen. Rübstiehl, von dem Zwischenfall mit dem Deutschen nicht weiter behelligt, setzte sich zu den beiden Honoratioren, die rauchten und Kaffee tranken, und begann mit der Klinge des Taschenmessers das Material zu prüfen, und als es sich für seine Absichten tauglich erwies, die Ordenszeichen zu überschaben, bis sie einigermaßen unkenntlich geworden waren. Er wollte ja seinen Gästen weiter keinen Bären aufbinden, meinte er in den Pausen, da er nicht den Gipsstaub abblies; aber ohne Bildnis und Gleichnis dürfe das nicht ablaufen - dabei nickte er dem Pfarrer wegen dieser Anspielung auf die zehn Gebote zu - und anders wisse er fürs erste nicht Rat zu schaffen. Der Doktor aber konnte ihn aufs beste be[49]ruhigen; der General Dufour war an ihm vorübergeritten, nicht weiter entfernt, als sie jetzt auseinander saßen, und da könne er nur sagen, die Ahnlichkeit sei, soweit er sich zu entsinnen vermöge, sprechend; in Anbetracht der etwas sonderbaren Maßnahme aber, meinte Sandhuber, der bedenkliche Satz der hoffentlich nun für immer verjagten Jesuiten, daß nämlich der Zweck die Mittel heilige, habe jedenfalls noch nie eine edlere und harmlosere Anwendung gefunden. So nahm denn Rübstiehl unverzüglich von einem an der Wand angebrachten Sockel eine höchst reperaturbedürftige Tellengruppe herunter, der zufolge, wie sie jetzt aussah, der Freiheitsheld mit dem Apfel seinem Kinde gleich auch den Kopf abgeschossen haben müßte, so daß selbst der falsche Dufour noch angebrachter schien. Als der patriotische Wandschmuck glücklich gewechselt war, warf Rrübstiehl einen Blick nach der Gasttafel mit den Schlittenpartielern, ob vielleicht der deutsche Herr wieder etwas zu bemerken für gut fände. Doch waren diese nun über dem duftenden Getränk und Gebäck her.

Hocherfreut über die gelungene Verschönerung nahm Rübstiehl den Tell mitsamt dem kopflosen Jungen in den Arm und bat Pfarrer und Doktor, ihm nun ins Hinterstübchen zu folgen, wo einige dichtbestaubte und petschierte Flaschen vor drei Kristallgläsern standen. Der gemütliche Raum lag verfangen auf den Hof zu, und die Dämmerung graute hier bereits durch die in viele kleine Scheibchen geteilten Fenster. "Ihr habt es gut vor mit uns," lächelte Pfarrer Sandhuber, als er sich setzte und den Wein sah. "Keinen Kummer," be[50]schwichtigte der Doktor, "die wollen wir ihm schon höhlen." Rübstiehl zog sein längeres Bein unter dem gebückten Körper nach und setzte sich ebenfalls. "Ja, ihr Herren," sagte er fast gedrückt, "ihr wißt nicht, was das heißt, daheim bleiben müssen, wenn das Vaterland ruft, fühlen müssen, daß man Krüppel ist." Um der wehleidigen Anwandlung zu steuern, ergriff er rasch eine Flasche und öffnete sie. Der Kork sprang mit hellem Klapf aus dem Glashalse, und tief golden rann der Vierunddreißiger in die Spitzgläser, ins erste mit ungeduldigen Gluckslauten, in die andern mit ruhigem Erguß. "Wir wollen auf das Land trinken," sagte Rübstiehl bewegt. "Und auf seinen Frieden!" sagte der Pfarrer. "Und auf seine gesunde Kraft!" der Doktor. Sie waren unwillkürlich aufgestanden zum Anstoßen, und als sie ausgetrunken hatten, sagte eine Weile lang keiner etwas. Bis Rübstiehl die Gläser zum zweitenmal vollschenkte und nach dieser erbaulichen Einleitung es ungezwungen gemütlich wurde.

Natürlich kam die Rede alsbald auf den Rotmatter Zwischenfall und auf die unlauteren Treibereien des dicken Fägschmied, denen er zum Vorwand dienen mußte. Am meisten ereiferte sich Sandhuber, während er sonst eher bedächtigen Gewohnheiten huldigte. Auch pflegte er zum Sprechen gern die Augen zu schließen; jetzt aber geleitete er seine Worte von einem zum andern seiner Zuhörer, Einlaß erheischend auch durch den Blick. Namentlich fand er es lächerlich, nun noch mit aller Gewalt dem Täter auf die Spur kommen zu wollen. "Toren wir, zu meinen, unser Schlag treffe[51]ihn! Schwächlinge wir, zu fordern, unser Fuß erreichte ihn! Gott der Herr hält seine Hand zwischen den Mörder und uns. Sich selber hat er ihn aufbehalten! Und es gibt noch eine schwerere Strafe als irdische Gerechtigkeit sie zu fällen vermag: das ist die Pein des sich selbst unentdeckt zerfleischenden Gewissens." Rübstiehl nickte andächtig. Wanger jedoch meinte, so hoch brauche man die Sache überhaupt nicht zu nehmen; wenn man schon einen solchen Totschlag nicht einfach in Kauf nehmen wolle, so solle man lieber keine Kriege führen. Sandhuber konnte ihm darin beipflichten. Er warf seine Hand weit im Kreise vor sich aus, als wolle er mit einer mächtigen Schöpfergebärde empörte Wogen glätten und rief: "Aber wer sagt uns denn überhaupt, daß er schuldig ist, schuldig im Sinne eines beabsichtigt von Blut triefenden Verbrechens? Wir wissen nichts von dem Vorfalle selbst. Wie wollen wir aber dann richten? Hat er die Wache erkannt? Kann er nicht unversehens von ihr angegriffen worden sein und dann zugeschlagen haben, ich möchte sagen aus Notwehr, jedenfalls nicht bei voller Besinnung. Und wenn der angebliche Verbrecher jetzt hier in der Stube stände, so würde ich erst recht den Verzicht auf Rache fordern und der alles verzeihenden, weil alles begreifenden Menschenliebe das Wort reden." Rübstiehl holte den "Seeboten". Dort stand es schwarz auf weiß: es war, sofern es nicht einige hochgestellte Aufwiegler betraf, eine allgemeine Amnestie von Bundes wegen im Gange, die allen im Kriege begangenen Verfehlungen zu gute kommen sollte. Also hatten sie schon als Bürger der neuerstehenden Eid[5]genossenschaft die Pflicht, den Machenschaften des Wühlhubers im Unterdorf entgegen zu treten.

Draußen auf dem Vorplatz, auf den sie eben hinausschauen konnten, war es unterdessen lebendig geworden, da die Schlittenfahrt den Rückweg antreten wollte. Die Pferde schüttelten sich im Geschirr; es waren herrschaftliche Gespanne; der Hafer stach die Tiere, und sie wieherten und schnoben in die kalte Luft hinaus; dazu klingelten die Glöcklein ohne Unterlaß. Rübstiehl wußte, was er sich selber schuldig war, und ging hinaus, um die städtischen Gäste zu verabschieden.

Auch Sandhuber und Wanger traten vors Haus auf den Treppenvorbau, um sich das malerische Schauspiel anzusehen. Doch verklang das lustige Geläut bereits in reichlicher Entfernung und sie standen eben im Begriff, alle drei zu ihrem Vierunddreißiger zurückzukehren, als ein völlig unerwarteter Aufzug ganz anderer Art sie aufs neue festhielt. Die vom See aufsteigende breite Gasse herauf kam ein lärmender und johlender Menschenhaufen hinter einem Verkleideten her - man sah auf den Abstand hin noch nicht, war es eine Maske oder eine Uniform. Es hörte sich an, als ob das verworrene Geschrei aus Verwünschungen sich zusammensetze. Man sah Fäuste drohend durch die Luft fuchteln. Die beiden neugebackenen Sonderbundsveteranen überboten sich, ihrer Sehkraft das Außerste zuzumuten. Dieselbe unglaubliche Ahnung befiel sie zu gleicher Zeit. Sie trauten ihren Augen nicht. Aber es half nichts: das waren die Aufschläge und Achselstücke der bündlerischen Artillerie. Unter der Begleitung des Solda[53]ten erkannten sie die übliche Kundschaft des "Schifflein", die durch einen beträchtlichen Zuzug an Frauen und Kindern sich einigermaßen zur Volksmenge erweitert hatte. Der Soldat ging, zwar ungefesselt, aber wie ein Verhafteter, zwischen Fägschmied auf der linken und Zumbühl auf der rechten Seite. Der Friedensrichter, der jetzt plötzlich gestiefelt und im zugeknöpften Rock einherkam, rannte spornstreichs auf die drei Zuschauer zu, indem er die siebenstufige Treppe mit zwei Sätzen nahm. "Ist es menschenmöglich?" stieß er hervor. "Denkt euch nur: das ist der." - "Der?" -"Ja, eben der." - Im "Schifflein" hatte man kaum den kleinlauten Korberfranz seines Gerüchtes wegen ausgelacht, so kamen zwei, drei andere herein, die unabhängig von einander behaupteten, es treibe sich ein Sonderbündler im Dorf herum. Alsbald ging Zumbühl in seine Wohnung hinüber, zog sich an, wie es sich für einen Beamten gehörte und als er wieder kam, lagen die Wirtshäusler teilweise im "Schifflein" unter offenen Fenstern; die Mehrzahl von ihnen stand unten auf dem Platz vor dem Brunnen und - als Zumbühl näher zusah - wahrhaftig um einen Soldaten herum, der, gespritzt und gespeit, die Merkmale des Steckbriefes auf den ersten Blick unzweifelhaft zur Schau trug. Und schon nahm Fägschmied die Sache in die Hand, indem er mit Donnerstimme rief: "Keiner rühre mir ihn an. Es gilt der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen. Komm, Friedensrichter, tu was deines Amtes ist." Damit hatten die beiden Hans Hieseb in die Mitte genommen und, von den übrigen gefolgt, den[54]geräuschvollen und rohen Aufzug ins Oberdorf veranstaltet.

Der Pfarrer und der Doktor blieben noch eine gute Weile sprachlos. Rübstiehl dagegen faßte die Uberraschung von derjenigen Seite auf, die ernstere Folgen befürchten ließ. Auf alle Fälle mußte dem Fägschmied dieses wirksame Mittel, auf die Dorfbewohner zu eigenen Zwecken einen Druck auszuüben, entwunden werden. Noch überlegte der Kreuzwirt, wie er weiterem Unfug am besten vorbeuge - da enthob ihn schon der Gang der Dinge von selbst jeder weiteren Maßnahmen. Hans Hieseb, aufs äußerste entkräftet, lehnte sich mit dem Rücken an die Steinbrüstung, die der Frontseite des Gasthofes entlang lief, und starrte mit erloschenem Blick in die vor ihm entfaltete graue, unbekannte Menge. Allmählich aber belebten sich seine Augen doch. Irgend etwas war ihm aufgefallen; er strebte eine Entdeckung an. Plötzlich hatte er's. Er zeigte mit erhobener Hand der Reihe nach sicher erst auf Fägschmied, dann auf Wegmann und schließlich auf den Korberfranz und bemerkte vernehmlich, mit lauter Stimme: "Euch kenn' ich - und Euch - und Euch. Ihr habt drin bei uns auf der Rotmatt in der Stube gesessen und mit meinem Vater Wein getrunken und gejaßt, während ich draußen mit der Schildwache zusammenstieß." Die Dorfherren auf dem Treppenvorbau und auch mancher auf der Straße stutzten und schauten sich groß an. Hörten sie recht? Das tönte anders. Gejaßt hatte der Fägschmied statt aufzupassen! Es fielen laute Ausrufe, die das in Abrede stellten. Darauf bestätigte Hieseb[55]seine Aussage: "Doch - ich täusche mich nicht. Die drei steckten in der eidgenössischen Montur - der Dicke da - der kleine Schwarze - und noch einer dazu - ich glaube der da; ich sah sie durchs Fenster." Und da hatte Fägschmied die Stirne gehabt, vorzugeben, er habe bei stockfinsterer Nacht beim Schneegestöber seine Runden erledigt! Aller Augen bohrten auf ihn ein. Er wurde käsefahl. Die beiden Mitschuldigen drückten sich hinter seinen breiten Rücken und wären vor Scham am liebsten in die Erde versunken.

Diesen Augenblick nahm Rübstiehl geschickt wahr. "He, Ihr!" rief er den Soldaten an, "kommt! Ihr werdet müde sein! Hört!" und er winkte Hieseb herauf, bis dieser wirklich kam. Dann wies er seinen Hausknecht an, die Läden zu den auf den Vorplatz zu belegenen Fenstern des Erdgeschosses zu schließen und rief nach einer Lampe. Als diese im Herrenstübchen hinten auf dem Tisch neben der guten Flasche stand, schob er noch zwei Stühle heran, einen für Zumbühl und einen für Hieseb. So war die zu Spektakel und Geschrei aufgelegte Menge im Handumdrehen um ihre eigene Neugier betrogen und löste sich enttäuscht und kleinlaut auf. Eine Gruppe von besonders Getreuen brachte den entlarvten Fägschmied wieder ins "Schifflein" zurück, um daselbst Zeuge seiner Selbstverteidigung zu sein. Andere dagegen, doch etwas verstimmt über dieses wenig würdige Benehmen und um es den Maulhelden etwas entgelten zu lassen, beschlossen, ihren Abendschoppen nun, Fägschmied zum Trotz, im "Kreuz" zu Ende zu führen[56]und betraten die vordere Gaststube. An der Türe zum Hinterzimmer hatte Rübstiehl wohlweislich einfach den Schlüssel von innen umgedreht. So befand sich Hieseb außer Gefahr, doch noch einer mißliebigen Kundgebung anheimzufallen.

Nun trat Zumbühl auf ihn zu und ließ ihn nicht eben allzu freundlich an. Er war die zuständige Amtsperson im Dorfe, um einen ersten Entscheid zu fällen. Hieseb antwortete einfach: "Ich bin kein Fötzel. Ich wollte mich stellen. Macht mit mir, was ihr wollt." Er sank in sich zusammen und verlor die letzte Farbe aus seinem Gesicht. Man sah, nun konnte er nicht mehr. "Da!" sagte Rübstiehl und reichte ihm ein Glas voll von demselben Edelwein, den sie tranken, und Wanger schob ihm noch den Stuhl hin. "Da! Sonst fallt Ihr uns noch um." Aber er leistete nur mechanisch der Einladung Folge. Von dem Weine trank er, ohne Genuß zu zeigen, und auf den Stuhl wäre er vielleicht so wie so zusammengebrochen. Er ließ den Kopf vorn übersinken. Mit ihm war es vorbei. Was nun noch immer geschah, konnte ihn nicht mehr kümmern. Sein Wille, durch übermächtige Drucklasten lahm gefedert, vermochte sich nicht mehr frei zu schnellen. Er war nicht gebrochen, er war erdrückt. So saß er vor den andern da. Beklommen sahen sie ihn vor sich; ihnen war, es hätte einen Schlechtern treffen mögen, als eben den. Aber noch wagte keiner sein Mitleid offen zu äußern. Da tat Wanger den Schritt. Sonst war er ein Gesetzter und Vorsichtiger, der selten etwas sagte, aber dafür auch nie etwas Dummes.

[57]

Wanger vereinigte in sich mit den Fähigkeiten eines tüchtigen Arztes die besten menschlichen Eigenschaften. Indem sich so der im Beruf ausgebildete Scharfsinn durch die Triebe des Gemütes ins Tiefe und Innerliche geleitet sah, und dort mit derselben Sicherheit zu Werke ging wie bei andern an der Oberfläche, begab es sich manchmal bei einer unverständlichen Begebenheit, daß Wanger der herrschenden Ungewißheit plötzlich entrückt wurde und vor den andern eine klare beruhigende Lösung aller Fragen und Widersprüche in sich empfing. Auch jetzt teilte er nur kurze Zeit die Beklommenheit; dann, wie so sein Auge in reilnehmender Prüfung an dem Flüchtling hing, verklärte sich ihm allmählich alles in der einen Gewißheit: "Das ist ein guter Mensch, der da bei uns sitzt. Er wollte nicht leben mit einem dumpfen unausgetragenen Schicksal auf dem Rücken. Lieber sollte ihm dann dieses Schicksal, wenn es ihn nicht freigeben wollte, gleich vollends den Garaus machen. Darum war er blindlings gleichsam im Traum unaufhaltsam dem Orte zugetrieben worden, den er nach natürlichem Dafürhalten vor allen andern zu fliehen die ernsteste Ursache gehabt hätte. Mit einer halben Wahl kam der nicht aus: entweder er wurde den Druck los, oder er erlag ihm ganz und wurde durch seinen Untergang von einer unerträglichen Qual erlöst." Dieser Ahnung des Arztes kam bestätigend die Verwunderung zu Hilfe, die sich in Hiesebs Benehmen kundgab, sobald er über dem ersten Ausruhen wieder einigermaßen zu sich selber kam. Er schlug die Augen auf und ließ ängstliche, huschende Blicke von einem zum[58]andern gleiten, als begreife er nicht, warum man ihn denn noch immer ungestraft gewähren lasse, ihm nicht einfach den Kopf abschlage oder zum allermindesten in Ketten lege. Das bemerkte Wanger wohl und deutete es im Einklang mit seinen Gedanken zum Besten des unglücklichen Jünglings.

Er reichte ihm jetzt ohne weitere Umstände die Hand: "Ich hätte nicht anders gehandelt an Eurer Stelle. Und das mit dem Jassen glaub' ich Euch aufs Wort - es müßte nicht Fägschmied sein. Daß Ihr nun gerade die Schläfe trafet, war ein Ungefäll. Zuschlagen mußtet Ihr, überrumpelt wie Ihr wart." Zumbühl, wiewohl ähnlicher Ansicht, hielt es doch für angezeigt, den Ansichten derer im "Schifflein" Rechnung zu tragen: "Aber es ist einer von uns, den er kaputt gemacht hat," warf er dazwischen. Da wurde Wanger lebhaft: "So! Ist der da nicht auch einer von uns, jetzt wo Friede im Land ist?" Ein erster dankbarer Blick leuchtete in den erloschenen Augen des Flüchtlings auf. Er empfand dunkel, das Wort nehme den Bannfluch von ihm. Rübstiehl und Sandhuber freuten sich. Nun tat sich eine unerwartete Gelegenheit vor ihnen auf, ihre freundeidgenössische Gesinnung gleich durch die Tat zu beweisen. Und eben überschlugen sie die ersten Maßnahmen, da war auch schon im Laufe des Verhörs zwischen Hieseb und Zumbühl die Rede auf Ambrosmen gekommen und allen weitern Schritten der Weg gewiesen.

[59]

Drittes Kapitel.

Der Spittelschreiber Samuel Ambrosmen bastelte an seiner Öllampe herum, als ihm Zumbühl unversehens den Ankömmling auf die Kanzleistube brachte. Sein ältliches Kindergesicht, vom Lampenschein etwas blind, guckte zwinkernd nach der dunkeln Türregion. Aber auch als er einigermaßen sah, begriff er noch lange nicht; zwei⸗ und dreimal mußte Zumbühl ihm versichern: "Doch freilich, das ist der Sohn von der Rotmatt, mit dem du Geschwisterkind bist. Ja, eben der, dem das Mißgeschick hat passieren müssen. Aber davon braucht ietzt keine Rede mehr zu sein. Alle diese Zufälle sind vergeben und vergessen." Nachdem Zumbühl auf diese Weise des langen und breiten auf den verblüfften Ambrosmen eingeredet hatte, entfuhr diesem endlich der Ausruf: "Aber nein auch, Hannes!" Von jung auf hatte der eine Vetter im Leben des andern eine Rolle gespielt. Der langsame und bedächtige kleine Samuel war durch das lebhafte Beispiel des kleinen Hans zu größerer Behendigkeit angespornt worden: "Wenn jetzt der Hannes da wäre, das ist ein Flinker, bei dem geht alles wie das Bisewetter." Während dem jungen Hieseb der gleichaltrige Ambrosmen als ein Muster von[60]Ernst und Bedächtigkeit vorgehalten wurde. Und nun diese Begegnung! Der Leibausruf Samuel Ambrosmens bei großen und kleinen Überraschungen war: "Es wird etwa nicht sein." Mechanisch aus selbsttätig gewordener Gewohnheit kamen jetzt wieder diese unverständlich gemurmelten Lieblingsworte über seine Lippen, als er den vor ihm Stehenden musterte. Ach, du gütiger Himmel, war er's wirklich, war es der Hannes? Dabei bestreifte er mit ängstlichen Blicken die beschmutzte Montur, die jener trug, und als er gar den Ellenbogen des Armels gewahr wurde, der durch einen Streifschuß zerfetzt war, da überlief ihn unbezwinglich noch einmal die Angst, ob er nun also doch vor einem Mörder stehe. Hans Hieseb ein Mörder! Der Schwestersohn seiner Mutter ein Mörder! Der liebste Gespiele seiner Kinderträume ein Mörder! Als von der Untat erst gerüchtweise verlautete, war viel Unverbürgtes mit untergelaufen. Freilich mußte man ja sagen, waren die Zeitläufte verwildert. Allzu genau durfte man jetzt auch einem Ehrenmann nicht auf die Finger sehen. Dennoch mußte schon ein Ubermaß von Leidenschaft mit im Spiel gewesen sein, bis einer sich die Verfolgung von Staats wegen auf den Nacken zog und bei Nacht und Nebel flüchten mußte.

Zumbühl war seiner Wege gegangen und hatte die beiden Vettern sich selbst überlassen. "He, Sämi, was glotzest du mich so an, als wär' ich ein Hörnerbock?" sagte nun Hieseb ärgerlich. Ambrosmen fuhr auf. Und wieder überlief ihn zum wieviel hundertsten Male in diesen Tagen gruselnde Angst. Er hielt nicht länger an[61]sich. "Hannes," rief, ja wimmerte er, "hast du nicht eine Schuld auf dein Gewissen geladen, eine Blutschuld?" Jetzt lachte der Krieger auf, ein barsches, trockenes Lachen, mehr in unwirscher Unzufriedenheit ausgestoßen als aus Verlegenheit oder um dem bösen Geständnis auszuweichen. "Blutschuld! Was heißt Blutschuld? Ja, ich hab' ihn kalt gemacht. Aber er ist in ehrlichem Kampfe erschlagen. Es hatte keiner etwas vor dem andern voraus. Ebenso leicht hätte es mich treffen können. Nun hat eben er dran glauben müssen. Es ging zu wie auf Vorposten, der Flinkere siegte." "Vorposten," atmete Ambrosmen auf, obwohl er sonst als Frater vom Kriegswesen nichts zu verstehen brauchte, "nun dann Gott sei Lob, doch nicht hinterrücks, doch nicht meuchlerisch." Hieseb wies jeden Anflug einer Verleumdung nochmals ab: "Ich sage dir ja, den Gewehrlauf wollte ich ihm beiseite schlagen, weiter nichts. Bei einem Haar, so -" er stieß den Zeigefinger gegen das Herz zum Zeichen, daß sonst er erschossen worden wäre.

Mit dieser Erklärung gab sich nun Ambrosmen zufrieden, der schlimme Argwohn erschien auch ihm entkräftet. Er sah ein, daß es an der Zeit sei, das Geschehene ein für allemal hinter sich zu werfen. Kein scheeler Seitenblick mehr auf den gefährlichen Abenteurer - es war ja der Hannes, der vor ihm stand, derselbe, nach dem er sich eine ganze Jugend lang gesehnt hatte, den zu besuchen er jahrelang seine Sparbatzen zusammenlegte. Indessen hatte Hans angefangen, sich das Gelaß, das von Ambrosmen benutzte Kanzlei[62]zimmer, näher anzusehen. Es war bald besichtigt: vier kahle Wände mit ihrer groben schreienden Gipstünche waren nur zum kleineren Teile von einigen wurmstichigen alten und unbemalten Tannenholzschäften bedeckt. Einige unter diesen Regalen standen mit dem üblichen Amtsregister voll, andere jedoch und noch die Mehrzahl mit einem Aktenbestand, wie man ihn sonst eher auf den eigentlichen Archiven zu finden pflegt: ehrwürdige, verstaubte Pergamentrollen mit schweren daran herunterpendelnden Insiegeln. Das alles streifte Hieseb mit einem schweifenden Blick, der erst wieder bei Ambrosmen Halt machte.

Diesem wurde etwas wohler zu Mut. Die Wißbegier des Vetters half einer stillen Absicht in ihm auf. Nicht nur der Stolz des gefesteten, seßhaften Mannes gegenüber einem Landfahrer, der nicht hatte, wohin sein Haupt legen, sondern mehr noch die erwünschte Gelegenheit, auf diese Weise den Überrest unliebsamer Erinnerungen los zu werden, hatten es ihm nahe gelegt, Hieseb sein Heimwesen zu zeigen. Er hatte mit einem Blick ihrer beiden Gestalt vergleichsweise überschlagen, und sich zur Genüge davon überzeugt, sein Einfall sei durchzuführen; denn wiewohl Hieseb knochiger und breiter gebaut war als er, glich bei ihm, dem Stubenhocker, eine behäbige Wohlbeleibtheit den Mangel an Statur wieder aus, so daß bei gleicher Größe eine Einkleidung des Gastes aus dem vorhandenen Kleiderbestande schon gewagt werden konnte. Da anzunehmen war, Hieseb werde mit dem zweifarbenem Rocke auch gewissermaßen seinen alten[63]Adam ausziehen, so hatte es Ambrosmen geradezu eilig, die Verwandlung herbeizuführen. Hielt ihn doch die Uniform als letztes hinderndes und vielleicht verräterisches Denkmal davon ab, auf den Hans sein Wohlwollen in dem Maße anzuwenden, als es in ihm vorhanden war. Also öffnete er eine dem allgemeinen Eingang entgegengesetzte Tür, die zunächst auf einen engen Flurraum, von da aus in eine reinliche, aus einer Flucht von drei Zimmern und einer kleinen Küche sich zusammensetzende Behausung hinüberführte. Dann holte er einen Anzug aus dem Schranke. Und von dieser ersten Handreichung an gab sich dann alles weitere gleichsam von selbst. Schon ein Stündchen später, als sie bei Sauerkraut und Geräuchertem um die Lampe saßen, hatte ihre Aussprache Hand und Fuß bekommen. "Was ich im Sinn habe?" stieß Hieseb hervor, "einen Stuhl will ich, um mich zu setzen, einen Fleck, um mich anzubauen." "Wirklich? Bauern willst du hier?" versetzte Ambrosmen in ungläubigem Tone, wobei es dem Sinn nach nichts verschlug, daß er, statt bauen, bauern verstanden hatte, "aber so ohne jeden Anwurf? Und zum Stallknecht bist du dir selbst wohl zu gut?" Während dieser Worte war ein stilles, kinderhaftes Lächeln auf Hiesebs Gesicht geglitten.

Obwohl Ambrosmen noch mehr als einmal darauf zurückkam, ein wie heißer Boden Neuenach für den Flüchtling sei und bleiben werde, so widerstrebte er doch dem Ansinnen des unheimlich herbeigeschneiten Vetters nicht, ihm fürs erste Brot und Unterkunft zu verschaffen, zum mindesten für die Zeit, bis Hans etwas gefun[64] den habe, was ihm zusage. Der auf diese Weise Beschenkte machte nicht viel Aufhebens von dem Anerbieten, ging vielmehr gleich daran, die möglichst beste Verwirklichung seines neuen Daseins auszusinnen und redete seinem Beschützer und sich selber die schönsten Dinge vor; von zur Last fallen, davon sei gar keine Rede, Sämi werde sein Entgegenkommen nicht zu bereuen haben. Die Pflanzplätze, Ackerteile und sonstigen Grundstücke, deren Pflege und teilweise Nutznießung dem Spittelschreiber von Amts wegen zukam und deren Bewirtschaftung er nur mit fremder Hilfe und auch so nur unzureichend besorgen konnte, das alles wollte Hans nun übernehmen und in die Höhe bringen, daß es eine Art habe. Zwei und drei für einen - so wollte er arbeiten. Ambrosmen schüttelte immerzu höchst bedenklich den Kopf. Denn was in aller Welt sollte er, der Spittelschreiber, mit seinem ihm vor die Tür gehagelten Gaste anstellen. Die Ehre blühte ihm ja nun wohl, des Heimatlosen einzige Zuflucht zu sein. Indessen überwog das gute Herz bei Samuel Ambrosmen schließlich die selbstsüchtigen Gefühle. Es fiel ihm nicht ein, sich vor allem nun mit Glimpf aus der Sache zu ziehen und einen unliebsamen Schützling vom Halse zu schaffen. Er war durchaus bereit zu tun, was in seinen Kräften stand. Aber seine Willigkeit zur Hilfe verschaffte ihm den Ausweg noch nicht und völlig ratlos stand er da. Seine unpraktische Schreiberseele sah im Gegenteil die Unmöglichkeiten bergehoch sich auftürmen.

Am andern Morgen, als sie zusammen das Nähere beratschlagten, mit welcher Arbeit Hieseb ein[65]setzen könne, hielt dieser mitten im lebhaften Gespräch plötzlich inne, weil in das graue Licht des Wintertages ein warmer goldener Sonnenstrahl fiel. Er schob die karrierte Gardine zurück und warf einen Blick hinaus. Ambrosmens Wohnzimmer lag im ersten Stockwerk des erhalten gebliebenen Klosterteiles und gewährte unbeschränkte Rundsicht über den See und sein Gelände. Eine unsichtbare Hand zog die Wolken weg. Die Sonne stand noch hintenüber und war selbst nicht zu sehen. Aber sie übergoß alles mit ihrem Golde. Hieseb versank in den Anblick. Was war aber das dort im See, ein Stück Land und dahinter wieder Wasser? "Das ist die Seeau." - "Die Seeau?" - "Ja, die Insel." "Insel?" - "Weißt du denn nicht, was eine Insel ist?" - Was es war, wußte er schon; aber gesehen hatte er noch keine.

Als Hans diesen ersten, unbedachten, rein zufälligen Blick übers Wasser zur Seeau hinübergeworfen hatte, war das Glück dieser Entdeckung etwa dem Eindruck ebenbürtig, den ein erst noch halbwüchsiges Mädchen zu wecken vermag, ein Glück, das aus Erwartung erwächst, aus Teilnahme an einer bevorstehenden Entfaltung. Seine Einstandszeit, da er in der Stellung eines Tagelöhners beim Spittelschreiber sein Dasein fristete, also die ganzen Wintermonate bis ins Frühjahr, beseelte sich durch sein heimliches Hinüberblinzeln, durch die geizigen Blicke, die er der Insel zuwarf. Damals hatte sie befangen dagelegen, stahlgrau umschlossen von der Wasserflut und leise überstreut von einem schüchtern haftenden Anfluge Schnee. Aber unter den Strahlen der Wintersonne schwebte es doch bereits über ihr wie[66]knospendes Lenzverlaugen. Der kräftige Schimmer eines Ziegeldaches, der nicht ganz verblaßte grünliche Schein der Mattenbestände und die lichtverästeten hellbraunen Ränder des laublosen Gehölzes: - ein hoffender, versprechender, und doch entrückter jungfräulich unberührter Anblick! Den behielt er unverwandt vor den Augen, als der Winter strenger wurde und mit seinen Schneemassen die Seeau zu einem kaum noch wahrnehmbaren Streifen über den Wasserspiegel zusammendrückte. Es legte sich sogar eine dünne Eisschicht bis hinüber, die wohl keinen Menschen trug, aber den steifgefrorenen Schnee sich gefallen ließ. Da verging die Seeau vor Hiesebs Blick in der eintönigen, ununterbrochen sich dehnenden weißen Wüste der Seefläche und des dahinter ansteigenden Geländes. Und dann vollends Nebel, daß überhaupt nichts zu sehen war. Dann aber das gliederreckende Frühlingserwachen in feuchten, regenwarmen Taunächten, wenn das Eis sprang und es aus der Ferne heraufgrollte durch die Finsternis. Hans hatte nicht schlafen können, als er das hörte, hatte das Fenster aufgerissen, hatte den Vetter Ambrosmen geweckt wie zu einem plötzlichen Unglück, der hatte ihm sagen müssen, was es war. Und dann hatte er sich unters Fenster gelegt und hinausgelauscht, daß er fast erfror. Mit Grausen dachte er noch lange an die schrecklichen Donnerschläge, an dieses weithinschallende Gekrach, an diese unheimlichen Ruftöne, wie von einem gewaltigen Horn. Er hatte einmal den Uristier blasen hören - das war nichts gewesen dagegen.

[67]

Den ganzen wetterwendischen April hindurch hatte drüben die Seeau kahl gestanden, oft schon unter lockenden Frühlingslichtern. "Will's denn noch nicht blühen," dachte er, dem es in den Gliedern trieb und stieß und saftete. Da eines Morgens früh in der ersten Maiwoche, als er vors Kloster trat, war es erlebt. Wie wenn in der Mitte eines silberblauen Riesenschildes aus rätselhafter Fügung eine überblühte Ackerscholle läge!- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

Die Seeau ist weitaus das umfangreichste Eiland in einem schweizerischen Seebecken. Sie ist nicht berühmt geworden, wie die Ufenau durch den Aufenthalt Huttens oder die Petersinsel durch den Rousseaus. Doch teilt sie mit jenen die Eigenschaft, einer ganzen Umgegend ihre lieblichste Sehenswürdigkeit zu bilden und wird nicht allein vom Landvolk, sondern gern auch von fernabwohnenden Stadtleuten besucht. Dabei handelt es sich nicht nur um neumodische Lustfahrten; Uberreste uralter Volksgewohnheit haben sich, des ur sprünglichen Ernstes entkleidet, als harmlose Belustigungen fortgepflanzt, nur noch durch die Stätigkeit alljährlicher Wiederkehr und durch turnerische Wettspiele an ihr ehrwürdiges Herkommen gemahnend. Vielleicht sind heidnische Frühlingsopfer die erste Veranlassung zu diesen regelmäßigen Zusammenkünften gewesen. Wasser einigt, und so mögen denn schon die geschichtsfernen Uranwohner der beiden Uferränder sich mit formlosen Einbäumen auf der Seeau Stelldichein gegeben haben, wär es auch nur gewesen, um sich[68]gegenseitig zu verspeisen. Selbst die hintersten Anfänge menschlicher Kunst knüpfen noch an irgend eine Handhabe an. Der Sturm knickt den Eichbaum. Ratlos sieht der Mensch ihn daliegen. Da sagt der Baum zum Menschen: "Höhl' mich aus, so hast du einen Nachen und kannst auf dem Wasser schwimmen." "Auf dem Wasser schwimmen möcht' ich wohl," denkt der Mensch, "aber wie soll ich den Stamm höhlen?" Da gewahrt er unter den Steinen, die am Ufer liegen, einen, der hat ein dickes, stumpfes Ende, gerade recht, die Faust darum zu schließen, aber nach vorn wird der Stein flach und breit und läuft in einen scharfen Rand aus. Und als der Mensch den Stein eine Zeitlang angestarrt hat, sagt dieser plötzlich zu ihm: "Nimm mich doch zur Axt, dann will ich dir das Holz ausschneiden." So kam der Mensch zu einer Axt und durch die Axt zu einem Nachen.

Aber sind denn Werkzeuge das Letzte, Höchste? Der schwarze hohe sechsflächige Fels, der mitten im Gehölz der Seeau lag - daß es ein Findling war, ein granitener, zurückgelassener Zeuge der Eiszeit mitten in Kalk und Nagelfluh, das hatten jene Urbauern natürlich nicht gewußt. Und doch fuhren sie alljährlich im Mai hinüber und nahmen ihn zu ihrem Göttertisch, ließen das Blut eines jungen Stieres durch seine Rinne laufen, stellten über ihm ihre Bierkufe auf und tranken Wodans und Freyas Minne. Bis eines Tages ein fremdbemanntes Boot zwischen ihren Kähnen anlegte. Es brachte keine Feinde; nur den holzgeschnitzten Gott schlugen sie in Stücke und stellten andere Bilder auf. Der Legende zufolge hieß der Gottesbote des[69] Seegeländes Sankt Leugelt. Uber seinem Grab auf der Seeau erhob sich das älteste und jahrhundertelang einzige Heiligtum der Gegend. Die nämliche Kapelle, die noch heute mit ihrem allerdings neuern Ziegeldach durchs Land leuchtet. Hierher zogen sie von überall zur Messe, und das ganze Mittelalter hindurch stand diese Wallfahrt unter großem Zuspruch in Blüte. Nur daß dann bei der wachsenden Besiedelung der Ufer das Tochterkloster in Neuenach der Inselheimat bald über den Kopf wuchs und dieses sich noch so gern unter dessen Botmäßigkeit begab, wie eine verständige Mutter, die froh ist, nun die andern machen zu lassen.

Seit der Verwandelung des geistlichen Stiftes in eine gemeinnützige Anstalt bildete die Seeau das ansehnlichste Besitztum des Spitalgutes und als solches auch das eigentliche Kleinod seeauf und ⸗-ab, auf das man hüben stolz und drüben neidisch war. Ihre Pacht stand hoch im Preise und galt auch so noch als Vergünstigung, da sie niemals nur dem ersten besten Liebhaber, sondern nur einem wirklich verdienten und bewährten Manne zugeschlagen wurde. Dieser Pächter hatte den einen großen Tag im Jahr, den Leugeltstag, der auf Anfang Mai fiel und, wiewohl seiner kirchlichen Bedeutung verlustig, noch durchaus im Maßstab der einst hier geübten Volksmesse begangen wurde. Der erschwerten Zufuhr übers Wasser wegen kam es nie zu einem eigentlichen Jahrmarkt; doch fehlte es nicht gänzlich an Kaufbuden und immer standen auch etliche schöne Haupt Vieh feil, meistens aus den Ställen des Pächters selbst. Seit unvordenklichen[70] Zeiten spielte sich das Fest in zwei Schaustellungen ab: einem Eierlaufen in der langen Allee, die sich von der Kapelle zum Pachthause hinzog, und einem Wettschwingen auf der Waldwiese um den Heidenstein. Der erratische Block, der einen sanften Hügel krönte, bildete die natürliche Kanzel für ein Preisgericht.- - - - - - - - - - - - - - - - -

Die ältesten Leute vermochten sich nicht an einen klareren, schöneren Leugeltstag zu erinnern; selten sah man den See schon früh morgens mit so viel Booten und Kähnen bevölkert. Neuenach war bereits am Vormittag fast vollzählig ausgeflogen. Ein Ruderschiff lag noch an der Lände. Hans Hieseb hatte es losgekettet und hielt es fest. Erst stieg Pfarrer Sandhuber ein, dann Zumbühl, dann der Doktor, dann Ambrosmen. Das war, was man so die Ehrenfuhr hätte nennen können. Hans kniete auf den Kiel ab und versetzte mit dem freien Bein dem Ufer einen kräftigen Fußtritt. Der Doktor ruderte für sein Leben gern; er hatte schon den Rock ausgezogen und die Griffe in beiden Händen. Er wendete mit einem Schlage und hielt geradeaus auf die Seeau. Der leise fröhliche Stimmentrubel rückte näher. Ambrosmen saß zusammen mit seinem Schützling und Vetter auf einer Querbank; auf der andern, ihnen zugekehrt, Zumbühl und der Pfarrer. Sandhuber nickte den beiden zu: "Heuer sieht aber der Spittelgarten anders drein wie andere Jahre." Ambrosmen, dem das Kompliment zwar nicht im letzten Grunde zugedacht war, der aber doch als der rechtmäßig Befugte sich geschmeichelt fühlen durfte, lächelte etwas und errötete[71] sanft. Der Vetter Hans hatte nicht etwa nur großmäulig getan, sondern Wort gehalten - sapperlot, ja! War es zu glauben, was er von früh bis spät zusammenwirtschaftete? Das ging alles wie von der Peitsche geknallt. Und wohlverstanden war das nicht etwa die private Einbildung des glücklichen Spittelschreibers. Sein sich mehrender Wohlstand kam herum; man sprach von ihm. Er, der kleine unscheinbare Schreiber, war im Munde der Leute. Sogar Herrschaften wie der Amtsstatthalter, die sich früher nicht gerührt hatten, wenn er vor ihnen an die Mütze griff, redeten ihn nun aus freien Stücken an, so landbekannt war sein Glück geworden. Und was erst seinesgleichen waren, Kameraden, Nachbarn, ja du liebe Zeit! Die beneideten ihn offenkundig, mit oder ohne Mißgunst, je nachdem es ihnen gegeben war.

Der Spittelschreiber hätte nun aber nicht der gute Kerl sein müssen, als der er galt und der er auch wirklich war, wenn er seinem findigen Werkmeister nicht die ganze Gerechtigkeit hätte widerfahren lassen, die diesem gebührte. Jedenfalls beugte seine Gutherzigkeit und rührende Mitfreude jedem Zwiespalt vor, zu dem sonst das leidenschaftliche, zufahrerische, unberechenbare Wesen der andern reichlichen Anlaß geboten hätte. Auch jetzt besann er sich nicht lange, den nun sogar vom Pfarrer ihm gespendeten Beifall an den rechtmäßigen Empfänger weiter zu geben. Er stieß dem neben ihm sitzenden Vetter sachte den Ellenbogen zwischen die Rippen. "Da hast du's jetzt wieder."

Zumbühl, der auf der Bank neben dem Pfarrer[72]Platz genommen hatte, konnte nun seine im Stillen unverdrossen Hieseb zugewendete Teilnahme der letzten Monate an den Mann bringen. Ohne etwas merken zu lassen, hatte er doch all die Zeit über ihn nie aus den Augen verloren und nicht ohne freudige Verwunderung sich zusehends eingestehen müssen, Hieseb strafe alle Zweifler Lügen. Ohne alles drum und dran nahm er nun das vom Pfarrer mit einiger Salbung gespendete Lob in seiner trockenen Herzlichkeit auf, indem er zunächst Hiesebs Oberschenkel einen schallenden Schlag mit der flachen Hand versetzte. "Jawohl ist der Hannes ein Herrgottsdonner!"

Die Rede tat Hieseb wohl. Das war so die Sprache der kräftigen Leute, auch seine, sobald er kein Blatt vor den Mund zu nehmen brauchte. Und nun gar ein Lob von dieser Seite konnte nicht anders als ihn ordentlich aufregen. Unsicher erwiderte er: "Ach, das sagen Sie jetzt so, Herr Friedensrichter." "Nichts da!" reklamierte Zumbühl, "ich sage das so, weil es so ist. Verstanden? Ihr seid ein leistungsfähiger junger Mann, und wer die Spittelwirtschaft vorher gesehen hat und jetzt - nichts für ungut, Sämi!"

Ambrosmen schüttelte behaglich den Kopf. "Das zwickt mich nicht," machte er, "das kommt alles nur auf den Knecht an, den man hat. Und so hatte ich früher eben einen schlechten und jetzt einen guten." Zumbühl erging sich nun in der ernsthaften Begründung seines Lobspruches. Er sei doch gewiß nicht von denen, die immer gleich das Blaue vom Himmel herunterrühmten. Im Gegenteil. "Aber, dem Verdienst seine[73]Krone. Was der Meisterknecht im Spittel allein bezwungen hat, ist Arbeit für vier. O, ich hab' Euch beobachtet, Hieseb, beim Zuackerfahren, beim Eggen, beim Dreschen - Ihr versteht das Bauern aus dem ff!"

Es zuckte in Hiesebs Gesicht. Die innere Bewegung übernahm ihn. Jetzt gar, wo seiner Begabung zum Landwirt Anerkennung gezollt wurde, hielt es ihn nicht länger. Wie sollte er jemals Bauer werden können, er, der so allein stand, ohne Mittel und Aussichten? Seine Kehle schnürte sich ihm zusammen. Er wollte reden und konnte nicht. Zumbühl wies ihn unwirsch zurecht. "Was sind nun das wieder für Mucken? Kopf hoch, sag' ich - und nicht immer dran denken!" Hieseb schluckte den Anfall hinunter. Unterdessen war auch Sandhuber innerlich mit seinem Zuspruch zu Gang gekommen. "Nein, guter Freund," sagte er zögernd in freundlicher Verlegenheit, "der dreiundzwanzigste Wintermonat hat eine Friedenspalme geschwungen und nicht wie Ihr fürchtet, ein Damoklesschwert über Euch aufgehängt."

Und in dem begründeten Zweifel an der Verständlichkeit namentlich dieses zweiten Gleichnisses schickte er sich an, die Bewandtnis, die es damit hatte, Hieseb des nähern zu erläutern, auch in der Hoffnung, durch eine derartige Nebensache abzulenken. Also: Damokles war nämlich der Günstling eines Fürsten - wie hieß er doch gleich - und so weiter - und dann also die Geschichte mit dem Pferdehaar, an dem das nackte Schwert von der Decke herab hing.

Statt sich aber, wie es beabsichtigt war, zerstreuen[74]zu lassen, fand vielmehr Hieseb seine Lage nur veranschaulicht. "Ja," rief er aus, "genau das. Immer dieses eine über mir." Und nun leuchtete mit einemmal sein Auge auf, genau so hell, als sei er wieder beim Umgraben und habe eben den Spaten tief bis an den Rand in widerspenstige Erde hineingetreten.

"Sie müssen nun aber nicht glauben, Herr Pfarrer, daß es mir angst macht, und Ihr auch nicht, Herr Friedensrichter, dem Sämi hab' ich's schon mehr wie einmal gesagt, gerade das ist es, was Mut und Kraft in mir verdreifacht. Was für ein Säbel, sagtet Ihr, daß das sei?" Aber Sandhuber lächelte erleichtert: "Ich werde mich hüten, Euch das zu sagen, sonst sinnt Ihr wieder nach und hintersinnt Euch noch.

Der Doktor hielt inne mit Rudern und tat, als müsse er veratmen. Eine mäßige Fracht von vier, fünf Leuten eine Strecke weit zu rudern, just etwa so die Uberfahrt nach der Seeau, war ihm ein Hauptvergnügen. Weil die Bewegung der Gesundheit zuträglich war, - einmal darum, dann des schönen Gefühls wegen, andere zu treiben und zu steuern und ein bißchen Kapitän zu sein ohne weitere Gefahr oder Verantwortung. Auch Maschine spielte er gern: immer so eins, zwei, eins, zwei, Fuß vor, Fuß zurück, Standbein und Spielbein, dazu jedesmal der Ruck den Arm entlang und der Gegenstoß hinten im Kreuz - so oft sich der vorgebeugte Körper zum endlichen Druck auf die Griffe legte und hinten die durchgepreßten Ruderflächen aus dem Wasser aufschnellten, um alsbald zum neuen Einsatz die krause Welle eben noch kitzelnd, blitzschnell[75]wieder nach vorn zu streichen. Und als hätte man es mit einem lebendigen, mutvoll erregten Wesen zu tun, tanzte und sprang das Schiff, nur gezwungen der zügelnden Führung folgsam, fuhr mit seinem flachen, kiellosen Vorderende, wie mit einem aufgeklafften Kiefer auf Beute los und schalt gesprächig mit der an ihm aufgischtenden Flut um raschern Durchlaß. Jetzt hatte der Doktor die Ruder hochgezogen. Es träufelte ihnen entlang ins Wasser. Das Schiff beruhigte sich und schlug, gleichsam in selteneren, tiefergeholten Atemzügen, weniger oft und weniger hart mehr auf. Dafür stellte sich ein neckisches Glucksen und Gurgeln ein.

Immer schöner entfaltete sich bei der Annäherung die Seeau mit ihren gebuchteten Rändern und dem verschämten, lieblichen Grün des Blätter⸗Ausschlages im Maien; hier und da stand auch schon ein Obstbaum in Blüte. Ein Schleier hing in der zarten Landschaft. Alles stellte sich duftig dar, zumal viele Mädchen und Kinder in hellen Kleidern sich dem Ufer entlang bewegten. Auch erschallte der anmutig verworrene Stimmenjubel immer noch gedämpft, aus jugendlichen Rufen und Gesängen sich ineinandermengend, und durch die Töne eines Hornes, das ein Musikant probierte, zusammengehalten, wie der Blütenflor durch seine Aste. Darunterhin vernahm man auch bereits eine vereinzelte tiefe Mannesstimme - natürlich Fägschmied, der, ohne besonders befehlshaberische Veranlassung, einfach sich unterhielt. Indessen fand am Ufer unversehens eine rasche Ansammlung statt, und die daselbst sichtbar wachsende Menge nützte die in der Bodenbeschaffenheit ge[76]botenen Vorsprünge und Auslugpunkte in der Weise aus, daß die nordwestliche Rundung der Insel von der allgemeinen Aufmerksamkeit beherrscht wurde. Die fünf im Schiff, für den ungehinderten Blick weit besser dran, als die am Lande, hatten längst eingesehen, warum ihr Fährmann Halt machte, und verfolgten gespannt den Lauf eines kleinen Nachens, der in der Gewalt eines einzigen Ruderers mit ungewöhnlicher Schnelligkeit einhertrieb. Auch wer weiter nichts wußte, sah, es handelte sich um einen Wettkampf.

Das Eierlesen bedeutet eine noch ziemlich ursprüngliche Form volkstümlicher Spiele. Während einer der beiden einige Dutzend Eier, die in Abständen eine Reihe lang hingelegt werden, eins ums andere nach einer bestimmten Ablieferungsstelle zu tragen hat, soll der andere eine so und so bemessene Strecke im Umkreis zurücklegen. Geschieht dies nun auf einem beliebigen Dorfe, so gelangt die Wette ohne großen Reiz zum Austrag: ein protziger Bauernbursch trottet dann eben auf seinem grasbäuchigen, mit Bändern behängten Fuhrgaul einige Landstraßen ab, womöglich nicht ohne bei jedem Wirtshaus noch einen Schoppen zu nehmen, und dadurch zu zeigen, wie wenig es ihm ausmache, die Wette zu verlieren. Auf der Seeau dagegen tragen die Umstände von sich aus zu einer spannenderen Ausgestaltung bei. Entweder es wirft sich in dem durch einen Böllerschuß drüben verkündeten Augenblick an der Neuenachener Schifflände der eine in den See und schwimmt hinüber - doch verhindert meistens die frühe Jahreszeit ein so lang dauerndes kaltes Bad - oder die Insel[77]muß im Kreise umrudert werden. Altem Herkommen zufolge sind nach genauen Proben Eierzahl und Abstände so berechnet, daß ein Sieg des rudernden Teils ohne wirkliche Kunstfertigkeit nicht denkbar ist; umschifft er das Eiland behutsam in weitem Bogen, so reicht die ihm gewährte Spanne Zeit längst nicht aus. Nur wer als wirklicher Kenner der kleinen, aber mit ihren Untiefen und Felsstümpfen heimtückischen Küste jede Fährlichkeit an Ort und Stelle zu vermeiden weiß und eben weiß, wo bei dem Binsendickicht noch am besten durchzukommen sein wird, kann den Lauf knapp genug dem Ufer entlang nehmen. Andere als geübte und kundige Schiffer mögen es von vornherein lieber lassen; denn auch unter den Berufenen pflegt nur selten einer den Preis davon zu tragen.

Der Wettfahrer war nun ungefähr auf gleicher Höhe mit dem Ruderboot der fünf Ausflügler angelangt und als Fritz Wegmann zu erkennen. Er wich in seiner Hantierung von der üblichen Art zu rudern ab. Statt mächtig auszufallen und für jeden Stoß seine ganze Kraft einzusetzen, ging Wegmann haushälterisch zu Werk - kurze straffe Schläge rasch hintereinander, eigensinnig zäh und unfehlbar regelmäßig wie ein Uhrwerk. Der Doktor beobachtete ihn entzückt. "Er hat recht, der Lecker, ganz recht! So erhält man das Schiff am besten im Schuß." Die Menge am Ufer belebte sich. Der Ruderer rückte in ihr Gesichtsfeld vor. Er näherte sich dem Ziele. Noch knallte kein Böller; das letzte Ei in der Allee war noch nicht aufgelesen. "Streck' dich brav, Fritz," erscholl es deut[78]lich vom Ufer. "Nimm den Blinden!" rief ein Spaßvogel. Man scheute sich aber zu lachen und hielt unwillkürlich den Atem an. Zwanzig Schritt -zehn - fünf - drei - jetzt - jetzt schoß er durchs Ziel. "Er ist ein ganzer Sakermenter," sagte der Doktor, als der Jubel ausbrach, der Böller krachte und die Musikanten loslegten. Dabei griff er die Ruder wieder auf, die den Rändern entlang ins Wasser hinein hingen, um auch sein Boot der Insellände zuzuführen.

Als Wegmann die Ehrungen des Sieges überstanden hatte, setzten sich er und einige Kameraden in eine unbenützt gebliebene Marktbude auf das leere Ladenbrett, schwangen ihre Beine unter dem Sitz hin und her durch die Luft und trällerten dazu im Takte: "Wollt ihr böse Buben kaufen, hier sind böse Buben feil." Dazwischen schnellte Wegmann einen von seinen Jauchzern in die Luft, einen von den bessern, wie er hinterher selbst sagte, und niemand unter den andern tat es ihm nach; heute mußte Fritz sozusagen sein Vorrecht haben. Lachend schlenderten Spaziergänger aller Gattung die Allee auf und nieder, ohne indessen weitere Gegenbeachtung zu finden, bis eine Kette, gebildet von Neuenachener Dorfschönen, eine die andere unterfassend, kichernd und nicht ohne zu zögern an der merkwürdigen Kaufbude vorüberplänkelte - vor ihnen her Ursula Kleinhannes, Arm in Arm mit einer breitschulterigen Bauerntochter, die sich jedoch städtisch trug. Diese hieß einmal ihrem Namen nach wirklich Brunner, außerdem nannte man ihren[79]Vater nur den Warmbacher, nach einer Sommer und Winter stets gleichmäßig kühlen Quelle, die auf einem seiner vielen Grundstücke entsprang. Ihrem Außern nach war Marei ein Mittelding von Bäuerin und städtischem Wesen; das heißt, sie wollte sich städtisch tragen und verriet sich gerade dabei als Bäuerin: Knallrotes Halstuch, blitzblaues Kleid und einen Krautgarten von Hut. Auch war sie nicht gerade die angenehmste, sondern stellte das dar, was man im Land herum ein Reibeisen nennt. Aber wer sich entschließen konnte, diese Barschheit in Kauf zu nehmen - sie war des Warmbachers einziges Kind. Und der einst zu erbende Hof stieß an den kümmerlichen Pflanzplatz hinter dem "Schifflein". Da ließe sich dann eine Sommerwirtschaft mit Kegelbahn anlegen, daß der im "Kreuz" oben einpacken konnte! Fägschmieds Fettherz war also für Marei in Liebe entzündet. Wegmann, in diesen Plänen sein Nebenbuhler, ging hierin weniger berechnend zu Werke: er hatte in der Schule und in der Unterweisung immer hinter ihr gesessen; hatte sie heimlich angestoßen oder ihr zugeflüstert; als Fortsetzung davon gab sich das andere. Schifflein-Kaspar oder Schifferfritz - diese Wahl erörterte sie in der Annahme, Ursula werde dann den andern heiraten, und war großmütig bereit, die Wünsche der Ursel gebührend zu berücksichtigen. Marei selbst äußerte eine unverkennbare Vorliebe für Fägschmied. Ursel lachte und tat dann verlegen. Marei wollte wissen warum. Endlich rückte Ursel heraus: "Ach, es ist ja nichts." - "Doch freilich." - "Nun dann, unser Franz" - "Hat es[80]der Franz erzählt?" - "Ja, er mußte letzthin zum Kaspar, früh morgens, als der noch nicht ausgeschlafen hatte - "denk wohl, der Geschichte wegen, die ihm der Sonderbündler ausgebracht hat und der Kaspar lag natürlich noch im Bett" - "Ja und"- "Was und?" - "Er konnte nicht vertönen, der Franz. Er habe genug zu tun gehabt nur mit dem Hingucken, - sei ihm aber das ein Bett voll gewesen -" und Ursel stockte und war rot geworden. Aber Marei lachte ungeniert der Nase nach und stand zu ihrem Geschmacke "Da wär' eins dumm. Gerad' das gefällt mir gar wohl an ihm, daß es so ein kugelrunder ist, als hätte man Strumpfwolle an ihm aufgewunden. Daran sieht man doch, ob einer etwas zuzusetzen hat. Schneider und Tagelöhner haben gut spinnenmager bleiben. Woher nehmen und nicht stehlen? Aber so ein herzhafter Wirt - das muß Appetit machen nur schon vom Aussehen." Im Wortwechsel mit Knechten und Mägden hatte sich ihre derbe Stimme längst so weit entwickelt, daß das Gelächter, das sie nun anschlug, mit jeder Mannsstimme an Schallkraft wetteiferte. Fägschmied, der unversehens hinter einer der Buden hervortretend ihnen in die Quere lief, ahmte alsbald dieses Lachen ins Komische übertrieben nach und erreichte damit einfacher als mit den üblichen Stichelreden den Anschluß, um den ihm zu tun war.

Bald begegneten ihnen unter den Auf⸗ und Niederschlendernden Hieseb und sein Vetter Ambrosmen. Kaum hatte man die recht im Nücken, so legte Fägschmied los. Er verkörperte den Haß, der in Neuenach[81]noch gegen Hieseb bestehen mochte: einmal als eifersüchtiger Wächter des einheimischen Bewußtseins gegenüber allem Fremden und dann aus guten Gründen persönlicher Art; denn durch Hieseb war ihm sein Privatstreich dann eben doch noch ausgekommen. Auch jetzt versäumte Marei nicht, ihn damit aufzuziehen und freute sich über Fägschmieds Arger. Nachdem er ihre Neckereien eine Weile lang stumm schnaubend hingenommen hatte, fuhr er dazwischen: "Es muß nun ein für allemal ausgemacht werden, wie man es dem Burschen gegenüber zu halten hat. Ich will weiter nicht kleinlich sein und ihm alte Sachen vorrücken. Das ist meinetwegen erledigt und abgetan. Ich sage nur: bei uns ist es recht so, wie es ist. Ein Fremder ist es anders gewöhnt, und wenn wir dem auch nur einen Fuß breit Raum geben, so macht er uns Wust in die Milch, ihr werdet es schon sehen. Darum sag' ich, der ich es immer gut gemeint habe mit Neuenach: Hinaus mit dem Hieseb, je bälder, desto besser." Da kam er aber übel an bei den Mädchen. Marei legte sich scharf ins Mittel und ereiferte sich: über einen Leisten mit den andern durfte der nicht geschlagen werden. Soviel war jedenfalls sicher. Er war unter Umständen nach Neuenach gekommen, die es ihm unmöglich machten, auch nur einen Tag hier zu bleiben. Und nun hatte er es fertig gebracht und war doch geblieben - wie die Dinge lagen, das reine Wunder! Ein Selbstvertrauen ohnegleichen, aber auch eine unerhörte Herausforderung! Wie durfte er nur! Die erste Zeit war Hans seines Lebens nicht sicher gewesen. Das ent[82]artete öffentliche Gewissen, das sich in dem nächtlichen Treiben jugendlicher Rotten auf den Dörfern zu betätigen pflegt, ließ es bei dem Freispruch der Behörden mit nichten sein Bewenden haben, sondern nahm noch so gern die Gelegenheit wahr, unter einem guten Vorwand ihrer Willkür zum Regiment zu verhelfen. Mehr als einmal war Hieseb ihren Nachstellungen zum Opfer gefallen und einmal mit blutendem Kopf ohnmächtig aufgefunden worden. Das war. ganz in der ersten Zeit gewesen, noch vor Weihnachten. Aber dieser rohe überfall hatte so sehr die Abschen aller gutgesinnten Elemente erweckt, auch derer, die dem Hieseb eine maßvolle Züchtigung sonst wohl gegönnt hätten, daß von da an eine feindselige Außerung gegen ihn verpönt war. Damit wurde Hieseb selbst zum Schmied seines Glückes. Es kam nun auf ihn allein an. Gegner hatte er anständigerweise nicht mehr zu fürchten. Aber bis er auf Freunde zählen konnte, galt es, erst noch das Seine tun. Mit der Möglichkeit, meuchlings weitere Prügel einzuheimsen, mußte er immerhin rechnen; dennoch zog er vor, sein Bündel nicht zu schnüren. Wer aber daraus folgerte, er würde nun Schritte zur Annäherung unternehmen, sah sich getäuscht. Hieseb lebte den ganzen Winter ohne sich irgendwo sehen zu lassen, ausschließlich seiner Arbeit; die Abende verbrachte er mit dem Vetter Ambrosmen zusammen, Sonntags gingen die beiden einträchtig eine Kehrweit über Land. Aber nie hatte er in der Zeit auch nur ein Wirtshaus betreten. Heute mit der Teilnahme am Leugeltsfest stattete er den Neuenachern sozusagen seinen Antrittsbesuch ab,[83]und es kam nun darauf an, wie es erwidert wurde. Doch wenn man an einem Tag im Jahr entgegenkommend gestimmt war, so heut.

Fägschmied verhehlte sich diese seinem geheimen Feinde eher günstige Gesinnung der Dorfschaft keineswegs und so etwas Unverzeihliches hatte der ihm schließlich auch nicht zu Leide getan, als daß er sich nicht der allgemeinen Stimmung zur Not anbequemen wollte. Marei Brunner suchte, unter gelegentlichem bescheidenen Beistande der Ursel, einzufädeln: Hieseb solle von jetzt ab für wirtshaus⸗, tanz⸗ und kiltfähig gelten. Als sie nun über diesem Gespräch wieder an der Marktbude mit den "bösen Buben" vorüberkamen, wurden sie von dorther angerufen und es stellte sich heraus, daß man allda ebenfalls über Hiesebs Zulässigkeit gewerweißt hatte, zumal der Fragliche an der Seite des Spittelschreibers sich mitten unter dem Volk herumtrieb und durch seinen Anblick eine Verhandlung seiner Person unentwegt herausforderte.

Wegmann weihte die Herzutretenden ein: man sei bereit, Hieseb den Umgang nicht zu verwehren, nur müsse man ihm Gelegenheit geben, sich erst einzuführen, wie es sich gehöre; er sehe zwar aus, als wisse er seinen Mann zu stellen; aber ein paar Griffe solle man ihn doch noch tun sehen: Was nun Kaspar dazu meine, mit dem Hieseb auszuschwingen. Marei klatschte in die Hände und tat, als gälte es ein paar junge Hunde gegeneinander zu hetzen. Fägschmied lachte gutmütig und zuckte mit den Achseln. Was konnte er dagegen haben! Ein bewährter oft gekrönter Kraftturner, war[84]er in letzter Zeit etwas zu bequem geworden, um sich ohne Not in den Anstrengungen des Hosenlupfs noch gänzlich um seinen so wie so schon verkürzten Atem zu bringen. Aber einmal ausnahmsweise, der Ubung wegen, warum nicht? Flinker als er mochte ein anderer sein, aber in seinem Stand, wenn er sich einmal regelrecht aufgepflanzt, hatte ihn nicht so bald einer zu Fall gebracht. Noch erwog er seine Zusage, da ertönte aus dem Gehölz ein Hornsignal, das Zeichen zum Beginn des Wettringens. Selbstverständlich handelte es sich bei dem Vorschlage nicht um die Teilnahme am eigentlichen Kranzschwingen, sondern um die nachträglichen harmloseren Kraftproben, in denen mehr bloß die Liebhaber sich zu messen pflegten. Es war also alle Zeit, Hieseb noch zu verständigen, vorausgesetzt, daß er gewillt war, sich auf diese Weise einzukaufen. Er wurde angefragt und erklärte sich ohne weiteres einverstanden.

Als er dann einige Zeit später die Schwinghosen übergezogen und nach dem üblichen Händedruck seinem kolossalen Gegner messend ins Auge sah, da war die zahlreiche Zuschauerschaft auf dem Heidestein und der Waldwiese entlang angespannter beteiligt als selbst bei den eigentlichen Ringerpaaren, die doch über Sieg oder Niederlage der einzelnen Dörfer entschieden. Einmal freute man sich, einem alten Schwingerveteranen, wie Fägschmied, wieder zu begegnen und nun gar im Kampf mit einem Neuling, von dem man nichts wußte, den man kaum jemals sah, und der doch schon gewaltig von sich hatte reden machen. Ein dreimaliger Gang erledigte[85] die Angelegenheit, ohne den einen dem andern beschämend unterzuordnen. Erst ließ sich Fägschmied, der in der Tat nicht mehr recht in der Ubung sein mochte, ein Bein stellen - eine Finte, die erlaubt war - und fiel, nicht mehr gewandt genug, sich umzudrehen, flach auf den Rücken, daß es nur so dröhnte. Die Niederlage hätte gegen Hieseb eine schädliche Mißgunst wecken können. Aber Fägschmied sah sich das zweite Mal vor und brachte Hieseb ins Gedränge und dann auch zu Fall. Als es dann zum Austrag kam, gewann keiner von beiden, sondern Hieseb, der den Kopf zwischen Fägschmieds Beine rammte, vermochte ihn zwar um das Gleichgewicht zu bringen, wurde aber zugleich selbst niedergedrückt. Die Rücken nach oben, lagen sie übereinander. Der ehrenvolle und doch unentschiedene Ausgang bot die beste Lösung, die man mit der Veranstaltung dieses Wettkampfes hatte bezwecken können: der Fremde hatte bestanden, ohne sich einer Uberhebung schuldig gemacht zu haben.

Fägschmied zeigte sich nicht einmal unfreundlich, daß Hans ihm gewachsen war, denn soviel war an seiner eigenen Kunst doch daran, um einen ebenbürtigen Gegner zu schätzen. "Ja, ja, ihr in den Ländern oben versteht euch aufs Schwingen," sagte er zu Hieseb und reichte ihm der Sitte gemäß als älterer die Hand. Desgleichen kamen einige andere auf diesen zu, obgleich sie dem Händedruck weiter kein Wort beifügten. Schließlich faßte ihn Fritz Wegmann fröhlich beim Arm und zog ihn mit sich auf die Mädchenschar zu, an deren Spitze wiederum die Marei mit der Ursula stand. Und indem er[86] nun die Marei als seinen Schatz mir nichts dir nichts um die Hüfte faßte, schob er deren Gefährtin dem Hieseb zu und meinte lustig: "So nun sollst du auch eins von unsern Mädchen schwingen." Weder Wegmann selbst, noch wer sonst eben zusah, überdachte in diesem Augenblick, was für zwei auf diese Weise zum Paare verbunden wurden; die Musik blies zum Tanzen auf. Nach langer Entsagung war Hieseb wieder so weit, ein Mädchen auf den Tanzboden zu führen.

Der Abend begann die Waldwiese in sachte Dunkelheit zu hüllen. Es wurde kühler. An der Estrade der Blechmusik waren zwei lodernde Pechfackeln aufgesteckt, die scheuchten die Finsternis in die Gebüsche und Baumkronen zurück. Und die Paare drehten sich und drückten sich, und vergaßen, daß es kühl wurde. In einer Pause zog Hieseb seine Tänzerin aus dem Gewühl ins Freie und sie gelangten, sich immer noch sachte an der Hand haltend, hinter den Heidestein, wo das Wäldchen sich lichtete und einen Durchblick über das westliche Ende der Insel hinweg nach der soeben untergehenden Sonne gewährte. Das junge Laub, das in der vergangenen Woche erst entsprossen und nun purpurn durchschienen war, glühte in seiner Zartheit auf, wie eine eben erst geküßte Mädchenwange.

Hans kehrte sich Ursula zu. Sie starrte mitten in die Glut, dennoch bleich sogar in der brennenden Röte. "Bist müd'?" fragte er besorgt. Sie lächelte mühsam. Nein, Müdigkeit war es nicht. Es war das Ubermaß der Aufregung: die Freude am Tanzen, und das Bewußtsein, mit wem sie zusammen war. Denn sie[87] kannte ihn vom Sehen schon lange, länger als irgend jemand im Dorf, erst nur von weitem, dann im flüchtigen Begegnen mehr aus der Nähe am Brunnen oder sonst wo. Die andern Mädchen hatten ihn dann wohl angesprochen und es mit kurzen Neckrufen versucht, er blieb ernst und unzugänglich ohne je ein anderes Wort, als den kargen Gruß. Und nun - heute, als er mit den Vornehmen von Neuenach, dem Pfarrer, dem Doktor, dem Friedensrichter in einem und demselben Schiff herübergefahren kam, als er mit dem Spittelschreiber der Allee entlang strich hinter ihnen her, genau wie ein anderer Bursch auch, als er dann gar dem dicken Fägschmied standhielt und ihn bei einem Haar noch den Meister gezeigt hätte!

In Hieseb stieg eine Ahnung auf, aber nur eine unklare; er fürchtete, das Mädchen fühle sich nicht wohl bei einem wie er. "Willst nicht mehr mit mir tanzen?" fragte er hastig. "Wohl freilich," meinte sie, aber sie sagte es mit geschlossenen Augen und tonlos. "Sonst sag's nur, wenn du mit einem andern lieber magst." - Ursula wehrte mit einer leisen Kopfbewegung ab. "Hab' lang' nicht getanzt," fuhr er fort. "Bin auch wohl steif, weil mich der Schiffleinwirt so jäh gestreckt hat, s zweite Mal, der kann's." - "Du mein' ich auch." - "Hm, 's passiert. Mögen hab' ich ihn nicht." - "Er hat dir doch nicht weh gemacht?" - "Nicht präzis. Ich hab' es noch im Kreuz, vom Stemmen. Er ist ein gar schauderhafter Bitz." Ursula mußte lachen. Hieseb freute sich darüber und bestätigte fragend: "Oder etwa nicht?"[88]Der Bann war gebrochen. Er hätte nun gern näheres von ihr gewußt. "Kommt ihr hiezuland manchmal zum Tanzen?" sondierte er. "Ja, schon. Ich bin aber an Dreikönigen und an Fastnacht nicht gewesen. Ich war im Leid." - "So. Ist dir wer gestorben?" - Er fragte ahnungslos. - "Der - mein -" Sie stockte und sah zur Seite. Die Sonne berührte mit dem Rande den Horizont und konnte eben noch den vollen Schattenriß von Ursulas Profil auf die graue jetzt aber überglühte Fläche des Riesenfindlings werfen, vor dem sie standen. Deutlich war ein schwarzes Halbmöndchen auf den brennenden Grund gezeichnet.

Hans Hieseb kannte die Ursel wohl vom Ansehen, sie hatte ihm schon in die Augen gestochen in jener ersten Stunde, als sie, den Wasserzuber auf dem Kopf, an ihm vorübergegangen war, in der Ruchgasse. Wer sie jedoch war, wußte er tatsächlich nicht. Dunkel tauchte der Schrecken in ihm auf. Er ließ aber nicht locker. "Weißt du, wer ich bin?" - "Ja, der Sonderbündler, wer sonst?" - "Und du? Bist du -" Dann murmelte er sich selbst dazwischen: "Es wird etwa nicht sein?" "Hannes! Hannes!" unterbrach jetzt Ambrosmens Stimme das Verhör. Ursula entfloh durch das Gebüsch. Hieseb drückte sich in den Schatten des Felsens. Ambrosmen jedoch rief und suchte nach ihm, bis er ihn vor sich hatte und zur Rede stellen konnte. Er war außer sich. "Was muß ich sehen?" klagte er, "kannst du dich so weit vergessen, schon wieder mit Mädchen schön zu tun, als ob nichts geschehen wäre. Und erst noch mit welchem Mädchen?[89] Eh du Allmächtiger!" Da wußte denn Hieseb, es war die Schwester dessen, den er im Kriege erschlagen hatte. Aber weil es sein langweiliger, flaublütiger Vetter war, der in der Rolle des Sittenrichters vor ihm stand, faßte er sich rasch und erwiderte: "So, so? Geht es diesen Weg? Daß ich Unglück gehabt habe, das weiß niemand besser als ich selber. Aber gegen das Unglück ist nur ein Kraut gewachsen und das heißt Glück. An mir will ich es nicht fehlen lassen. Wenn du meinst, du habest mir das Gegenteil vorzuschreiben, so kommst du an den Unrechten." Mit diesen Worten ließ er seinen wachsamen Vetter stehen und wandte ihm den Rücken, alsbald nur von dem einen Verlangen erfüllt, Ursula wieder ausfindig zu machen und mit ihr zu tanzen, ja mit ihr zu tanzen, gerade mit ihr, jetzt erst recht.

Er fand sie unter den Zuschauern auf dem Tanzplatz, wie sie verstohlen nach ihm auslugte. Er fragte nicht, sie widerstrebte nicht. Ganz selbstverständlich faßte er sie an die Hand und trat mit ihr an. Der Boden war überfüllt. Die Fackeln warfen ihr taumelndes Licht über die vielen Bauernköpfe. Die Hände hatte er auf ihren Schultern lose aufgelegt und beide wiegten sie sich in den Hüften, bewegten aber ihre Füße kaum. Dann versuchte er es mit entschiedeneren Drehungen und Schwenkungen. Doch blieben sie auch so auf einem Fleck festgebannt, da sie in dem Getümmel und Gedränge zu einem freien Anlauf nicht kamen. Bis plötzlich vor ihnen der halbe Tanzboden völlig frei dalag. Da stampfte Hans mit einem mächtigen Tritt beinahe die Diele durch, stieß einen Jauchzer aus,[90]packte das Mädchen um die Hüfte, und sie wirbelten über die geräumte Fläche dahin. Der schwebende Fuß beschrieb einen prachtvollen Bogen, der schönen Wurflinie nicht unähnlich, mit der zu ihren Häupten eine erste Sternschnuppe durch den dunkelnden Himmel schoß.

[91]

Viertes Kapitel.

Um dieselbe Zeit, so auf das Zunachten hin, hielt drüben vor dem "Kreuz" in Neuenach die vierspännige gelbe Kutsche der Abendpost. Der große Gasthof war die gegebene Posthalterei, da nur er hinreichend über Stallung und Pferde für den Wechsel der Gespanne verfügte. Jakob Rübstiehl stand scheltend auf der schmalen Steinterasse, die etwa drei Ellen breit und eine hoch vor der gesamten Front des Gasthofes hinlief. Der Postillon hatte richtig wieder einmal die Anfahrt verfehlt; der Abstand bis zum erhöhten Vorplatz war zu weit ausgefallen, um bequemlichkeitshalber den Schritt hinüber gleich vom Wagen aus zu gestatten. Doch half nun der Hausknecht auf Rübstiehls energische Anweisung hin unverzüglich einer Dame aus dem Coups über die drei Tritte am Vorderrad herunter, während dieser selbst an den Türstufen den offenbar hochgeschätzten Gast unter Bücklingen und freundlicher Anrede willkommen hieß: "Eh Gott grüß Euch, Jungfer Buchelfinger! Schön! Schön! Seid Ihr wohl gereist?" Das trotz einem gewissen Alter noch jugendlich lebhafte Fräulein reichte ihm lachend die Hand und erwiderte seine Erkundigungen um das Wohlbefinden. Dann sah sie sich nach[92]ihrer Kammerdienerin um, einer sanften ältlichen Person, die erst das abgeladene Gepäck ihrer Herrschaft überzählte und dann ebenfalls freundlich begrüßt mit jener im Hausflur verschwand. Das Fräulein Buchelfinger kam Jahr für Jahr auf ein paar Wochen aus einer Kleinstadt des Nachbarkantons zur Luftkur und zwar wählte sie hierzu gerne die ersten warmen Tage des Frühlings oder einen schönen Herbst, da sie im Hochsommer die unvermeidlichen Mücken auch zu Hause haben könne.

Als Rübstiehl diesen Empfang in dem gewohnten Stil erledigt hatte und oben in den Eck⸗- und Vorderzimmern des ersten Stockwerks die grünen Läden für den eingetroffenen Besuch aufgeflogen waren, verfügte er sich wieder ins Hinterstübchen zu dem Warmbacher Bauern, mit dem er nach besichtigtem Wettkampf alsbald von der Seeau zurückgekehrt war. Sie hatten schon so manchen Leugeltstag auf der Insel erlebt, daß nachgerade für sie dieses Fest in der Reihe der vielen andern bereits genossenen seine Besonderheiten verlor und sie der etwa zu erwartenden Neuigkeiten wegen nicht mehr viel darnach fragten. Auch vertrug es sich mit ihrer Würde besser, nur eben so auf ein Stündchen hinüber zu fahren: faire acte de présence, sagte Rübstiehl, der die fünf Jahre Welschland und Paris aus seiner Jugend noch immer bei jeder schicklichen Gelegenheit zu Ehren zog. Doch so ganz eindruckslos war am Warmbacher der heutige Ringkampf nicht vorübergegangen; wiederholt lenkte er das Gespräch darauf zurück, und lobte besonders den ersten[93]Gang, da Fägschmied von Hieseb so glatt zu Fall gebracht worden war: "Nein, war das eine Freude! Wie er dem Dicksack das Bein stellte und ihn nur so hintenüber drehte. Ich traute meinen Augen nicht!" "Ja, ja," bestätigte Rübstiehl, "ein leistungsfähiger, sauberer Bursch, der Hans Hieseb! Der Spittelschreiber soll sich ihn nur warm halten. Ich bin doch froh, daß so einer nicht bei den Pfaffen drin hat verdummen müssen; es hat uns zwar einen Mann gekostet. Aber der Hieseb ist auf dem besten Wege, uns vollen Ersatz zu schaffen. Was meinst, Warmbacher, wenn das einer von den unsern würde ganz und gar? Ich hätte nichts dagegen; einen tüchtigen mehr kann man immer brauchen, woher er auch komme." Aber Brunner schüttelte den runden Kopf mit den feisten, glattrasierten Wangen: "Dagegen hätte ich ja auch nichts; aber dran glauben mag ich nicht. Ein Fremder wird doch nie recht ansäßig!" Und dann fing er an, aus seiner Bauernerfahrung heraus, das Lob der Scholle zu singen, was das heißen wolle, zum Beispiel, daß man schon seinem Urgroßvater gesagt habe: "Warmbacher!" Das sei dann doch noch ein Ehrenname. Aber von heute auf morgen? Was kann da Haltbares werden? "Gut Ding will Weile haben, Kreuzwirt! Dein Vierunddreißiger war auch nicht schon anno 34, was er heute ist. Ja, vielleicht dem Hieseb seine Enkelknaben kommen einmal in Neuenach rechtschaffen unter. Was sich aber nicht so seine fünfzig, sechzig Jahre gestreckt hat, das taugt nicht!"

Für einen Bauern war das recht weitsichtig[94]und besonnen gesprochen. Brunner und Rübstiehl, diese beiden Jakobe und Gemeinderäte, hielten überhaupt zusammen aus einer gewissen Einsamkeit heraus, in der sie mit ihrer überschauenden Intelligenz inmitten der bäuerlichen Alltagströdelei sich aufeinander angewiesen sahen; mit Sandhuber, Wanger, Zumbühl ließ sich ja natürlich auch reden, aber unter den echten Neuenacheneren alten Schlages waren sie die einzigen. Doch deswegen bildeten sie noch lange nicht ein Herz und eine Seele. Sie verkehrten kaum anders als in gegenseitigen Widerspruch. Kaum hatte der Warmbacher sein Lob der Seßhaftigkeit ausgesungen, so suchte Rübstiehl mit demselben Eifer den Emporkömmlingen das Wort zu reden: "Das gibt nachher die besten - denen es erst einmal nicht besser ging als einem Hund. Schadet nichts! Nur tüchtig Knochen nagen! Wofür hat man Zähne! Will alles durchgemacht sein. Der kennt das Leben nicht, der immer weich gesessen oder gelegen hat. Der Parvenu ist sogar in meinen Augen einzig und allein ein wahrer ganzer Kerl. Er weiß doch aus eigener Anschauung, wie's drunten aussieht. Was sag' ich - aussieht? Aufs Aussehen kommt's ja gar nicht an. Nein, wie's tut, wissen die andern nicht - das meint' ich. Wie Prügel tun, wie Hunger tut, wie Rattenbisse tun, wie Beulen tun. Erst wer das weiß, dem schmeckt's nachher ordentlich, wenn er was besseres kriegt. Aber wohlverstanden, schmecken und schmecken ist zweierlei. Ein Parvenu, der, wenn er endlich oben ist, dann weiter nichts tut, als frißt und säuft et le reste, der ist ein Esel. Gelinde gesagt ein Esel! Denn[95]dann kommt die Bildung daran. Jawohl, Warmbacher, die Bildung!"

Jakob Brunner machte Miene auszutrinken und die Sitzung aufzuheben. Er kannte das am Kreuzwirt, dieses Liebäugeln mit der Bildung. Wenn der erst damit kam, dann war der Abend verloren. Der reine Sparren! Woher hatte ein so vernünftiger und sogar geriebener Wirt nur dieses Rädlein zuviel? Nun, wie alles, so besaß auch das seinen guten Grund. Rübstiehl war gegen alle Wahrscheinlichkeit erst so gegen das Schwabenalter hin Besitzer des "Weißen Kreuzes" geworden. Ein mit Kindern gesegneter älterer Bruder seines Vaters hielt früher den Gasthof, und niemand dachte anders, als dessen Betrieb werde auf den einen oder andern seiner Erben übergehen. Doch starben von diesen einige; unter den übrigen verfolgte jeder andere Neigungen, so daß sich dann zu allgemeiner Zufriedenheit nach mannigfachen, für den Wohlstand keineswegs vorteilhaften Zwischenversuchen und Stellvertretungen die Sache mit der Seitenlinie machte. Jakob Rübstiehl fühlte sich, wie er bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab, mit Leib und Seele als ein "Sohn der Seeau", auf der Insel war er "geboren und auferzogen", da sein Vater daselbst die Pacht versah. Bei seiner Berufswahl spielte dann eben diese seine geheime Bildungswut bereits beträchtlich mit und trieb ihn sogar in ein Institut für angehende Volksschullehrer; dort wollte es ihm aber nicht geraten, da er immer alles von vornherein bereits zu wissen glaubte, worauf er, auf gut Glück ins große Leben gestoßen, die verschiedenartigsten Fähigkeiten in[96]sich ausbildete, alle jedoch in der gemeinsamen Richtung eines geschickten Agentens und Maklerwesens. Am besten geriet es ihm mit dem Weinhandel, den er erst im schweizerischen Welschland und dann in Frankreich mit Geschick und steigender Sachkenntnis betrieb; mit der Zeit ließ auch seine Nase an natürlicher Blässe zu wünschen übrig. Doch war er klug genug, rechtzeitig vorzubeugen, und so erschien er eines Tages als halb Verschollener plötzlich wieder in der Heimat, wo er alsbald mit seiner nicht zu verachtenden Summe ersparten Geldes das stiefmütterlich behandelte Besitztum seiner Verwandten antreten konnte. Sein Vorleben erwies sich als die beste Schule auf dieses unverhoffte Gewerbe hin: fremder Sprachen mächtig, gewandt und verschlagen im Umgang mit wem es sei, brachte er den zur Herberge herabgesunkenen Gasthof im Dorfe und bei den Passanten rasch empor. Da ihm alle Arbeit glatt von der Hand ging, und er, seines mißratenen Beines wegen, ledig geblieben war, blieb ihm Muße für allerhand Liebhabereien. Zwei oder drei geräumige Gastzimmer beherbergten eine förmliche Ausstellung von zum Teil sehr wertvollem Porzellangeschirr, sowie Mappen mit Kupferstichen, deren wertvollster Inhalt in einem vollzähligen Exemplar kolorierter Schweizergenrebildchen, der sogenannten Freudenbergerchen, bestand. Über dem Verkehr mit einem Pariser Großtrödler war ihm der Sinn für den Handel mit diesen Dingen aufgegangen; er kaufte im Lande herum die sonst noch nicht beachteten Gegenstände auf, und versäumte nicht, durchreisende Fremde, für deren Einschätzung ihm ebenfalls[97] der Blick nicht mangelte, während der Postpause rasch in jene Zimmer mitzunehmen, was schon zu manchem vorteilhaften Kauf geführt hatte. Daneben las er fleißig und immer zielbewußter in dem einen Bestreben, seine Interessen mehr und mehr zur Gewinnung äußerer Vorteile auszubilden, und gerade diese gute Meinung von den einträglichen Eigenschaften seines außerbäuerlichen Geschmackes bewahrte seine Bildungsliebe vor der Verflüchtigung ins Rührselige und Brotlose. Weich wurde er nur in dem Gefühle, daß er diese Dinge nur so nebenher versehe, und nicht der leiseste Ansatz zu irgend einem Gedenken streifte jemals seine Seele, ohne daß er nicht aufs neue hervorhob, Schulmeister sei dann noch das mindeste, was aus ihm hätte werden können.

Als nun der Warmbacher sich anschickte, angesichts der wieder über ihn hereinbrechenden Lobrede auf ihm unpraktisch erscheinende Ideale das Weite zu suchen, drehte der gelenkige Gastwirt die Angelegenheit rasch auf ein befahrbareres Geleise über. Er wußte, der Warmbacher blieb bis Mitternacht und darüber bei jedem Gespräche sitzen, das seine Spitze gegen den Kaspar Fägschmied und dessen übeln Einfluß richtete. Nun war Fägschmied neuestens auf den höchst alarmierenden Gedanken geraten, unter seinen Stammgästen einen Anschluß an den revolutionären Grütliverein und somit die Gründung einer Neuenachener Sektion anzuregen. Er hatte seine Werbung hauptsächlich auch mit der Erwägung unterstützt, es müsse nun endlich einmal etwas für die Bildung geschehen hier am Obersee. Dieses Schlagwort nahm mit Blitzesschnelle seinen[98]Lauf durch die Gemeinde und ermöglichte durch die Spaltung, die es hervorrief, seinem Urheber, des weitern zwischen Muckern und Freisinnigen, Kantönle inströpfen und echten Demokraten zu unterscheiden. Als dann aber der Warmbacher diese saubere Anwendung der Bildungsparole gegenüber Rübstiehl geltend machen wollte, führte dieser mit dem ihn scheinbar gefährdenden Vergleich ein glänzendes Verteidigungsmanöver aus: gerade an diesem Gegenstück vermöge man am deutlichsten zu ersehen, welch hohen Ranges sein Unternehmen sei, ohne jede politische Spitze in lediglich vaterländischer Anwandlung dies und jenes Prachtstück einheimischer Kunsterzeugung gegen gutes Geld zu erstehen; fürs erste ohne einen andern Profit als gelegentlich an einem langweiligen Nachmittag seine stille Freude dran zu haben. Das gab schließlich auch der Warmbacher unverhohlen zu, freilich erst nach längerer Bestürmung von seiten des nicht wenig eregten Kreuzwirtes.

Am Schluß der Woche, die dieser Leugeltssonntag einleitete, ging es im "Schifflein" unten hoch her. Der Sieger des Eierlesespieles, der Schifferfritz, war um die Wege und zwar mit Neuigkeiten. Er galt für das größte Fegnest weit und breit. Etwas mußte immer gehen, wo er war. Und in Ermangelung von Gescheitem scheute er auch vor sogenanntem Lumpenzeug nicht zurück. Aus Dummheit oder nicht - gelacht wurde.[99]Diesmal hatte er ohne Zweifel den Vogel abgeschossen. Was er jetzt aufs Tapet brachte, erfüllte nicht nur alle Ansprüche, die man an einen guten Spaß zu stellen berechtigt ist, sondern trug zugleich zur nützlichen Belehrung des Zuschauers bei. Diese von ihm freigebig zur Schau gebotene Neuheit hing mit seinem Seeauer Siege insofern zusammen, als er aus dem Verkauf der gewonnenen Eier einen schönen Batzen Geld gelöst und mit diesem Zuschuß zu einer schon länger bestehenden kleinen Sparbüchse sich den Luxus einer mehrtägigen Reise leisten konnte. Aber nicht mit beliebigem Ziel! Wegmanns angeborene Vorliebe für Unruhe und Veränderung hatte die Nachricht von dem zustandegekommenen Bau der ersten Eisenbahnen nicht mehr ruhig schlafen lassen. Koste es was es wolle, wenn man dergleichen nun schon gar auf Schweizer Boden habe, so werde er nicht eher ruhen, als bis er selber auf der Eisenbahn "geritten" sei. Und so hatte er, als das Frachtschiff seine äußerste Landungsstelle erreichte, für zwei Tage einen Vertreter eingestellt und war in Eilmärschen auf die nächstliegende, aber noch beträchtlich weit entfernte Bahnstation hingepilgert, dann ohne Ruhepause so lange auf den Schienen gewesen, als, die Rückfahrt eingerechnet, seine verfügbare Zeit ihm überhaupt gestattete, nämlich von früh um sechs bis abends um zehn, und in derselben Nacht wieder zurückmarschiert.

Seitdem sprach, dachte und träumte er nichts anderes als Eisenbahn, Eisenbahn, Eisenbahn. Mit dem Eifer eines Missionars wurde er nicht müde, allen Un[100]wissenden und Ungläubigen dieses Wunder aller Wunder zu predigen. Was sie denn meinten! Ein lederner oder blechener Kuhstall auf Rädern - aber nicht einer allein - eine ganze Reihe an einander gespannt - das sei dann also der Zug - und ganz von selber hagele er davon - es sei ihm immer gewesen, er müsse rufen: "He, spannt doch erst ein, ihr habt ja die Rosse vergessen." Aber oha! Das gehe wie geblasen. Freilich, so ganz nur von selbst doch nicht. Es sei eine Art Hüroß davor und ziehe die Kutschen hinter sich her wie nichts. Das sei nun erst recht wie vom Teufel - das meineidigste Ketzerzeug, das man sehen könne! Räder habe es an, exakt wie andere Leute Schuhe. Und dabei schnaufe und feure und rauche es zu einer Trompete hinaus, es habe ihm übel gegraust. Fägschmied, der wenigstens schon ein Dampfschiff gesehen hatte, meinte, so etwas gar absonderliches brauche das jetzt deswegen noch nicht zu sein. Aber der Schifferfritz verschwor sich bei seiner Armen Teuren, er binde keinen Bären auf, es sei alles exakt so, wie er es sage. "Und der Konduktör!" fuhr er fort, "ein Oberst ist Dreck dagegen. Nichts wie in einem zu kommandieren: Einsteigen! Fertig! Fort! Und: Alle Billet vorweisen." "Ja, braucht man ihm denn zu folgen, wenn man nicht will?" fragte ein Pfiffikus, und der übrige Teil der Gesellschaft wurde bald einig, Konduktöre habe man schon bei den Posten, und auch da wäre vielleicht der eine oder andere zu finden, der es mit einem Oberst aufnehme. Wenn es nur das sei!

Da sah sich Fritz genötigt, angesichts dieser[101]Ungläubigkeit zum Anschauungsunterricht überzugehen. Er sprang vom Sitz, riß eine Schirmmütze vom Haken, stülpte sie sich unternehmend auf, begab sich an die Stubentür und öffnete sie in dem Augenblick, als draußen Hieseb, der erst etwas später kommen konnte, die Vortreppe hinaufstieg. "Seh, seh, Manno! Pressieren, pressieren, wenn Ihr mitfahren wollt; meint Ihr, wir warten da noch eine halbe Stunde lang auf Euch?" Die Ungeduld, mit der Wegmann das rief, die gebieterische Gebärde, mit der er Hieseb über die Schwelle hereinwinkte, ließen an Plastik nichts zu wünschen übrig.

Hieseb wurde rasch verständigt, was dieser Überfall zu bedeuten habe, und nahm, einmal auf dem Laufenden, mit mehr innerm Anteil, als man ihm von außen ansehen mochte, an der Unterhaltung teil. Wegmann führte nach wie vor das große Wort. Immerhin, während er so ununterbrochen drauflos schwatzte, begann es unversehens kleinlaut zu klingen. Weinerlich klagte er vor sich her, das wäre sein ganzer Lebenstraum, Eisenbähnler zu werden. Aber wie es anstellen? "Bis eine Bahn hier am See vorbeifährt, habe ich weiße Haare und keinen einzigen Zahn mehr. Und wenn auch - einen wie mich, nimmt man zuletzt. Bei den Eisenbahnen haben wieder die Stadtherrn die Hände im Spiel und da ist es an den Fingern abzuzählen, daß man zu Konduktören nur so feine Herrchen und Junkerchen zulassen wird, wie zu Offizieren auch - denn der Zumbühl ist als Leutnant eine Ausnahme." Seine Stirn verdunkelte sich. Er knirschte mit den Zähnen; plötzlich[102]fuhr er mit dem Kopf in die Höhe und schlug mit der Hand auf den Tisch, daß die Gläser tanzten: "Und da soll der Teufel sechsfach dazwischen fahren, ich will einfach zur Eisenbahn." Wer ihn sah, wie er das sagte, der wußte, Wegmann kam zur Eisenbahn.

Hans blieb unter den andern sitzen, sagte Ja, sagte Nein, trank etwas, rauchte etwas, blieb aber wortkarg und zurückhaltend. Nur manchmal nickte er kaum merklich zu Wegmann hinüber. Das war doch noch einer, der wollte, und wenn es mit dem Schädel durch die Mauer ging. Er auch, Hans Hieseb, hatte sich etwas in den Kopf gesetzt. Da war nun nichts mehr daran zu ändern, obwohl bei Licht betrachtet, es ein Klafter Unmöglichkeiten aufs Mal war, was er im Sinne trug.

Am folgenden Morgen erhob er sich nicht in bester Laune. Vetter Ambrosmen schlurpte bereits draußen in seinen Filzfinken umher und empfing ihn unwirsch. Seine Güte gegen den Schützling zeigte, wie jede Gönnerschaft beschränkter Leute ihre Kehrseite. Nur so lange Ambrosmen der Einbildung hatte leben können, jeden Atemzug, den Hieseb tue, jeden Bissen, der er esse, jede Scholle, die er umgrabe, verdanke er mehr oder weniger seiner Gnade, hing sein Wohlwollen im unstörten Gleichgewicht. Daß Hieseb einen geschlagenen Winter lang nicht von seinen Rockschößen gewichen war, nahm er für ein selbstverständliches Zeugnis der Abhängigkeit von ihm, dem Beschützer, ohne auch nur von ferne etwas Klugheit und zurückhaltende Vorsicht in[103]Abrechnung zu bringen, die mitgespielt haben mochten. Als dann Hieseb die Wartezeit für überstanden hielt und sich anschickte, mit den Leuten von Neuenach nun allmählich Fühlung zu gewinnen, konnte Ambrosmen sich dieses Benehmen mit dem besten Willen nicht anders zurechtlegen, als aus Regungen des Undanks und Verkennung angewiesener Schranken. Mit der Freude, mit der früher der eine am andern gehangen hatte, war es vorbei.

Ambrosmen besaß einen geblümten kattunenen Schlafrock, den er Sonntags zum Morgenkaffee trug. Den hatte er jetzt an und spielte mit den Quasten, ohne ein Wort zu sagen, obwohl er den Eindruck erweckte, er bastele auch in Gedanken an etwas herum. Lange war er schon unschlüssig im Zimmer auf und nieder gegangen, immer auf der einen Diele - endlich blieb er vor Hannes stehen und sagte mit einem von der Seite zugeworfenen Blick: "Ich gehe zur Predigt. Du denk nicht." Danm schlurpte er an den Schrank, zog den geblümten Kattunenen aus und schob sich erst in den einen, dann in den andern Armel eines langschößigen, dunkelblauen Rockes. Es war sein Nachtmahlgewand. Er nahm das Gesangbuch unter den Arm, bedeckte sein flachshaariges Haupt mit einem schwarzbraunen Zylinder, dem die Haare zu Berge standen, und begab sich kirchenwärts, obwohl das Gotteshaus nur zwei Schritte weit hinter dem Spittel stand und es noch nicht einmal das erste Zeichen geläutet hatte. Kaum hatte er die Türe hinter sich zugezogen, so erschien er schon wieder und langte hinter dem Ofen[104] den großen grünwollenen Schirm hervor, denn es regnete in Strömen. Aus dem Wasserspeier klatschte es in den Hof hinunter, daß es eine Art hatte. Aber nun vernünftigerweise zu Hause zu bleiben, dazu war er zu eigensinnig. Lieber setzte er sich, wenn aus dem Spazierengehen nichts wurde, gleich in die leere Kirche hinüber und las Psalmen.

Hans stand indessen immer am Fenster, die Fäuste geballt und die heiße Stirn an die regengepeitschte Scheibe drückend. Hier war seines Bleibens nicht länger. Mit diesem Griesgram, diesem Milchsuppengesicht - fiel ihm gerade ein. Aber wohin dann? In den See vielleicht? Das einfachste wäre es ja. Da lachte er selber laut auf. Es klang nicht bitter, fröhlich, hell klang es. Nie war ihm mehr drum gewesen zu leben, als jetzt. Aber nochmals - was anfangen? Sah er denn irgend ein Tausendstel von einer Möglichkeit ab, sich ein anders Dasein zu verschaffen! Weiter als zum selbständigen Mietsburschen, der sich neben Kost und Schlafgeld her noch ein paar Batzen erübrigte, brachte er es auf keinen Fall, wenn nicht ein förmliches Wunder geschah, das ihn ins richtige Fahrwasser brachte. Die Fäuste vor sich her krampfend und schüttelnd, begann er jetzt mit langen steifen Schritten die Stube zu durchmessen. Sie war ihm zu eng. Er rannte in die Kanzlei hinüber. Vielleicht kam er hier auf andere Gedanken oder - auf den einen guten Gedanken. Zaghaft hoffend trat er über die Schwelle.

An den weißgetünchten Wänden standen steif die Regale. Regungslos hingen die alten Insiegel aus[105]einigen Urkunden herunter. In seinem Unmut versetzte er dreien oder vieren darunter Schläge, so daß sie in Bewegung gerieten und hin⸗ und herpendelten, wie wenn sie an Uhren hingen. Wie war da doch gleich Leben drin. Wie ein richtiges Werk ging das hin und her. Und es saß Hieseb zuvorderst in den Fingerspitzen, als wäre auch für ihn längst alles so weit, um in Lauf gesetzt zu werden - als handelte es sich nur noch darum, den antreibenden Stoß zu versetzen. In seiner Verzweiflung und langen Weile holte er sich wieder ein Paket zum Lesen herunter, wie er schon früher getan. Oft, wenn er in der Wirtschaft nichts mehr zu tun fand, am Feierabend, bei Regenwetter oder während des Winters, hatte er sich eben zu dem Vetter Spittelschreiber in die Kanzleistube gesetzt, eigentlich in der Absicht, ihm auch dort zu helfen. Doch ward er der öden Schönschreiberkürste und des handwerklichen Kleinkrams bald überdrüssig; sobald es nichts für ihn zu zupfen oder zu stöbern gab, war ihm nicht wohl in der Haut.

Draußen hatte es die Zeichen geläutet, dann voll mit allen Glocken und war jetzt still. Es regnete und goß immerzu - ein eintöniges, schläferndes Rauschen. Hieseb hatte ein beliebiges Bündel dieser vergilbten und gänzlich unbeachteten Pergamentmappen zu fassen bekommen, es aufgeschnürt und angefangen zu lesen. Lauter Schuldscheine, Bürgschaften, Pfandbriefe. Wie das? Wer blieb wem schuldig? Was war gepfändet? Worauf wurde gebürgt? Er entfaltete ein Schriftstück: Der Bauer auf dem Warmbach schuldet dem Klostergut. Ein anderes: Der Bauer auf dem hintern Boden schul[106]det dem Klostergut. Ein drittes: Der Bauer vom Riedeck verpfändet auf die da und da belegenen Grundstücke dem Klostergut - doch! eigentlich interessierte ihn das. Zu Hause schon hatte es ihm Spaß gemacht, mit seiner schönen Handschrift Gültbriefe und dergleichen Schriftstücke für den Vater abzuschreiben. Auch die Mönche und der Schulmeister hatten mit Vorliebe ihn zu solchen Schreiberarbeiten herangezogen. Er besaß Übung; es machte ihm keine Schwierigkeiten, auch verschnörkelte Kanzleischriften von alter Fraktur zu entziffern.

Als Hieseb ein solches Paket und dann noch einen andern größeren Karton durchstöbert hatte, suchte er sich Rechenschaft zu geben. Sollten diese Rechte alle verfallen sein? Aus mehr wie einem Wortlaut hatte es weit eher den Anschein, es handle sich um unverfällige Servitute. War es möglich, daß diese Gewohnheit einfach eingeschlafen sei? Etwas hätte Hieseb doch von derartigen Einzügen zu hören bekommen; durch seine Mithilfe gewann er einen Einblick in alle Zweige der Klostergutsverwaltung. Ein paar armselige kleine Bauern, die nicht leben und nicht sterben konnten, pflegten seufzend ihre Quartalzinsen auf dem Kanzleitisch niederzulegen. Aber daß so ziemlich alle Großbauern von Neuenach und zwar bis weit in den Berg hinauf dem Gute verpflichtet waren - wem hätte daran ein Gedanke kommen können? Und doch, da stand es schwarz auf weiß: der Warmbacher, der Hinterbodener, der Riedecker und wie sie alle hießen - über ein Dutzend an der Zahl: lauter reiche alteinge[107]sessene besitzstolze Dorfmagnaten. Wie in aller Welt hätten aber Verbindlichkeiten von dieser Ausdehnung nur so stillschweigend unter den Tisch fallen können? Unter geordneten Umständen war so etwas allerdings undenkbar. Doch brauchten die früheren drei bis vier Spittelschreiber nur ähnliche Schlafmützen gewesen zu sein wie ihr jetziger würdevoller Nachfolger, dann war das mit Leichtigkeit möglich. Ambrosmens Dasein erklärte viel.

Hieseb legte sich in den Sessel zurück und starrte zur Decke empor, an der, da sie für die Bilderstürmer verwichenen Andenkens nicht oder nur zu mühsam erreichbar war, noch der Schmuck einer Holzschnitzarbeit prangte. Die Kanzlei von heute war zu Mönchszeiten das Refektorium gewesen. In allerlei Schlingund Blumenwerk machten sich da vier Felder breit mit Darstellungen in Schnitzrelief aus der biblischen Geschichte, zwei aus dem alten Testament und zwei aus dem neuen: Bileam, David und Abigail, die Flucht nach Agypten und der Palmentag, seltsamerweise also gerade vier Scenen, in denen der Hauptraum des Bildes von einem Esel beansprucht wurde. Ob nun der Künstler ein ganzer Schelm war und sich über den Abt und die sämtlichen Brüder heimlich lustig machen wollte, als er so nebenbei dieses landläufige Sinnbild gleich vierfach über ihren tafelnden und pokulierenden Köpfen anbrachte? Es konnte auch ein harmloser Anlaß obgewaltet haben: etwa so, daß der Bildner weniger ein vielseitiger Künstler von Beruf gewesen war, sondern eher ein mit der künstlerischen Gastrolle bedachter[108]Handwerker, der hauptsächlich den in kirchlichen Zeiten sehr gangbaren Artikel des Palmesels fabrizierte, also dieses von ihm besonders genau studierte Tier für die Nachbildung bevorzugte. Hans starrte in das Bild hinauf, es befand sich unmittelbar über seinem Kopfe. Das Tier Bileams sah ihn mit sprechenden lebensvollen Zügen an. War das ein Eselsgesicht? Dieses stutzende, stammelnde, menschlich beseelte Tierantlitz brachte die Ahnung von etwas Ubermächtigem, Geheimnisvollem, Neuem treffend zum Ausdruck.

Ein polternder Lärm schreckte ihn aus seinem Brüten auf. Mit schmerzlicher Ernüchterung gerieten seine Blicke im Niedergleiten auf die kahlen gipsenen Wände, über denen das Kunstwerk wie ein unbegreifliches Mißverständnis hing. Ambrosmen kam nach Hause die Treppe hinaufgestolpert - das war der Lärm gewesen. So schüchtern und verstohlen er sonst tat, sobald er gestiefelt und gespornt einherzugehen hatte und seiner Filzfinken entbehrte, erging er sich in lauten Fehltritten und vollführte zu seinem eigenen Leidwesen einen Heidenspektakel. Sein Erstes war, sich umzuziehen und erst in seiner häuslichen Beschuhung und in dem geblumten Kattunenen trat er in die Kanzlei, wo er seinen Vetter vermutete. Ein behagliches und doch verlegen säuerliches Lächeln in den Mundwinkeln seines länglichen Gesichtes vermittelte, noch als er unter der Türe stand, auf den ersten Blick jenen gewissen verräterischen Gesichtszug, den Hans in dem Bilde des Tierkopfes, wo er doch eher zu vermuten gewesen wäre, soeeben vermißt hatte.

[109]

"Kommst du heut abend mit in die Stunde bei der Ursula?" fragte er, indem er die Worte spitz versetzte wie berechnete Stiche. Da erwiderte ihm Hieseb unbefangen, ja in lustigen Tone: "Gewiß komm ich mit." Und das verdroß den andern aufs neue. In die Kirche kam Hannes nicht mit, weil er katholisch sei. Aber in die Stunde wollte er. Oder vielmehr er wollte eben zur Ursula.

Das Wetter hatte sich aufgehellt, als nachmittags um zwei Uhr einige Manns⸗ und Weibsleute in der Ruchgasse wartend vor Ursulas Hütte standen. Bald darauf kam der Stundenprediger, ein hagerer schwarzgekleideter städtischer Bauer oder bäuerischer Herr, wie man's nahm. Eine Ledertasche hing ihm an einem grünen Bande quer über den Leib. In der Hand trug er ein Erbauungsbuch. Er kam als richtiger Wanderapostel nur für ein paar Stunden zu seinen Mitgläubigen. Heute nahm er gleich den vermeintlichen Proselyten wahr, Hans Hieseb, der sich hinter Ambrosmen hielt. Der Laienbruder unterhielt sich mit ihm; doch erklärte Hieseb gleich, er komme Samuels und der Ursula wegen, für sich habe er nicht viel auf diesen Dingen.

Die Stube überfüllte sich mit den zwanzig Besuchern. Hieseb saß auf der Ofenbank und stellte bei sich selber fest, wie freundlich die Ursel den Tisch geschmückt habe, hinter dem der Stundenhalter stand - mit zwei Sträußen und einem frischen Leintuche. Die[110]einfachen Ceremonieen, Aufstehen, Sichsetzen, die Hände falten - machte er den andern nach. Die Feierlichkeit vermochte ihn nicht im geringsten zu fesseln. Nach einigen Versuchen, dem Inhalt der Gebete und Reden zu folgen, befiel ihn eine unwiderstehliche Langeweile und erschwerte ihm, die Stunde mit anscheinender Aufmerksamkeit abzusitzen. Schließlich erwuchs ihm doch eine Art Unterhaltung, die ihn jedoch mehr ärgerte als freute. Er beobachtete nämlich abwechselnd den Vetter Ambrosmen und die Ursula: es verdroß ihn zu sehen und zu hören, wie die beiden im Augenverdrehen förmlich wetteiferten und mit ihren gezogenen und gedehnten Stimmen die übrigen Andächtigen überboten.

Ursula hatte von ihrem zweideutigen Vater und ihrer hierin durchaus aufrichtigen Mutter das Stundenwesen beibehalten und die Art ihres vertraulichen Verkehrs mit Ambrosmen, aus dem Verhältnis der Vormundschaft nicht hinreichend verständlich, erklärte sich vollkommen aus dem sektiererisch geweckten Bedürfnis nach einer innigen Seelenfreundschaft. Nun war ja Ambrosmen keineswegs so sehr eines wirklich treuen und ehrlich biedern Sinnes bar, als daß ihm lediglich an einem Deckmantel gelegen gewesen wäre. Aber eine verhüllte Herrschsucht und unschöne Gefühlskälte verriet diese Fähigkeit, sein Inneres so gänzlich in zwei von einander unberührte Teile zu spalten, eben doch. Er brachte es fertig, bei Ursula und bei Hieseb für sich selbst eine Freundschaft zu betreiben und dabei die beiden unter sich vollständig von einander fern zu halten. Hieseb wurde jetzt, wo er die beiden in der Eintracht[111]eines höheren Einverständnisses sich gegenüber sah, mit einem Schlage klar: Ambrosmen habe hinter seinem Rücken gehandelt, daß er die langen Winterabende hindurch ihn niemals zu einem Besuche mit in die Ruchgasse mitgenommen habe. Auch war er heute zum erstenmal zur Teilnahme an der Stunde aufgefordert. Mit zunehmendem Widerwillen, der von einem tiefen Mitleid mit Ursula unterbrochen ihn bald in eine unerträgliche Verfassung zu versetzen drohte, betrachtete er den Vetter; kurz und klein hätte er am liebsten alles geschlagen und das Mädchen unter den Arm genommen und fort damit. Auf andere Gedanken kam er erst, als eine der anwesenden Frauen vom Prediger aufgefordert, sich ersob und in bewegliche Reden ausbrach. Was sie vorbrachte, war ihm einerlei; er starrte sie aber unverwandt an, weil er noch nie gehört hatte, daß das Weibervolk auch gesetzt reden könne gleich einem Pfarrer, Schulmeister oder Ammann und nicht nur wie ihm der Schnabel gewachsen sei. Die Sprecherin sah zudem nicht einer Bäuerin gleich und er hatte genug zu schauen und zu überlegen, so lange ihr eindringliches Gerede dauerte. Noch ganz benommen, bemerkte er, wie der Leitende sich mit Ambrosmen durch ein Zeichen verständigte, worauf dieser sich zu ihm hinbeugte und ihn die Stube zu verlassen bat, da der Rest der Feier nur für die Aufgenommenen berechnet sei.

Er war dessen sehr froh und setzte sich draußen wieder auf drei Eichenstämme, wie sie ihm einst bei seinem ersten irrenden Gang durch Neuenach zur Ruhbank gedient hatten; hier pflegten solche zu liegen. Ihm[112]schwirrte der Kopf, und aus dem Innern der Stube vernahm er durch die Scheiben gedämpft den Sprechenden und darauf die gedehnten eintönigen Glaubenslieder. Das alles focht ihn ja weiter nicht an. Während er die Hände im Schoß dasaß, streifte sein Blick erst in Sprüngen und weiten Zügen durch die vor ihm liegenden Baumgärten auf Acker und Felder hinaus, hinter denen auch an einer Stelle ein Endchen See aufschimmerte. Er erstrahlte jetzt vom blauen Himmel und in der schönsten Sonne. Da fiel Hiesebs Blick auf zwei Baumstämme, die dicht vor ihm aus gemeinsamer Wurzel aufsteigend, erst auseinanderstrebten, dann aber in kräftiger Wendung sich gegenseitig umschlangen - ein liebendes Baumpaar! Das Lachen überkam ihn, so anschaulich war ihm die Verkörperung geworden.

Er bemerkte nicht, daß er beobachtet wurde, bis er von sanfter Stimme ein freundliches Grüß Gott vernahm. Der Kurgast aus dem Kreuz, das Fräulein Buchelfinger erging sich in den Wiesen hinter Ursulas Hütte. Sie gedachte ihren dienstbaren Geist in Empfang zu nehmen; denn das war jene Vorbeterin in der bäuerischen Andachtsstunde gewesen, über die Hieseb sich so sehr erstaunt hatte. Mit Verwunderung war die Dame eine Zeitlang stillgestanden, um sich den jungen Bauernburschen anzusehen, dessen Züge sich ohne äußerlich wahrzunehmende Ursache unter ihren Augen geistreich belebten. Sie sah nach derselben Richtung hin, konnte aber nichts entdecken, was ihr aufgefallen wäre. Hieseb dagegen, der sich auf den Anruf beinahe[113]erschrocken umdrehte, sah nun mit einem Male eine Gestalt vor sich, wie ihm sein Lebenlang noch keine begegnet war: außer mit den derben Bäuerinnen seiner Heimat war er kaum je mit dem andern Geschlecht auch nur in flüchtigem Vorübergehen in Berührung getreten. Nun ruhte ein gütiges gereiftes Frauenantlitz mit klaren bannenden Augen auf ihm. Auch unter unwesentlichen Umständen würde eine solche Begegnung ihren Eindruck haben machen müssen, weil es etwas Ernstes war, desgleichen er bisher noch nicht zu sehen bekommen hatte. Aber nun so - mitten in eine gesteigerte aufwallende Ausnahmestimmung hinein, wirkte es wie eine Erscheinung, wie die Verdichtung eines Hellgesichtes zum greifbaren und darum um so unbegreiflicheren Wunder. Fräulein Buchelfinger, die in der sichtbaren Verwirrung des Angeredeten nur die übliche bäuerische Verlegenheit vermutete, zog ihn ohne weiteres ins Gespräch und bekam, nachdem es ihr gelungen war, Antworten zu erhalten, schließlich zu wissen, der junge Mann warte gleich ihr auf das Ende der Betstunde.

"So, Ihr seid der Knecht vom Spittel. Ja, wenn Ihr zum Ambrosmen gehört, wolltet Ihr da nicht mithalten?" Sie deutete nach der Hütte, aus der wieder litaneiartiger Psalmengesang ertönte. Als aber Hieseb geringschätzig hinwarf, er sei froh, daß er wieder draußen sei, das Geplärr sei ihm bald verleidet gewesen, ja, als er gar etwas von Insekten verlauten ließ, womit er dem Sektenwesen eins versetzen wollte, da war es, als seien in dem leuchtenden Gesicht, in das er schaute, ein paar Strahlen plötzlich erloschen. Das[114]Fräulein blickte ihn noch gütig an, aber mit einem gewissen Ernst der Befremdung und ohne daß die Freundlichkeit ihrer Worte sich verminderte, nahm sie den neuen Bekannten doch alsbald ins Gebet: "In so wegwerfendem Tone dürft Ihr über diese Leute nicht reden. Sobald sie es ernst meinen, wäre es unrecht, über sie zu lachen. Ich gehöre auch nicht zu ihnen, weil ich in die Kirche gehe und nicht in die Betstunde. Aber mit dem lieben Gott, mein ich, kann es jeder halten, wie er es für gut findet, wenn er es nur überhaupt mit ihm hält." Während dieser Worte kamen die Teilnehmer aus der Hütte. Einige zerstreuten sich gleich Ambrosmen und die Zofe und hinter ihnen der Stundenhalter mit Ursula, traten auf die beiden Wartenden zu und bald spazierte die Gruppe gemächlich gegen die große Hauptstraße hin, da die beiden fremden Frauen zum Vieruhrkaffee im "Kreuz" zurück sein wollten und der Wanderprediger ebenda die Post zu nehmen gedachte. Hieseb zur Rechten ging das Fräulein, zu seiner Linken Ursula und er wußte nicht, in welches Gesicht er lieber sah. Schon das verwandelte seine heimliche Wallung ins Freudige, daß aus Ursulas Zügen das Harte, Entgeisterte, Vergleichzültigte gewichen war und die frohen Blicke ihrer Augen mit dem für ihn geradezu engelhaften Wesen der andern wetteiferte. Und in dieser Fröhlichkeit, die ihn nun erfüllte, bestand er auch unentwegt die Probe, die von ungefähr an ihn herantrat. Das Fräulein erinnerte sich an Ursulas Hauswesen noch vom vorigen Jahr und tat arglos die Frage nach dem Bruder. Von Adolfs beklagenswertem Schicksal war ihr noch rein nichts zu[115]Ohren gekommen. Ursula verfärbte sich und blieb wie angewurzelt stehen. Da faßte sie Hans Hieseb unbefangen bei der Hand, als handelte es sich, ihr über einen Quergraben hinwegzuhelfen, und als sie nun weitergingen, setzte er dem Fräulein Buchelfinger mit wohlgesetzten, durch keinerlei Unsicherheit gestörten Worten den ganzen Sachverhalt auseinander. Die merkwürdige Klarheit, mit der ihm das gelang, beschwichtigte in der völlig ahnungslosen Zuhörerin zugleich das maßlose Erstaunen, das die Erzählung aufzuregen doch wahrlich geartet war,

Ambrosmen, der mit den beiden Glaubensgeschwistern, der Kammerjungfer und dem Prediger eine hintere Dreierreihe bildete, vernachlässigte das Gespräch mit diesen seinen Begleitern und spitzte die Ohren, um von den Verhandlungen da vorn noch dies und jenes abzufangen.

Der Spittelvetter! Ursulas Mutter, die Nachbarin und beste Freundin von Samuels ebenfalls verstorbener Mutter, hatte an ihm dem frisch erkorenen Spittelschreiber noch den letzten Narren ihres Lebens gefressen und ihm auf dem Sterbebette ihre beiden Kinder, Adolf und Ursula ans Herz gelegt - eines Abends im Dämmerlicht, während ihr Mann betrunken draußen in der Küche lag. Darum hatte sie ruhig sterben können, weil Ambrosmen ihr in die Hand die Fürsorge der beiden versprochen. Und nun hatte er es mit seinen eigenen Augen sehen müssen, mochte er es nun lange nicht haben glauben wollen. Auf dem Tanzboden waren sie zusammengewesen und seitdem war eine regelrechte Liebelei[116]im Gange. Ein unverblümter Ausbruch von Eifersucht wäre von Rechts wegen, hätte Ambrosmen aufrichtig sein mögen, die einzig mögliche Antwort auf diese unliebsame Entdeckung gewesen. So ledern und fischblütig wie er tat und aussah, war er nämlich nicht. Er gab wohl etwas auf das schönere Geschlecht; nur wollte er erst alles in Ordnung gebracht wissen, bevor er offenkundig auf Freiersfüßen ging. Nicht, um dann plötzlich aufs Geratewohl dreinzufahren - bewahre, es konnte ja doch nur die eine sein, sein Mündel Ursula, dessen vereinsamte Lieblichkeit ihm in aller Stille zu Herzen ging. Wenn er der Absicht gewesen war, noch eine Zeitlang hinter dem Berge zu halten, so spielte dabei eine leise Eitelkeit mit, oder noch eher ein Gefühl falscher Sicherheit, dies war die wahre Bewandtnis, die es mit Ambrosmen als Gönner der Ursula hatte.

Beim "Kreuz" verabschiedete man sich und der Spittelschreiber wußte es zu bewerkstelligen, Ursula von Hans zu trennen, so daß jene willig mit ihm ins Unterdorf zurückkehrte, während dieser es sich noch ansah, wie die Post, die aus der Innenschweiz den See hinunter fuhr, angerast kam, hielt und mit dem Stundenhalter zum weitern Insassen wieder von dannen sprengte. Dann wandelte er im Gefühle einer sehr großen Sicherheit noch ein gutes Stück des Gemeindebannes ab, ehe er zum Abendbrot nach dem Kloster hinlenkte. Nicht die geringste Versuchung spürte er, Ambrosmen die angemaßten Rechte streitig zu machen und auch nur einen Schritt neben jenem her Ursula zu begleiten. Uber alles, was an widrigem und fragwürdigem[117]Gemächte ihm noch entgegenstand, wußte er sich wie mit einem Schlage Herr und Meister, seit es ihm gelungen war in ruhigem Bericht, zu dem ihm kein Wort versagte, das allem Scheine nach verhängnisvollste Geschehnis seines Lebens zu bewältigen und sich dienstbar zu machen. Von dem beruhigten oder guten Gewissen zu reden, reicht lange nicht aus, um zu sagen, wie ihm zu Mute war. Jedenfalls nichts weniger als ruhig. Seine in ungezügeltem Stolz sich in ihm emporreckende eigene Kraft bestürmte und überredete ihn, wie er alle ihm zugestoßene Widerwärtigkeit nun sich dienstbar zu machen im Begriff stehe - um aus Trümmern sich ein starkes Glück zu schaffen. Und so frei und siegreich überlegen fühlte er sich, daß sein Groll gegen seinen Vetter und Brotherrn zusammenschrumpfte und er, ohne sich irgend welchen Zwang antun zu müssen, Ambrosmen behandelte, als wäre zwischen ihnen weiter gar nichts Trennendes vorgefallen. Nur als Umgang konnte ihm Ambrosmen nicht länger genügen. Und doch sehnte er sich gerade jetzt nach Menschen, mit denen er etwas haben konnte. Folglich ging er zum großen Verdruß des Spittelschreibers von nun an, so oft er konnte, abends ins "Schifflein" hinüber, weil Fägschmied seit dem Leugeltstag sich nicht nur verträglich, sondern unverhohlen freundlich und wohlgesinnt gegen ihn betrug.

Eines Abends nun, als er den Platz überschritt, erschallte vom "Schifflein" eine sehr lebhafte Auseinan[118]dersetzung, in der Fägschmieds Stimme eine andere schwächere unter einer Flut von Kraftausdrücken begrub. Hieseb sah Fritz Wegmann die Vortreppe hinuntersteigen und sich nach der Lände begeben, wo wieder das mit Steinen befrachtete Schiff lag. Wegmann schimpfte im Davongehen vor sich hin. Hieseb hielt an und schaute zu und sah alsbald durch die Dämmerung den Schifferfritz den Bug ersteigen, während sein Kamerad, der bereits oben stand, kräftig mit einer Stange abstieß, der Koloß kam sachte ins Schwanken und rückte langsam ins tiefe Wasser vor, so daß die beiden mit den Rudern einsetzen konnten. Dann verschwand alles hinter dem grauen Schleier des Zwielichts.

"Bist du's, Hans?" ertönte Fägschmieds Stimme gedämpft von dem Treppenvorbau auf den Platz hinunter. Hieseb antwortete; doch ehe er noch recht am "Schifflein" war, kam ihm der dicke Kaspar vertraulich entgegen. Seine Hemdsärmel leuchteten durch die einbrechende Dunkelheit und er keuchte und atmete kurz und hastig, so daß Hieseb unwillkürlich an die Dampfmaschine denken mußte, die Wegmann vor acht Tagen in seinem Feuereifer täuschend nachgeahmt hatte. "Was hat es denn gegeben?" Fägschmied stieß hervor: "Er hat Zeit gehabt, daß er ging. Aber laß ihn! Komm!" Dabei griff er Hieseb am Arm und führte ihn statt die Treppe hinauf hinters Haus in den Krautgarten. Dort vernahm Hieseb ein Geräusch, als schluchze ein Mädchen. Es war Marei Brunner, die durch eine Lücke im Zaun aus dem väterlichen Gut des Warmbachers auch heute[119]wieder wie schon die Abende vorher sich in Fägschmieds Garten gestohlen hatte. Heute waren sie aber jäh gestört worden. Der argwöhnische Nebenbuhler Fritz Wegmann ruhte nicht, bis er die beiden einmal richtig ertappt hatte. Er wollte losfahren und einen Heidenlärm verführen. Fägschmied aber stieß ihn am Hühnerstall vorbei durch die Hintertür ins Haus hinein und von da in die Gaststube. Der Warmbacher durfte nichts hören. Drinnen hatte der Schifferfritz halbausgetrunkenen Wein stehen. Er wollte wieder anfangen oder vielmehr er fing an, trotzdem daß Gäste da saßen, unter ihnen natürlich auch Zumbühl. Fägschmied nahm sich zusammen und sagte zu ihm: "Dein Schoppen Weißer kostet dich heut nichts, Fritz, aber er muß in zwei Minuten leer sein und du zur Stube hinaus und die Stiege hinunter. Hast verstanden?" Jetzt der Schifferfritz! "Ja so, geht es den Weg?" Und er legte los. Da tat sich dann Fägschmied nicht länger Gewalt an, sondern deckelte den Nebenbuhler. Es blieb noch beiderseits beim Schimpfen. Als aber der Wirt Miene machte, den Störenfried an die Luft zu setzen, ging dieser von selbst. Und nun saß die Marei auf der Bank im Krautgarten hinten und flennte.

Fägschmied stieß sie nicht allzu sanft an und setzte sich mit einer schiebenden Bewegung von links her neben sie. "Mach' Platz, so kann der Sonderbündler auch noch hinzu." Die drei füllten die Bank. Das Brett bog sich bedrohlich. Fägschmied besaß die Mitte. Er brummte. Marei schnupfte noch einigemal hörbar auf, und Hieseb pfiff verlegen vor sich hin. Da verbesserte[120]sich die Lage wider Erwarten. Fägschmied kneipte von ungefähr seinen Schatz in den Arm, so daß sie zur Belustigung beider Burschen erschrocken aufjuckte, und damit kam die Gemütlichkeit in Gang. Marei geriet ins Schwatzen, Fägschmied stand ihr darin bei, und im Verlauf eines halben Stündchens war Hieseb, der ja in diesen Dingen bei Ambrosmen tatsächlich im "Kloster" lebte, über den Stand nicht nur zwischen ihnen beiden, sondern überhaupt aller bekannten oder nennenswerten Liebschaften im Dorf unterrichtet.

Das war nach den überschwenglichkeiten des Sonntag Nachmittags das, was Hieseb brauchen konnte. Vor allem war er doch ein junger Bauer, und nichts konnte ihm da willkommener sein, als sich auch in solchen letzten Hintergedanken vor seinesgleichen ebenbürtig behandelt zu sehen. Er überlegte einen Augenblick, ob er von Ursula anfangen sollte. Er hatte das Herz voll davon, und es hätte ihm wohlgetan, sich gerade diesen beiden, die ja bereits einig waren, anzuvertrauen. Er sollte nicht lange schwanken müssen. Fägschmied brachte die Rede darauf, indem er, bescheidene Ansprüche vorausgesetzt, die Kleinhannes in ihrer Eigenschaft als gute Partie herausstrich. Das Heimwesen, zwei Geißen, die Kuh, die Pflanzplätze und den Bürgernutzen - immerhin nicht ganz zu verachten, wenn man da so mir nichts, dir nichts hineinsitzen konnte. Hieseb nickte schwer vor sich hin und murmelte: "Ja, das glaub' ich auch" - was heißen sollte - daß das für einen wie er, nicht zu verachten wäre. Doch war ihm gerade jetzt, angesichts der Erwägungen sehr[121]bekümmert zu Mut, und schließlich rückte er offen mit seinen Bedenken heraus. "Einer wie ich? der nichts hat? Gar nichts. Nicht den Speck aufs Brot. Und nach allem, was gegangen ist! Gerade der Ursula kann ich doch nicht der Liebste sein. Oder meint Ihr denn wirklich, sie will mich?" Da zerknallte Marei, der die Erörterung so wie so zu lang gedauert hatte: "Allweg will sie dich. Und ob sie dich will!" So gab ein Wort das andere, und bald war alles ein Wohlgefallen.

Hernach saß Hieseb, ausdrücklich vom "Schifflein Kaspar" freigehalten, oben in der Wirtsstube. Die junge Pflanzung sollte vorerst gehörig begossen werden, witzelte Fägschmied. Sogar den Zumbühl vernachlässigte er offenkundig. Der Friedensrichter empfand es und verließ mürrisch vor seiner üblichen Zeit die Schenke. Die beiden saßen allein am Hintertisch, zunächst nur mehr flüsternd und einsilbig. Da löschte Fägschmied die andere Lampe aus, und als dann auch noch einige langweilige Schöppeler das Feld geräumt hatten und kein mißbeliebiger Hörer mehr um die Wege war, erging er sich endlos in den wohlmeinendsten Ratschlägen, wie der bevorstehende Liebeshandel nun am besten in guten Schwung zu bringen wäre.

[122]

Fünftes Kapitel.

Seit jener Zeit war Hans Hieseb ein anderer Mensch. An seiner äußern Lage brauchte sich deswegen nicht das geringste gebessert zu haben. Er blieb wie bisher der arme Spittelknecht von seines Vetters Gnaden und hütete sich, auf emportauchende Hoffnungen und Aussichten hin sich nun gleich aufzuspielen. Vielmehr hielt er an sich, mißtraute mit Bauernschlauheit all den schönen Möglichkeiten, da er darin nur Lockmasken eines erst recht hinterlistigen Schicksals witterte. Waren wirklich nur gute Tage für ihn im Anzug, so kam die Freude darüber immer noch zeitig genug, wenn es einmal so weit war. Es wäre ihm töricht erschienen, durch vorschnelle Veränderungen im eigenen Betragen oder durch unvorsichtige Ansprüche an die Umgebung sich selbst etwas vorzumachen. Aber seine Zukunft hatte nun Griffe und Handhaben bekommen und konnte, wenn sie sich als Schwierigkeit nicht verminderte, nun wenigstens erklettert werden. Er beherbergte Kräfte, die sich für ihn wehrten.

Mit Ursula ließ er sich fürs erste Zeit. Seit er durch die Warmbacher Marei erfahren hatte, diejenige, um die ihm zu tun war, rechne ebensosehr auf ihn als[123] er auf sie, verwies ihn wiederum sein Bauernwitz aufs Zuwarten. Stellte es sich als unnötig heraus, ihr geradezu nachzulaufen, dann hatte es doch sehr viel für sich, sie überhaupt erst ihrerseits heranzulassen. Unauffälligen Begegnungen stellte er sich natürlich noch so gern in den Weg, wußte dabei auch immer um einen Schritt vorwärts zu rücken; den Schein aber, es sei ihm an mehr gelegen, als an einem freundlichen Augenblick, ließ er nicht aufkommen. Doch heuchelte er damit eigentlich nicht. Sobald er die Ursel für sich auf der Seite wußte, hielt die leise Beimischung eines unheimlichen Gefühles dies aufwallende Verlangen immer wieder nieder. Es konnte sich dann irgend etwas an seine Fersen heften, was er lieber nicht heraufbeschwor.

Länger als bloß übergangsweise durfte eine derartige unverbindliche Hoffnungsseligkeit nicht dauern. Eines Tages ergab sich ungerufen eine endgültige Klärung. Hieseb grub einen Planzplatz mit der Hacke um; das Grundstück lag ziemlich weit vom Dorfe ab, an der Grenze der Neuenachener Gemarkung. Dicht dahinter hob der Wald an, der über den Hügelrücken bereits in ein anderes Tal hinüberreichte. Das Ackerchen war begrenzt von einem laut aufrauschenden kleinen Bach und einer breiten Hecke von hochgewachsenen dichtlaubigen Haselstauden. Da könnte man treiben, was man wollte, dachte Hans, es sähe und hörte einen kein Mensch. Eifrig hackte er in zwanzig hochaufgezogenen Hieben eine weitere Zeile und verschnaufte wieder für einen Augenblick. Ihm war warm geworden. Das Blut klopfte ihm an die Schläfen. Ein frischer Luft[124]zug kühlte ihm die feuchte Haut. Wohlbehagen und Mißvergnügen erregten seinen Körper in lebhaftem Widerstreit. Ungeduldig, begehrlich dachte er an Ursula. Ah, wenn er sie jetzt da hätte, so ganz heimlich, so ganz abseits von allen unberufenen Augen und Ohren! Aber alsobald fuhr ihm eine Gegenerwägung erkältend und entmutigend durch den Sinn. So? und wenn sich wirklich sein Wunsch auf der Stelle erfüllte und Ursula ihm zur Seite stände, wehrlos, gefügig - ja sogar wenn sein Herzenssturm sie mit fortrisse, würde sich nicht dann immer noch zwischen sie und ihn ein Schatten drängen, ein kühler, tötender, rächender Schatten? Und in der regeren Wallung seines Blutes verkörperte sich ihm blitzschnell die Frage, die ihm gestaltlos und ungreifbar, unabweisbar und doch erträglich immerzu den Sinn umwölkte, die eigentliche Schicksalsfrage seines Lebens: "Ist einen Menschen erschlagen zu haben, sei es selbst im Kriege und ohne Vorbedacht, etwas Gleichgültiges oder etwas Furchtbares?" Jetzt trat das klar, in deutlichen Umrissen, vor ihn hin und er wußte Bescheid, ohne sich erst noch lange klügelnd zu besinnen: "Ja, es bleibt wohl etwas Furchtbares. Dennnoch beuge ich mich nicht vor dem Schicksal, sondern biete ihm Trotz und fordere es heraus, mit mir den Gang zu wagen. Ich will die Lücke, die ich schlug, mit meinem eigenen Leben ausfüllen. Die Schwester des Erschlagenen will ich zu meinem Weibe machen; dann werden alle Haß⸗ und Rachegeister ersticken müssen an meiner Liebe zu ihr." So gedankenklar brauchte es ihm gar nicht vorzuschweben; der Empfindung nach er[125]füllte ihn die lautere und schöne Gewißheit: nicht um der Sinnenfreude und nicht um der äußeren Vorteile willen plante er die Heirat mit ihr; nein, ein verborgener persönlicher Zweck sollte seine Ehe auszeichnen; eine stille, hohe Bestimmung den Bann brechen und bös in gut verwandeln. Wieder wünschte er Ursula an seine Seite, aber mit weniger Begierde und mit mehr Innigkeit, als eben noch vor einem Augenblick.

Da wurde er, kaum daß er seine Arbeit wieder aufgenommen hatte, von Ursula angerufen. Betroffen blickte er auf. Sie stand über der Böschung am Waldsaume, ein rotes Taschentuch in Haubenform ums Haar geschlungen, in der einen Hand Besenreiser, in der andern einen Korb, unter dessen Deckel ein Henkelkrug seinen kurzen Hals eben noch hervorstreckte. Ursula tat, wie in letzter Zeit übrigens schon immer, gleich zutunlich zu ihm und lachte ihm mit ihrem ganzen Gesicht entgegen. "Hab' Ernst, Hans! Hau's! Hau's!" und was solcher Rufe mehr waren. Zugleich sprang sie über den Abhang hinunter, übermütig, mit geschlossenen Füßen und einem kleinen Aufschrei, so daß die Reisigbündel knackten und die Eßgeräte im Korbe klirrten, und stand nun auf dem Ackerchen. "Was ist, Hans! hast du schon dein Neunuhrbrot verspeist? Ich suche ein schattiges Plätzchen." Und mir nichts, dir nichts stellte sie ihre Sachen in jenem Winkel bei der Haselnußecke ab, wo auch schon Hiesebs Gürteltasche mit seinem Frühstück lag, und warf sich daneben ohne allen Zwang ins Gras. Dabei plauderte sie unaufhörlich sich an ihn heran, verdrehte sogar ihre Augen ein biß[126]chen nach ihm und strengte sich nicht groß an, ihre Verliebnis noch lange zu verbergen. Es wurde Hieseb nicht schwer, sich darein zu finden. Er trieb den zweizinkigen Karst in eine breite Scholle und näherte sich ebenfalls der Hecke. "Gut. Ist mir gleich. Dann wollen wir uns also Gesellschaft leisten." Und er ließ sich in einem kleinen Abstand von ihr ebenfalls nieder. Ursula weigerte sich jedoch ihm seine Tasche auszuliefern. Sie wollte erst sehen, was er Gutes drin habe, und schnallte den Riemen auf, sprach von Tauschen und Gastieren, worauf aber Hieseb nicht eingehen wollte, da sie sonst zu kurz käme. Da aber Ursula durchaus von seinem Proviant kosten wollte, Hans dagegen sich auf ein bloßes Schluck⸗ und Bissensystem nicht einlassen wollte, machten sie schließlich kurzen Prozeß und eines frühstückte die Mundvorräte des andern zu beiderseitiger Belustigung. Ursula lobte noch kauend die Güte ihres Teiles, was auch nicht zu verwundern sei, es sei ja eine alte Sache, der Armenwein sowie die Krankenkost des Spittels würden auch einer Sonntagstafel des "Kreuz" keine Schande machen. Hans dagegen nahm keinen Anstand, Ursulas Wein herzlich sauer und ihren Käse herzlich mager zu schimpfen, worauf ihm ein Papierknäuel an den Kopf flog. Hans wollte dann die Arbeit wieder aufnehmen. Ursula dagegen meinte, damit werde es nun wohl noch etwas Zeit haben, und sie dehnte sich und streckte sich, rückte auch etwas näher zu Hans hin, plauderte unaufhörlich und machte ihm unverblümt ein paar schöne Augen ums andere hin.

[127]

Bevor Hieseb dem Wohlgefallen an diesen Tändeleien verfiel, erinnerte er sich noch rechtzeitig seiner jüngsten Gedanken und beschloß, sich aufzuraffen. Was meinst du, Ursula," hob er an und mußte sich räuspern, um fortfahren zu können, "wie wär's, wenn wir uns einmal - nun es braucht ja nicht schon heute zu sein - aber dran denken dürfen wir doch schon jetzt - ich bin ja nur ein armer Taglöhner, aber es kann ja noch anders kommen mit mir - doch brauchst du's nur zu sagen, wenn du höher hinaus willst -" Er stammelte noch einiges in der Art weiter und kam zu keinem Ende. Ursula zupfte eilends einem Gänseblümchen die weißen Schüppchen aus, dann legte sie andere zu einem Strauß zusammen und schlug sehr ungeduldig die Spitzen ihrer Schuhe aneinander. Du große Zeit! So viel Worte! Das konnte er doch wirklich einfacher haben; sie suchte nur noch nach einem schnippischen Ausweg, ihm das nahe zu legen, wenn er nicht selbst darauf verfiel. Der Tolpatsch! Ein Gesicht schneiden wollte sie ihm, wenn nicht gar die Zungenspitze zwischen Zähnen erscheinen lassen. Sie erhob den Blick und drehte sich ihm zu. Wie erschrak sie da ob seinem ernsten bleichen Aussehen, und wie noch viel mehr als er ihr sagte: "Schau, Ursula, bei uns geht es halt nicht so eins, zwei, drei, wie bei den andern." Und er bewegte traurig verneinend den Kopf. Da wurde ihr plötzlich so weh und ängstlich zu Mut, als sollte gleich ein jäher Schrecken sie durchfahren. Und nun erhob er auch gar noch seine beiden Arme, diese selben Arme, von denen sie sich doch eben noch gewundert hatte,[128]daß sie nicht längst darin begraben war - und sagte zu ihr: "Mit diesen beiden Händen hab' ich's getan."

Ursula hatte das Gedächtnis an ihren Bruder Adolf bis zum Leugeltsfest noch einigermaßen in sich fortwirken lassen, dann aber, als es ihre Gedanken an Hieseb zu stören drohte, es auf sich beruhen lassen; das war ihr auch ohne große Anstrengung gelungen; sie litt keinen Zusammenhang zwischen dem einen und dem andern und gar in den letzten Zeiten, als ihr Hieseb mehr als gut war, im Kopf herum ging, da hatte sie überhaupt niemals einen Bruder gehabt. Nun wurde sie unversehens wieder in diesen längst verlassenen Gedankenkreis hineingestoßen. Da war es um sie geschehen. Der Schrecken hatte sie erfaßt, eben so jäh und gewaltsam, wie es der Liebestaumel getan hatte, dem sie noch eben so nahe gewesen war. Sie versuchte aufzuspringen; doch überfiel es sie wie eine Lähmung; nun lag sie ausgestreckt, aufschreiend und mit den Händen um sich greifend. Das unnatürlich verhaltene Gewissen packte sie noch einmal furchtbar an und streckte sie in diesem gräßlichen Anfall nieder. Glücklicherweise vermochte diese Erschütterung Hieseb in seiner Besonnenheit keineswegs irre zu machen. Wohl war ihm ja freilich nicht zu Mute, als er Ursula so hilflos rasen sah; aber unwillkürlich spürte er sich erleichtert. Das steckte also alles noch unverarbeitet in ihr und kam angstvoll zum Ausbruch, sobald man nicht nur so obenhin die Vergangenheit beschwieg, sondern eben mutig das Unvermeidliche berührte. Zu was für einem Unheil hätten sich diese finsteren Verzweiflungsreste nicht aus[129]wachsen können, wenn er leichtfertig versäumt hätte, sie noch zur rechten Zeit bis auf die Wurzel auszurotten. Durch dieses Bewußtsein gekräftigt, konnte er ihre Erregung mit ansehen, ohne selbst über Gebühr davon ergriffen zu werden. Er ließ sie eine Zeitlang gewähren; dann fing er an, ihr auf eine natürliche Weise vernünftig zuzureden: "Schau, Ursula, deshalb brauchst du gar nicht so dumm zu tun. Es ist nun einmal so wie es eben ist. Und das geht nur uns beide etwas an - dich und mich. Ich muß nur wissen, ob du mich ein klein wenig gern hast. Was sag ich, ein klein wenig - heidenmäßig gern mußt du mich haben - sonst kommt es nicht gut mit uns beiden. Und darum hab' ich dir das mit dem Adolf noch einmal gesagt - weil es jetzt heraus muß, ein für allemal heraus, und nicht immer noch in uns herum rumoren darf. Sonst gäb' mir das eine schöne Geschichte. So hör doch auf. Es ist ja nichts zum Flennen. Wir können es gerade so gut haben, wie andere auch. Ich möchte sehen, warum nicht und wer uns daran hindern will."

Über diesen Worten, die in schulmeisterlich ermunterndem Tone über das in Zuckungen schluchzende Mädchen gesprochen wurden, gingen dessen gequälte tierische Angstlaute allmählich in ein menschliches Wimmern und Wehklagen über. Als dann Hieseb ganz unbewußt mit seinen Trostversuchen zunehmend weicher und zärtlicher fortfuhr, hörte sie gänzlich auf zu weinen und schickte sich an, sich aufzurichten und ihre Tränen zu trocknen. Hieseb rührte sie nicht an. Sie standen neben einander. Aus Ursulas Gesicht war der Schrecken[130] gewichen. Aber eine Blässe der Enttäuschung hinderte noch immer das fröhliche Lachen von vorhin an seiner Rückkehr. Da flüsterte Hieseb ihr zu, da er erriet, was jetzt ihre Sorge bildete: "Hab' nur Geduld; Kummer brauchst du keinen zu haben. Du wirst schon noch mein liebes Schätzchen." Und alsbald überspielte die heimliche Glückseligkeit die bleichen Züge des Mädchens wieder mit einer ersten zarten Röte. Sie sahen sich tief in die Augen und ketteten sich mit den Blicken aneinander fest. Ihre Seelen schlossen den unlöslichen Willensbund fürs ganze Leben. Aber leiblich hüteten sie sich noch ein gleiches zu tun. Nur die Hand reichten sie sich, und Ursula ging ins Dorf hinunter.

Dieser Abschied war nicht ganz unbemerkt geblieben. Der Friedensrichter Zumbühl machte sich noch am selben Abend an Hieseb heran. Wie oft hatten sie beide den Sommer über, da man noch bis spät in die Nacht draußen sitzen konnte, auf der alten Bank vor dem Hinterhause mit einander geplaudert - Zumbühl in seinen Filzpantoffeln, den Hosengurt ums lose Hemd und die Pfeife im Munde! Es bildete sich ein vertrauliches Einvernehmen zwischen beiden, das Zumbühl gestattete, gleich mit der Sprache herauszurücken. "Was ist, Hans, wird es bald richtig zwischen Euch und der Ursel. Ah! Seht Ihr - so ein Friedensrichter hat die Augen überall. Ich kam eben daherunter, wißt Ihr dort den Schlittenweg aus dem Holz - da sah ich eben noch, wie ihr euch die Hände schütteltet - es gab wohl[131]aus - die Finger wollten auch gar nicht auseinander - ich dachte - die beiden sind doch wie gemacht für einander - so dem äußeren Anschauen nach. Aber es wird noch ein wenig hapern - da und dort - bis es so weit ist? Oh, ich verderb euch das Spiel nicht, ich heiße nicht Samuel. Und der Ambrosmen wäre so wie so der letzte, dem ich so etwas hinterbrächte." Hieseb bemühte sich, möglichst über die Sache wegzureden und gab sich den Anschein eines Gleichgültigen. Dennoch verstimmte es ihn sehr, daß nun dieses Einverständnis mit Ursula einen, wenn auch entfernten und harmlosen Beobachter hatte finden müssen. Er zerbrach sich den Kopf, auf welche beste Weise wohl der unberufene Zuschauer von diesen Gedanken, die ihn ja gar nichts angingen, schnell und gründlich abzubringen wäre. Da fiel ihm, wie, wußte er nicht, sein anderes kleines Geheimnis ein: jene zufällige archivalische Entdeckung verschollener Klosterrechte.

Manchen Regensonntag, ja auch den einen und andern Abend bei der Olampel war Hieseb zu seiner Unterhaltung mit der verschwundenen Welt dieser bestaubten Schriftstücke in Berührung getreten. Um sonst hatte er den eigentlichen Verwalter der aufgespeicherten Papiere, den Schreiber Ambrosmen zu bewegen gesucht, auch einmal mit hinein zu sehen. Der war es ganz zufrieden gewesen, durch diese ihm unverständliche Urkundenliebhaberei den Vetter Hans, der ja sonst ein Luftikus zu werden drohte, nun auch in den Feierstunden ans Haus gefesselt zu sehen; und selbst wenn es keine andere Frucht getragen hätte, als daß dann[132]ein und das andere Mal der Abendbesuch im "Schifflein" unterblieb. Auch Hieseb verfolgte mit diesem seltsamen Studium keinen andern Zweck, als die Schreibstubentalente, die nun einmal in ihm steckten, an einem selbst gefundenen und anziehenden Gegenstande, zu verwerten. Da kamen ihm auch die Kopistendienste, die er als Knabe schon seinem Vater oder den schulmeisternden Kaplänen seiner Heimat geleistet hatte, aufs beste zu statten; auch damals waren es manchmal uralte Schwarten und Scharteken gewesen, an denen er sich versuchen mußte. Nicht zum wenigsten die so gebotene Anknüpfung an jugendliche Schülerkünste gestaltete ihm die für einen Ambrosmen unbegreifliche Beschäftigung zu einem verständnisvollen Vergnügen. Mit einigen der allerältesten Urkunden vermochte er zwar nichts anzufangen, sie waren unleserlich schnörkelhaft geschrieben und zum Teil überhaupt lateinisch abgefaßt. Doch führte ihn die Nachforschung immer mehr auf Schriftstücke, die als Fortsetzung jener erst entdeckten Schuldbriefe in Pappdeckelschachteln oberflächlich geordnet, einige Quadratfuß der Wandfläche füllten. In diesen kramte er mit wachsender Wißbegier. Er las sich schließlich in alle Schriftarten fleißig ein und legte ein Verzeichnis an von den Höfen, auf denen Verpflichtungen hafteten, und dann ein zweites, das diese Anrechte in die Sonderarten solcher Zehnten und Abgaben gliederte. Auf diese Weise gelangte er zu einer übersichtlichen Anschauung; er hatte gewissermaßen ein am Strande versunkenes Gebäude, das schon völlig versandet war, an den letzten noch aufragenden Stümpfen[133]erkannt und mit rastloser Arbeit wieder freigelegt. Von der Tragweite seines Zeiwertreibes fehlte Hieseb jegliche Ahnung. An sich wäre er ja, mindestens so gut wie jeder andere, darauf erpicht gewesen, eine solche Zerstreuung von der nutzbringenden Seite zu nehmen und Kapital daraus zu schlagen. Aber nicht das geringste Bewußtsein stellte sich ein, daß sich irgend welche Aussichten praktischer Natur von da aus eröffnen ließen. Nur zur Ausflucht aus einer Sackgasse, zur Ablenkung von unliebsamer Mitwisserschaft fing nun Hieseb an, zu Zumbühl von seinem Funde zu reden. Es konnte ihm nicht einfallen zu meinen, er vertraue ihm ein Geheimnis von tieferer Wichtigkeit an.

Der Mensch wird nie so froher Laune, als wenn er auf bessere Zeiten seiner eigenen Vergangenheit zurückzugreifen Gelegenheit hat. Bei Zumbühl ereignete sich nun dieser Fall. Er rückte aber nur stückweise mit seinem Interesse heraus, Ruck um Ruck, zwischen langen Qualmpausen seiner Tabakspfeife. "So, so? Der Spittelsämi sagte mir schon, Ihr seiet ganz närrisch auf die alten Rodel in der Amtsstube? Ich dachte, was hat der Hieseb nur an denen verloren. Bei mir - das wäre schon etwas anderes; ich wollte ja doch einmal Notari studieren; - da ging aber der Schuß hinten hinaus. Aber es sind immerhin Kaufbriefe, wenn auch wertlos gewordene. Schließlich sind das aber Dinge, über die eigentlich jeder Bescheid wissen sollte, so gut wie über andere. Und Ihr habt ganz recht - etwas tun muß man am Feierabend und immer ins Schifflein hinübersitzen kann man doch auch nicht. Da ist es ganz[134]gut, wenn man noch ein bißchen etwas in seinem Schulsack rumpeln hat. Ihr müßt ja nicht glauben, ich hätte alles verschwitzt. Gerade dieses Kapitel, Allmenden‘? - 'Handänderungen' - 'Vogteischaften‘ und diese Geschichten: davon hab' ich, glaub' ich, seinerzeit etwas verstanden, und vielleicht kann ich Euch auch jetzt noch eo piso alles, was Ihr wissen wollt, vom Finger schlenkern, es wäre nur ums Fragen zu tun." Soweit hatte nun auch Hieseb in die Sache hineingesehen, daß er sich zu erkundigen vermochte, und gleich brachte Zumbühl die volkswirtschaftlichen Verhältnisse in allgemeinen Zügen aufs Tapet. Eins fügte sich ins andere. Hieseb sah in ein rundes klares Bild. "Herr Friedensrichter," bat er nun, "da müßt Ihr Euch aber doch selber einen Begriff davon machen." Und so wurden sie einig, Hieseb solle noch heute abend alles Material zurecht legen und dann am kommenden Morgen den Vetter Spittelschreiber unter irgend einem Vorwand mit auf die Acker hinaus nehmen, damit Zumbühl ungestört die Durchsicht vornehmen könne. -

Es waren in der Tat die Überbleibsel einer ehrwürdigen uralten Volkswirtschaft, die Hans Hieseb ohne es zu wissen, mit tastender Hand aufgegriffen hatte. Aller Grund ringsum Neuenach war einst dem "Kloster" lehenpflichtig gewesen. Doch saßen starke Geschlechter auf den Höfen, die sich von Vater zu Sohn erhielten. Im Lauf vieler Jahrhunderte kamen nur[135]wenige Grundstücke von ihren angestammten Besitzern in fremde Hände; diese gingen über den drückenden Handänderungssteuern der Klostervögte alsbald in kleine Anwesen auseinander und daraus wurden dann diese überschuldeten Häuschen und Höfchen, die von Vierteljahr zu Vierteljahr noch heute ihr Scherflein feufzend in die Spittelkanzlei brachten oder auch nicht brachten. Jene großen Güter aber erstarkten von Geschlecht zu Geschlecht, wurden zu Stammsitzen eines stolzen Bauernadels. Das Kloster, als geistliche Herrschaft, fiel der Glaubensänderung zum Opfer und wurde zum Armen⸗ und Krankengut der Gemeinde Neuenach. Die Dorfherrn bekamen die Verwaltung in ihre Hand und eine von jung auf zielbewußte und selbstherrliche Leitung wußte nach langen Aufschüben einen endlichen Vergleich mit der Staatsbehörde zu Gunsten größerer Gemeindegewalt zu treffen, das Spital von Neuenach verfügte nicht allein über den Grundbesitz des aufgehobenen Klosters, sondern auch über unzählige kleine Rechte und Guthaben. Die Verwaltung dieser auf einzutreibende Zinsen und Sporteln gerichteten Befugnisse war jedoch offenbar, soweit man sich zurückbesann, flau betrieben worden. Kein Mensch wußte mehr, was man alles in dieser Hinsicht verbrieft und gesiegelt auf dem Bücherbrett der Verwalterstube verstauben ließ. Einige wenige Einkünfte dieser Art liefen ja aus Gewohnheit immer noch ein. Den andern weit wichtigern fragte seit Menschengedenken niemand nach und die Mehrzahl der tatsächlichen Schuldner besaß keine Ahnung von einem derartigen Verhältnis, das schon ihre[136] Väter und Großväter vergessen und totgeschwiegen hatten.

Um diesen Sachverhalt mit dem Tatbestand des urkundlichen Materials in Einklang zu bringen - dafür war natürlich Zumbühl, so fadenscheinig es sonst um seine Kenntnisse bestellt sein mochte, in ganz anderem Maße vorgeschult, als der hierin gänzlich ahnungslose Hieseb.

Zumbühl wußte es aus dem Munde eines Rechtslehrers, in der ganzen Schweiz habe vielleicht überhaupt kein Dorf mit so zäher Klugheit seine Rechte zu halten und zu erweitern gewußt, wie Neuenach. "Und daraus wird es auch zu erklären sein," so schoß es jetzt Zumbühl durch den Sinn, "daß die großen Höfe hiezuland samt und sonders schuldenfrei sind. Die Vorfahren werden sich mit dem Spital gut abgefunden haben, als sie das Heft in die Hand nahmen." Aber sofort folgte dieser zunächst liegenden Erwägung ihre Widerlegung, die, wie bei allen großen Vorgängen zu dem entscheidenden Fortschritt nur der Zweifel den Schlüssel hat, so auch in diesem Mißtrauen den springenden Punkt für eine ganz andere Reihenfolge als die wahrscheinlich vorauszusehende besitzt. Zumbühl stutzte. "Die großen Höfe schuldenfrei? Und wenn sie das nun nicht wären? Warum liegen denn alle Schäfte oben voll von Gülten und Pfandbriefen gerade auf die großen Güter Warmbach, Riedeck, Hintern Boden -? Und nirgendwo eine Kündung oder Tilgung?" Er nörgelte und brummte eine Zeitlang über den Bogen hin, überlegte, prüfte: endlich fühlte er sich überzeugt, auch seiner[137]Meinung nach beständen alle diese Schuldanforderungen von Rechts wegen noch heute. Nun saß er da und wußte nicht wo aus noch ein. Und jetzt galt es doch, die eine entscheidende Vertrauensperson ausfindig zu machen, die es in die Hand nehmen mußte, damit alles seinen guten Weg ging. Seine Gedanken zogen sich über Fägschmied zusammen; der stand ihm unter den Gewalthabern des Dorfes in erreichbarster Entfernung. Seine demokratischen Treibereien hatten manches für sich und daher wahrscheinlich sogar die Zukunft. "Ja," überlegte Zumbühl, "das wäre vielleicht geradezu der Funke ins Pulverfaß. So ein Geldnest ausnehmen zu können zentnerweise." Das gab aber ihm, der vor nichts solchen Respekt hatte, wie vor Gewaltsamkeiten und Skandal, wieder schwer zu denken, und so sah er sich in die ursprüngliche Verlegenheit zurückversetzt, als mit einemmal die Tür der Kanzleistube kräftig aufgestoßen und in ihrem Rahmen die mächtige Gestalt des Warmbachers sichtbar wurde.

Jakob Brunner war Präsident des Gemeinderates, also Dorfmeyer oder Ammann von Neuenach. Er sah überall fleißig nach dem Rechten und so traf auch auf jede zweite Woche ungefähr sein Besuch im Spittel. Auf den ersten Blick fiel ihm das verdutzte Gesicht an Zumbühl auf, und daß Ambrosmen nicht da war, sowie die halbgeleerten Schäfte an der Wand, während der ganze Tisch mit Pappdeckelbänden und entfalteten Urkunden bedeckt lag. Er ließ nichts merken, stellte seinen Stock mit derselben Selbstverständlichkeit in die Ecke[138]wie sonst immer. "Wo ist der Ambrosmen?" fragte er in unbekümmertem Tone.

Unter dem srähenden, durchdringenden Blicke des Dorfherrn blieb Zumbühl keine lange Wahl. Er klärte den Warmbacher ohne Umschweife auf: "Ja, Herr Ammann, es ist gut, daß Ihr gerade dazu kommt, so brauch' ich nicht hinter dem Berge zu halten. Der Hieseb da, Ihr wißt ja, der Taglöhner, der mit dem Spittelschreiber Geschwisterkind ist, der hat da, was weiß ich wie, eine wie mir scheint nicht unwichtige, ja wahrscheinlich höchst folgenschwere Erhebung gemacht. Man wird wohl eine regelrechte Eingabe an die Klosterverwaltung machen müssen - vielleicht sogar an die Kantonsbehörde. Ich bin mir darüber selber noch nicht klar. Aber ich bitt' Euch, Herr Ammann, Ihr seid ja das Haupt der Pflegerschaft und habt den ersten Einblick zu nehmen." Der Warmbacher schob sich Ambrosmens dreibeinigen Schreiberbock unter und beugte sein rundes Gesicht über die Liste, die Hieseb angefertigt hatte, und über die einzelnen Urkunden, die Zumbühl ihm der Reihe nach ebenfalls hinstreckte. Nummer um Nummer legte dieser die Belege vor. Es war tatsächlich kein einziges größeres Gehöft auf Stunden im Umkreis, das nicht durch eine unbewußte Verschuldung dem Spitalgut verfallen gewesen wäre. Endlich wies Hieseb auf den am Fuße der Rechnung säuberlich aufgesummten Schuldbetrag: ein unabsehbares, in seinem Gesamtwert auf Zins und Zinseszins hinaus gar nicht mehr genau zu bestimmendes Vermögen.

Zumbühl erwartete mit heimlichem Beben den[139]Augenblick, da der Dorfgewaltige sein Haupt wieder erhob, das unbeweglich in die ungewohnten und unerwarteten Studien vertieft über den Aktenstücken brütete. Jetzt blickte jener auf. Auf seinem runden wohlausgepolsterten Gesicht war wohl die strahlende Zuversicht erloschen, aber kein Zug verärgerter oder geängstigter Unruhe trübte die kluge Klarheit des Mienenspiels. Zumbühl sah, wie der Warmbacher einfach einen Blick unverhohlener, grenzenloser Verwunderung über die wirr ausgebreiteten Aktenstücke warf. Aus den Wolken fiel ja eine so mit allen kräftigen Fasern im Leben wurzelnde Natur, wie Jakob Brunner es war, nicht so leicht und wenn es sich um Hans Hieseb handelte, erst recht nicht. Er hatte ihn ganz richtig eingeschätzt bei jenem Leugeltsfeste, nun aber sah er sich veranlaßt, Hiesebs Überlegenheit noch viel tiefer zu würdigen. Seine Kraftprobe, mit der er einen körperlichen Riesen wie den Fägschmied bewältigte, war mehr als in Schatten gestellt, wenn wirklich diese neue Tat ausschließlich Hiesebs Verdienst war. Der Ammann tat noch einige Stichproben auf sein Besitztum, den Warmbach, es stimmte alles.

Wieder befiel Zumbühl die Angst, nun werde es in jenem losbrechen. Aber er verkannte damit den Ammann. Nicht umsonst lag Neuenach im freien aufgeschlossenem Gelände und am See. Keine verfangenden Schlupfwinkel, frischer Durchpaß ein und aus! Eine gesunde, ins große treibende Selbstsucht hatte von alters her diese eingesessenen Bauern das ihre nur immer suchen lassen im Zusammenhang mit einem Ganzen.[140] Und so war auch jetzt des Warmbachers erste Empfindung weniger die drohende Gefahr eigener Verluste, als die Entdeckung einer verschwundenen wirtschaftlichen Kraftquelle erster Ordnung. Wie er persönlich sich dann aus der Sache zog, das zeigte sich noch bei Zeiten. Das Wichtigere war, daß es wieder etwas großartig Neues zu verwalten und einzurichten gab und daß, wie recht und billig, das erste Wort der Ammann zu sagen habe. Sich dieses Vorrecht zu sichern, blieb für den Augenblick seine einzige Sorge. Er erklärte seinen hiermit von ihm erhobenen Anspruch dem Friedensrichter mit wenigen dürren Worten und fügte dann bei: "Was den Taglöhner betrifft, den Hieseb, so ist sein Glück gemacht. Von heut auf morgen läßt sich ja seine Lage nicht ändern. Aber er soll nur Vertrauen zu mir haben; ich meine es gut mit ihm. Oder? Wißt Ihr was, Friedensrichter. Sagt ihm lieber überhaupt noch nichts. Es soll eine Sache unter uns zweien bleiben. Deswegen braucht er ja nicht um seine Entdeckerrechte zu kommen. Bewahre, so mein' ich das natürlich nicht. Aber er - ein Knecht - mitzureden hätte er doch nichts. Er müßte so wie so mit dem vorlieb nehmen, was wir ihm geben wollen. Ihr könnt mir's aber glauben: ich habe den Burschen gern. Ich will mich seiner annehmen. Die Hauptsache sind einstweilen wir zwei. Und da gilt es vor allem: reinen Mund und stumm wie das Grab!" Zumbühl schlug ein. Dann räumten beide zusammen die Schachteln und Aktenbündel wieder an Ort und Stelle. Von Hiesebs Tabelle bat sich Brunner gelegentlich eine Abschrift aus, die ihm Zumbühl in[141]aller Stille anfertigen könne. Dann griff jener wieder nach seinem Stock und ging seiner Wege. Anzusehen war ihm von außen her nichts; aber doch wälzte er von da ab schwere Gedanken in sich herum. Wo es in ihm hinaus wollte, wußte er selber nicht. Erst nach einigen Tagen war er so weit, die ersten Tastversuche zu unternehmen.

Marei Brunner war im Laufe des Sommers schlüssig geworden, keinen andern als den Kaspar im Schifflein zu heiraten. Sie wußte, wie ihr Vater von ihm dachte und hatte tapfer manche Verunglimpfung ihres heimlich Erwählten geschluckt, ohne doch den Mut zur Gegenrede zu finden. Nun aber mußte es sein, und so faßte sie sich denn in eben den Tagen, da der Ammann das frische Geheimnis von dem verschollenen Klosterguthaben in sich herumtrug, ein Herz und trat mit ihrem Anliegen vor ihn. Aber wie oft hatte sie das nicht schon getan und dann doch die Lippen nicht von einander gebracht. So wäre es wohl auch heute der Fall gewesen, hätte nicht der Vater sie jählings in das Geständnis hineingestoßen. Sie stand mit ihm unter dem weitausspringenden, stolz geschwungenen Giebelvordach des stattlichen Holzhauses. Zwei hochgeladene Wagen mit Kleinholz waren eingefahren. Das Personal, das auf dem Hof zurückgeblieben war, erwies sich als zu spärlich. Besonders fehlte es an der verständigen Leitung. Der neue Großknecht taugte nicht viel. Der Meister mußte hineinreden und sogar selbst[142]mit anfassen. Als das Gröbste in Ordnung gebracht und das Einbeigen der Knüppel und Reisigbündel seinen Lauf nahm, wandte sich Jakob Brunner, nachdem er schon immerzu von der Notwendigkeit einer jüngern Arbeitskraft vor sich hingebrummt hatte, unversehens an Marei neben ihm und faßte sie mit einer ihr ganz ungewohnten Freundlichkeit liebkosend unters Kinn: "Was ist, Marei, du könntest eigentlich einmal ans Heiraten denken." - "Das tu' ich doch schon lang, Vater." - "So - und sagst kein Wort, du Lecker?" - "Ich fürcht mich vor Euch, Vater." - "Wenn du mir einen rechten bringst, brauchst du keine Angst zu haben, daß er mir nicht gefällt." - "Ich wüßt' Euch schon einen rechten, aber -?" - "Aber, aber. Ist kein Futter und kein Haber. So red' doch" - "Er ist nicht von unserm Stand." - Jakob Brunner atmete mit heimlicher Befriedigung auf. Sie waren auf gemeinsamer Fährte. Er wurde sehr aufgeräumt und ermunterte die Tochter aufs neue, nun doch Vertrauen zu fassen und aus sich herauszugehen. Aber sie zögerte wieder und griff den Saum ihrer Schürze entlang. Der Vater bot alles auf, ihr Mut zu machen und sparte, ganz entgegen seiner sonstigen Art, die Worte nicht. "Nun, so sei doch nicht so zimpferlich. Schaden würde es ja nichts, wenn der andere auch sein Teil zu brächte. Aber ist es nicht, so ist es eben nicht. Unser einer kann es auch machen ohne. Siehst du, es kommt mir allein auf die Hauptsache an: es muß ein Schaffiger sein, einer der den großen Hof überschauen kann und immer weiß, wo angreifen und helfen. Deiner ist doch ein[143]Werkhafter und Stattlicher!" - Diese Frage konnte Marei in Gedanken an Fägschmied ohne weiteres bejahen und tat es mit einem verschämten Lächeln. "Nun also," fuhr der Alte fort, "und daß er nun eben in Gottes Namen von draußen zugelaufen ist, das hat ja dann nichts zu sagen. Und im Spittel geht ja alles wie am Schnürchen, seit er -"

Marei drehte es im Kreise herum, doch rührte ihr Schrecken nicht so sehr von der jähen Zertrümmerung ihrer Hoffnung her, als von der bodenlosen Überraschung, ihren Vater, den besitzstolzen Großbauern, auf diesen Tochtermann lossteuern zu sehen. Durfte sie sich das jemals träumen lassen! Sie hätte es sich schon überlegt, warum nicht! Und nun hinterher kam sie sich fast wie angeführt vor - Hieseb hatte ihr mindestens so gut gefallen gehabt, wie der Ursula Kleinhannes. Aber da war sie doch viel zu sehr die Warmbacherin gewesen - denn nicht nur, daß er nichts zu beißen hatte - ein Hergelaufener, Landesflüchtiger - damit dem Vater unter die Augen kommen? Und jetzt - wünschte der sich nichts lieber als das. Vor ihr tanzte und schaukelte sich diese mit einemmal zur Wirklichkeit gediehene äußerste Unmöglichkeit, nach der sie nie die Hand auszustrecken gewagt, eben weil es doch nur das reine Hirngespinst hätte sein können. Die väterliche Andeutung verdrehte ihr in derselben Sekunde, da sie notdürftig verstand, mit Blitzesschnelle den Kopf - etwa, als würde ihr mit einem kreiselnden Pfropfzieher durch den ganzen Leib gebohrt. Sie rührte sich nicht, stand wie angenagelt, wurde weiß wie geronnene Milch.[144] Und das alles jählings, als der Vater mit seinem Vorschlag noch gar nicht zu Ende gelangte, sondern nochmals, diesmal unter ausdrücklicher Nennung des Namens ihr klar zu machen suchte, wenn sie also den Hieseb meine, so sei er, wie gesagt, gesonnen, mit sich reden zu lassen. - - -

So unbefangen Ursula Kleinhannes sich ihrem Vormund Ambrosmen noch immer gab, in letzter Zeit wich sie ihm aus. Wenn sie sich doch begegneten, vermied sie es, ihn anzusehen, und als er sie letzthin anredete, hatte sie nicht geantwortet, sondern nur still vor sich hin geweint. Ambrosmen dachte sich allerlei, kam aber dann doch über Vermutungen nicht hinaus. -

Es war Andreastag und ging auf den Abend. Ein Schneesturm war im Anzug. Ursula saß im Wohnraum ihrer Hütte, stumm, trübsinnig. Sie hatte Stroh auf dem Tisch liegen, doch flocht sie nicht; es saß ihr im Kopf und saß ihr im Herzen, sie wußte nicht was. Auf der Ofenbank kauerte Hexenbabi. Heut war sie gesprächig: Ursula schien heute zugänglich. "Nun, Ursel, hat das auch eine Art und Gattung für ein heiratslustiges Mädchen? Nie lässest du dir Karten schlagen. Nie schaust du in die Brunnen und Quellen. Soweit ich weiß, ist bei dir nie ein Bursche gewesen. Willst du denn verwelken und abstehen, und bist doch das blühendste Kind am See. Heut ist Andreasnacht, Ursel! Heut wirst du doch den Liebsten beschwören, wirst Bettstaffel treten!" So schwatzte die Alte und schilderte[145] Ursula einläßlich alle Ceremonieen dieses heimlichen Gebrauches. Schließlich stand Ursula auf und ging ohne ein Wort zu reden aus dem Stübchen.

Im Vorraum, der als Küche diente, stand der Herd. Da der Rauchfang versagte, war immer ein ätzender Geruch und Stickluft in dem Gelaß mit seinen geschwärzten Wänden. Ursula holte die Feuerzange vom Gehäng, die Gluten auf dem Rost wieder anzufachen. Sie nahm ein Streichholz, nahm Papier und schichtete von den dünnen, dürren Spänen erst nur wenige übereinander. Es knisterte, wollte aber nicht brennen. Die scharfe Luft griff von außen herab, so daß der Funke nicht aufschlagen konnte. Ursula hielt die Hand vor, worauf sich der Durchzug mäßigte. Die Flammen faßten und prasselten in die Höhe. Sie legte zwei Scheite nach, schloß das Eisentürchen, setzte den Topf über und schickte sich an, Kartoffeln zu schälen. Mühselig leuchtete das qualmige Ollämpchen, das an einem Draht vom Deckenbalken herabhing und drohte jede Minute auszulöschen. Ursula war nicht bei sich. Einen zinnernen Teller vom Schafte langend, riß sie zwei andere mit, daß sie polternd niederfielen. Ein Huhn flog gackernd von der Holzbeige auf. Die andern regten sich. Dann war wieder alles still. Draußen hörte man Schritte nahen, tönen, verhallen. Um diese Zeit war die Gasse begangen, wo die Hütte lag.

Jetzt schlich die Muhme heran und half das Abendessen herrichtn. Franz war heimgekommen. Sie setzten sich alle drei hin, schlurften ihren Kaffee, aßen ihre Kartoffelröste. Die Alte sagte nichts, nur schielte[146]sie mit den roten stechenden Augen zur Nichte hinüber und grinste, wenn diese sie ansah. Dann wurde sie verdrossen, brummelte vor sich her und bald schlief sie sitzend ein. Korberfranz machte sich mit der Laterne im Stall zu schaffen und ließ sich darnach nicht mehr sehen, sondern schlüpfte in seinen Strohsack, auch dort seiner Gewohnheit nach im Dunkeln bloß tastenderweise Weiden zu Striemen flechtend, bis ihn der Schlaf übermannte. Und am Morgen griff er dann noch aus den Träumen heraus nach dem Tagewerk, mit den starren Fingern / denenes nachts zuvor entsunken war.

Ursula steckte sich ein Lämpchen an und entfernte sich behutsam, um die Alte nicht zu wecken. Eine steile Stiege, mehr Leiter als Treppe, führte sie in den Oberraum, ihre Dachkammer. Das Stübchen war bei aller Armut freundlich. Saubere Vorhänge, ein Bund Strohblümchen in einem zerbrochenen Milchkrug und zwei fromme Jahrmarktsbilder in braunem Kartonrahmen schmückten es. Das Bett war niedrig und sehr breit, ehemals das Ehebett der Eltern. Uber dem Kopfende hing der Gedenkspruch von der Konfirmation. "Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht." Außerdem standen ein Tisch und zwei Stühle in der Stube. Ursula nahm ein abgegriffenes Büchlein aus der Schieblade, las erst stehend, lehnte sich dann blätternd über den Tisch hin, wobei sie den Kopf in die Hand stützte. Es war ein Briefsteller für Liebende jeglichen Standes und Geschlechts. Dann legte sie das Heftchen weg, setzte sich auf den einen Stuhl und starrte mit aufgerissenen Augen vor sich hin.[147]Mit einemmal schlug sie wie aus stummem Trotz die flache Hand platt auf den Tisch, sprang auf, öffnete das Fenster und lauschte hinaus.

Die Laken an den Scheiben flogen in die Höhe, die Ampel zuckte von der Zugluft. Es war pechfinster. In der Ferne hörte man den großen Sturm heulen. Ein Windstoß unter seinen Vorboten trieb ihr eine Hand voll eisiger Flocken ins Gesicht. Sie schloß das Fenster, ging zur Türe, öffnete einen Spalt, horchte hinunter: alles ruhig, das Licht gelöscht, die Muhme also zu Bett. Ursula setzte das Lämpchen über die Stiege ab, daß es nach unten hell gebe, jeden Tritt prüfend, sich mit den Händen haltend, stieg sie hinunter, suchte Sachen zusammen und brachte sie geräuschlos zu sich hinauf. Sie richtete den Tisch wie zum Essen her: ein weißes Linnen, Teller, Besteck und Gläser für zwei Leute, dazu Käse, Brot und einen Krug Most.

Bei dem geschlossenen Fenster und der erregten Luft vernahm man die zehn oder elf Stundenschläge vom Kirchturm nur mühsam; Ursula zählte nicht sicher. Sie entkleidete sich und löste das Haar. Die Sitte der Mädchen in der Andreasnacht wollte es, daß Ursula ihr Hemd auszog und das mittlere Brett des Fußbodens damit kehrte. Darauf nahm sie den Handspiegel vom Nagel an der Wand und besah sich, ebenfalls der Sitte gemäß beim Ampellicht. Durch das Spiegelbild geleitet, langsam rückwärts schreitend, sagte sie den üblichen Spruch her:

Bettstatt, nun betritt ich dich

Andreas und nun bitt' ich dich -
[148]

Der Sturm war da. Über ihr, am Dache, tobte er. Aber sie unterschied noch ein anderes Geräusch und glaubte hinter den Scheiben etwas sich bewegen zu sehen. Scharf und deutlich klopfte es dreimal ans Fenster. - - - - - - - - - - -

Sehr viel später, als der Winter schon wieder seinem Ende zuging, trat Hexenbabi zu dem Sohn heran, der hinter dem Hause mit einem an Besessenheit grenzenden Fleiße seine Besen band. Es müsse jetzt einen Weg gehen, hatte er gesagt, und die Mutter, die den Vertrieb übernommen, wußte sie ziemlich alle an den Mann zu bringen. Selbst in der schlechtesten Zeit brachte sie höchstens ein oder zwei Stück nach Hause und jetzt gar, wo der Früjahrs⸗Kehraus vor der Türe stand, pflegte der Ausverkauf vollständig zu sein.

Sie zischelte dem Sohne zu: "Der Spittelsämi braucht ja nicht gerade die Nase dazwischen zu haben, aber etwas riechen könnte er nun doch." "Ihr könnt es ihm stecken, wenn Ihr wollt," sagte Korberfranz trocken, und deutete nach dem Feldweg, wo eben Ambrosmen mit einem beladenen Stoßkarren gegangen kam. "Meinetwegen," grinste die Alte, "wenn er ja gerade am Mistfahren ist, geht es in einem zu." Und sie humpelte an den Hag. "Grüß dich Gott, Sämi." - "Grüß dich Gott, Babi." - "Bist am Misten?" - "Ja, ich will noch vertun, ehe es wieder anfängt, aufzuweichen."

Eine willkommene Fügung enthob die Alte aller[149]Umschweife. Ambrosmen bewerkstelligte von sich aus den Ubergang. Er war ihrer kaum ansichtig, so nickte er wichtig und winkte ihr, offenbar um sie ins Gespräch zu ziehen. Sie dachte erst, er habe Wind bekommen und wünsche sie auszuhorchen. Aber er rückte mit einer Sache heraus, an die sie selbst nicht gedacht hatte, obschon es sie doch näher anging. Ihr eigener Sohn, der Korberfranz, hatte ein halbwüchsiges, gänzlich unerfahrenes Mädchen ins Gerede gebracht. Nicht böswillig, vielmehr mit der überall gutmütig verkündeten Absicht, zu heiraten, sobald er soweit sei - und darum band er nun auch in einem fort Besen und Körbe drauf los, zwei für einen. Mit dem Ehrgefühl des Bettlers hatte er sich zur Gründung seines Hausstandes einem noch ärmeren Geschöpf, als er selber war, verbunden: Nummer so und so viel aus einer vagantenhaft mittellosen und kinderüberreichen Taglöhnerfamilie. Was Hexenbabi mit seiner Botschaft im Schilde führte, entsprang freilich im letzten Grunde dem Bestreben, Ursulas Heirat und Wegzug zu beschleunigen, um dadurch im Bereich der eigenen Erbfolge freie Hand zu bekommen. An der weit harmlosern Klatschgeschichte dieser andern, selbst auf dem Dorfe ungewöhnlichen Armenkinderliebschaft, hatte Ambrosmen allen Anteil genommen und zwar unter Bemäntelung der Neugier mit der Würde des um den öffentlichen Wandel besorgten Wohltäters. Er erachtete eine herzlich gemeinte Warnung am Platze und gedachte, etwas der Art bei der Alten anzubringen, da er kein Wesen auf Gottes Erdboden für verderbt genug hielt, daß[150]nicht am Ende sein Zureden doch noch Gutes zu stiften vermöchte. Selten war Hexenbabi ihrer sicher treffenden Bosheit gewisser gewesen, als jetzt. Sie zerkleinerte erst seine ruhig dahinrinnenden Erbaulichkeiten durch allerlei Wenn und Aber, die sie von ungefähr zwischen hineinwarf. Dann erhob sie ihre Hand und gestikulierte so dicht auf ihn ein, daß es aussah, sie setze ihm buchstäblich einen Floh hinters Ohr.

Gewiß, meinte sie, sei es unrecht von ihrem Franz, so öffentlich Argernis zu erregen. Aber sie als Mutter werde ihn doch noch in Schutz nehmen dürfen. Franz sei jedenfalls lange nicht der Schlimmste, er mache wenigstens kein Hehl daraus. Dagegen wisse sie von andern, die außenum sittig und fromm täten, und wenn man von innen zusehen wollte! Nein, wer das gedacht hätte! Aber so sei es - die sich am meisten aufspielten - doch wollte sie nichts gesagt haben - sie könnte es sonst noch mit Leuten zu tun bekommen, mit denen sie es nicht verderben wolle. Da wäre mehr als eine - "Wer zum Beispiel?" blinzelte Ambrosmen, der Neuigkeiten witterte. "Aber Herr Spittelschreiber," hüstelte Babi untertänig, "Ihr werdet mich doch nicht zum Narren haben wollen? Habt Ihr den Storch auf dem Kirchendach noch nicht klappern hören?"

Als Ambrosmen nur noch zutraulicher schmunzelte statt endlich zu merken, daß er Zielscheibe war, ließ das Weib ihre Lästerzunge lockerer gehen: "Wo denkt Ihr hin, Herr Spittelschreiber. Wenn wir schon Besenbindersleute sind, so werde ich mir doch nicht herausnehmen, Euch vor Eurer Tür kehren zu helfen." Jetzt[151] spürte Ambrosmen die Frechheit und daß es ihm galt. Er verlor die Fassung, noch bevor er begriff, worum es sich handelte. Babi nützte auch seine Bestürzung aus, indem sie nun unter dem Schein tiefen Mitgefühls die Enthüllung vornahm: "Ach, Ihr guter Herr, ich kann gar nicht sagen, wie Ihr mich gedauert habt. Denn gar noch von zwei Seiten so am Narrenseil herumgeführt zu werden, wie ein Tanzbär, der gleich zwei Ringe in der Nase hat -" Und nun hielt die Otter nicht länger an sich, sondern spritzte ihm ihr Gift zu: Hannes und Ursula hätten sich zusammengetan, und es stand etwas zu erwarten.

"Es wird etwa nicht sein!" murmelten Ambrosmens Lippen selbsttätig. Er selber stand da, als hätte ihn der Schlag gerührt. Die Arme hingen ihm schlaff am Leibe hinunter, und die Achselbänder hielten den Stoßkarren in der Luft schwebend, als wären seine Griffe an einem Gestell aufgehängt. Doch wirkte das entwürdigende Bewußtsein, der Betrogene zu sein, diesmal belebend. Bleich sah Ambrosmen auch sonst aus und unbeholfen benahm er sich so wie so, also fiel an seinem Gebahren kein allzugroßer Unterschied gegen das Alltägliche auf. Auch war er, obwohl keine Natur von starkem männlichen Drange, doch der allgemeinen Bauernart nicht so sehr entwachsen, als daß er nicht mitten im jähen Zusammenbruch seiner Glücksträume noch geschwind seinen Vorteil zu wahren wußte.

Ursula, deren künftigen Besitz er sich immerzu in aller Behaglichkeit zurechtgerückt hatte, mochte ihm verloren sein, so brauchte er doch nicht auf den Einfluß zu ver[152]zichten, den er auf ihre Seele ausübte. Die Stunden der Sekte, die er und sie als vielleicht eifrigste Mitglieder in Neuenach am Leben erhielten, wurden von Rechts wegen von dem Wandergeistlichen abgehalten; aber dessen doch nur zeitweilige Anwesenheit forderte einen Stellvertreter aus den Zuhörern heraus und Ambrosmen war es, der in erster Linie den Dienst des Zwischenhirten und laienhaften Vorbeters unter nicht geringem Ansehen versah. Die erste Regung seines Widerspruches bestand in dem heftig aufwallenden Willen, vor allem die Beichte weder aus zweiter Hand entgegenzunehmen noch sich das Recht eines kräftig scheltenden Zuspruches verkümmern zu lassen. So beschloß er, Ursula unverzüglich zur Rede zu stellen, würdigte die über seine ausbrechende Entschlossenheit nicht wenig überraschte Hexe weiter keines Blickes mehr, entschlüpfte flink den Tragriemen des Karrens und drang schleunig in die Hütte vor, indem er mit dem durchdringenden Nasenton seiner erhobenen Stimme nach seinem Mündel rief.

Sie fand sich alsbald über die Hühnertreppe hinunter aus ihrer Kammer im Erdgeschoß ein und Ambrosmen glaubte mit dem einen Blick, den er über sie warf, die Zuträgereien der Alten leider hinreichend bestätigt zu finden. Er kehrte seinen ganzen Ernst hervor und nahm das Mädchen ohne Umschweife ins Gebet. Sie ergab sich seinen strengen Vorstellungen gegenüber ohne weiteres, und brach in strömende Tränen und lauter Anklagen gegen sich selber aus, so daß dem in der Rolle eines Gottesmannes vor ihr stehenden Ambrosmen selber ganz beweglich und[153]angesichts ihrer Verzweiflung sogar ängstlich zu Mute wurde.

Jedenfalls benutzte er diesen Anlaß zur Gefühlsseligkeit zurückzukehren ohne Säumen. Die Zerknirschung des Mädchens bot ihm hinreichende Genugtuung für den seiner Person erwachsenen Schaden, und er fand sich mit nicht allzu schwerer Uberwindung in die Rolle des Entsagenden, zumal ihm an dem wirklichen Glück seines Mündels aufrichtig gelegen war und er sich gern bereit erklärte, die eigene Zurücksetzung hinter einem Hans Hieseb zu billigen. Nur über die sündigen Anfänge dieser schließlich auch ihm erfreulichen Ehe wollte sein ängstlich und grüblerisch frommer Sinn nicht hinwegkommen. Dafür mußte doch früher oder später eine göttliche Strafe eintreten.

Die böse Muhme kam hinter ihm hergehumpelt und brachte zur Sicherheit den Korberfranz mit; die energische Weise des lammsanften Spittelsämi hatte sie zur Vorsicht gemahnt, und sie wünschte nun auszuforschen, nach welcher Seite hin die von ihr aufgestochene Unruhe wieder zu glätten sei. Als sie jedoch wahrnahm, daß andere als heilige Bedenken sogar im Gemüt des entthronten Liebhabers nicht nachwirkten, wurde ihr selber ganz erbaulich zu Mute, und sie schickte sich an, durch fernere Neuigkeiten den Kreis ihrer Uberraschungen abzurunden. Da sprach sie denn von Ursula als von der künftigen Pächterin der Seeau, und Ambrosmen hätte unter diesen vom Korberfranz noch verstärkten Andeutungen ein neues Mal aus den Wolken fallen können, wäre er nicht durch eine ihm allerdings noch unverständ[154]liche Bemerkung seines Vorgesetzten Zumbühl vorbereitet, für die nächste Sitzung des Pflegamtes mit großen Erwartungen erfüllt gewesen.

In der Tat trügte dieses Gerücht nicht. Die Pacht auf der Seeau wurde nämlich um diese Zeit frei durch das Ableben des bisherigen Inhabers, Namens Brunner, ein Onkel des Ammanns. Auf diese Ehrenstelle spitzte sich mancher im Dorf, als aber die Pflegerschaft sich in der Kanzleistube des Klosters zusammenfand und es soweit gediehen war, mit Vorschlägen herauszurücken, da hörte Jakob Brunner, der den Vorsitz führte, den Meinungen der übrigen ruhig zu, ohne eine Miene zu verziehen; dann aber räusperte er sich und hielt - er der sonst den Satz sparte, wenn es mit einem Worte getan war - eine förmliche Rede: "Löbliches Pflegamt des Armen⸗ und Spitalgutes von Neuenach am Obersee," so begann er und sicherte sich damit von vornherein die gespannteste Aufmerksamkeit der Anwesenden - "ich kann mich heut nicht so kurz fassen wie sonst und als es mir lieb wäre. Denn ich, der ich doch sonst in allen Dingen das altväterliche Herkommen über alles hochschätze, muß nach bestem Gewissen mit einer Neuerung vor euch treten. Ihr wisset, man schreiet uns ringsum die Ohren voll, es sei jetzt eine neue Zeit angebrochen - und gerade, weil ich der alten Zeit ihr Recht bewahren möchte, glaubte ich, müssen wir uns mit der neuen Zeit wohl oder übel abfinden. Aus diesem[155]Grunde schlage ich vor, von der üblichen Besetzung der Seeauer Pacht durch einen alteingesessenen Bauern abzugehen und einen nichtbegüterten, aber in der Wirtschaft wohl bewanderten Landmann zu wählen. Dann kann uns doch der Kaspar Fägschmied nicht immer wieder kommen, wir hätten kein Herz für das niedere Volk. Mit schönen Worten und leeren Reden ist da aber nichts getan; jetzt haben wir die beste Gelegenheit, dem unverbesserlichen Wühlhuber ein für allemal den Mund zu stopfen. Setzen wir also zum Pächter auf die Seeau hinüber den jungen Hans Hieseb, zur Zeit Knecht im Spittelgut. Er ist aber ein Bauernsohn von einem großen Hofe im Luzernerbiet und durch ein Unglück, das ihm im Sonderbundkrieg widerfahren, zum Fremdling geworden. Ich darf wohl sagen, daß sein Mißgeschick eine gute Fügung für uns in Neuenach geworden ist, denn der Jüngling hat sich als ungewöhnlich tüchtig und leistungsfähig erwiesen, und ich denke, es ist nicht am falschen Ort vertraut und versucht, wenn wir ihm hier eine Heimat anbieten, so daß er nicht länger unter Fremden zu wohnen braucht. Wie gesagt, gegen einen, von dem man nicht weiß, woher er kommt, wär ich auch mißtrauisch, aber hier, wo es sich um einen geborenen Bauern handelt, wollen wir uns doch aus den Fäden das Seil zu unserm Nutzen drehen. Machen wir ihn zum Pächter, so haben wir drüben den besten Landwirt, den wir haben können und erwecken im Dorf keinerlei Eifersucht dadurch, daß wir den einen Bewerber vor dem andern bevorzugen. Also löbliches Pflegamt, ich bin für den Hieseb."

[156]

Nun war unter den Mitgliedern des Pflegamtes, denen diese Rede des Warmbachers zu Gehör kam, naturgemäß Zumbühl der einzige, der tiefer sah. Auf ihm hafteten denn auch die kleingekneiften Augen des Sprechers. Und so gebieterisch fiel dieser Blick aus, daß der Friedensrichter sich alsbald zum Wort meldete, um den Antrag des Vorsitzenden zu unterstützen. Bei der ihm eigenen vorsichtigen Art fiel Zumbühls Empfehlung bei den überraschten und ahnungslosen Zuhörern desto schwerer ins Gewicht. Zu einem nennenswerten Widerstande kam es gar nicht. Gerüchtweise hatte es schon vorher verlautet, Hieseb stehe nun plötzlich an hoher Stelle in Gunst. Aber die Vermutungen, die sich in diesem Falle doch hätten verwahrscheinlichen müssen, fanden nirgend woher Nahrung; die Mitwisserschaft von Brunners eigentlichem Beweggrunde blieb auf den klugen und gefügigen Zumbühl beschränkt, und ein müßiges Gerede von einer bevorstehenden Eidamschaft Hiesebs beim Warmbacher fiel schon deshalb bald zu Boden, da der Spittelknecht mit Ursula bereits in der Kirche verkündet war. So hatte Brunner, der, wenn er schon einmal ein übriges tat, dann auch gleich herrschaftlich zu Werke ging, leichtes Spiel, den ja gänzlich mittellosen jungen Mann nicht mit leeren Händen nach der Seeau übersiedeln zu lassen. Es wurde beschlossen, die notwendigste Ausrüstung an Ackergerätschaften samt einigem Horn⸗ und Kleinvieh ihm aus der Hinterlassenschaft seines Vorgängers zu erwerben, und außerdem das von alters her mit der Pacht verbundene Vorrecht bewilligt, je nach[157]Bedarf und Belieben sich seinen eigenen Hengst, seinen eigenen Zuchtstier und sein eigenes Wucherschwein zu halten. Als dann aber gar noch von einem baren Vorschuß gesprochen wurde, fing das an aufzufallen und erregte Verwunderung, worauf der Warmbacher ohne weiteres von diesem Zusatz zurücktrat und also kein Mensch länger Verdacht schöpfen konnte gegen geheime persönliche Zwecke, die der Ammann mit seinen freigebigen Anwandlungen ja nur allzu sehr verfolgte.

Nicht acht Tage später ging Hans, den Strauß des Hochzeiters an die Brust gesteckt, nach der Ruchgasse, um Ursula zur Kirche zu führen. Auf der Schwelle der Hütte vertrat ihm Korberfranz den Weg, sagte Ihr und Herr zu ihm und bat ihn um die Patenschaft für sein kürzlich geborenes, noch uneheliches Kind. Wenn ein Seeauer Pächter sich seiner annehme, so werde es dem Besenbinder auch leichter, sich weiter zu helfen und mit der Zeit könnte dann sogar er ans Heiraten denken. Einstweilen habe sein Mädchen eben ein einziges Laken übrig gehabt, um das Kind - es sei ein Bub - darein einzuwickeln. Aus einem Winkel kam Hexenbabi hervorgekrochen. Unter süßlichem Getue suchte sie allerlei unflätige Anspielungen anzubringen. "Hochzeit, höchste Zeit," grinste sie. Da fuhr aber Franz auf seine Mutter los und packte sie zornig an der Gurgel. Den ihm eben erstandenen Wohltäter zu verunglimpfen! Und dazu den Mann der eigenen Pflegetochter! Ohne Umstände griff er nach einem Holzknüppel. Als das junge Paar zum Kirchgang die Hütte verließ, mischte sich in das Festgeläute der Glocken das Wut⸗ und Schmerzens[158]geheul des alten Weibes, das von dem eigenen Sohne aus Entrüstung geprügelt wurde.

Vom See her kam mit einer Fracht Steine der Warmbacher langsam dorfwärts gefahren. Er hatte zwei prachtvolle brandschwarze Rosse vorgespannt. Die legten sich in das hellgescheuerte Geschirr und strafften an und schnaubten, daß es ein Staat war. Jakob Brunner ermunterte sie durch Rufe und mit der erhobenen Geißel. Dann trat er hinter den Wagen und warf zwischen den Bäumen hindurch einen Blick von hinten in den Klosterhof. Eben betraten die beiden Hochzeitsleute, gefolgt von ihren Zeugen Zumbühl und Ambrosmen die Kirche. Ein Anflug verächtlichen Mitleidens verschob die sonst senkrecht und wagerecht fadengerade sich gleich bleibenden Gesichtshälften des Warmbachers auf einen Augenblick ins Unsymmetrische. "So ein Simpel!" brummte er, "kann meine Marei haben und nimmt die Schnapserstochter."

Der Aufwand, den die jungen Eheleute sich nach vollzogener Trauung erlaubten, bestand aus einem Herrenessen im "Weißen Kreuz", nur sie beide allein und zwar im Hinterstübchen. Rübstiehl kam mit einer Flasche schönem alten Wein, um seine Aufwartung zu machen und beim Nachtisch mit ihnen anzustoßen. "Die Pächtersleute der Seeau hoch, hoch und noch einmal hoch!" Sie saßen bis in den Nachmittag hinein und waren lange Zeit sehr vergnügt. Dann aber stieg ihnen der ungewohnt echte und kräftige Wein zu Kopf, oder es regte sich ein seelischer Widerstand irgend woher. Sie wurden plötzlich beide einsilbig und mißmutig. In[159]der frischen Luft, auf einem Spaziergang, den sie darauf hin antraten, änderte sich das auch nicht wesentlich. Ursula tat sehr schnippisch und zeigte sich zwiespältig gelaunt, indem sie Hans erst mitten auf der Dorfstraße um den Hals fallen wollte, ihn dann aber mit dem Ellenbogen von sich stieß und, kaum daß sie das Dorf im Rücken hatten, in einem lauten Weinkrampf wehklagte und stöhnte, so daß dem jungen Ehemann aller Hochzeitsjubel verging. Er trachtete einen Blick seiner ihm nun rechtmäßig angetrauten Gattin zu erhaschen: Da stand sie still und schaute ihn an mit einem grünlich schillernden Strahl voll Hasses, daß es ihm heiß und kalt über den Rücken lief und ein heimliches, aber übermächtiges Grauen ihm das Blut gerinnen machte. So erlebten beide noch einen Augenblick wahren Elends und Entsetzens.

Aber der Segen des Tages gewann die Oberhand. Ihre Wanderung führte sie talaufwärts an dem bewaldeten Hügel hinan, und als sie wieder an jenem Ackerchen standen, wo ihnen einst jenes heute feierlich ausgesprochene Jawort ein erstes Mal zum Gelübde geworden war, da faßten sie sich unwillkürlich an, nur ganz sachte, mit den Fingerspitzen und betraten den Winkel, der durch die Haselnußhecke gebildet wurde. Noch standen die Stauden und auch der dahinter ansteigende Laubwald kahl: Doch saßen die Zweige bereits voll erster Triebe und Schosse, bereit, jeder Zeit auszubrechen und in Blüte zu stehen. Und aus den Ackerzeilen, die Hans damals umgebrochen, lugten und äugelten die gelb⸗grünen Spitzen frischer Halme. Und über ihnen[160]am Himmel zerriß das Gewölk; es wurde blau zwischen den grauen Luftballen, und ein warmer Sonnenstrahl floß hernieder und traf sie und wärmte sie. Sein junges Weib aber, die Ursula, hängte sich an ihn mit der ganzen Schwere ihres Leibes und flüsterte ihm zu, es werde ihr sauer, so lange aufrecht zu stehen, die Glieder täten ihr weh, sie sei müde. Der Kopf mit dem Möndchengesicht sank ihm ans Herz; wieder hörte er sie weinen. Aber es war jetzt ein anderes Weinen, als eben noch der Krampf und das Stöhnen. Es klang leise und friedlich und gut. Sie blickte verstohlen zu ihm auf, einmal, zweimal, und dann verbarg sie ihr Gesicht eigentlich nur noch, um wieder und immer wieder aufs neue zu ihm aufschauen zu können. Er sah es auch ihren Augen an, daß das ihr wahres Antlitz war, daß sie in der Seligkeit und nicht in der Verängstigung sich selber gefunden hatte. Da umfing er mit geizenden, jubelverhaltenen Blicken bald sein Weib und bald das in den Anzeichen des Vorfrühlings aufmerkende Land rings um ihn her, und er dachte: das alles müßte doch eine ungeheure, bodenlose Lüge sein, wenn es von nun an nicht Bestand haben sollte mit mir und meinen sieben Sachen. Er spürte, wie die Kraft eines Riesen ihm durch den Arm strömte und drückte Ursula fester an sich, so daß er sie mehr trug, als daß sie neben ihm stand. Glücklich war er jetzt, ein für allemal glücklich.

[161]

Sechstes Kapitel.

Pfarrer Sandhuber, der seit mehreren Jahren verwitwet war und von seiner Frau einen Sohn Namens Arnold hatte, verlobte sich um jene Zeit mit dem freundlichen Sommergast im "weißen Kreuz", dem Fräulein Buchelfinger. Und kaum waren sie von der bescheidenen Hochzeitsreise zurück und saß die neue Pfarrfrau am zweiten oder dritten Sonntag in ihrem Stuhl schräg unter der Kanzel, so kamen die Seeauer Pächtersleute und ließen taufen. Es war ein Söhnchen und sollte Hans Leugelt heißen. Die Predigt, die der Handlung voraufging, über den frommen Dulder Hiob, ergriff die Zuhörer, und man sah es auch dem Geistlichen an, wie sehr ihm seine Worte aus dem Herzen kamen. In gefühlvollen Ausdrücken entschwebten bewegliche Gedanken den vom weichen Flaumbart umrandeten Lippen. "Der Hiob, liebe Freunde, den müßt ihr euch denken, wie er vor seinem Zelte sitzt in der Wüste oder dicht dabei. Er hat keine Hosen angehabt, wie wir, sondern ein weißes Leintuch um den Leib geschlungen und einen Turban auf dem Kopf. Und wenn ihr auf dem Bilderbogen schon Beduinen gesehen habt, so könnt ihr ihn euch meinetwegen auch mit einer lang[162]läufigen Flinte ausgestattet denken. Sonst aber ist der Hiob ein Mann gewesen, wie er auch unter uns denkbar wäre. Hat Kinder gehabt und sie verloren, hat große Herden gehabt und sie verloren und schließlich befiel ihn eine furchtbare Krankheit und er hat sich mit einer Scherbe die Haut geschabt und auf einem Aschenhaufen dagesessen. Und dann seine Freunde! Ihr wißt, es sind Freunde bei ihm gewesen. Die sagten ihm wie er es nicht machen solle, sonst sündige er. Und dennoch ist aus dem Hiob ein Mann geworden, der sich aus dem Unglück sein Glück geschaffen hat. Er fühlte sich tief zu Boden gedrückt und wußte, das war Gottes Hand, die ihn demütigte und so war es alsdann auch wieder Gottes Hand, die ihn aus den Tiefen emporführte. Hans Hieseb saß als Täuflingsvater im Ehrenstuhl am Taufstein und lauschte andächtig der Geschichte des frommen Landmanns, der mitten in seinem Wohlstande vom Unglück heimgesucht worden sei. Im Gefühle seiner männlichen Vollkraft und aus der Überlegenheit eines kühnen Glückes heraus empfand er nachdenklich, wie schlecht es dem begünstigten Menschen anstehe, sich um keine höhere Macht zu kümmern, als um die eigene. Und noch wundersamer überkam es ihn, den nur an unverständliche Litaneien gewöhnten Katholiken, als die Gemeinde den deutschen Choral sang:

Allein Gott in der Höh' sei Ehr

Und Dank für seine Gnade,

Darum daß nun und nimmermehr

Uns rühren kann kein Schade.
[163]

Unten am See an der Schifflände machte Fägschmied ein schönes Boot, das in einigem Abstand vom Ufer unter einem Holzverschlag festgebunden lag, für die Überfahrt zurecht. "Willst heut mit dem bessern fischen, weil Sonntag ist," scherzte ein Bauer im Vorübergehen. "Der Hieseb tauft heut," gab Fägschmied trocken zurück und fuhr fort, das Riemenwerk an den Rudern in stand zu setzen. Er hatte Grund zur stillen aber fröhlichen Einkehr in sich selbst. Noch immer war er unverheiratet. Um keinen Preis ließ sich Marei Brunner nach jenem fürchterlichen Mißverständnis mehr für eine Förderung ihrer gemeinsamen Angelegenheit herbei. Dem Vater hatte sie den wahren Sachverhalt gar nicht mehr aufgedeckt, sondern sah alle ferneren Zukunftspläne zu nichte werden, wenn sie bei dieser Gesinnung noch einen Finger rühre, für was es sei. Um sich einen Ausweg aus ihrer Verlegenheit zu verschaffen, sah sie sich nach einer Unterkunft auswärts um und es gelang ihr, den Vater zu bewegen, daß er sie für ein halbes Jahr ins Welschland schickte. Jetzt war sie zurück und heute bot sich die erste unauffällige Gelegenheit, da sie Fägschmied wieder sehen sollte. Als Freundin der Ursula hob sie deren Kind aus der Taufe und der Schifflein⸗Kaspar sollte mit Zumbühl und Ambrosmen, der seinerseits ehren⸗ oder schandenhalber zur männlichen Gevatterschaft gebeten worden war, mit hinüberfahren. Der Taufzug wurde hinter der Linde sichtbar. Voran das Kind auf dem Arm der Warmbacher-⸗Marei, nicht mehr so eckig wie früher, sondern rundlich geworden und daher anziehender. Ihr Part[164]ner, der Spittelschreiber, sah an ihrer Seite verschienen aus und wußte nicht, wohin blicken vor lauter Feierlichkeit. Zumbühl ging hinten neben Ursula, die müde aussah und rotgeweinte Augen hatte, und neben dieser schritt ebenfalls in einigen Gedanken Hieseb. Jetzt beim Zug über den Platz strahlte ihnen die Morgensonne übers Kloster hinüber gerade ins Gesicht, so daß sie unwillkürlich den Mund zum Lachen verzogen und kleine Augen machten.

Das Sonntagsboot faßte eben die Gesellschaft. Hieseb wollte an die Ruder greifen. Allein Fägschmied machte ihm einen gehörigen Marsch: "Halt du dich hübsch still', hast du gehört. So ein Kindbetter darf sich nicht in der ersten Zeit gleich wieder übernehmen, sonst geht es noch bös." Von diesem Scherz lebte die fröhliche Unterhaltung, so ziemlich bis man drüben angelangt war. Immer wieder lachte Ursula, ihrem bleichen verweintem Antlitz zum Trotz, über den drolligen Einfall hell auf und Mareis dralles Scheibengesicht strahlte vor Stolz und nickte Fägschmied seit langem wieder die ersten Aufmunterungen zu. Zumbühl sekundierte mit einigen trocknen Späßen. Hieseb schmunzelte. Selbst der Säugling meldete sich mit offenbaren Kundgebungen von Freude. Ambrosmen in seinem schwarzbraunen stets aufgesträußten Zylinderhut war der einzige, der sich durch den Witz nicht rühren ließ und seiner aus der Kirche mitgebrachten Gestrengheit nichts vergab.

Drüben im Bereiche seiner jungen Macht gab dann Hans eine Aufwartung nach der andern. Auf dem Lande hat jedes Zweckessen weder Anfang noch Ende,[165] und als sich allmählich der Taufeschmaus mit allen seinen Vor⸗ und Ausläufern gleich Fangarmen eines Polypen den Gästen ums Gemüt legte, war anderes Unheil nicht angerichtet, als daß die geweckte Empfänglichkeit und das Bedürfnis, sich mitzuteilen, alle Schleusen aufzog. Ambrosmen blieb zwar bei den Frauen sitzen, die drei eigentlichen Männer hingegen tranken nun, für eine halbe Stunde, endgültig aus und erhoben sich zu einem Rundgang um die Insel. Hans nahm die beiden als Sachverständige für voll und weihte sie offenherzig in seine Pläne und Anlagen ein. Es gab allerlei zu sehen. Seine Erfindung verfiel auf Dinge, an die sonst keinem Menschen ein Sinn gekommen war. Er wollte in nichts hinter den Anforderungen zurückbleiben, die an einen besuchten, ländlichen Vergnügungsort gestellt zu werden pflegen. So hegte er zunächst neben dem Pächterhause einen geräumigen, viereckigen Raum ein, so daß die Gäste an den Tischen vom weidenden Vieh unbelästigt tafeln konnten; er zimmerte ferner zwei Kegelbahnen, die eine hinter dem Haus, die andere etwas weiter weg zwischen den Ställen und besserte den arg zertretenen Tanzboden hinten auf der Waldwiese aus. Dazu kamen allerlei Kleinigkeiten, vor allem aber das erst neu geplante große Unternehmen, an einem Hügelrande Steine zu brechen, mit diesen einen Hafen auszubauen, dann einen Damm in den See hinein zu treiben, bis wo es tief wurde und ein Dampfschiff anlegen konnte. Auf diese Aussicht hin war die Aufnahme der Seeau unter die Haltestellen von der Schifffahrtsgesellschaft sofort zugesichert worden. Kurz, die[166] Besichtigung lief auf lauter Lob und Anerkennung hinaus. "Ja, ja," sagte Zumbühl, "Ihr werdet nicht ruhen, Hieseb, bis die Seeau als Ausflugsziel einen Namen hat." "Und doch wird es dann schwer zu sagen sein," ergänzte Fägschmied liebenswürdig, "welcher Beweggrund mehr Leute übers Wasser führt, - der schöne Punkt, oder das Vergnügen, mit dem Hans einen Schoppen zu trinken."

Der warme, sonnige Tag ging zu Ende. Die beiden standen neben Hieseb an der Landungsstelle und schauten nach Neuenach hinüber. Sie hatten einen Knecht mit Fägschmieds schönem Boot abgeschickt, um Sandhuber mit Frau noch herüber zu holen, sie hatten auf ein Stündchen zugesagt, aber eben erst nach Erledigung seiner sonntäglichen Pflichten. Auch schloß sich ihnen vielleicht der Doktor an.

Sandhubers schöner Vortrag, seine Gewohnheit, die Tagesereignisse anzuziehen, das Geschick, seine Erbaulichkeit in die Welthändel überfließen zu lassen, der stille Freisinn seiner Anschauungen und das warme lautere Gemüt, mit dem er wohlgemut in der Natur die Offenbarung einer allgemeinen Güte sah - das alles hatte in der heutigen Morgenpredigt den zur innerlichen Andacht geneigten jungen Taufvater hingerissen und überwältigt und er hatte sich im stillen gesagt, einen bessern Pfarrer als den gäbe es doch gewiß im ganzen Kanton nicht. Diese Versicherung wiederholte er jetzt auch gegen seine Gäste: ihrer sei der beste ringsum. Oder ob etwa nicht? Fägschmied wollte das auf sich beruhen lassen, da es mit den Pfarrern unter[167]schiedlich sei - der eine wolle den seinen lieber so, der andere lieber so. Was ihn betreffe, so dünke ihn, am besten wäre es, man brauchte keine. Auch Zumbühl mußte heran; sonst machte Hieseb Miene sich zu ereifern. Der lachte auf den Stockzähnen und setzte dabei sein bedenklichstes Gesichtauf: "Was brauche jetzt da ich noch meinen Senf dazu zu geben? Meine Erfahrungen vom Kirchengang sind nicht die besten. Einmal ist ein Haar breit neben mir ein Ziegel vom Turmdach niedergefahren. Ein ander Mal, so bei einer Donnerskälte, habe ich Zahnreißen mit heimgebracht. Und dann immer diese Umstände, daß man sich noch extra 'sonntagen' muß. Nur so rasch hemdsärmlig und in Pantoffeln, wie ins "Schifflein" hinüber, kann ich doch nicht zur Kirche. Aber richtig, Ihr habt ja nach dem Pfarrer gefragt. Gegen den Pfarrer habe ich nichts. Der Pfarrer ist recht." Hieseb veranlaßte dieses Wohlwollen, nochmals mit seinem vollen Lob einzusetzen. "Ich bin doch gewiß nicht rührselig. Ich wüßte nicht woher. Aber heute morgen hat es mir über die Maßen wohlgefallen, ich bin noch ganz erbaut davon. Dergleichen habe ich auch schon von mir aus denken wollen. Ich habe es so zu sagen vorn auf der Zunge gehabt, ach, ich kann gar nicht sagen, wie lange schon. Aber es so sagen wie der da, das hätt' ich in drei Teufels Namen nicht gekonnt."

Der See lag spiegelglatt. Kein Luftzug kräuselte seine Fläche. Der rosenrote Abend schimmerte darin. Die beiden Bauern und der Friedensrichter späheten mit ihren Sperberaugen übers Wasser. Dort sahen sie[168]am Ufer vor dem "Schifflein" drei Gestalten, die aus einer entfernteren Gruppe heraustretend bis an den Rand des Wassers herankamen - sie gewahrten sie nicht größer als Stecknadeln. Alsdann vernahmen sie, da sie ebenfalls aufmerksam hinhorchten, das ganz entfernte Geräusch einer fallenden Kette und nicht viel später leise Ruderschläge im Wasser, in dem der grüne Bug des Bootes bald darauf als wachsendes Pünktchen zu erkennen war. Die Ehrengäste befanden sich also unterwegs. Nun aber geschah etwas Unerwartetes. Wohl hatten sie von den blinkenden Messinginstrumenten, die aus einem schwärzlichen Grüpplein Menschen herausglänzten, auf Musikanten geschlossen, und schon erwogen, welche Blechmusik es wohl sein möge, sich jedoch verwundert, daß immer noch kein fröhlicher Ländler erschallt war. Jetzt freilich schien es werden zu wollen, da sich die Bläser dem Uferrand entlang aufreihten. Was sie vorhaben mochten? Fägschmied wettete auf den Berner Marsch. Statt aller weltlich lustigen Töne kamen jedoch die erhabenen eben jenes Chorals über den Wasserspiegel herübergezogen, der Hans im Morgengottesdienst so tief zu Herzen gegangen war und erschütterten diesen um so mehr, als er zwar die Andacht eben wieder in sich aufgefrischt hatte, einer derartig äußern Bestätigung aber zugleich fassungslos ausgesetzt war. Von der Feierlichkeit der Posaunenklänge betroffen, erkannte er nach gelindem Besinnen alsobald die strenge Weise der Ewigkeit.

Allein Gott in der Höh' sei Ehr'!
[169]

Keines Wortes mehr mächtig zog er nur seine Schirmmütze und hielt sie zwischen den Händen. Zumbühl stand ohne Anzeichen besonderer Rührung wortlos daneben, während Fägschmied, durch die Begebenheit jedenfalls gefesselt, sich ihre Auslegung angelegen sein ließ: ja, potz Hagel, das sei eine Kirchenmusik - natürlich - klar - Sandhubers Posaunenchor! Eine Aufmerksamkeit, auf die Hans sich etwas zu gute tun dürfe; das habe noch mehr zu bedeuten, als vom Amtsstatthalter begrüßt zu werden. So ein Taufständchen werde nicht jedem zu teil.

Das Spiel, wenn auch nur mäßig laut, reichte doch vollkommen aus, um auch die andern Mitglieder der Festgesellschaft anzulocken. Alsbald erschienen alle am Ufer, der Täufling zur Abwechselung auf den Armen seines Paten Ambrosmen. Das Boot legte an. Mit feuchten Augen half Hans Hieseb den Pfarrersleuten aussteigen und versuchte zu danken. Doch ging Sandhuber nicht darauf ein, sondern meinte, es sei ein Einfall der jungen Leute gewesen, unter denen Bekannte von Ursula und Hieseb sich befanden. Allein Hans verschaffte seiner Dankbarkeit nichtsdestoweniger einen Ausweg durch die sich bis zur Heftigkeit steigernden eifrigen Befehle, die er nun als neugebackener Wirt der Dienerschaft erteilte, vom hintern Schinken anzuschneiden, eine Flasche Alten zu bringen, ganz Alten, Versiegelten. Sandhuber lächelte beschwichtigend und versuchte zu dämpfen. Aber Hieseb nahm nichts zurück. Das beste was er zu bieten habe, sei nicht gut genug. Es sei so, er bleibe dabei: die Ankunft des Geistlichen[170]gab den Anstoß zu allgemeiner Wiederaufnahme des bereits mehrfach verlängerten Festschmauses und verlieh diesem insofern nachträglich noch eine höhere Weihe, als die erfreuliche Leutseligkeit des Pfarrers für den erneuten Aufwand ihm zu Ehren den Taufvater durch eine herzliche Ansprache schadlos hielt. Es habe ihn förmlich gedrängt, meinte Sandhuber, noch durch einen traulichen Händedruck, noch durch einen Gruß Auge in Auge den weihevollen Segen der Kirche von heute morgen zu bekräftigen. Die schönsten Hoffnungen einer glücklichen Zukunft schwebten über der Wiege dieses erstgeborenen Kindes. Aber falls die Wünsche der Menschen durch eine höhere Weisheit Lügen gestraft werden sollten, falls auch dem jungen Hans Leugelt die Tage nicht erspart bleiben sollten, von denen es heiße, sie gefallen uns nicht, nun, dann möge der treue Gott ihm zugleich den Glauben des frommen Dulders Hiob schenken, der sich auf Gott verlassen habe und deshalb von Gott nicht verlassen worden sei.

Auf diese ihm gewidmeten Worte wurde Hieseb vollends ganz erbaulich zu Mut. Er fühlte sich schwer übernommen von dem Glück, das allen Zweifeln ins Gesicht gelacht und sie in den Schämwinkel verwiesen hatte. Es gelang ihm, die Gedanken so weit zusammen zu halten, daß er den Rest des Abends sich der Gäste annahm und durch Bewirtung und eigenes Beispiel für Fortbestand und Wachstum der Fröhlichkeit das Seine beitrug. Uber diesen Bemühungen wurde aber seine Geduld einigermaßen auf die Probe gestellt durch das sauersüße, verlegene Benehmen seines Vetters Ambros[171]men, der nicht recht mitmachen konnte oder wollte. Er saß auf dem Ehrenplatz des Paten da wie geborgt, als handelte es sich weniger um einen lebendigen Verwandten, eher um eine Art Familienversatzstück, das man sich zum häuslichen Festschmause geliehen hat.

Der Doktor war im letzten Moment doch nicht mitgekommen und so führte Fägschmied die Pfarrersleute, den Friedensrichter und die Marei Brunner in seinem Sonntagsboot durch die schöne, nicht empfindlich kühle Nacht wieder nach Neuenach hinüber, von wo gedämpfte Stimmen, Hundegebell und vereinzelte Lichter zunehmend hör⸗ und sichtbar wurden unter dem weiten, stillen Himmelsbogen des dunkelnden Firmamentes hindurch, an dem nun ebenfalls vereinzelte, aber viel fernere und reinlichere Glanzpunkte aufgingen. Den Männern mochte das nichts so Ungewohntes mehr sein, aber schon der Marei wurde rührselig zu Mute und gar das ehemalige Fräulein Buchelfinger genoß die schöne Fahrt durch den Frieden der Dämmerung, nun sie die Pfarrfrau dieses ihr ja längst vertrauten Geländes war, in erhöhetem Maße, so zu sagen als heimliche Besitzergreifung. Der Mund ging ihr über und so kam die Rede bald auf die Pächtersleute und was für ein prächtiger Mensch doch der Hieseb sei. "Er ist nicht so dumm in den Tag hinein. Er macht sich überall seine Gedanken." Fägschmied und Zumbühl stimmten sofort bei, jeder in seiner Weise, der Wirt herauspolternd: Ja, potz Hagel der Hans! Der habe es dick hinter den Ohren. Der Friedensrichter ins allgemeine verdünnend: "Er ist gescheiter, als er[172]tut, ich hätt's nicht von ihm gedacht." Nun aber verlieh Sandhuber dieser von allen geteilten Meinung ein schärferes Gepräge, indem er sie nach seiner Hand formte. "Wenn ich die Wahrheit reden soll, so ist in der Tat der Hieseb der merkwürdigste Mensch, der mir bisher im Leben begegnet ist. Nicht seiner Schicksale wegen, obwohl er natürlich damit zusammenhängt. Wie soll ich mich ausdrücken? Fast sehe ich mich genötigt, von einem Bauersmann in ganz philosophischen Begriffen zu reden. Was sonst so ein einfacher Mann vom Lande ist, der lebt, wie soll ich sagen - nun - gedankenlos wäre natürlich zu viel gesagt - aber - problemlos - jetzt hab' ichs's - ganz richtig - problemlos! Und das ist nun eben der große Unterschied - worin sich Hieseb vor dem gewöhnlichen Landvolk auszeichnet -" Aungesichts der Gefahr, vielleicht auch mit in dieses Landvolk einbezogen zu werden, unterbrach Fägschmied die geruhsamen Ausführungen des Predigers mit einer lauten Zustimmung: "Ihr redet mir aus dem Herzen, Herr Pfarrer! Die Zukunft gehört voll und ganz den Problemen!" Sandhuber machte eine leis ausbiegende Bewegung, die das Boot in eine einmalige stärkere Schwankung versetzte. Dann fuhr er fort: "Ich meinte jetzt nicht allgemeine Ideen: Fortschritt, Brüderlichkeit, Opfersinn. Das sind Schlagwörter, die jeder nachsprechen kann, er braucht nicht einmal daran zu glauben. Das Merkwürdige an Hieseb ist - nun, ich will es lieber gleich sagen, statt immer darum herum zu reden: er ist Katholik, hat sogar für seine Kirche sein Leben aufs Spiel gesetzt - heiratet eine überzeugte Stundenläu[173]ferin - und heute hat er sein Kind in unserer Landeskirche taufen lassen - also nicht weniger als drei Glaubensbekenntnisse, drei Weltanschauungen in einer Brust - das heiß ich noch Probleme haben. Und wenn man sich das so überlegt: es könnte einem Angst machen, ob er damit zu Schlag kommt. Aber seit er mir heute so aufmerksam aufblickend unter der Kanzel gesessen hat - ich hab' ihn immer wieder ansehen müssen -" Fägschmied ließ das Boot etwas hart am Steinrand der Lände auflaufen. Sandhuber war das Wort abgeschnitten und er bekam mit dem Aussteigen zu tun. Er hätte gern abgerundet; aber er zweifelte nun plötzlich, ob diese Außerungen vor diesen Zuhörern überhaupt am Platze gewesen seien. Er bedankte sich also für die Überfahrt und nahm Abschied, besonders auch von Marei Brunner: "Und sag' dann auch dem Vater, es sei recht, daß du wieder im Land bist." Dann wandte er sich gegen seine Frau. Sie stand stillschweigend etwas abseits und schaute schon eine Zeitlang nach dem Licht hinüber, das auf der Seeau sichtbar war.

Als Hans Hieseb bei der Abfahrt des Bootes den regelmäßigen aber schwächer werdenden Taktschlägen der Ruder eine Zeitlang noch nachgelauscht hatte, überfiel ihn plötzlich eine heftige Sehnsucht nach seinem Weib und seinem Kinde. Er hatte doch eigentlich, wie ihm jetzt schwer aufs Gewissen fiel, den ganzen Tag nichts von ihnen gehabt, sondern sich nur um fremde[174] Leute gekümmert. Er blickte nach dem Fenster hinauf, das erleuchtet war. Ein mildes Verlangen kam über ihn, das nichts Drängendes mehr hatte, denn sie erwarteten ihn ja. Nur erst noch einmal in Hof und Stall nachsehen - dann wollte er zu ihnen hinauf und sich seines Glückes erfreuen. Auf dem Platz vor dem Hause unterschied er im Zwielicht noch die hellen Stämmchen der vier jungen Platanen, die er am Geburtstage seines Sohnes gepflanzt hatte. Endlich trat er arglos ins Zimmer. Er traute seinen Augen nicht. Vor der Stubentüre lauschend, hatte er das versteckte Schluchzen vernommen, undes auf die Laute kindlichen Unbehagens bezogen. Nun lag aber die junge Mutter mit aufgelöstem, verwirrtem Haupthaar flach auf der Erde, vor sich das Kind, ebenfalls in verwahrlostem Zustande und hilflos wimmernd. Starr vor Schrecken blieb er auf der Schwelle stehen. Ursula fuhr auf, starrte ihren Mann an mit entsetzlich aufgerissenen Augen, den Blick voller Wahnsinn. Sie packte ihr Kind und hielt das Zappelnde mit hochaufgestreckten Armen empor, als wolle sie es im nächsten Augenblick zerschmettern. "Es ist ein Sündenkind," schrie sie, "der Verdammnis verfallen."

Jetzt fing Hans an, einigermaßen zu verstehen. Ursula hatte sich nie recht darüber beruhigen können, daß das Leben dieses Kindes schon vor ihrer Ehe geschaffen war und grübelte oft genug über die dem Sohne vielleicht erwachsenden Folgen, nicht vor den Menschen, denn vor diesen war es ja durch den nachfolgenden Ehebund gerechtfertigt - wohl aber vor Gott, der ins Ver[175]borgene sehe und die Sünden der Väter heimsuche an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied. Auch bezeugte sie ihre Anhänglichkeit an den Stundenprediger und gerade aus Anlaß der bevorstehenden Taufe war es zu erregten Auftritten gekommen, weil Hans, so gut und rücksichtsvoll er sonst gegen seine Frau war, hierin durchaus nicht ihr zu Willen sein wollte: aus dem Hansleu müsse einmal ein strammer Bauer werden und da müsse er, wie sich's gehöre, in der Dorfkirche getauft sein und nicht von einem Stündeler.

"Da hast du's nun," jammerte Ursula, "jetzt ist es zu spät und nicht wieder gut zu machen. Nicht ein einziges Mal ist die Vergebung unserer Sünden durch das Blut Christi über dem Taufbecken ausgesprochen worden. Und doch mein' ich, unser armes Kind hätte von den Sünden seiner Eltern entsühnt zu werden mehr nötig gehabt als ein anderes." In einer neuen rasenden Aufwallung riß sie das ohnmächtige Wesen an ihre Brust und liebkoste es vor unglücklicher Liebe so heftig, daß es zu ersticken drohte.

Warum hatte er nur das alles nicht kommen sehen? Er hatte eben zu sehr nur seinen eigenen Glücksplänen nachgehangen und dafür die Frau aus den Augen verloren. Einen Weinkrampf, der sie in der Kirche befallen hatte, nahm er für den weiblichen Tribut an die mütterliche Rührung; ihm, dem Mann, war ja sogar das Augenwasser gekommen. Daß aber Ursula auch über Tisch beständig verweinte Augen hatte, daß Samuel Ambrosmen trotz seinem Patenstrauß sich sehr steifleinen betrug, daß die beiden dagegen öfters die[176]Köpfe zusammensteckten, das war Hans, der gänzlich in der Kameradschaft mit Kaspar Fägschmied und Zumbühl aufgegangen war, eben entfallen. "Kein Wort vom Blute Christi in der ganzen langen Predigt," schrie Ursula wieder und verstieg sich nun zu Ausfällen gegen den Pfarrer, der trage seinen Namen mit Recht, so ein Schönmeier und Sandhuber!

Unterdessen hatte er, wenn auch nur mühsam, doch seine Fassung wieder errungen und entriß Ursula das Kind, das, von Husten ganz blau aufgetrieben, kaum noch nach Luft happte. Dann bezwang er sich und redete auf seine Frau ein, wie sie denn nur zu solchem Unverstand und zu solcher Torheit sich könne hinreißen lassen. Inzwischen kam die Hebamme, die nichts ahnend noch unten beim Gesinde gesessen und gevespert hatte, auf den Lärm hin heraufgerannt; ihr übergab er das Kind und schickte sie weg. Dann unternahm er es, Ursula zu ihrer einstmaligen Sanftmut zurückzuführen. Er schloß sie in seine Arme, legte seine Lippen dicht an ihr Ohr und beschwor durch flüsternde Beteuerungen die dunkeln Geister im Gemüt der jungen Frau. Sie wurde ganz still und schien lächelnd in ihr früheres Mutterglück zurückzuerwachen, während zugleich die Lider ihr vors Auge sanken und sie sachte einem friedlichen Schlummer anheimfiel. Als jedoch auch in den nächsten Tagen das Wahnwesen höchstens auf Augenblicke weichen wollte und ein schleichender Trübsinn ihre natürliche Munterkeit gänzlich in Banden hielt, schickte Hieseb nach Rat aus.

Auf die Schreckensbotschaft ließ die Frau Pfarrer[177]Sandhuber sich auf der Stelle nach der Insel hinüberfahren. So ganz unerwartet kam ihr das Unglück nicht. Ursulas stierer Blick, das traumhaft verlorene Wesen, bis sie angerufen wurde, und dann, einmal erwacht, eine übertriebene, gepeitschte Lebhaftigkeit hatten der ernsten und liebebegabten Frau bereits am Taufabend schwer zu denken gegeben. Jetzt wollte sie nachsehen und helfen, wollte das Kind zu sich nehmen, Ursula zu sich nehmen - und es hatte den Anschein, als beruhige sich die Kranke unter ihrer Hand wunderbar. Aber auf die Dauer war es mit diesem Einfluß nichts. Es währte keine Stunde, so erkannte Ursula in ihr die Pfarrfrau und das wurde der Anlaß zu so maßlosen Anfällen und neuen schrecklichen Erregungen, daß sich die feinfühlende Dame trauernden Herzens alsbald zurückzog.

Doch hatte sie, bevor sie wieder hinüber fuhr, noch ein Gespräch mit dem bekümmerten Pächter. Er wußte sich nicht zu helfen und fühlte sich wie vernichtet. "Lieber Freund," sagte sie schließlich, indem sie seine Hände nahm, "das müßt Ihr nun eben annehmen und zwar aus Gottes Hand. Jetzt ist es Zeit für Euch, innere Erfahrungen zu sammeln, und vergesset vor allem das eine nie, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen - alle, ohne Ausnahme, auch die schwersten, unbegreiflichsten." Damit wolle er es ja wohl so halten, nickte Hieseb stumpf, aber dann bleibe doch noch so allerlei nebenher, was ihm im Kopf herumgehe und manchmal schier gar das Herz abdrücke. - "Ja, aber was denn zum Beispiel? Wenn Ihr mir's sagen wollt." - "Ja seht, Frau Pfarrer, das ist gar[178]seltsam mit der Ursel und mir." Frau Sandhuber wünschte Hieseb anzudeuten, daß sie ihn verstand. "Ihr müßt Eurer Frau ihre Heftigkeit ein wenig nachsehen. Eigentlich ist es kein schlechtes Zeichen für sie, wenn sie sich Vorwürfe und Sorgen über diese Dinge macht. Sie ist nun einmal in diesem strengen und engen Glauben aufgewachsen und wenn sie nun eben Gewissensbisse darüber spürt, weil unser Herr Pfarrer milden und versöhnlichen Sinnes ist, dann tut mir das freilich weh, aben ich kann es ihr nicht verdenken." Hieseb schüttelte den Kopf. "Das schadet ja gar nichts, Frau Pfarrer. Manchmal ist es ihr in der Betstunde wohl und manchmal in der Kirche, und manchmal kümmert sie sich um nichts von alledem und dann ist es ihr erst recht wohl. Larifari - darüber wollt' ich ja kein Wort verlieren: mag sie uns alle miteinander Heiden schimpfen, das meint sie gar nicht so bös. Nein, aber es ist etwas anderes, Frau Pfarrer, etwas, was eigentlich nur mich und sie angeht, und da sitzt dann der Schrecken, der mich so in Angst versetzt. Ach, ich sag' Euch: wenn sie dann so die Augen an mich heranmacht!" Frau Sandhuber wußte nicht, was Hieseb damit sagen wollte: "Augen an mich heranmacht? Was für Augen? Sie hat doch zwei schöne, stille, dunkelbraune." Da fuhr Hieseb erregt dazwischen: "Ja, das hat sie wohl, und ich habe gemeint, sie hätte nur diese - die schönen, stillen, dunkelbraunen - aber sie hat auch noch zwei andere, zwei grüne Katzenaugen mit grellem, giftigem Strahl; und mit denen hat sie mich diese Nacht wieder durch und durch gebohrt, als wir mit einander gerungen haben -[179]ja Frau Pfarrer, ich, der starke Mann mit dem schwachen Weib gerungen auf Leben und Tod - und sie grub mir ihre Fingernägel in mein Fleisch ein und riß mir die Brust blutig. Und biß mich sogar aus Raserei und zischelte mir ins Ohr: Mörder! Mörder! Ach, Frau Pfarrer - seht, jetzt ist es um uns geschehen. Darüber komm' ich nicht hinweg. Hab' ist sie nicht gerade deshalb geheiratet, um alles ungeschehen zu machen. Ich wollte den Tod mit dem Leben zudecken. Und wenn auch jener unselige Zufall sie des einzigen Bruders, ja des einzigen Verwandten beraubt hat, den sie noch besaß - ich bin ihr mehr als ein Bruder; ich habe ihr mehr gegeben, als sie jemals verloren hat. Das alles, alles ist nun umsonst. Ich soll mit Teufelsgewalt doch noch zum Verbrecher gestempelt werden - hinterher, nachdem alles gut geworden ist. Und wenn ich mir lang mit allem Verstand einrede, es sei ja nur Irrsinn von ihr, daß sie mir noch mit diesen Dummheiten kommt - ich kann mich nicht dagegen wehren - es ist zwischen uns und bleibt zwischen uns und - läßt sich nicht verscheuchen. Und da soll mich nun Gott und alle Teufel verdammen! Ich hab' es redlich gewollt, und mehr als mit allen meinen Kräften redlich wollen, kann ich nicht." Verzweiflung packte ihn, als er solches redete. Am ganzen Leibe zitternd, die Fäuste gekrampft, stemmte er sich auf seinen beiden Füßen fest. Die Pfarrerin vermochte sich eines geheimen Grauens nicht zu erwehren, als sie ihn so vor sich sah, mit zerstörten Hoffnungen, am Ende seiner Manneskraft. So war es also wahr: es gab kein Wasser, um jemals wieder Hände rein zu[180] waschen, an denen einst Blut geklebt hatte. Unter was für einem Schicksal stand dieser Mann! Jedenfalls, spürte sie, wäre es vorlaut und übel angebracht gewesen, hier in landesüblicher Weise zu raten und zu trösten. Dennoch entsprach es nicht ihrer tapferen Art, nun einfach sich zu ergeben, ohne noch ein gutes Wort versucht zu haben. Es sollte auch nicht eine Einmischung in ein einsames Unglück ohnegleichen, sondern eher eine Rechenschaft sein, die sie vor sich selber ablegte, als sie nun zu Hieseb sagte: "Ihr dürft dennoch nicht unterliegen. Euer eheliches Glück ist vernichtet, meint Ihr, die Freude aus Eurem Leben ausgetilgt. Mag sein. Ich will Euch auch nichts weismachen. Aber selbst dann ist es Gott, der Euch das zu tragen gibt, und zwar der liebe Gott. Er hat es besonders schwer mit Euch vor, aber darum gewiß nicht weniger gut. Verliert nur den einen Glauben nie - so hoch der Himmel über der Erde ist, um so höher sind seine Gedanken als unsere Gedanken. Laßt Euch von ihm willig in die Tiefe führen, es kommt noch einmal der Tag, wo Ihr ihm aus vollem Herzen danken könnt für alles, was er Euch getan hat; ja vielleicht für das Schwere, Furchtbare, Unbegreifliche am allermeisten."

Es blieb für Frau Sandhuber eine stille Freude, daß auf diese ihre Worte hin, Hieseb sich in Tränen erleichtern konnte und ihr in die Hand versprach, er wolle es so halten, wie sie sage. Aber so wohl ihr das tat, so trieb sie ein innerstes Bedürfnis, in den engen Grenzen, die ihr gelassen waren, ihre lindernde Beihilfe auszuüben. In erster Linie wandte sie sich an den Arzt und[181] erzählte ihm ausführlich, wie es um die guten Pächtersleute auf der Seeau stand. Wanger zog ein bedenkliches Gesicht, besonders als er erwog, Ursulas Vater sei mehr oder weniger am Trunk zu Grunde gegangen. Er hielt ihre Versorgung für unvermeidlich, vielleicht zunächst im "Kloster", wo man sie doch beständig unter Augen wußte und der Spittelschreiber ja in anderer Form wieder die Vormundschaft über sie antreten konnte. Nun hatte aber der unglückliche Gatte verzweiflungsvoll darum gefleht, sie, wenn nicht an seiner Seite, so doch in seiner Nähe zu lassen. Wanger wiederriet jeden Aufschub, da sonst irgend eine Unachtsamkeit allen Hoffnungsplänen zuvorkommen möchte. Bei dieser Art Krankheit sei alles möglich. Nichtsdestoweniger verzögerte sich die Ubersiedelung, obwohl sie festbeschlossene Sache war. Ja, eine Folge weniger Tage, während derer sich die Irre ruhig und eingezogen verhalten hatte, reichte hin, die Wachsamkeit zu verringern und alles wieder so zu nehmen, wie es vorher gewesen war. Ursula hatte noch mit ernten helfen und es in der Arbeit allen zuvorgetan; bloß an ihrer hartnäckigen Schweigsamkeit, die nur ein leises, wortloses Singen hier und da unterbrach, gab sich die Entfremdung ihres Geistes kund. Ihre Umgebung befand sich auf dem besten Wege, daran weiter nichts mehr zu finden, zudem ihr stilles, abwesendes Vorsichhinlächeln sich nie zu einem erschrecklichen Ausbruch von wirklicher Tollheit verzerrte. Auch am Abend fiel im Verlaufe weder der Mahlzeit noch der letzten Tagesgeschäfte nicht das Geringste an ihr auf.

[182]

Dann sank eine verschwiegene Vollmondnacht hernieder. Alle Bläuen von See und Himmel und das ganze Silber bebenden Sternenlichtes zitterten über dem einsamen Eiland und über dem Wasser rings um es her. Die kleine Inselwelt hielt den Atem an, sie erschrak vor sich selber. Sie hatte nicht gewußt, daß es so um sie stand, wenn sie allein war und unbelauscht zu Worte kam. Die Leugeltskapelle auf dem Hügel schrie - weil sie so weiß aussah und so blaß wie bleiches Gebein. Und das Pächterhaus und die Scheunen dahinter schrieen, weil ihre Giebeldächer schwarz waren wie Henkershauben, und der Wald schrie, weil er sich so lang und totenfinster hinstreckte wie ein riesiger Sarg, und der Findling auf der Wiese schrie, weil er sich plötzlich so viereckig und so marmorhell vorkam wie ein behauener Leichenstein, und das sanft abfallende, flache Ufergelände schrie aus entsetzlicher Angst, ob es eigentlich noch gangbares Land sei oder schon nasse, bodenlose Seeflut.

Hieseb hatte erst sein Weib vorsorglich zu Bett gebracht, dann eine beaufsichtigende Runde um Haus und Stall gemacht und ging nun ebenfalls schlafen. Das Bett, in dem er eben noch Ursala hatte schlummern sehen, war leer. Leer. Er hob alles auf. Leer. In der Stube versteckt war sie nicht, hinten auf der Laube auch nicht. Da ging derselbe lautlose, sterbensstumme, Mark und Bein durchdringende Aufschrei, den draußen die Landschaft von sich gab, Hieseb durch die Brust. Schuhe aus - unhörbar hinten über die Laubentreppe hinunter - einen Augenblick hinauswittern. -

[183]

Da vernahm er das verräterische dumpfe Rutschoder Reibegeräusch eines Brettes und ein Geplätscher wie vom Schlage eines Ruders ins Wasser. Gleich einem gepeitschten Pferd rannte er über die nassen Wiesen zur Schiffslände hinunter. Ursula, nur mit dem Hemd angetan, stand im hochwandigen grünen Fischernachen, der sonst unter der Weide angebunden war, vielleicht zweimal so weit wie seine Länge vom Ufer entfernt. Sie kehrte ihr Gesicht dem Monde zu und lächelte ihr verstörtes, irrseliges Lächeln. Dabei trieb sie das Fahrzeug gemächlich vom Ufer weg mit den gemessenen Schlägen nur eines Ruders. In einem Nu streifte Hieseb sich seine ganzen Kleidungsstücke vom Leib. Alsbald übergoß ihn die schimmernde Nacht mit grünblauem Licht, als wollte sie ihm behilflich sein auf der nun beginnenden, stummen Jagd nach einem geliebten Leben, indem sie ihm das geheimnisvolle, durchsichtige Gewand eines Geistes lieh.

Mit heimlichem Seufzen gurgelte das Wasser auf unter den Sohlen seiner nackten Füße und rauschte stärker, als er vorwärts schritt und mit der Breite seiner Brust die glatte Flut zerteilte. Jetzt stand er bis an die Kehle drin, beim nächsten Schritt verlor er den Boden. Schwimmend hätte er den Nachen in zwei Zügen erreicht; aber dieses Fischerboot hatte so steile, hohe Wände, daß er nicht daran denken konnte, den Rand zu greifen und sich hinein zu schwingen. Er rief sie an mit halber Stimme: "Ursula, Ursula." Wie zur Begleitung des Namens zerplätscherte die durch sein Vordringen erregte Welle an den Steinen des Ufers. Das[184]arme Weib beugte sich neugierig nach der Seite hin, von der her es angerufen wurde, als gälte es die Bekanntschaft mit irgend einem nixenhaften Geschöpf. Dann erkannte sie das Gesicht, wandte sich mit enttäuscht verzogenem Munde ab und trieb mit einem einzigen neuen Schlage das Boot weiter hinaus. Der Abstand vergrößerte sich. Ursula stand aufrecht wieder dem Monde zugekehrt, und hob nun ganz leise zu singen an, so leise, daß auch bei der kaum wachsenden Entfernung das Lied weniger vernehmlich wurde.

Der Mann warf sich mit einem Ansprung gegen das Boot und berührte es nach dem ersten Stoße. Das Ruder, das er erfassen wollte, entzog sie seinen bereits darnach greifenden Händen sachte, wie wenn sie bewußt und höhnisch überlegen handelte, so daß er auf einen Augenblick bis über den Kopf untersank, gleichsam zum besten gehalten. Dann stampfte er sich mit seiner ganzen Leibes- und Willensgewalt hoch, bekam glücklich das Vorderteil des Fahrzeugs zu fassen und zog sich daran empor! Seine Augen spähten über den Rand und dem Nachen entlang nach ihr hin, ob ihr irgend wie beizukommen wäre. Sie fühlte sich unzugänglich sicher, hatte das Ruder sinken lassen und setzte sich am hintern Ende auf den Bootsrand. Der graue Silberglanz übergoß sie in Strömen und doch war der Anblick regungslos, metallen, ein Gußbild, das erstarrt und hart geworden ist. Sich an dem flach vorspringenden Kiel emporzuziehen, gelang ihm nicht. So griff er sich denn blitzschnell kletternd der einen Seitenwand entlang zu ihr hin. Doch da hatte sie auch schon sich auf die[185] Außenseite geschwungen und badete die Füße im Wasser. Sie erschauerte ob der Kühle und stieß einen leisen Schrei aus. Dann glitt sie lautlos wie ein niederfahrender Schein in die Tiefe. Er tauchte nach. In der bis zu unterst durchleuchtenden Flut sah er etwas Weißes schimmern. Er packte zu. Der nasse harte Fels ließ seinen Griff abschlüpfen und stieß ihn wieder nach oben.

Da, als seine menschliche List und Klugheit sich hintergangen sahen, kreischte das Tier in ihm auf, das zuckende angstgepeitschte dem Verenden nahe Tier. Verstand, Berechnung - alles zu Schanden! Das Herz brüllte auf. Er rief um Hilfe, grauenvoll, jammervoll. Die zum Tag erhellte Einsamkeit verwunderte sich, ließ den Störenfried schreien und starrte unbekümmert ihr Licht aus. Doch wurde die silberne Flut zur Brücke und trug die Rufe eilends nach hüben und drüben. Schritte - Schreie - Menschen - Fägschmieds Polterstimme - rumpelnde Sitzlatten - Ruderknarren - fiebernde Schläge - Gleich Ritzen einer Nadelspitze auf zarter Haut zergingen diese Wehlaute, dieser hilflose Lärm alsobald auf der weichen, kühlen, milchdünnen Oberfläche der monderfüllten Nacht.

[186]

Siebentes Kapitel.

Samuel Ambrosmen war wirklich seiner Natur nach auf mitteilende Liebe angelegt. Was ihm von schlafmütziger Lächerlichkeit, von kleinlich nachträgerischer Rechthaberei, von demütig bemäntelter Eitelkeit bisweilen anhing, wurde immer wieder verschlungen durch das schmerzlich sehnsüchtige Bedürfnis, etwas für andere zu tun, sich dranzugeben und wenigstens außerhalb seiner selbst das Glück aufrichten zu helfen, das dem eigenen Leben versagt sei. Ursulas Wahnsinn und entsetzlicher Tod gefährdete ihm alles, was er an Glauben und Zuversicht in sich trug, auf das schwerste. Warum hatte Gott das zugelassen? Darauf fand und fand er keine andere Antwort, als: es war die Strafe für die Sünde, die sie begangen hatte. Allen Sprüchen und Drohungen von dem strengen, wachsamen und eifersüchtigen Herrn und Vater im Himmel diente dieser schwere Eingriff von oben zum tatsächlichen Beweise. Und so bekräftigte das erlebte Unglück ihm seinen Glauben. Trotzdem konnte er sich nicht einmal sagen, daß er persönlich etwas verloren habe. Als Ursula unterging, hatte er längst keinen Anspruch mehr auf sie. Für ihn war sie gestorben, als sie noch unter den Lebenden[187]wandelte. Am Tauftage hatte er sich ein letztes Mal zu nähern versucht und dabei, während die andern um die Insel lustwandelten, kräftig auf sie eingeredet, um ihr das Gewissen zu wecken für das eine, was not tut: Und nun wurde er mit Schaudern den Argwohn nicht wieder los, vielleicht sei es sein Ubereifer gewesen, der sie in den Tod getrieben habe.

Als einzige Rettung vor den ihn belauernden finsteren Gedanken winkte in Verbindung mit dem festen Willen, das Unabänderliche auf sich beruhen zu lassen, die Hoffnung, seine Opferfreudigkeit anderswo segensreicher zu verwenden. Um einen Gegenstand brauchte er nicht lange verlegen zu sein. Das Häuschen an der Ruchgasse war seit Ursulas Weggang in Ambrosmens Besitz übergegangen; schon von seiner nicht unvermöglichen Mutter her hatte er eine ansehnliche Pfandsumme auf dem Anwesen haften und als nun die sonst fast mittellose, künftige Pächterin der Seeau doch nicht gern ohne eigene Aussteuer in die Ehe treten wollte, übernahm ihr wohlgesinnter Vormund den Besitz beinahe um den doppelten Preis. Als Hausleute hatte er nun den Korberfranz drin sitzen und wie wohl es ihn im stillen kränkte, auch diesmal hinter dem nun allerdings zum gemachten Mann gewordenen Hieseb hintangesetzt und nicht gleich von diesem um Unterstützung angegangen worden zu sein, nahm er sich nun großherzig des armen Besenbinders an und stieß gleich auf eine so dankbare Gestinnung, daß er sich mit dem Plane zu befreunden begann, auf dieses Menschenlos seine ganze Barmherzigkeit ein[188]zusetzen. Je näher er nun sich seinen neuen Schützling ansah, was begreiflicherweise mit dem Hintergedanken geschah, ob von daher nicht ebenfalls Enttäuschungen zu gewärtigen seien, desto sorgloser wurde ihm zu Mute, denn er bekam es mit einem so viel einfacheren Menschen zu tun, als die gewesen waren, um die er sich früher gekümmert hatte.

Wie denkst du dir eigentlich dein Leben aus," fragte er ihn eines Tages, als er vor der Hütte stand und Franz neben ihm fleißig wie immer an seinen Körben herumflocht. "Seht, Spittelschreiber," versetzte Franz getrost, "es wäre jetzt an der Zeit zu heiraten, und dann sollte mir doch auch aus dem Buben etwas rechtes werden." "Was etwa?" "Ja, wenn's durchaus nach meinem Kopf gehen müßte, so wüßte ich wohl etwas, das er werden könnte. Heißt das, ich wüßte sogar zweierlei und die Wahl täte mir weh." "Nämlich - zum ersten?" "Was meint Ihr zu einem Schulmeister?" "Kinder plagen und selber geplagt sein! Was wäre das andere?" "Da könnt Ihr ebenso gut sagen, Soldaten schinden und selber geschunden zu sein." "Offizier?" "Ja - ein Leutnant. So wie der Friedensrichter. Rechts schwenkt! Links schwenkt! Da kann dann einer doch noch sagen, er hat es zu etwas gebracht."

Seit langer Zeit mußte Ambrosmen wieder einmal herzlich lachen, und auch die künftigen Male, daß er sich mit dem Korberfranz zu tun machte, lief es nie ohne eine kleine Heiterkeit für ihn ab. Der Korberfranz war in der Tat ein possierlicher Mensch durch[189]die treuherzige und selbstverständliche Zufriedenheit, mit der er sein armseliges Leben hinnahm. Er habe ja jeden Tag etwas Weniges zu beißen. Und habe sein Mädchen! Und habe den Jungen! Und die Hauptsache - er sei die Mutter losgeworden. Es war Ambrosmens erstes gewesen, das Hexenbabi endgültig aus der Hütte zu schaffen, wo sie, wie wohl öfters verjagt, doch immer wieder eingedrungen war. Jetzt aber war sie gewaltsam in der Armenpfrund untergebracht, und einstweilen hatte ihr kein Keifen gefruchtet, daß sie wie in einem Gefängnis sich unter Aufsicht befand und arbeiten mußte, so sehr es ihr wider den Strich ging. Dem Franz aber gab es Ambrosmen nun frei, mit seiner Liebsten Hochzeit zu halten und lieber heut als morgen in der Hütte ein geordnetes, menschenwürdiges Dasein zu beginnen. Er begab sich mit ihm in den sogenannten Winkel, um dort Weib und Kind zu sehen. Die Hütte an der Ruchgasse war ein Palast gegen den Verschlag, wo das kaum der Unterweisung entwachsene Mädchen unter vielen jüngeren noch um sie herumpurzelnden Geschwistern bereits mit einem eigenen Kinde hauste. Ambrosmen, obwohl als Spittelschreiber doch von Amts wegen an allerlei gewöhnt, vermochte sich nicht zu erinnern, jemals größeres Elend gesehen zu haben. Was in seinen Augen die grenzenlose Armut ins Unbeschreibliche erhöhte, war die ahnungslose Zufriedenheit, mit der diese Leute in ihrem mehr tier⸗ als menschenähnlichen Dasein sich ihres Lebens zu freuen schienen.

Korberfranz betrat das Verließ und rief das[190]Mädchen heran, das in Fetzen gehüllt auf dem Bettrand saß und eben ihr Kind stillte. Das Würmchen auf ihrem Arm bekam schnell ein zerrissenes Taschentuch um den schmächtigen Leib gezogen und lag mit seiner blaudurchschienenen Haut da als ein Inbegriff menschlicher Hinfälligkeit. Aber das Auge der Mutter ruhte nicht weniger stolz auf dem erbärmlichen Klümpchen Unglück als die Blicke seines Vaters, dessen bürgerlichen Namen es ja von Rechts wegen immer noch nicht tragen durfte.

"Spittelschreiber," rief Franz triumphierend, "schaut der Bub nicht jetzt schon gescheiter drein als mancher Großrat?" Das war aufs neue jener unwiderstehliche Mutterwitz, den Ambrosmen an seinem Schützling liebte. "Gewiß ist's wahr," beteuerte Franz aufs nene. Da dachte Ambrosssmen auf einen Augenblick in der zwiefachen Verknüpfung, wie sich ihm die Sache darbot, an den Seeauer Pächter, den eigentlichen Paten dieses armen Knaben, und an dessen Kind, das hinwiederum er unter dem Gelübde treuer Obhut aus der Taufe gehoben hatte. Was da versprochen worden war oder werden sollte, das bestand nach wie vor alles zu Recht. Aber es reichte nicht aus für ein so gebrechliches Lebewesen. Das Kindchen da hatte mehr nötig; den Vorteilen, die ihm aus Hiesebs Gevatterschaft erwachsen sollten, wollte Ambrosmen zu allerletzt im Wege sein. Aber was so die alltägliche Notdurft war, dafür gedachte er aufzukommen und das winzige Menschenleben aus so jämmerlichen und unwürdigen Anfängen mit wohltätigem Beistand und inbrünstiger Fürbitte in[191] bessere Zeiten und Verhältnisse hinüberzubringen. Denn darin äußerte sich eben Ambrosmens sektiererische Gesinnung, daß nach seinem Dafürhalten erst hinter dem Segen der Kirche die wahre Nächstenliebe einsetze, und einem armen Christenkinde in aller Stille noch bessere und tätigere Helfer erstehn könnten, als die mehr zur Förmlichkeit öffentlich eingesetzten Taufzeugen.

Zwischen diese sorgsamen Erwägungen fuhr nun wieder Korberfranz mit seiner väterlichen Zuversicht unentwegt hinein. "Aber nicht wahr, Spittelschreiber, es kann ihm doch nicht fehlen, daß allermindestens ein Schulmeister aus ihm wird?" "Und ein Leutnant obendrein?" dachte Ambrosmen. Aber er dachte es nur und nickte dem armen Besenbinder statt aller Antwort gütig und bescheiden zu.

Zur selben Stunde, da der Spittelschreiber sich zur rührenden Einfalt seines guten Herzens zurückfand, erging sich drüben auf der Seeau ebenfalls durch den Anblick eines kleinen Kindes veranlaßt, sein Vetter Hieseb in tiefen Betrachtungen über sich selbst. Der erste Schreck hatte ihn wie hingeschlagen gehabt. Ohnmächtig, dem Ertrinken nahe, war er ans Land und allda nur mit Mühe wieder zum Leben zurückgebracht worden. Tagelang war er umhergegangen, als hätte er die Sprache verloren und mit der Sprache allen Sinn für die Außenwelt. Nicht gebeugt oder entkräftet durch das schwere Unglück, aber stumm, ver[192]riegelt, zugebunden. Er fühlte, daß es länger nicht so weiter ging, und stellte sich an jenem Nachmittag mitten aus seinen Geschäften heraus vor sein Söhnchen hin, das in einen Korb gebettet, vom Hunde bewacht in Baumesschatten an der frischen Luft lag. Eine lange Stunde stand er wie angewurzelt vor diesem seinem Kinde, das schon in der Wiege keine Mutter mehr besaß. Es selber hatte ihr das Leben gekostet, wenn sie auch nicht an seiner Geburt gestorben war.

Der Hund schlug an und spähte übers Wasser. Sie befanden sich an dem entlegenen Ufer, das von Neuenach abgewandt nach der breiteren Seehälfte zu liegt. Dahinter am Südufer erhoben sich gleich stattliche Berge, über die einige Saumpässe und eine Bergstraße aus dem Innern der Schweiz herführten. Hans sah sein Schiff, daß er mit seinem Knechte in den Weiler hinübergeschickt hatte, miten auf dem See. Es näherte sich stetig. Er unterschied schon den stehenden Ruderer und im Kiel eine sitzende Gestalt. Da erhob er seine Hände, hielt sie sich trichterförmig vor den Mund und rief mit hallender Stimme durch das Gehölz nach dem Pachthause hin: "Susann, Susann, komm, er ist es."

Gleich nach Ursulas Erkrankung erbot sich Hiesebs Schwester auf die erste Nachricht hin zur Aushilfe an; ihre Ankunft erfolgte am Morgen nach der Schreckensnacht. Da wußte sie, wo sie von nun an zu bleiben hatte. Zu Hause hatte der jüngere Bruder, der Erbe des Rotmatthofes geheiratet. Dort war sie überflüssig geworden. Und selber geheiratet hatte sie nicht. Sollte aber der neue Aufenthaltsort ihr mit der Zeit zur[193]Heimat werden, so durfte sie nicht gänzlich auf die Religion ihrer Väter verzichten müssen. Am anderen Ufer, Neuenach und der Seeau gegenüber begann katholisches Gebiet und nicht weit landeinwärts auf der ersten Bergesstaffel lag ein kleines Kapuzinerkloster. Als Susann Hieseb am ersten Sonntag nach ihrer Ankunft bereits drüben sich zum Gottesdienst einfand, erkannte sie in dem Pater, der Messe hielt, den Wanderpriester Pater Augustin und eilte, sich ihm alsbald zu nähern und ihr Herz auszuschütten. Als besonders dringliche Veranlassung zur Beichte erschien ihr diese Übersiedlung auf ungläubigen Boden, doch beruhigte sie der Pater, sie sei auch auf der Seeau nicht außerhalb des gesegneten Bereiches. Wiewohl die Kapelle daselbst ihrem heiligen Zwecke entfremdet sei, so sei sie doch immerhin nicht durch ketzerische Glaubensübung entweiht, und sobald man nun wieder katholische Bewohner drüben wisse, sei eszwar keine Kleinigkeit, unter der Hand das Heiligtum frisch zu weihen, aber die nötige Klugheit und Verschwiegenheit der Inselleute vorausgesetzt, werde es dennoch zum vorläufigen Gebrauch in stand zu stellen sein; denn wiewohl es die Ennetseeischen nichts angehe und gerade dort zuland am lautesten nach Glaubensfreiheit geschrieen würde, so wäre dennoch einiges Geschrei zu besorgen, da Mißgunst und grobe Unduldsamkeit dem Abfall auf dem Fuße nachzufolgen pflege. Bereitwillig bestimmte er Tag und Stunde, da das Boot zu seiner Uberfahrt bereit liegen möge.

Auf den Zuruf ihres Bruders, übrigens seiner ersten deutlichen Außerung nach der Versunkenheit jener Tage[194]ließ Susann Hieseb alles in der Wirtschaft liegen und lief nach dem hinteren Inselrand, wo eben Pater Augustin ausstieg und mit seinen klappernden Holzsandalen behend über die Ufersteine hinwegtrippelte. Ohne ein Wort zu sagen, faßte er gleich das verlassene Gotteshaus ins Auge und schritt beiden vorauf auf die Kapelle zu. Der unförmliche Schlüssel stak bereits, der Mönch drehte um und stieß die Türe auf.

In dem kahlen, weißgetünchten, feuchtkalten, aber reinlich ausgefegten Raume standen auf dem Altarsteine zwei angezündete Wachskerzen und drei Sträuße aus dem herbstlichen Garten. Der begehrte Volksredner sprach nun zu den beiden in demütiger Haltung vor ihm stehenden Geschwistern leis geflüsterte Worte, daß ein schwaches Werkzeug wie er, eine eigentliche Weihe nicht vollziehen könne, weil dazu ein hochwürdiger Bischof oder gar ein Abgesandter des heiligen Vaters von nöten wäre, wie er aber immerhin von seinem Propste hierher beschieden sei, gewissermaßen aufs neue Besitz zu ergreifen von zugehöriger Stätte nicht nur, sondern eben so sehr von zugehörigen Herzen. Und so möge dann St. Leugelt, der gute heilige Patron dieser Insel Wache halten über dem Eilande und seinen Ansiedlern. Dann wandte er sich dem Kinde zu und nahm sogar unter feierlichen Gebärden eine Salbung vor, da die Ketzertaufe, an sich als Notbehelf ausreichend, doch der Ergänzung bedürfe, vor allem zum Bann gegen ruchlose Geister, deren Tücke solch ein hilfloses Wesen weit bedrohlicher ausgesetzt sei, als wenn es gleich von vornherein regelrecht in den[195] Schoß der seligmachenden Kirche aufgenommen worden wäre.

Hans hielt die Mütze in der Hand und sein Haupt tief auf die Brust gedrückt. Dann, als der Kapuziner seine Hände erhob, murmelte der Pächter Unverständliches und streifte sich mit seiner Rechten langsam das Kreuzeszeichen über die Brust, während seine Schwester Susann, immerzu das Kind auf den Armen, tief in die Kniee sank und heiße Tränen vergoß.

Vor der Türe wollte der Mönch alsbald wieder ins Boot und nach Hause. Den überraschten Gastgebern gab er zu bedenken, wie sehr es gelte, Vorsicht zu üben und wie leicht seine unverhohlene Anwesenheit die Pächtersleute in Mißhelligkeiten verwickeln könnte; der Verwalter der Seeau sei nun einmal den Neuenachenern pflichtig und wenn da nun gleich zu Anfang eine geistliche Kutte sich offenkundig zeige, so könnte daraus blinder Lärm erwachsen. Man gehe sicherer, wenn man nichts überstürze und darum tue er jetzt wohl besser daran, sich zu verabschieden. Da fuhr aber ein prächtiges Herrenbewußtsein durch Hiesebs ganzen Körper. Er reckte sich auf und die Zornesader auf seiner Stirn schwoll dunkel an. "Was? Es soll sich einer unterstehen. Hier bin ich Meister. Sie wissen, daß ich katholisch bin." Der Kapuziner schmunzelte. Der Pächter hatte bestanden.

Susann mußte mit dem Kinde voraus und den Imbiß vorbereiten. Hans befahl, was aufzutragen sei. Es lief, ohne daß er sich dessen im Augenblick erinnerte, so ziemlich auf die nämliche Ehrung hinaus, wie er sie[196]für den Pfarrer Sandhuber bei dessen Besuch am Tauftag angeordnet hatte. Doch während der reformierte Herr sich die duftenden Eierfladen und den saftigen Landschinken samt dem nachfolgenden Sauerkraut, Hühnchen, Kuchen und Gebäck mit Behagen zu Gemüte führte, sichtete der Mönch von vornherein in strenger Auswahl die UÜberfülle auf ein paar Bissen magere Kost zusammen. Dagegen nahm er den vorgesetzten Wein ohne weitern Vorbehalt in Angriff, sprach nach festgestellter Jahresfolge der einzelnen Proben zunächst der jüngsten zu und erwies sich alsobald trunkbeflissener als damals der Protestant. Zugleich ging er nun zu einem höhern Stadium von Mitteilsamkeit über und kam allmählich mit allerlei Späßchen und Schnurren zum Vorschein. Er selbst rückte mit dem guten Beispiel heraus und schüttelte sich ordentlich vor Lachen unter seiner enggespannten Leibschnur. Hieseb sah das Kruzifir, auf das er einst in heiliger Hingabe den Treuschwur des Glaubens geleistet hatte, bald am gelockerten Strang jäh auf den Kies aufschlagen, bald bei einer neuen Erschütterung wieder hochhüpfen und wirbelnd durch die Luft tanzen. Im ersten Augenblick fühlte er sich davon wie geprellt; aber nur um desto richtiger alsobald wieder ins Gleichgewicht zu kommen, diese gegenständliche Erinnerung an eine überlebte Vergangenheit hatte ihn verwirrt, er war weich geworden, als der Pater vorhin in der Kapelle droben seine und seines Kindes Seele für den Glauben der Väter in Anspruch genommen hatte. Jetzt aber, wo dieser das Symbol seines Seelenamtes im Staube schleifte, weil er über[197]den alltäglichen kleinen Erdenfreuden für Höheres keine Zeit mehr hatte und dieses Höhere eben so lange auf sich beruhen ließ, bis er satt war - jetzt sah sich Hieseb noch glücklich bewahrt, den pietätsvollen Eindrücken übers Maß nachzugeben. Er nahm also den Kapuziner nicht als das mehr, wofür er ihn einst in Treu und Glauben genommen hatte, als einen Boten himmlischer Wahrheit, sondern als das, wofür sich jener jetzt selbst gab: als einen ausgezeichneten Spaßmacher. Er schenkte ein - stieß mit ihm an und nötigte ihn auszutrinken. Die Laune des Paters wuchs zusehends; er überbot sich mit seinen Histörchen, so daß die gute Susann, die eigentlich wider Willen in die steigende Lustbarkeit hineingezogen wurde, nun nachgerade rot wurde und sich nicht länger enthalten konnte zu rufen: "Aber nein auch, Hochwürden!" Der Pater aber ließ die Mahnung nicht gelten. Er wisse selbst am besten, was er dürfe und heute habe er sich das Indulci jubilo wohlverdient, denn er habe der Kirche verfallenen Boden wiederzurückgewonnen, und dafür gebühre ihm sein Bene. Und erst als das Boot, in dem ihn Hieseb in eigener Person zurückruderte, dem Land nahe war, fand er es geraten, in dieser Vergnüglichkeit etwas nachzulassen und dem Zusammensein zum Schluß wieder ein mehr geistliches Gepräge zu verleihen. Dabei geriet, da in der Anfangsfeier den Heiligen der ihnen gebührende Vortritt bereits eingeräumt worden war, die tröstliche Rede von ungefähr auch auf den frommen Dulder Hiob mit seinem demütigen: "Der Herr hat's gegeben" - und Hieseb verwunderte sich im Geheimen, wie gering nun[198] plötzlich der Unterschied beider Bekenntnisse ausfiel; bei mehr wie einem Worte, das nun der Barfüßer noch zu ihm tat, war ihm, er höre Sandhuber reden.

Auf der Heimfahrt und noch den ganzen Abend, bis er einschlief, rückte er an den vielen in ihm aufgescheuchten Gedanken zurecht. Wieso sollte er nicht mit Sandhuber und dem Pater zu gleicher Zeit gut stehen! Er mußte an einen jungen Baum denken, den er kürzlich von zwei Seiten mit Drähten an Pflöcke gebunden hatte! Und dann, worin Pfarrer und Pfaff, die es ija wissen mußten, einer Meinung waren: es war der Herrgott und nicht er selber, der ihm seinen jetzigen Wohlstand und was ihm mehr galt als Wohlstand, seine Freiheit geschenkt hatte. Er wollte nicht groß tun, er habe Glück gehabt; er wollte still sein und danken. Ja, das schon. Aber eins - trotzdem: umsonst hatte er es vom Herrgott nicht. Er hatte das Seinige geleistet an Mühen, Sorgen, Bitternis, und schmerzlicher als das, an Herzblut, eigenem und fremdem.

Jakob Brunner, der Ammann, hatte nun eine genügende Erklärung zusammenbekommen für Hiesebs merkwürdigen Fund. Ohne über die Sache selbst etwas ruchbar werden zu lassen, gelang es ihm von ungefähr, was so alte Neuenachener waren, die noch ins achtzehnte Jahrhundert zurückreichten, über die ehemaligen Verhältnisse auszuholen. Desgleichen machte er sich den Friedensrichter gefügig, ebenfalls in unauffälliger[199] Weise herumzuhorchen. Die beiden leisteten sich überhaupt eine dicke Freundschaft, wobei Zumbühl der ausschließliche Empfänger, als strikter Bewahrer des Geheimnisses doch der ihm gespendeten Huld würdig blieb. Daß wenigstens sie zwei ein Herz und eine Seele waren, forderte schon die Gefahr, in der Jakob Brunner schwebte, so lange Hieseb in dieser Angelegenheit seine eigenen Wege ging. Selbstzweit konnten sie ihn immer im Schach halten. Und Zumbühl trachtete darum erst recht auf ein stetes gutes Einvernehmen mit Hieseb, um ihn an Übereilungen hindern oder solche doch möglichst rechtzeitig dem Ammann zur Kenntnis zu bringen. Einstweilen hatte die angestellte Umfrage den rätselhaften Sachverhalt in einleuchtender Weise aufgehellt. In der Tat war die regelrecht fällige Entrichtung dieser Abgaben nicht durch einen bloßen Zufall von heute auf morgen eingeschlafen. Wahrscheinlich hing der Wille zur Unterlassung mit der Verbreitung freiheitlicher Ideen zusammen, die nach der französischen Revolution ihren Weg auch in die Schweiz gefunden hatten und namentlich in den Köpfen ländlicher Denker ein seltsames Unwesen trieben. So hatte zu Neuenach die Losung der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu einem heimlichen Komplott der Großbauern geführt, die eine fernere Abhängigkeit von einem, wenn auch säkularisiertem Stifte, mit ihrer Menschenwürde für nicht mehr verträglich hielten. Die geplante Massenunterschlagung fand nicht den geringsten Widerstand, da das Kollegium der Pfleger zum größten Teil aus Mitbeteiligten bestand und der dama[200]lige Spittelschreiber an dummköpfiger und troddelhafter Unterwürfigkeit offenbar nichts zu wünschen übrig ließ. So sehr wiegten sich die Anstifter in Sicherheit, daß sie versäumten, die Schuldbriefe im Kanzleiarchiv zu tilgen, die nicht mehr ihnen selbst, dafür aber ihren Kindeskindern verräterisch geworden waren.

Es jährte sich, daß der Warmbacher die ratsamste Erledigung in seinem Kopfe zurecht legte. Er war Bauer vom Scheitel zur Sohle, mithin auf nichts anderes bedacht, als alles zu seinem persönlichen Vorteile zu wenden. Der Schwindel hatte schon seinen unablässig rechnenden Verstand zu umnebeln gedroht, wenn er ein günstiges Ineinandergreifen aller Glücksfälle voraussetzend, das äußerste Zusammentreffen der Vorteile in seiner Hand sich ausdachte: ein Fürst wäre er dann, ein Machthaber, wie ringsum kein zweiter. Aber er entließ keinen ihn derart umstrickenden Gedanken, ohne ihm ein ungläubiges Lächeln nachzusenden. Dagegen erfüllte ihn ein stiller, tiefwurzelnder Stolz, als er endlich ein Verfahren ausfindig machte, wie er im Bereich jeder Möglichkeit dennoch die Zügel unbedingt in der Hand hielte. Das Wesentliche war, er mußte sich zum Vollstrecker dieser Massenliquidation einsetzen lassen. übergab man ihm die Vereinigung der Verpflichtungen, so fiel sein Anteil von vornherein in sich zusammen und für alles übrige traten dann alle andern außer dem Warmbacher als Schuldner auf. Wenn nun gar die Einseitigkeit einer derartigen Abmachung dadurch gemildert wurde, daß der Riedecker, der Hinterbodener und noch drei oder vier Mächtige[201]mit ihm sich zu einer Art Gesellschaft zusammentaten und sich bereit erklärten, die gesamte Schuldenmasse zu übernehmen, da erledigte sich die Angelegenheit auf dieser Grundlage zur Zufriedenheit wenigstens derer, die etwas zu sagen hatten. An Stelle des Klosters trat nun ein Ausschuß von Bauernherren, die auf diese Weise die Kleinbauern noch in völlige Abhängigkeit von sich selbst brachten und ihren bisherigen Einfluß beinahe zur Allmacht erweiterten. Eine derartige Veränderung der hergebrachten Schuldenverhältnisse auf gütlichem Wege war um so mehr an der Zeit, als so wie so die neue Staatsverfassung demnächst auch in diesen Dingen die altmodischen Zustände zu beseitigen drohte.

In dieser geheimen Rechnung des Warmbachers war aber eine Nummer nicht miteingeschätzt, die doch recht beträchtlich mitzählte: Zumbühl. Ja, dieser selbe Zumbühl, der nach außen hin besehen, zur unbedingten Verfügung des Dorfherrschers stand, war eben doch ein verwickelteres und schwerer verständliches Wesen, als er selber es wußte. Denn klare Absicht, eine zweideutige Rolle zu spielen und auf diese Weise zu eigenem Vorteil zu gelangen, war es nicht, was ihn am Ammann Brunner einen halben Verrat üben ließ. Sondern wie er in seinen täglichen Lebensgewohnheiten gemächlich zwischen "Schifflein" und "Weißem Kreuz" hin⸗ und herpendelte, weil ihm erst der rote Landwein Rübstiehls hinter dem weißen Säuerling Fägschmieds einen runden ausgeglichenen Geschmack ergab, und wie er in geistiger Hinsicht aus[202]demselben Ergänzungsbedürfnis abwechselnd bald im Rate des einen und bald im Rate des andern zugegen sein mußte, so hätte an und für sich eben diese Art, die Vielseitigkeit zu pflegen, ihn nicht bewogen, aus eigenem Antriebe gegen den Warmbacher zu Hiesebs Gunsten Stellung zu nehmen. Vielmehr veranlaßte ihn doch ein aus seiner sonstigen gelinden Charakterlosigkeit hervorragender Rest von Gerechtigkeitsgefühl zu diesem Schritt. Er empfand Teilnahme und Mitleid mit Hiesebs Unglück. Und als er nun wahrnahm, wie ein Mann wie der Warmbacher nicht einen Augenblick zögerte, in seine eigennützigen Pläne nach wie vor Hiesebs Dasein mit einzubeziehen, da beschloß er, zur Ausnahme einmal nicht länger den vermittelnden Zwischenträger zu spielen, sondern nun regelrecht Partei zu ergreifen. Und zwar wollte er Hieseb nicht nur einen sogenannten Freundschaftsdienst erweisen, indem er ihn vor der Ausbeutung des Ammanns warnte und schützte; nein, Hieseb sollte die Früchte, die seine Entdeckung trug, auch möglichst ganz und ungeteilt zu genießen bekommen. Der arme Kerl tat ihm wirklich in tiefster Seele leid. Vielleicht vermochte eine Wirkung ins Große, Allgemeine, eine ausübende und bestimmende Stellung in der Offentlichkeit - nach der Lage der Dinge für Hieseb gar keine undenkbare Annahme - ihm über den schweren Schicksalsschlag hinwegzuhelfen. Aber ebenso war - nach der Lage der Dinge - er der einzige, der Hieseb die Pfade ebnen konnte. Und das wollte er, wahrhaftig ja. Es wurde ihm ordentlich warm ums Herz, als er sich tiefer in den Ge[203]danken hineinlebte. Der Seeauer sollte es ihm noch einmal danken, daß der Friedensvichter etwas für ihn getan hatte. Und wenn er es ihm nicht dankte, nun, dann schadete es auch nichts. Geräuschlos, - so lautete seine Losung auch jetzt, wo es sich darum handelte, Gutes zu tun. Nicht wie der Samuel Ambrosmen, der die Nächstenliebe in großen Buchstaben auf seine Flagge geschrieben hatte und auch der kleinsten, liebestätigen Handlung dieses Panier weitsichtbar voraussstrug. Kein Mensch sollte etwas davon merken, was Zumbühl überhaupt im Schilde führe, und gelang es, dann wollte er alsobald durch sein übliches Vertuschungs⸗ und Milderungsverfahren sie allesamt auf falsche Fährte leiten, als sei er in der Tat die stumpfe, eingetrocknete verschimmelte Beamtenseele, für die sie ihn alle hielten. Seine erste Sorge mußte nun sein, des Hieseb auf vorsichtige Art habhaft zu werden und ihn langsam in die Kur zu nehmen. Ja, er ängstigte sich im voraus bei dem Gedanken, es möchte bei seinem Mangel an Übung zu dergleichen Unternehmungen, ihm vielleicht doch fehlschlagen.

Eines Tages besuchte ihn Hieseb. Er trug sich längst mit dem Gedanken, sich ins Bürgerrecht von Neuenach anzumelden und brachte nun Zumbühl das betreffende Gesuch mit der Bitte, es dem Gemeinderat vorzulegen. Dieser nahm es in seiner einsilbigen Art entgegen. Dann fing er ein wenig vom Wetter an, dann machte er sich über den Ambrosmen lustig. Dann fragte er, ob sie nicht ein Pfeifchen rauchen wollten, was zu weitgehenden Betrachtungen über Tabak[204]einfuhr führte. Endlich fragte Zumbühl: "Es ist Euch denk' jetzt ein bißchen wohl einsam drüben?" Hieseb brauchte nicht umständlich ja zu sagen; er nickte nur: "Besinnt Ihr Euch noch, wie Ihr Euch die Zeit vertrieben habt in der Spittelstube oben mit den alten Rodeln und Gültbriefen." - "Ei ja!" versetzte Hieseb völlig ahnungslos, "es würde mir zu statten kommen, wenn ich jetzt auch so etwas hätte. Es war doch recht kurzweilig. Aber jetzt habe ich keine Lust, mich zu zerstreuen. Es muß gehen, wie es geht. Trauriger kann es ja doch nicht mehr werden mit mir." - "Aber bergauf kann es wieder gehen mit Euch. Glaubt nicht, ich schätze Euern Kummer niedrig ein. Wenn man so jung ist, wie Ihr, darf man den Kopf nicht hängen lassen. Ihr müßt Euch wieder aufrütteln." - "Ja, das würde vielleicht nichts schaden. Aber was soll ich anfangen?" - "Wie wär's," forschte nun Zumbühl, "wenn Ihr Euch wieder mit -" und nun rückte er heraus und redete sich sein Geheimnis von der Leber herunter. Hieseb hörte ihm offenen Mundes zu. Er traute seinen Ohren nicht. Aber Zumbühl ließ ihn nicht im Zweifel, was für eine Zukunft sich vor ihm auftue, sobald er gesonnen sei, die Gelegenheit beim Schopfe zu fassen. Wäre es freilich auf Hiesebs Entschluß abgestellt geblieben, er hätte kaum einen Finger gerührt. Er wisse ja nicht, wie ihm geschehe, erklärte er Zumbühl; ihm sei überhaupt zu Mute, es träume ihm nur. "Träumt Ihr nur lustig drauf los!" scherzte Zumbühl, "der Warmbacher wird wohl dafür sorgen, daß Ihr zeitig aufwacht. Ich will Euch noch gar nicht auf gestif[205]tet haben. Nur soll er Euch nicht hinterlistig überfallen können. Jetzt seid Ihr gewarnt und könnt Euch vorsehen."

In der Tat verhielt es sich genau so, wie Zumbühl vorausgesagt hatte. Einzig der Gedanke an Hans Hieseb ließ den Warmbacher immer nicht recht mit seinen Entwürfen zu einem letzten Abschluß gelangen. Am liebsten hätte er kurzer Hand mit ihm aufgeräumt. Aber dazu hätte er ihn geringschätzen müssen, und das war es ja eben, was er nicht fertig brachte. Er hatte einfach Angst vor ihm, obschon er sich das selber nicht eingestand. Wie er einst den Fägschmied von einem Griff hintenüber über den Haufen hatte fliegen sehen, wie er nun ein großes, umstürzendes Ereignis wiederum durch die Findigkeit dieses selben Fremdlings mir nichts dir nichts aus dem Boden wachsen sah, so konnte es auch eines Tages um ihn selber, den allgewaltigen Jakob Brunner, geschehen sein, wenn er sich mit Hieseb überwarf. Und so band ihm, der doch sonst nur gewohnt war, zu schalten und drauf los zu fahren, eine kleinliche, bängliche Vorsicht die Arme. In seinem Mißmut stieg ihm immer besonders darüber ein unverhohlener Arger auf, daß aus Hiesebs Heirat mit Marei nichts geworden war. Das hätte mit einemmal alles Wasser auf seine Mühle geleitet. Hiesebs Vorteile wären die seinen geworden und für so dumm hielt er weder jenen noch sich selbst, daß sie dann nicht auf das allerschönste miteinander übereingekommen[206] wären. Jetzt sah er mit keinem Kopfzerbrechen irgend ein Mittel ab, mit Hieseb jemals mehr auf ebenso glatte Manier handelseins zu werden.

Aber das Glück war ja dann in dieser Hinsicht dem Warmbacher holder, als er in seiner Niedergeschlagenheit glaubte voraussetzen zu dürfen. Hiesebs plötzliche Witwerschaft überholte die kühnste Hoffnung. Nun handelte es sich eben um weiter nichts, als das zweite Mal ihn nicht entschlüpfen zu lassen. Für das klügste hielt es der berechnende Ammann, den Seeauer Pächter, der das schon durch seine Güte geworden war, zunächst ein zweites Mal mit einer neuen unverdienten Wohltat kleinzukriegen. Anlaß dazu bot nun Hiesebs Gesuch um Aufnahme ins Bürgerrecht von Neuenach. Daß er angenommen wurde, verstand sich von selbst, aber nun kam wieder der Warmbacher den überraschten Gemeinderäten mit Vergünstigungen, die Hieseb durch die ausgezeichnete Verwaltung der Seeauer Pacht im ersten Jahre verdient haben solle. Der Kreuzwirt schüttelte den Kopf, sagte aber weiter nichts und so brachte der Ammann auch diesen Antrag zur Annahme. Die Sitzung fand in der Klosterkanzlei statt. Hieseb wartete in der Nebenstube bei Ambrosmen auf das Ergebnis. Die nun gar noch ehrenvolle Verleihung des an sich schon sehr hoch zu bewertenden Rechtes kam ihm völlig unvermutet und machte ihn stutzig. Der Warmbacher lud ihn des weitern ein, mit ihm auf seinen Hof zu kommen, sie wollten einen Schoppen auf den neuen Ehrenbürger nehmen. "Nun keine Umstände! Marsch! Man kann Euch doch nicht auf die Seeau nachlaufen,[207] wo sich die Füchse und Hasen gut' Nacht sagen." Damit trat er seinen Heimweg an und ließ Hieseb nicht von der Seite.

Eine Ahnung, daß es der Warmbacher so oder anders auf ihn abgesehen habe, hatte ihm der Friedensrichter ziemlich unmißverständlich beigebracht; dennoch fiel Hieseb von einem Erstaunen ins andere, als Marei im schönsten Sonntagsstaat ihn unter der Tür begrüßte, und er an das Bett ihrer Mutter geführt wurde. Die Warmbacherin war schon seit Jahren bettlägerig und das ununterbrochene Liegen hatte ihre Anlage zur Fettsucht so befördert, daß ihre Beine die Körperlast vielleicht gar nicht mehr hätten tragen können. Sonst aber war sie munter und hellauf, regierte, ihren Mann nicht ausgenommen, das ganze Hauswesen und so war sie auch über Hieseb und über das, was nun neuestens wieder mit ihm angestellt werden sollte, längst auf dem Laufenden, und entschlossen, das Ihre nicht zu unterlassen. Sie empfing ihn mit einer Flut von schönen Worten: "Aber nein auch, die Ehre! Der Pächter der Seeau! Ich habe schon so manches von Euch gehört! Auch Trauriges! Die arme Ursula!" Dabei spendete sie geschickt eine Träne, ließ die Stimme etwas entgleisen und fuhr sich mit dem Leintuchzipfel leicht übers Auge. "Aber es muß nun auch wieder so gehen. Und Ihr habet Hilfe. Und was macht auch der Kleine? Oder ist es ein Mädchen? Aber auch! Sogleich die Mutter verlieren müssen. Das ist eben der Lauf der Welt. Oder auch Gottes Wille - kann man sagen. Es ist, wie man's[208]nimmt, Pächter Hieseb. Gewiß ist's wahr. Oder hab ich Unrecht? Ach, Ihr glaubt nicht, wie gern ich Euch beispringen möchte. Ich könnte ja die Marei schicken. Was wollt Ihr, wenn man so ans Bett gebunden ist, keinen Schritt kann ich mehr tun."

Sie schob mit einer heftigen Bewegung die Gardinen zurück, die vom Betthimmel herabhingen und noch halb vorgezogen waren. Hieseb sah zwei silberne Kopfbedeckungen auf der Bettdecke liegen. Die eine glich mehr der Meisterkrone einer städtischen Zunftgenossenschaft, die andere mehr einem bereiften Kranze. Vor einiger Zeit hatte das Brunnersche Ehepaar die silberne Hochzeit gefeiert und sich diese Kopfzierden zu dem Feste gestiftet. Ohne nun Hieseb lange im Unklaren zu lassen, wozu diese Schaustellung eigentlich dienen sollte, rief die Warmbacherin auf einmal: "Ich denke, Ihr seid wundrig, unsere Kronen zu sehen. Seeauf und ⸗ab hat man davon gesprochen. Und es sind schon Visiten ins Haus gekommen, die sind tagelang mit der Post gefahren, nur um unsere Kronen zu sehen. Der Kreuzwirt hat sie uns abkaufen wollen für seine Sammlung. Aber oha! der kann warten. Das ist das letzte, was wir hergeben. Gelt Vater? Aber so sieht man gar nicht, was dran ist. Komm Marei, da! Setz' dir den Kranz auf. So! Ist es nicht ein Staat? Nun sollte aber die Manneskrone auch noch -" der Warmbacher packte das andere Kleinod und stülpte es Hieseb auf. "Dem Verdienst die Krone!" sagte er, "umsonst haben wir Euch nicht zum Ehrenbürger gemacht." Und nun standen sie neben einander, mir nichts, dir nichts[209] zum Brautpaar gepreßt. Marei hatte den guten Verstand, laut aufzulachen, so daß Hieseb nicht wohl anders konnte, als eben auch lachen.

Zwar hatte sich der Warmbacher zu diesem Wink mit dem Zaunpfahl verstanden gehabt, als ihm die Frau vorher leuchtenden Auges den Vorschlag unterbreitet hatte. Jetzt aber, wo die Verwirklichung so eselsdeutlich ausfiel, fürchtete er doch für den ersprießlichen Verlauf und fuhr seine Frauensleute an: "Das sind Dummheiten. Geh', mach den Kaffee und die Kuchen, Marei - das ist vernünftiger." Und er zog Hieseb mit sich an den Tisch, indem er noch nach dem Bette hinbrummte: "Und du, Mutter, mußt deine Ruhe haben, sonst wirst du noch specksüchtiger als du schon bist." Er schenkte num Hieseb tüchtig Wein ein; der Kaffee komme dann nach samt Kuchen und eigen gebranntem Kirschwasser. Sie stießen an und tranken. Der Warmbacher leerte sein Glas mit einem Zuge, was er ruhigen Blutes niemals tat. Dann wischte er sich mit dem Rücken seiner Hand unter den Lippen vorbei und blinzelte Hieseb vertraulich an: "Was sagt Ihr sonst zu der Marei. Das ist noch eine, die sich einmal verlohnt: mein einzig Kind zum Donnerwetter! Können hätte sie schon wer weiß wie oft. Aber mögen - die Weibsleute haben ihre Mucken. Die Marei nimmt nicht jeden. Aber einen wie Euch -" Jetzt fing den Hieseb nun aber doch an der Teufel zu stechen. Er nickte gewichtig vor sich hin und zog sein Gesicht in Falten. "Bis jetzt ist mir nicht recht drum gewesen, nach einer andern mich umzutun. Es wäre auch noch wohl früh. Die Ursel[210]ist ja kaum unter dem Boden. Aber wenn es nun einmal Ernst ist, dann wäre die Marei nicht die letzte -" Der gnädige Ton dieser Erklärung wurmte die Warmbacherin. Sie drehte sich geräuschvoll der Wand zu und brummte unverständlich. Ihr breiter Rücken versank unter einem hohen Wall roter sich bauschender Kissen. Der Warmbacher dagegen hielt sich mehr an das tatsächlich erreichte Entgegenkommen: Sobald Hieseb sage, er wolle - von heut auf morgen brauchte es ja nicht zu sein. So setzte er denn aufs neue an: "Ich meine doch, Seeauer!" - und die Stimme dämpfend - "wir hätten Ursach', es uns ein bißchen näher zu geben, der eine dem andern." Hieseb zuckte auf: "Näher? Wie so näher?" - "Aber Hieseb, es muß nun doch einmal in Ordnung kommen - Ihr wißt doch - da mit dem Spittelgut!" Hieseb spürte, wie das Blut ihm in den Schläfen klopfte. Es war ein richtiges Anpochen um Einlaß. Sein mühsames Emporstreben krönte dieses abschließende Triumphgefühl: der Allgewaltige von Neuenach - vor ihm, dem Fremden gezittert! Nun war es so weit, nun galt es. Er lehnte sich an den Stuhlrücken und sah seinen Gastgeber herausfordernd ins Gesicht. Dem benahm ein aufsteigender Argwohn den Atem, so daß Hieseb nun auspackte. "Das mein' ich auch. Und zwar bald einmal muß es in Ordnung kommen. Ich habe nur warten wollen, bis ich eingebürgert sei." Der Warmbacher knurrte dumpf verhalten auf: war er nun also doch der Gefoppte? Ein furchtbarer Wutqualm wallte in ihm auf - zum Ersticken. Er würgte. Ein blutroter[211]Schleier senkte sich ihm vor die Dinge, die er ansah. Hieseb wurde noch bestimmter. "Das mit der Marei pressiert ja nicht. Aber das andere desto mehr. Ihr hocket ja auf dem Geheimnis wie die Katze auf den Jungen." Da stand Marei mit einem Brett voller Herrlichkeiten unter der Tür vom Kaffeedampf umwölkt. Der Duft raubte dem Vater die letzte Besinnung. "Wa - was!" schrie er die Tochter an mit wahnwitzigem Kreischen, und er duckte sich wie zum Sprunge. Sie meinte durch Verspätung den schrecklichen Zorn sich zugezogen zu haben und eilte stracks auf den Tisch zu. Da - ein Schlag - ein Schrei - und in alle vier Ecken mit der Bescherung! Die Spritzkuchen drehten sich wie Windräder, der Butterballen spießte sich an einer Kerze auf; die Milch formte auf der roten Weste des Wüterichs ein annehmbares Schweizerkreuz, und der Kaffee ersah sich die neue seidene Schürze der Aufwärterin zum Rieselfeld. Da er siedend war, schrie sie nicht vom bloßen Schrecken auf. Als Hieseb sich den Schaden besah, insbesondere das gelbe Donnerwetter auf der seidenen Schürze, sprang er auf und griff nach seinem Hute. Der Alte, ohnmächtig ihn zu packen, gurgelte einige Kehllaute von sich und torkelte dem Ausreißer nach. Sobald er dann mit geballter Faust vors Haus trat, begriff der mächtige Kettenhund den Sachverhalt und fuhr wie rasend auf, sein Hundshaus mit sich reißend. Hieseb hatte den hintern Fußweg dem See zu eingeschlagen, und der Warmbacher mußte nun sehen, wie er links einbog, und die Hintertreppe zum "Schifflein" hinauf[212]stieg. Das war zu viel. Schnurstracks hingehen und ihn dem Hohne seines ärgsten Feindes ausliefern!

Jakob Brunner kehrte in die Stube zurück und ließ sich auf die Bank fallen - mit keuchendem Atem, mit stierem Blick, mit gequollenen Krampfadern. Er neigte zu Schlagflüssen und hatte den ersten bereits hinter sich. Als ihn seine Frau so da sitzen sah, war sie ebenfalls einem Zufall nahe. "Hol' Wasser, Marei, schnell, und spritz' den Vater." Das geschah und der vollblütige Bauer kam allmählich wieder zu sich. Aber noch immer tat er wie vor die Stirn geschlagen, schüttelte den Kopf in leisen Zitterbewegungen und sprach verworren und unverständlich vor sich hin. Erst über den kräftigen Entladungen seiner Frau richtete er sich allmählich wieder zu seiner früheren Würde empor; diese Schimpfnamen geradeheraus waren eigentlich - so fand nun auch er - die richtigere Aushilfe, als sich am Ende gar noch zu hintersinnen. Es gab keinen Titel und Ruf im ganzen Schelmenkalender, mit dem die Warmbacherin den Hieseb nun nicht hinterher noch belegte: "Und dieser Fötzel, dieser himmeltraurige Landstreicher, der sollte unsere Marei haben! Ins Narrenhaus gehören wir, Vater, du und ich. Da ist mir denn der Fägschmied noch am kleinen Finger lieber.

Ein neuer Schreck fiel den Ammann an. Was schwatzte die Alte da? Marei? Fägschmied? Und kaum stießen diese beiden bisherigen Unvereinbarkeiten in seinem Verstande aufeinander, so waren sie auch schon ein Herz und eine Seele. Fägschmied! In der Tat der einzige, der diesem Frechling die Stange halten[213]konnte! Nun sah Brunner plötzlich den zweiten Gang jenes Ringspiels vor sich, da der Schiffleinkaspar den Sonderbündler zum Entgelt für die erste Niederlage mit einem einzigen Stoße hintenüber warf. Und Fägschmied hatte gewiß die Vernunft, den veränderten Verhältnissen Rechnung zu tragen und als künftiger Warmbacher Großbauer seinen verderblichen Demagogengrundsätzen den Abschied zu geben. Die bettlägerige Bäuerin vermutete nicht ohne Grund, nun sei der Augenblick gekommen. "Ach, Vater," fing sie mit Vorsicht heuchelnder Stimme an, "die Marei hat es dir bloß nicht sagen dürfen: aber der Fägschmied und sie tun schön miteinander - ach, ich mag mich gar nicht besinnen wie lang schon." Jakob Brunner hätte nun leicht aufs neue etwas über sich bekommen - der Bericht öffnete ihm die Augen, was alles hinter seinem Rücken ohne Wissen und Willen seiner vermeintlichen Allmacht sich ereignet haben mußte. Er ging auf die Marei zu. "Und davon sagst du mir nichts." - "Aber ich durft doch nicht, Vater! Ihr habt ja immer nur gegen ihn gewütet." "Aber ich hab' dich doch gefragt, ob du nun nicht heiraten wolltest. Hab' ich nicht? Ihr seid alle miteinand Lumpenware. Wenn nicht unsereiner einmal zur Gabel greift und ein wenig ausmistet! So! Und nun heiratest du mir den Fägschmied, Mädchen. Hast du gehört! Unfehlbar! Sonst jag' ich dich mit Schimpf und Schand vom Hof. Daß du mir ihn dran kriegst, noch diese Woche. Wie du's dann anstellst, ist deine Sache. Aber er muß hier ins Haus und bei mir um dich anfragen!"

[214]

Noch während er diese Worte über die Lippen ließ, spürte der Warmbacher den Segen dieser Lösung an seinem Leibe. Die bösen Geister legten sich schlafen. Seine Seele paßte sich wieder der glatten Rundung seines Körpers an und erzeugte ihm den friedlichen Einklang frühern Wohlbefindens. Aber nmatürlich! daß er nicht längst darauf verfallen war! Zwei Fliegen auf einen Schlag: er beraubte die Umstürzler ihres Führers und setzte den stattlichsten Mann im Dorf als Beschützer seiner eigenen Interessen ein. Eine Kapitalsidee! Und er sah eben, wie Marei am Bett ihrer Mutter einen Luftsprung tat. Diese hatte ihr gesagt: "Siehst du, hab' ich dir nicht immer Mut gemacht. Treue Liebe wird endlich belohnt." Marei warf einen von Freudentränen überflorten Blick auf die Verheerung am Boden. Was hatte das auf sich! War ja doch die Hauptsache beisammen geblieben und entzwei gegangen nichts als ein Milchtopf und eine Untertasse.

Wenige Tage später saß Zumbühl bei Fägschmied im "Schifflein" noch früh am Morgen und sonst niemand. Der Wirt tat sehr geheimnisvoll, Zumbühl lächelte. "Nein, so etwas," sagte Fägschmied noch ganz benommen. "Schon immer hatte ich es darauf abgesehen. Ich dachte, der Warmbacher muß mir dran glauben. Entweder ich heirate die Marei oder ich bring ihn zu armen Tagen. Seit Jahren hab' ich daran her[215]umgemacht und es wollte mir keins von beiden geraten. Und nun plötzlich beides aufs Mal! Kommt da der Hieseb, zeigt mir die ganze Liste - nun Friedensrichter, du weißt es ja - und ich schlag' mit tausend Freuden ein: nun aber dem Warmbacher an den Kragen! Da - kein halber Tag ist vergangen - schickt mir die Marei ein Briefchen - ich soll doch heut abend an den Hag kommen. Sie, die nichts mehr von mir wissen wollte! Und was muß ich hören: der Vater will mich zum Tochtermann. Von sich aus. Ohne daß sie einen Finger zu rühren brauchte." Er lachte bärenhaft vor sich hin über diese Sorte Verlegenheit. Zumbühl konnte nun wieder seinem Elemente den Lauf lassen. Eine so lohnende Gelegenheit, zu vermitteln und auszugleichen, fand sich nicht wieder. Und was war denn auch einfacher als das. "Du heiratest die Marei und läßest den Hieseb mit dem Klostergut machen. Er kann ja von sich aus nichts damit anfangen; es muß vor die Gemeinde - und da haben wir ihn ja ganz in den Händen. Schließlich kommt es doch so, wie du und der Ammann es wollen. Also, zum Wohl, Warmbacher!" Fägschmied mißtraute so vielem Glück und erbat sich Bedenkzeit bis nach Mittag, dann solle der Freund nochmals zum Kaffeejaß herüberkommen.

Abends begab sich Zumbühl dann ins "Kreuz" hinauf, wohin Jakob Rübstiehl die Neuenachener Notabilitäten im Vertrauen gebeten hatte zur Besprechung der Lage. Und so vereinigte denn das Hinterstübchen ein kleines aber respektables Kollegium: den Pfarrer Sandhuber, den Doktor Wanger und eben den Frie[216]densrichter - samt dem Kreuzwirt. Dieser hergebrachten Tafelrunde wohnte zum erstenmale Hans Hieseb bei. Er war ja nun Bürger und was so neuestens an Gerüchten über ihn durch die Luft schwirrte, bot Ursache genug, sich mit ihm gut zu stellen. Zumbühl konnte mit dem Neuesten aufwarten: Die Vereinbarung zwischen dem Schifflein und dem Warmbach, die in dieser Stunde vor sich ging. Nun hielt aber auch Hieseb nicht länger mit seinem Erlebnis zurück und gab die mißglückte Verlobungsscene zum besten; er hatte sich eigentlich vorgenommen, sie in seiner Brust zu begraben, aber wenn nun schon die Sache diesen Ausgang nahm und einfach Fägschmied seine Rolle da weiterspielte, wo er versagt hatte! Eine grenzenlose Heiterkeit brach aus; allen voran schüttelten sich Rübstiehl und Wanger und hielten sich die Seiten. Ja, ihr Ammann, der wußte sich zu helfen! Das sollte ihm einer nachmachen! Hieseb mußte wohl oder übel den Ausdruck allseitigen Mitleids entgegennehmen für diese unverzeihliche Drangabe des höchsten aller Lebensglücke: Schwiegersohn des Warmbachers zu sein. Und immer aufs neue barst Rübstiehl in ein fassungsloses Gelächter: "Nein, das ist nun aber beim Eid fünf Batzen wert."

Hieseb bat um ernsthaftes Gehör: "Die Sache ist mir nur halb recht. Zum Narren haben sollen sie mich im Warmbach unten nicht. Aber ich möchte ebensowenig darum, weil sich der Ammann vergaloppiert hat, auf kleinliche Weise meinen Vorteil daraus ziehen. Ich bin kein Viehjud. Es ist mir nicht ums Prozentchen zu tun und nicht ums Profitchen. Reicht mir das Glück[217] die Hand - mir ist's recht; ich schlage von Herzen ein. Nur, ihr Herren, säuberlich, säuberlich! Es muß gerecht zugehen im Staat. Ich will ein braver Mann bleiben."

So beruhigte man sich und besprach auf das Gründlichste die bevorstehende Entscheidung der Klostergutsache. Von Rechts wegen war das Amt des Spittelschreibers aus der ehemaligen Klostervogtei hervorgegangen; aber nun, da diese Befugnisse wieder auflebten, Samuel Ambrosmen mit der Verwaltung zu betrauen, daran war ja gar nicht zu denken. Rübstiehl und Wanger wurden einig, einen Antrag einzubringen, wonach Hieseb zum Gesamtverweser der Schuldenmasse ernannt wurde. Als man sich an dem Projekt warm geredet hatte, erhob der Doktor Wanger, der selten Feuer fing, seine Stimme gegen Hieseb gewendet: "Wie lang - oder vielmehr wie kurz ist es her, daß Ihr dort unter der Türe standet, bettelarm und geächtet. Und jetzt steht Ihr unter uns auf als der Hüter des Rechts! Ja, des guten Rechts! Mag sich nun der Stockbauer lange mit dem Wühlhuber zusammenfinden zu einem habsüchtigen Bündnis - das Recht wird obsiegen im ganzen Schweizerland und nicht zuletzt hier am Obersee. Denn noch sind wir obenauf, wir Besonnenen und Tüchtigen und Guten und gedenken auch obenauf zu bleiben. Ich schätze, so fünfzehn, zwanzig Jahre wird es noch dauern, dann werden wir mit der Verfassungsänderung so weit sein, die alten,Aufnungen‘ werden verschwinden und so außerordentliche Gemeindevorrechte, wie unser Klostergut eines ist, wer[218]den in der kantonalen Verwaltung aufgehen und einer größern Allgemeinheit zu gute kommen. Da hat uns wahrhaftig der Sonderbündler erst noch kommen müssen, um den Schaden aufzudecken und dem Eigennutz seinen Raub zu entreißen. Nun soll er es auch sein, der dem Recht bei uns zum Durchbruch verhilft. Damit wir dereinst in Ehren und ohne einen unrechten Heller auf dem Gewissen unser Gut an eine höhere Staatsgemeinschaft ausliefern können. Und nun geht es von jetzt an auf Du‘ zwischen uns. Verstandez-vous?" Rübstiehl und Zumbühl folgten Wangers Beispiel und tranken ebenfalls Brüderschaft mit Hieseb.. Der Pfarrer aber reichte ihm die Hand und drückte sie kräftig. "Zwischen uns beiden steht es, wenn auch geihrzt, doch nicht minder gut."

Mit großer Stimmenmehrheit wählte die vollzählige Versammlung der Bürger von Neuenach Hans Hieseb zum Vollstrecker und Steuereintreiber in Sachen des um rückständige Schulden bereicherten Klostergutes. Der seine Verwaltung prüfende Rechnungsausschuß bestand überwiegend aus seinen Gönnern und Freunden. Neben Rübstiehl, Wanger und Zumbühl war als Vertreter des großbäuerischen Grundbesitzes nur der harmlose Hinterbodener und als Vertrauensmann des Warmbachers dessen neugebackener Tochtermann Fägschmied ernannt, der jedoch seine Wahl nur der Mitwirkung seiner bisherigen Anhänger, den unzufriedenen[219] Demokraten verdankte. Über das neugeschaffene Amt eines Gemeindevogtes wurde überdies folgendes Nähere bestimmt: in richtiger Bewertung der zufälligen Art, wie dieses verjährte Vermögen wieder in Gültigkeit trat, sollte aus dem unverhofften Schatze nicht in unbilliger Weise Kapital geschlagen werden. Vor den Kopf stoßen wollte man niemanden. Nur die unanfechtbaren Rechtsansprüche sollten eben auf amtlichem Wege ihre Befriedigung finden. In der Hauptsache handelte es sich um die Großbauern, die sonst keinen Rappen Haftung auf ihrem Heimwesen stehen hatten. Denen sollte sogar freistehen, sich von der lästigen Obliegenheit für die Zukunft freizulösen. Aber natürlich nicht zu Schleuderpreisen, und so konnte auch ein reicher Mann nicht daran denken, von seinen Abgaben rascher als im Laufe der Jahre loszukommen. Die fälligen Steuern vollzogen sich nach dem angestammten Brauche ländlicher Zinserhebung in Naturalzehnten und so dachte man das Abkommen so zu treffen, daß Hieseb für die Maß Korn, Wein, Obst und was es sonst weiter sein mochte, nach einem billigen, den Tagesmarkt um weniges unterbietenden Preisansatz aufzukommen hatte, wobei es ihm überlassen blieb, beim Verkauf auf seinen Nutzen bedacht zu sein.

Hans Hiesebs Erheberamt wurde also eine neue Auflage der ehemaligen Klostervogtei, wenn auch in menschlicherer Ausführung. Da war es vorauszusehen, wie wenig beliebt er sich machen werde, dessen Vorschrift es nun war, von einem Haus ins andere zu gehen und den Deckel vom Topfe zu heben. Mancher[220]hatte deshalb ihm seine Stimme gegeben in der Erwartung, ein ehemals Fremder vermöchte sich gar nicht die nötige Nachachtung zu verschaffen, und diese Wahl sei deshalb das beste Mittel, um alles wieder von ungefähr einschlafen zu lassen. Aber Hieseb ging mit größter Unerschrockenheit zu Werke. Ja, er nützte seine Befugnisse mit einer Kühnheit aus, die auch liberalen Leuten, wie dem Kreuzwirt, unbequem wurde. Er besichtigte Hof für Hof und wo sonst niemand Fremdes zu befehlen gehabt hatte seit Menschengedenken, befahl nun er, wann zu mähen, zu schneiden, zu lesen sei, damit er sein zehntes Fuder Heu, seine zehnte Garbe, seine zehnte Kufe Trauben auf dem Grade des Wachstums einheimse, das ihm beliebe. So war er bald der bestgehaßte Mann, und da man ihn aus Gegenrecht im Stich ließ und auf der Seeau kaum mehr das Leugeltsfest besuchte, geschweige denn sonst zu Spiel und Tanz herüberkam, vereinsamte er rasch und kam im Dorfe drüben eigentlich nur noch als Popanz in Betracht mit seinen jährlichen Inspektionen.

Er machte sich nichts daraus, und wenn man es ihm wieder deutlich zu verstehen gegeben hatte, lachte er sich erst recht ins Fäustchen. Er dachte: "Nicht übel, gerade ich auf einer Insel! Die können mir lange pfeifen; ich meine, es bekommt nichts so wohl, als wenn man es machen kann ohne Nachbarn. Übers Wasser werden sie mir den Hund doch nicht anhetzen, und wenn sie mir den Lattenzaun um den Garten von den Nachtbuben einreißen lassen wollen, so müssen sie ihnen auch gleich das Fährgeld dazu entrichten." Aber[221]mehr als schimpfen konnten die Leute nicht. So sehr sie ihm aufpaßten, so genau sie ihm hinterher rechneten, es ließ sich ihm nicht das geringste nachsagen. Und als dann Dank seiner großen Geschicklichkeit und Sparsamkeit Einkünfte von ganz ungeahnter Höhe der Bürgerkasse zuflossen, so daß die Gemeindesteuern nicht nur schwanden, sondern ein beträchtlicher Bürgernutzen in Aufnahme kam, lernten die Leute auch die Kehrseite schätzen; es stellte sich wieder eine gewisse Fühlung ein zwischen der Seeau und dem Dorf, so daß dann doch die geplante Sommerwirtschaft zu einigem Flore gedieh.

Das ging nun so seinen Paß fünf Jahre, zehn Jahre, fünfzehn Jahre und bald auf die zwanzig zu. Viel Arbeit, saure Arbeit als Pächter und als Vogt, aber zum Lohn dafür das köstliche Gefühl des stetig wachsenden Wohlstandes. Und noch ein tieferes, unbegreiflicheres Bewußtsein, ja fast mehr Ahnung als Bewußtsein, vollendete ihm den herrlichen Lebensmut und die männliche Vollkraft. Nur in Stunden seltener Erholung oder noch rasch, ehe dem Müden die schlafschwere Wimper vors Auge sank, kam es wie ein Feiertagsgedanke über seine Seele. Stand er am Sonntagmorgen am Seeufer und die Klänge der Glocken schwebten an ihm vorüber, dann dachte er: "Was soll mir Trost und Erbauung, ich verhelfe dem Lande zum Recht." Und zog er nachts die Decke von seinem breiten, gähnenden Lager, daß es ihn feuchtkalt daraus anhauchte, dann dachte er: "Was soll mir Glück vom Weibe - ich verhelfe dem Lande zum Recht." Mit[222]Überhebung ließ er seinen Blick den Himmel entlang streichen, wo die Wolken in unordentlichen Horden durcheinander drängten; mit förmlichem Arger gewahrte er Nebel, die an Bergklüften, drüben am Ufer hängen blieben. Nichts da von Schlupfwinkeln mehr! Unter den Menschen lernt man Ordnung schaffen durch Gesetz und Gerechtigkeit. Er selber war nur ein kleiner Mann im Staate und hatte Unglück gehabt, bevor er Glück hatte. Aber so klein er war, und so viel ihm fehlte, er auch verhalf dem Lande zum Recht.

[223]

Achtes Kapitel.

Die beiden "wahren Jakobe", wie sie sich einst nicht ungern necken hörten, der Kreuzwirt und der Warmbacher, kamen über der Spittelgutsgeschichte gründlich auseinander und standen sich in der ganzen langen Folgezeit als die feindlichen Häupter der Dorfschaft gegenüber. Das hatte aber tiefere Ursachen. Rübstiehl konnte die Verachtung, auf die sein Bildungseifer beim Gemeindeammann gestoßen war, nie recht verwinden; doch sollte das im übrigen die Freundschaft nicht trüben. Nun enthüllte der durch Hiesebs glückliche Hand hervorgerufene Wandel im Neuenachener Gemeindewesen mit allem seinem Drum und Dran den beschränkten Eigennutz und die kleinliche Habsucht der scheinbar überlegenen und scharfblickenden Dorfgröße: also unverfälschtes, aber eben auch unverbesserliches Bauernblut, während Rübstiehl nicht umsonst seine Jugendjahre mit offenen Augen in der Welt draußen sich herumgetrieben, und ebenfalls nicht umsonst täglich viermal die Post mit Insassen aus aller Herren Länder von Amts wegen abzufertigen hatte. Seine Entwickelung ging im Verlauf der Jahre in ein geistigeres Stadium über: seine kostbaren Samm[224]lungen verkaufte er für sehr viel Geld; im Dorfe hieß es, der Preis sei gewesen: Für die Porzellanausstellung - jedes Geschirr voll Fünffrankentaler und für die Schweizerbildchen: um jedes einen Rahmen von Dublonen! Er galt von da ab für steinreich und siegte auch bereits in der nächsten Wahl über seinen Feind Brunner, dessen Nachfolger in der Ammannschaft er nun wurde. Er verwahrte sich gegen die Reichtums-⸗Gerüchte, widerlegte sich jedoch durch eine überhandnehmende Freigebigkeit gegen Bittsteller gewissermaßen selber. Unbestreitbar blieben jedenfalls die für einen Dorfwirt merkwürdig hochstrebenden Interessen, deren er sich nun befliß. Als er seine Kostbarkeiten aus dem Hause hatte, befiel ihn eine förmliche Lesewut. Namentlich an populären, vaterländischen Darstellungen, mochten sie nun die Natur oder die Geschichte der Heimat betreffen, verschlang er alles Erreichbare. Sein Feuereifer setzte seinen Lehrmeister Wanger, der sich mit seiner Bildung stets auf der Höhe gehalten hatte, und Rübstiehls erster Lehrmeister gewesen war, nach einigen Jahren in Verlegenheit. Rübstiehl war es jetzt, der riet, urteilte und die Lektüre empfahl, zumal seit er regelmäßig zu den Sitzungen eines lokalen Forschervereins in die nächste Kleinstadt fuhr.

Eines Abends, mitten im Winter, kam er plötzlich zu Hieseb nach der Seeau hinüber. Sie saßen in der Wohnstube. Die Ollampe brannte auf dem Tisch. Der breite, grünglasierte Kachelofen stand großpatzig wie ein regelrechter Festungsturm in der Ecke und nahm gut einen Vierteil des ganzen Gemaches für sich in An[225]spruch. Oben war er ganz mit grobkarrierten Vorhängen umzogen, und an der Seite, in dem winzigen Spalt zwischen seiner Seite und der Wand führte ein Riemchen von einer Holztreppe in dies verhüllte, obere Stockwerk empor, denn etwas wie eine Schlafstelle mußte da oben noch gelegen sein. Anders als von mäßig beleibten Personen war sie aber nicht zu ersteigen und auch von diesen nur in seitlichem Aufstiege eine Schulter voran. Unten herum lief eine Holzbank um den Ofen. Dort saß zwischen zwei Mägden Hiesebs treffliche Schwester Susann über Muserbsen, die sie aus den aufgedrückten Hülsen in eine große, rote Tonschüssel streifte. Sie sagte nicht ein Wort. Auch empfand sie nicht, wie stickig heiß es war hier am Ofen, der mit dem Backherd in Verbindung stand und daher bis es Winter wurde die Stube überheizte.

Rübstiehl erging sich wieder zunächst mehr allgemein im Lob der Geistespflege und fuhr dann fort: "Die Hauptsache im menschlichen Leben bleibt, daß nachgerade etwas zu holen ist im Oberstübchen. Es braucht ja nicht viel zu sein. Aber so ein bißchen etwas muß man doch mit der Zeit zusammenkriegen. Ja ja, Hieseb schau mich nur an!" und er rieb sich die Hände und tat wie ein Schwerenöter. "So, jetzt rate mal, was wohl kommt. Warum ich wohl hier bin. Es geht dich auch an." Hieseb besann sich, daß ihm der Kopf brummte. Was wohl? Er setzte wieder an mit Besinnen. Umsonst. "Aber ich sage doch, dich geht es mit an." Ja, was in aller Welt das sein mochte.[226]Er wollte doch nicht etwa die Seeau kaufen. Oder hatte sie gar schon gekauft mit seinem dicken Geldsack. Potz Wetter, das ging den Hans dann allerdings etwas an. Er hatte sie schon mehr als einmal wenigstens auf Pfand hin zu kaufen versucht. Aber die im Kloster beteuerten, die Seeau sei den Neuenachenern nicht feil. Sollten sie nun doch? hinter seinem Rücken? Aber das stimmte wieder mit der Bildung nicht! Rübstiehl sah Hieseb bedrohlich die Stirn runzeln. "Du mußt offenbar auf dem Holzweg sein," beschwichtigte er, "ich sehe, du rätst es doch nicht und meinst gar, ich wolle dich zum Narren haben. Also aufgepaßt: ich will ein Buch schreiben.

"Ein Buch?" - War das alles. Ein sonderbares Buch jedenfalls, das ihn, Hieseb, etwas anging. "Ja wohl, ein Buch über die Seeau." - "Über die Seeau?" Jetzt konnte Hieseb das Lachen nicht länger verbeißen. Was gab es denn da noch zu schreiben. Das sah doch jedes Kind was es mit der Seeau für eine Bewandnis hatte: vorne Wasser, hinten Wasser, ringsum Wasser und in der Mitte ein - - - "Oha! Was du dir einbildest. So geht das nicht. Ein regelrechtes Buch wird daraus mit Buchstaben und Seitenzahlen. Dann ein Titel, sogar ein doppelter; erst fett: Die Seeau, dann kleiner darunter: eine Glücksinsel. Folgt die Widmung: Der Scholle, die ihn gebar, dankbar der Verfasser. Jakob Rübstiehl. Du weißt doch, ich bin gebürtiger Seeauer. Und dann der Inhalt. Zerfällt in zwei Teile. Erster Teil: Der See. Zweiter Teil: Die Au. Das stimmt doch. Oder nicht?" In der[227]Tat, der zwingenden Logik dieser Ausführungen vermochte Hans sich nicht länger zu verschließen. "Weiter," bat er, und der Ausbdruck seines Gesichtes verhieß volle Aufmerksamkeit.

"Was nun zunächst den See betrifft. Ja, was bildest du dir eigentlich ein? Meinst du denn, ich sei zum Vergnügen stundenlang auf dem Wasser gewesen den ganzen letzten Sommer hindurch und habe mit Senkblei hantiert? Punkt für Punkt müssen die Tiefen festgestellt sein. Und geangelt - etwa der paar Rotschwänze wegen? Die frißt keine Katze. Nein, der Fischbestand muß doch festgestellt sein und zwar durch eigene Prüfung - nur auf das, was einem die Fischer sagen, kann man nicht gehen. Schon weil sie mißtrauisch sind, man wolle sie mit dem Patent übers Ohr hauen, sobald man's wisse. Ja, sieh, sogar die Binsenfelder müssen genan aufgenommen werden. Mein Großvater, der den Obersee hier herum vom Fischen her kannte, wie kaum einer, behauptete, es hätte schon zu seines Groß⸗ und Urgroßvaters Zeiten jedes Röhrlein genau am selben Platze gestanden, keins mehr und keins weniger. Die Rutenpflanzen hätten das so an sich. Und dann gar - daß der See blüht, du weißt, im Frühjahr, dieser gelbe Schaum, daß man meint, es ist schmutzig gewordener Schnee und doch ist er eher Blütenstaub, ja, das muß selbstverständlich alles darin beschrieben sein." Hans fiel es wie Schuppen von den Augen. Aber seine Ungeduld überwältigte sein Erstaunen. Wie stand es mit der anderen Hälfte, der "Au"?

[228]

Und nun kam es heraus, daß alle die angelegentlichen Erkundigungen, die Rübstiehl bei ihm eingezogen hatte, wie wenn nichts wäre, von ihm nachher in aller Stille oben notiert und gebucht worden waren. Wann die Wildhasen ausgestorben seien? Das Rehpaar, das im Winter übers Eis gelaufen kam und sich einnistete, die Enten, Gänse, Reiher, Stare, ja die Störche auf der Kapelle - alle diese kleinen Begebenheiten sollten mithelfen. "Laß dich nicht zum Narren haben, Hans," rief schließlich Susann über den irdenen Topf hinweg. Rübstiehl lachte sie aus. "Und Ihr, Mutter Susann, müßt mir dann den Kapuziner vom Staffel herüberholen, damit ich ihn über den Sankt Leugelt ausfragen kann." "Hütet Euch, Herr Posthalter, der läßt nicht mit sich spaßen, ich meine den Schutzherrn. Er schickt Euch sonst die Blattern über den Hals." "Ei ei, so einer ist das? Ich schenk Euch dann einen neuen Rosenkranz. Ihr betet ihn mir vom Leibe."

Hans mahnte an die Sache. Er müsse jetzt alles wissen. "Und daß hier herum sehr wahrscheinlich ein Pfahlbautendorf gestanden hat - und daß bis vor dreihundert Jahren eine Brücke hier herüberführte, als es noch hierher zur Messe ging, - die Batterie aus der Franzosenzeit - ja, was meinst du denn, daß der Graben vor der Kapelle anders sei - und daß sogar von einem Gang gemunkelt wird, der ein hier belegenes Nonnenstift mit den Neuenachener Klosterherren verbunden haben soll" - Hier tat Hieseb Einhalt: "Um solchen Märleins willen bemühe dich hingegen nicht; es ist schon gedruckt." Rübstiehl zog grinsend die[229]Lippen von seinen gelben Zähnen weg: "Ich wollte nur deiner Gläubigkeit gelinde auf den Zahn fühlen, aufbinden will ich dir weiter nichts."

Und er schielte wieder zu Susann hinüber: "Und das Beste zuletzt. Über der Vergangenheit darf die Gegenwart nicht zu kurz kommen. Ich werde selbst eurer Katze und der züchtigen Jungfern dort am Ofen an passender Stelle zu gedenken wissen." Die Dienstmägde staunten mit pflugradrunden Augen von ihrer Arbeit weg auf den Sprecher zu. Die Susann erhob den Blick nicht von dem Ausmachmus, brümmelte nun aber genügend vernehmlich, er solle sich unterstehen und ihren ehrlichen Namen verunglimpfen. Hieseb jedoch fing ordentlich Feuer, daß er an einem Buch mithelfen sollte!

Erst im Laufe des Winters spürte er, während er sich angelegen sein ließ, die von Rübstiehl gewünschten Beobachtungen anzustellen und aufzuzeichnen, wie wenig es mit der erregten und befriedigten Neugier bei dieser Buchangelegenheit sein Bewenden hatte. Es handelte sich um eine neue Art Arbeit für ihn. Schreiberdienste waren ihm nichts Fremdes; es war ein halber Buchhalter aus ihm geworden durch die Gemeindevogtschaft, die er nun schon so lange Jahre versah. Nun aber mußte der Seeauer Pächter ein Journal führen, bei dem es mit Ziffern und Posten nicht getan war. Er verfaßte es im Lauf der Monate mit eigenhändigen Eintragungen seiner steifen, aber regelmäßigen Handschrift. Was etwa Erwähnenswertes sich in der winterlichen Einsamkeit ereignete, wurde der Vergessenheit entrissen.

[230]

20. November. Mein Sohn Hansleu hat mit der doppelläufigen Büchse einen Fischreiher geschossen, auch Reigel genannt. Die schönen Federn haben wir ihm gleich ausgezerrt. Er ist exakt eine Elle hoch und mißt anderthalb Ellen zwei Zoll über die Flügel. Auf die anderen haben wir mit einem Taubenstößer gebeizt; er hat aber nur ein Huhn erwischt. 6. Dezember. Es war ein Kapuziner vom Staffel hier, hab' ihn mit einer Flasche Alten regaliert, der Rest in heurigem - hab' ihn nach Sankt Leugelt ausgeforscht, er wußte wenig über dessen wunderbarliche Tugend auszusagen, will sich jedoch noch in einer Bücherei vergewissern. Adresse: Pater Cölestin bei den Kapuzinern auf dem Staffel⸗Seeland. 7. Dezember. Dichter Nebel, seit der Kapuziner weg ist. Ich hab' ihn, ohne die Hand vor dem Gesicht zu sehen, übergesetzt, da ich mit dem Kompaß auf eine Elle genau fahren kann. Vom 8. bis 29. Dezember steif eingefroren. Keine Verbindung mit dem Lande. Meist Nebel. Die wöchentliche Botenfahrt unmöglich. Zu Fuß übers Eis zu gefährlich - - - Als er dann beim ersten Besuch auf dem Festland sein Büchlein mitnahm, und es Rübstiehl zeigte, ob es so recht sei, setzte dieser seine Brille auf, durchging das Geschriebene räuspernd und nickend und gab es Hieseb dann wieder mit der Bemerkung: "Ja, gut. So weiter fahren!" Er sprach ihm auch von den umfassenden Maßnahmen, die er sich vom Frühling an vorgenommen habe und ereiferte sich und verwarf seine Arme, als sei er der Begründer einer Industrie.

[231]

In der Tat, im Sommer ging es hoch her. Eines Morgens standen sie beide am See hinter dem Hügel, den die Kapelle krönte. Vor ihnen lag wie eine erlegte Jagdbeute der steinalte Einbaum, den sie aus dem Wasser zu Tage gefördert hatten, es war eine Woche her. Rübstiehl umschloß außerdem den Stielstumpf einer unförmlichen Steinaxt, ebenfalls ein Fund der letzten Zeit. Dazu sprach er in einem fort von seinem künftigen Werke. Es war so gut wie gesichert, seit er in der kleinstädtischen Kulturgesellschaft zunächst einen Vortrag über die Seeau wagte. Stockend und aufgeregt las er das Manuskript, das ihm auf Grund seiner Notizen und Wahrnehmungen ein von ihm zur Sommerfrische freigehaltener Stadtschullehrer abgefaßt hatte. Sandhuber und Wanger waren mit hingefahren und verbreiteten die Nachricht von dem schönen Erfolge. Besonders viel tat sich Rübstiehl auf die Außerung des Doktors zu gute: so schreiben könne nicht jeder, genügend sachlich und zugleich warm gehalten. "Aber weißt du, Hans, ich will meinen Anteil nicht überschätzen. Was den Leuten so gefallen hat, war die Seeau. Und das haben sie eben doch dir zu verdanken. Denn du hast die Insel auf die Höhe gebracht in den letzten zehn, zwanzig Jahren. Und dein Ruhm wächst dann noch ganz anders, wenn erst der Druck vorliegt und die Leute in den Buchläden es lesen: Die Seeau. Eine Glücksinsel - Was meinst du, Hans! Das putzt! Und spottbillig obendrein. Halb umsonst. Ich will nichts daran verdienen. Ich leg noch hundert Franken darauf."

[232]

Hieseb ließ den angehenden Buchschreiber reden und klopfte prüfend mit einem gleichfalls ausgegrabenen Hammer an einigen Einschnitten des ziemlich unbeschädigt vor ihnen daliegenden Urnachens herum. Er zweifelte noch an der großartigen Möglichkeit, daß dieses Fahrzeug von achtbarer Länge aus einem einzigen Baumstamm geschaffen sein sollte und legte, um sich zu vergewissern, sorgfältig alle Ritzen von den Schlammresten frei. Aber die vermeintlichen Fugen erwiesen sich wahrhaftig als Täuschung, und so fühlte sich der zweifelnde Landwirt dem grenzenlosen Erstaunen preisgegeben über all die Wunderdinge, die hinter den Gewohnheiten des Alltags auf der Seeau auf einmal zum Vorschein kamen. Nur hatte Rübstiehl die Unart des geistigen Emporkömmlings an sich, alles auf eine Lobeserhebung der eigenen Weisheit hinzuwenden. Er spielte sich am Ende gar noch als eine Art Lehnsherr auf, der als idealer Inhaber dem tatsächlichen Landpächter übergeordnet sei, so daß jedes letzte Wort nachgerade zu lauten pflegte: "Gelt, Hans, dahinter wärst du nun wieder nicht gekommen ohne mich." Hiesebs Lippen aber entglitt dann ein verächtliches Murmeln und bei näherem Hinhorchen entpuppte sich der Stoßseufzer als ein rechtschaffenes "Leck Böck"!

Was in kunstgerechter Auslegung diese Redensart zu bedeuten hatte, wäre schwer zu sagen. Hieseb selbst hatte sie sich gedankenlos angewöhnt, ging aber nichtsdestoweniger in ihrer Anwendung ziemlich wählerisch zu Werke. Er bediente sich dieser beiden Worte immer nur dann, wenn es ihm darum zu tun war, einen Strich[233]unter etwas zu ziehen: so ein Mittelding zwischen Spott und Verachtung. Auch mitten im Gespräch konnte er den Ausdruck gelegentlich verwenden in einem ganz bestimmten Ubergang und mit einem ganz bestimmten Tonfall, so daß über die Bedeutung kein Zweifel walten konnte, obwohl man sie nicht begriff, sondern nur fühlte. Zugleich stellte er dann seine Augen zu einem höchst merkwürdigen Aufschlag gleichsam seitwärts ein und ganz vermochte er sich diesen schlimmen Blick, durch dener einst zum kleinen Teil mit emporgekommen war, nicht abzugewöhnen.

Während sie so in heimlich wachsender Entfremdung stillschweigend nebeneinander standen, kam Susann Hieseb als vierschrötige, kernhafte, rundliche Bäuerin mit geschulterter Sense von ungefähr des Weges. Die lehnte nun den Kreuzwirt als Seeauforscher mit unverhohlener Überlegenheit ab, denn vor ihr kannte dessen Erläuterungswut keine Grenzen. Einmal hatte sie sich herabgelassen, den angeblichen Allerweltskenner zu einem Streifzug auf Fische rund um die Insel zu rudern; statt daß nun Rübstiehl die praktische Fischererfahrung der auch hierin seit den vielen Jahren mittätigen Wirtschafterin zum Beistand anrief, hatte er sie nur wie einen tolpatschigen Ruderknecht immerzu kommandiert, jetzt schnell, jetzt langsam, jetzt dem Röhricht entlang, jetzt ins tiefere Wasser zu fahren, natürlich mit dem elenden Ergebnis zweier Gründlinge und eines Rotschwanzes. Damit beschwor er aber für Susann das Gespenst des Schulmeisters in schlimmster Form herauf und erntete eben nur eine fortan un[234]verblümt zur Schau getragene Verstimmung. Für eine Minute blieb Susann jetzt bei den beiden Männern stehen, warf einen Blick über den Einbaum und bemerkte, Rübstiehl den Rücken zudrehend, aber an seine Adresse: "Wenn er nicht ein Rädlein zu viel hätte, so würde er versuchen, das Ungetüm zu verholzen. Es gäbe dann einen stattlichen Haufen Brennspäne - immer wieder ein paar Franken Ersparnis. Mit diesem Ausspruch glaubte sie ihre Schuldigkeit getan zu haben und ging über die Wiesen ins Innere der Insel ans Tagewerk. Der außer seiner Eitelkeit gut geartete Kreuzwirt rief ihr nach; aber die handfeste, alte Jungfer pfiff hörbar, schaute ins Blaue und entlief jeder weiteren Anrede. Darüber einigermaßen verdrossen, bemerkte Rübstiehl zu Hieseb: "Die Person hat aber auch gar nichts übrig; Futtern, Misten und ihren Rosenkranz beten!" Dieser empfand das auch und schwieg stille.

Nach einiger Zeit ergriff Rübstiehl einen Spaten und humpelte mit seinen ungleichen Beinen wacker auf die schanzenartige Erhöhung los, die schon halb aufgegraben vor der Kapelle ragte. Er hatte sich nun durch eigens hierzu erhobene Archivstudien vergewissert, daß jene Batterie aus der Franzosenzeit unter einem englischen Obersten gegen die Osterreicher errichtet war, und zur Bestätigung diente in der Tat ein bereits zu Tage gefördertes Kanonenrohr und mehrere Stückkugeln. Aber ihm ließ, wie er sagte, die ,"Vermutungshypothese" keine Ruhe, unter diesem französischen Bollwerk wäre noch auf ein schwedisches zu stoßen aus dem dreißig[235]jährigen Kriege. Und er sah bereits eine riesige Feldschanze mit ihrem blankgeputzten Messingrohr als das andere Staatsstück neben dem Einbaum in seinem Museum stehen. Mit seiner Druckschrift sollte es keineswegs sein Bewenden haben. Er machte kein Hehl aus der Absicht eines ansehnlichen Vermächtnisses zu Gunsten der Seeau, wo dann in einem eigens zu errichtenden Lusthäuschen derartige Sehenswürdigkeiten die ihnen gebührende Unterkunft finden sollten.

Es wurde tüchtig Herbst. Die Verfärbung der Wälder schritt rasch voran. Das stattliche Gehölz am Nord⸗ und Westrande der Insel, das den Sommer über in der schlichten Eintracht grünen Lebens geprangt hatte, zerfiel in eine bunte, sinnenfällige Pracht; das Citronengelb der Birken, das brokatene Altgold der Buchen, die Scharlachtupfen vereinzelter Baumkronen wurden zum Gewand, das legte sich in wunderbarem Faltenwurf um den dunkeln Körper aus Tannen und Kiefern. Hans Hieseb konnte wenn er wollte, diese Prunkentfaltung der Natur als Festdekoration zu seinen Ehren auffassen. In diesen Tagen vollzog sich die Ubergabe seiner Gemeindevogtei an den Staat. Der Amtsstatthalter, Franz Buchelfinger, ein Bruder von Frau Pfarrer Sandhuber, war mit der praktischen Vollziehung der Volksbeschlüsse betraut, wonach alle privilegierten, einen verfassungsmäßig festgesetzten Meistbetrag übersteigenden Gemeindegüter fortan in die[236] kantonale Verwaltung übergingen. Bereits den Sommer über hatte Buchelfinger in mehreren Besuchen die Listen und Bücher geprüft. Die zuständige Behörde genehmigte seinen Bericht und nun kam er, um den gesamten Urkunden⸗ und Aktenbestand des bisherigen Spittelgutes für das Staatsarchiv abzuholen. Die Kisten standen gepackt den leergeräumten Wandschäften entlang. Zum letztenmal versammelte sich das Pflegamt. Es waren zumeist die alten Mitglieder, nur daß nun an Stelle des Warmbachers sein Schwiegersohn Fägschmied saß. Am unteren Ende des Tisches hatten Samuel Ambrosmen als Spittelschreiber und ihm gegenüber sein Vetter Hieseb als Gemeindevogt Platz genommen. Obenan saß Rübstiehl in seiner Eigenschaft als Ammann, zu seiner Rechten Buchelfinger.

Rübstiehl ließ es sich nicht entgehen, in seinem Schlußwort eine hübsche Übersicht über die Funktionen der vielhundertjährigen, ehrwürdigen Körperschaft zu geben, die heute im Begriffe stand, sich aufzulösen; blumig und schwungvoll schilderte er die Mönche, die einst in ihren Kutten hier aus⸗ und eingegangen, wie sie in jenen dunkeln Zeiten des Mittelalters das Herz, aber auch den Magen des Volkes gebildet hätten. Sehr klar und anschaulich gelang ihm die Schilderung des Uberganges vom geistlichen in den weltlichen Besitz: "Müssen das aber Donnerskerle gewesen sein, diese Warmbacher, Hinterbodener und Riedecker aus der Reformationszeit; sie haben es fertig gebracht, die Klosteraufhebung durch die Gnädigen Herren der Standesregierung zu verhindern und einfach ein Ge[237]meindegut daraus zu machen, was sonst höchstens in einzelnen Landstädten gelang." In folgendem verlor sich Rübstiehl leider im unsachlichen und hochtrabenden Lobpreis der neuen Zeit und des allein seligmachenden Staatsgedankens, fand sich aber noch rechtzeitig zum Ende hin. Er erklärte hiermit die Gemeindevollmacht im ehemaligen Umfange für erloschen und bat den Regierungsvertreter um die Übernahme der bisher vom Pflegamt pflichtgemäß verantworteten Rechte.

Franz Buchelfinger hatte bei der kantonalen Regierung eine besondere Dankeskundgebung für Hans Hieseb erwirkt und brachte sie nun, nachdem er erst dem Pflegamt alle Gerechtigkeit widerfahren ließ, zur Kenntnis. Dieser wußte nicht wohin schauen. Satz um Satz zog sich die Rede des Beamten immer enger um seine Person und schließlich stand der Herr vor ihm unten am Tisch, einen großen weißen Brief in der Hand und sagte, während die andern sich von ihren Sitzen erhoben hatten, zu dem nun, wie im Traum, ebenfalls stehenden Pächter: "Ich bin beauftragt, Euch ein eigenhändiges Schreiben des Landammanns zu überbringen. Jetzt auf der Scheitelhöhe des Lebens, in der Vollkraft der Mannesjahre, dürft Ihr bereits das schönste Bewußtsein des Bürgers erleben: dem Lande gedient zu haben. Die Eidgenossenschaft verfügt über keinerlei Orden und äußere Ehrenzeichen. Um so schwerer wiegt das schlichte Wort und der einfache Handschlag, die den Dank vermitteln sollen. Und so dank' ich Euch im Namen des Landes für den Beistand, den Ihr dem freien Rechte unter uns habt angedeihen lassen. Weniger noch für[238]die glückliche Hand, die einst den Fund tat; mehr für die treue Hand, die in gewissenhafter Pflichterfüllung zwanzig Jahre hindurch das Entdeckte in allgemeine Werte umsetzen half. Was Ihr getan habt, kann nur ein Mann tun, der das Herz auf dem rechten Fleck hat. Ihr habt nicht links gesehen und nicht rechts, sondern immer geradeaus das Ziel im Auge behalten. Möge es uns nie an Männern fehlen, die gleich Euch wissen, worauf es ankommt in einem freien und tüchtigen Volke." Damit übergab Buchelfinger den mit dem großen Standessiegel verschlossenen Amtsbrief und bekräftigte seinen Auftrag mit einem fühlbaren Händedruck. Seinem Beispiel folgten unter Rübstiehls Vortritt alle Pfleger, zuletzt etwas zögernd und unbeholfen sein Vetter Ambrosmen. Mit Hieseb ging es auf einen Augenblick im Kreise herum. Die Hand, die das Schreiben hielt, griff nach einer Stuhllehne. Erst als er merkte, daß er dabei den kostbaren Brief zerknitterte, fand er sich wieder.

Da der Amtsstatthalter erst mit der Abendpost verreiste, konnte Hieseb ihn und das Pflegamt noch zu sich nach der Seeau einladen. Das unvergleichliche Herbstwetter trug das Seine dazu bei, und so verlief die Lustbarkeit unter den Platanen auf das allerschönste. Hieseb gab seinen besten Wein. Kaum hatte Rübstiehl davon geschmeckt, so tat er sehr betrübt. "Denkt nur, was mir widerfahren ist. Ich bin ein Elfer und aus meinem Geburtsjahr datiert der berühmte Tropfen. Auch fand damals ein Schützenfest statt und mein Vater hat fünfzig Flaschen Goldhaldener heraus[239]geschossen. Die hat er mir vermacht und zehn davon hab' ich noch besessen und mit Vierunddreißiger verschnitten umgefüllt. Ein delikates Gläschen voll! Das pure Gold. Nun will ich heut dem Statthalter zu Ehren dahinter - verschwunden - die Waschweiber haben ihn mit ihrem Frühstückssauersäftchen verwechselt." Diese Mitteilung erregte keinerlei Lachen, sondern ungeheuchelte Entrüstung. Doktor Wanger voran, rief alles durcheinander. Schließlich sagte der Doktor gegen Sandhuber gewendet: "Ein derartiges Vorkommnis reicht für mich aus, jedem Glauben an eine weise göttliche Weltregierung ein für allemal den Abschied zu geben. Edelwein, - von Waschweibern aus Versehen ausgesoffen. Einfach himmelschreiend!" Und dann zum Statthalter: "So lange im Gesetz auf derlei nicht tout bonnement Zuchthaus steht, so lang bleibt etwas faul im Staate Dänemark." Und er polterte und kolderte halb zum Spaß, halb in vollem Ernste.

Gegen Ende seines Besuches nahm Franz Buchelfinger Hieseb beiseite. Seine Schwester Sandhuber hatte ihm von ihren Wahrnehmungen erzählt; und er solle doch selber zusehen, ob Hieseb sich nicht vor der Einsamkeit fürchte, die nun nach seiner Enthebung vom arbeitsreichen Amte ihm fühlbar werden möge. Und richtig sagte der Pächter, nachdem ihn der Gast unmerklich darauf hingeschoben hatte: "Ach, Herr Statthalter, das schönste ist und bleibt ein grüner Wald. Und das heißt bei Unsereinem: zu tun haben vom Morgen bis nachts und nicht wissen wo einem der Kopf steht gleichmäßig einen Tag um den anderen jahraus, jahr[240]ein. Wenn es aber im Wald schön wird, wie sie sagen, vor lauter Rot und Gelb, ja dann herbstelt es eben. Ich kann mir nicht helfen. Es herbstelt halt." Und als nun der Amtsstatthalter von den melancholischen Anwandlungen des eben noch von ihm gefeierten Bauern einigermaßen überrascht, ihn schärfer ins Auge faßte, da gewahrte er allerdings in der immer noch stämmigen Gestalt Spuren des nahenden Verfalles. Schon als nicht Dreißigjähriger, in jener Schreckensnacht, da er Ursula verlor, war Hieseb ergraut, und die darauf folgenden zwanzig Jahre mit ihrer rastlosen Verdoppelung von Leibes⸗ und Gedankenarbeit hatten das übrige getan und machten nun aus dem Fünfziger einen um vieles älteren Mann, der das Leben bald hinter sich hatte und an der Schwelle des Greisenalters stand. Es fehlten ihm bereits die meisten Zähne, und nur sein Hinterhaupt war noch von einem Kranze langer Strähnen bedeckt, die nach oben gebürstet, von beiden Seiten her seine Glatze in der Art einer geflochtenen und nach vorne zu offenstehenden Krone dürftig verdeckten.

Fägschmied saß im Hinterteil seines Fischernachens und sah seine Netze nach. Sein ungewöhnliches Gewicht hätite das Boot hinten überkippen machen, wäre es nicht in dieser Voraussicht vorne mit Steinen beschwert gewesen. Seit er es nicht mehr nötig hatte, betrieb er die Fischerei mit doppelter Leidenschaft, fing jedoch zu seinem Verdruße nur Trüschen und Hechte, während er[241]es auf Salmen abgesehen hatte. Einmal wollte er einen zwanzigpfündigen gefangen haben, scheint's einen, der den Heimweg zum Winter nicht fand, aber gesehen hatte den Salmen niemand. Fägschmied konnte nur das Loch, das der Fisch, schon an den Bootsrand gezogen, eben noch zu stoßen vermochte, als triftigen Beweis vorzeigen. Aber ein Spaßmacher gab ihm zurück, wenn er, der Kaspar in eigener Person durchs Netz gefallen wäre, würde das Loch noch viel größer sein, deswegen wäre es dann mit dem Salmen immer noch nichts. Während nun Fägschmied sorgfältig Masche um Masche durchprüfte, damit ihm das zweite Mal ein selches Pech nicht mehr zustoße, mußte er mit einemmal ganz außer jedem Zusammenhang an einen Vorfall denken, der schon manches liebe Jahr zurücklag. Hörte er da einmal von der Küche aus im "Schifflein" ein ganz merwürdiges Kauderwelsch in der Wirtsstube sprechen. Er ging nachzusehen und machte sich auf etwas Exotisches gefaßt. Durch die Wand klang es gerade so, als rede jemand mit einer heißen Kartoffel im Munde. Nun war es aber mit nichten ein Engländer gewesen, sondern Fritz Wegmann, der ein unglaubliches Schriftdeutsch radebrechte. Es saßen ein paar Bauernjungen um ihn herum und ärgerten sich über das Verleugnen der Muttersprache: "wenn er jetzt nicht auf der Stelle schwatze, wie ihm der Schnabel gewachsen sei!" Aber Wegmann hatte sich nur desto schwülstiger benommen. Fägschmied lachte noch in der Erinnerung, daß der Nachen schwankte; es waren keine fünf Minuten vergangen, so hatten sie ihm - "den Grind verschlagen",[242]der Wirt hörte den Tonfall noch, mit dem die heimatseifrigen Dörfler sich der erteilten Züchtigung brüsteten. Seitdem war Wegmann verschollen. Wo der nur sein mochte? Warum er gerade jetzt an ihn denken mußte, seit langem zum erstenmal?

Da erklangen Schritte, und Fägschmied sah einen Mann in Uniform sich dem Ufer nähern. War das nicht die Tracht der Eisenbahnschaffner? Und hatte nicht Wegmann zur Eisenbahn gewollt? Er spähte hin. Wahrhaftig - Wegmann. Sie hatten sich beide nichts nachgetragen, wie gleich aus der ersten Begrüßung hervorging. Wegmann gratulierte sogar Fägschmied nachträglich noch in aller Form zu seiner Heirat mit Marei: "Es ist bald nicht mehr wahr! lachte dieser, wir haben bereits zehn Kinder. Aber der Seeauer - das ist ein gemachter Mann. Wenn ich in seiner Haut steckte, ich wäre längst Großrat!" Wegmann sprach den Wunsch aus, auch Hieseb wieder zu begrüßen. "Wart' nur," machte Fägschmied und legte die Hände an den Mund. "Hans," rief er, "Hans!" Noch verfügte er, wenn es sein mußte, über dieselbe dröhnende Allerweltsstimme und war wohl imstande, mit seiner Lungengewalt bei kurzen Eilposten ein Kabel überflüssig zu machen. Drüben an der Seeau regte sich etwas. Jemand stand auf dem Steindamm. Fägschmied setzte seine Depesche fort. - "Komm - Geschwind - Besuch" - Da sahen und hörten sie, wie der drüben ins Boot sprang.

Es dauerte nicht lange, so saß die alte Tafelrunde im "Schifflein" um Wegmann herum. Steckte er jetzt auch im Rocke des Eisenbähnlers, keine Beschwer[243]den des Dienstes vermochten ihm die Begeisterung für das damalige Ideal zu vergällen. "Vorwärts Fritz, mach' die Eisenbahn!" erscholl es wieder. Da fing der Schaffner auch schon an zu fauchen und zu schneuzen, rief die Stationen ab, mahnte zum Einsteigen - mit dem alten Beifall und Erfolg. Mein Gott, waren sie denn nicht alle zwanzig Jahre älter? Indessen zeigte sich bald, daß auch Wegmann so gut wie die andern seine Entwickelung durchlebt hatte.

Weil er diese Possenscenen niemals ohne innern Anteil betrieb, so nahmen sie auch an der Veränderung, die mit dem Übergang in die reifern Mannesjahre verbunden ist, insofern teil, als nun die äußere Schaustellung mehr zurücktrat hinter einer vergeistigten Symbolik. Nicht darum war es jetzt dem Sendling mehr zu tun, die Wunder der eisengebahnten Kultur ihren oberflächlichen Merkmalen nach in einer geräuschvollen, sinnenfälligen aber rein äußerlichen Anschaulichke it aufleben zu lassen; jetzt befliß er sich, eine ihr gewissermaßen innewohnende gute und schöne Vernunft mit seinem Spiele darzutun und so konnten denn die früher beliebten Soloscenen einem geographischen Frag⸗ und Antwortscherz Platz machen. Bei dem hohen Ernst, den der Eisenbähnler dem neugeschaffenen, nun auch von ihm mit aller Bescheidenheit und Treue bedienten Verkehrsmittel in seiner Bedeutung für die Menschheit beimaß, konnte es eigentlich nicht wundern, daß dem trivialen Fahrplanheftchen in seiner Welt fast der Rang eines heiligen Buches zukam. Wenigstens hatte er es nicht nur wie ein wißbegieriger Leser verschlungen,[244] sondern es sich sogar in einem für die Schwierigkeit des Unternehmens geradezu erstaunlichen Maße auswendig angeeignet und war auf diese Weise zu einem Menschen geworden, in dem man so zu sagen blättern konnte. Nun brauchte nur ein beliebiger Stationsname genannt zu werden, gleichviel, welchem der Netze er angehörte, so rief Wegmann unverzüglich vom nächstliegenden Knotenpunkt ausgehend alle Stationen auf der Strecke der Reihe nach ab, und es hatte ihm noch niemand im "Schifflein" einen Fehler nachzuweisen vermocht. Allerdings besaßen die wenigsten Kenntnisse dieser Art, da die Seebahn erst im Bau und deshalb ein natürlicher Zusammenhang mit dem Schienennetz nur im Entstehen begriffen war. "Wo liegt jetzt doch schon Trümlingen?" das etwa war so eine Frage von ungefähr, mit der man, gleich der Roulette einer Glücksbank, Wegmanns Fragspiel in Bewegung setzte. Alsobald schalteten sich laut hallende Befehlsrufe aus, wie sie den Bahnhof vor Abgang eines Zuges zu erfüllen pflegen: "Einsteigen nach Mangen, Weiningen, Uberfingen, Breisingen, Vorderach, Lotzbach, Unterwyl, Bolzensee - Wagenwechsel - fünf Minuten Aufenthalt - Einsteigen nach Breienbach, Hilfikon, Schilfikon, Hubeldorf, Dubeldorf, Schneuzberg, Voegeliseck, Trümlingen - dritte Klasse hinten einsteigen - Seh, Seh, wo wollt Ihr hin mit Euren Kisten und Kasten - Ja denk wohl Handgepäck - Nichts da, abgewogen zwanzig Pfund, was drüber ist, in den Packwagen!"

Nur in einem Fall befand sich Wegmann in etwelcher Verlegenheit, als nämlich ein Übergriff über die[245] Sprachgrenze stattfand und ein welscher Ortsname aufgegeben wurde. Nicht als ob ihm die Ausdauer gemangelt hätte, Schwierigkeiten dieser Art zu überwinden, aber allen Versuchen zum Trotz fielen ihm diese fremdlautenden Wortreihen immer wieder über den Haufen. Doch ließ er sich jetzt durch solche Finten nicht mehr verblüffen, sondern bediente sich, sobald die Neugier seiner Freunde die gleichsprachige Zone nicht einhielt, mit aller Geistesgegenwart der einem zweizüngigen Kollegen abgelauschten Redensart: "Schnellzug! Vous changez à Berne!"

Hieseb hatte über diesen Belustigungen eine Zeitlang herzlich mitgelacht. Dann verfiel er einer trüben Stimmung, der er auch unter guten Freunden nicht mohr so rasch Herr wurde, wie früher. Doch wollte er der angebotenen Aufheiterung nicht unzugänglich bleiben und erkundigte sich bei Wegmann freundlich nach seinem Wohlbefinden. Als nun aber dieser zu klagen begann, weil er noch immer Fahrkarten durchlochen müsse, statt nun endlich einmal den Zug führen zu dürfen, wozu er längst an die Reihe hätte kommen sollen - und wieder wie damals seinen Willen in die Schranken rief, falls es nicht bis um Weihnachten soweit gediehen sei, da empfand es Hans in aller Stille schmerzlich, daß er selber jetzt nicht mehr in die Lage komme, an Wegmann sich ein Beispiel zu nehmen und es ihm an kräftigem Trotze gleich zu tun. Was auf hundert Stunden im Umkreis hatte er sich denn noch in den Kopf zu setzen? Er wußte mit keinem Grübeln und Klügeln, wo für ihn noch etwas auszuhecken wäre.[246]Alle hatten noch ein Ziel, für das sie ihre ganzen Kräfte einsetzten. Aber er? Was gab es für ihn vernünftigerweise an ähnlichen Lockmitteln. Den politischen Ehrgeiz? Oder den gewöhnlichen Geiz nach Geld und Besitz? Oder dies Heimweh nach einem warmen Jugendglück? Ja, das war es. Er hatte Zeit. Er hatte Geld. Er fühlte sich wohl. Nun verlangte ihn noch nach dem rosigen Schimmer. Sein Leben, wie es jetzt vor ihm lag, weit entfernt davon, finster zu sein, erfreute sich nach allen Seiten einer mäßigen Heiterkeit. Jedoch blieb es grau in grau. Und darein wollte er sich nicht schicken. Etwas Rosenrotes mußte er haben. Noch hing er mit allen Nerven, mit seiner ganzen Seele am Leben. Er trank sein Glas aus und reichte Wegmann die Hand. "Leb' wohl, Fritz! Komm bald wieder." Er ließ ernstliche Versuche, ihn zurückzuhalten, nicht aufkommen und ging. Kopfschüttelnd sah man ihm nach. "Was ist nur mit ihm?" fragten sie sich. "Ich glaub', er hat's an der Leber," sagte Zumbühl. "Ach was," legte sich Fägschmied breit ins Mittel. "Er hat lange Zeit. Er sollte wieder heiraten. Es nähme ihn immer noch manche." Wegmann lächelte pfiffig. "Wer weiß, vielleicht macht er daran herum." Aber Zumbühl blieb dabei. Der Hans sei krank. "Wenn er es nicht an der Leber hat, so hocket es ihm auf der Brust."

[247]

Neuntes Kapitel.

Hans Leugelt, sein und Ursulas Sohn, schlechthin Hansleu genannt, war nach zweijähriger Abwesenheit heimgekehrt. Der Vater nahm ihn mit offenen Armen auf; eine starke Sehnsucht wurde ihm mit dieser Rückkehr gestillt. Was er Gutes für seine älteren Tage zu hoffen wagte, konnte sich ihm doch nur in seinem Sohn erfüllen.

Abermals kam ein prachtvoller Herbst ins Land, ein rechter Wiedersommer. Klar und warm, einen Tag um den andern, wochenlang. Der September war schon fast zu Ende, da sah Hieseb eines Morgens vom Wäldchen aus, wie Hansleu völlig entkleidet die fünfzehn Kühe mit Zurufen und Kosenamen durch das Ried in den See hinauslockte. Sie folgten ihm alle, indem sie lebhaft den Kopf nach oben stießen und vor Lust dumpf aufbrüllten. Zuletzt ließ sich auch der junge Stier herbei. Er zählte anderthalb Jahre, war rotbraun und hatte weiße Flecken. Hansleu trieb die Herde an sich vorbei ins Wasser, das ihnen bei dem langsam abflachenden Ufer noch lange Boden gewährte. Dann rief er den Stier mit Namen: "Komm, Mani, sä - sä - sä - komm schön, komm." Hieseb schlug das Herz[248]schneller über der Unvorsichtigkeit. Unbekleidet lief Hanslen große Gefahr, von dem ausgewachsenen und vollsaftigen Tiere verkannt und angegriffen zu werden. Aber sieh da - die Stimme vermittelte die Bekanntschaft hinreichend; der Stier leistete den Rufen Folge und leckte dem jungen Bauern, der ihm entgegenkam, die Hand. Da ergriff Hansleun das Haupt ihrer fahrenden Habe am linken Horn und führte ihn in die Flut hinein den Kühen nach. Die Sonne strahlte über die dunkelblaue ruhende Wasserfläche und über die hellen Leiber der Rinder und ließ den blanken jungen Menschenleib, wie zur Herrschaft über das alles, weiß und wundersam erglänzen. Da - Hieseb traute seinen Augen nicht - langte Hansleu mit beiden ausgestreckten Armen über den Rücken, schwang sich darauf und ritt nun frei auf dem Stiere dahin. Erhobenen Hauptes, die nackte Brust breit ausdehnend holte er aus und jauchzte mit einem langen, hohen Schrei seine Lust ins Weite. Da saß er auf dem starken ungebärdigen Tier, ein Bändiger, ein Herr, ein Sieger! Sein Vater stand jetzt dicht am Ufer und genoß den Anblick mit bebender Wonne.

Am Nachmittage dieses selben Tages saß er auf dem Platz vor dem Hause, der zur Bewirtung der Gäste im Freien eingerichtet war. Obwohl gegen Zweihundert an den langen Holztischen untergebracht werden konnten, war das ganze Viereck durch das Laub der vier Platanen vollständig überschattet. Als er sie an Hansleuns Geburtstag gepflanzt hatte, waren die Stämmchen dünner gewesen als ein Weinglas und[249]jetzt hielten sie drei Hände nicht umspannt. Wagerecht verzweigten sich die Aste nach allen Seiten weißgrau und hellgelb gefleckt in der Abwechselung der Rinde mit den kahlgeschälten Stellen. Und weit herum in immer neuen Ansätzen und Windungen griffen ihre Arme mit hundert Händen und tausend Fingern auseinander, wie um zu verhindern, daß von der Laubbürde, die sich über ihnen auftürmte, etwas zu Boden fiele. Es war Werktag. Auch an den spärlichen Besuchern spürte man das Schwinden des Sommers. Heute wollte sich niemand blicken lassen. Allein saß Hans am äußersten Ende des untersten Tisches, wo der Weg einmündete, der vom Ufer ans Haus heranführte. Er saß da und nickte vor sich hin. Neben ihm lag sein Rattenfänger und sonnte sich. Kein schönes, aber ein wachsames Tier. Jetzt riß es den Kopf, der auf den ausgestreckten Vorderbeinen geruht und hier und da nachlässig nach einer Mücke aufgesehen hatte, steif in die Luft empor, schnubberte nach dem Wasser hin, juckte auf, schlug an, bellte aus vollem Halse und wollte sich nicht beruhigen, trotzdem sein Herr ihm zurief: "Schnauz, Schnauz, was hast du denn nur?"

Nun schien es auch Hieseb, wiewohl sein Gehör nicht mehr die besten Dienste tat, als vernehme er ein Geräusch wie das Girren von Sitzrudern in ihren Angeln und bald dazu ein anderes helleres: regelmäßige Schläge ins Wasser. Unter den Obstbäumen hin spähte er nach der Landungsstelle. Ein Holzbrett rieb sich mit dumpfem Knarren an der Wand des Steindammes. Dem Boot entsprang behende eine[250]schlanke weibliche Gestalt. Er spähte schärfer und als der Gast raschen Schrittes den Weg hinauf auf ihn zukam und schon unterwegs ihn anrief und grüßte, war Hieseb bereits kerzengerade auf den Beinen, zog die Mütze und rief mit der Stimme eines Befehlshabers, die seiner gravitätischen Haltung entsprach: "Grüß Gott, der Frau Pfarrer, willkommen, willkommen!"

Seit dem Beginn ihrer Bekanntschaft, damals jenen Sonntag Nachmittag, da sie sich vor Ursulas Hütte als Wartende zufällig fanden und dann jenem andern Sonntag Abend von Hansleus Taufschaft liefen geheime Fäden zwischen ihnen hin und her, unausgesprochene Geständnisse des Anteils am Leben des andern. Hieseb wußte: sie hat mich gern, Frau Sandhuber wußte, von mir läßt er sich etwas sagen. Doch äußerte sich dieses stille Einvernehmen nicht anders, als daß Hieseb sich von der Frau Pfarrer Bücher zum Lesen leihen oder schenken ließ, während sie sich bei ihm mit großen Bezügen frischen Obstes versah, das sie und zahlreiche Freunde von ihr dörren wollten. Einer Verabredung derart galt auch ihr heutiger Besuch. Sie lobte den friedlichen Abend, der um sie herniedersank. Die Sonne ruhte noch auf den Matten aus. "Wetter wie Gold!" rief Hieseb, "wie Gold. Himmel sagt der Welsch!" Denn in Anwesenheit von feinen oder geistlichen Leuten zu fluchen, vermied er doch; damit aber deshalb seine Gefühle an Gewicht nichts einbüßen sollten, umschrieb er den Kraftausdruck, statt ihn rundweg zu unterlassen, die Kapuziner pflegten sich auf diese Weise zu erleichtern; von ihnen hatte er das Rezept. Als[251]Frau Sandhuber einen Vieruhrkaffee ablehnte, da sie ihn eben zu Hause noch getrunken hatte, führte sie Hieseb durch die Allee von Obstbäumen in die Wiesen hinaus. Es war unerhört, wie dieses Jahr die Bäume mit Früchten belastet waren. Dabei betraten sie das grüne Grasland, wo riesige Birnbäume standen. Nicht an dicken, starken Baumästen, nein, an Ruten, an dünnen biegsamen Weidenruten hingen die schweren Birnen, eine dicht neben der andern, vom Wipfel in langen goldglben Strähnen bis zur Erde herab. Zwischen den Bäumen weidete das Vieh. Hansleu hütete es. Er saß im Grase mitten unter den Rindern, hatte die Kniee an den Leib gezogen, stützte sich hinten mit den Armen auf und staunte verwundert und geistesabwesend gen Himmel.

Ein durchdringendes, schwirrendes Geräusch und Geplauder durchzitterte die Luft. Es waren Stare, an die hundert, die sich, ehe sie zogen, hier auf der Insel Stelldichein gaben und mit ihrer Geschwätzigkeit einen durchdringenden Lärm verursachten. Sie stoben auf, und von so vielen Vogelschwingen zusammen gab es ein gewaltiges Sausen. Doch entflogen sie noch nicht; schon einen Büchsenschuß entfernt ließen sie sich an einer andern Baumgruppe nieder. Zu ihnen hatte Hanslen emporgestarrt mit der verträumten Neugier des Naturkindes. Nun wollte er wieder nach den Kühen sehen und wischte sich die Augen.

"Hansleu," rief ihn der Vater an, "komm, schüttel uns ein paar Zwetschgen." Hanslen sprang auf und ließ keine Einrede der Frau Pfarrer gelten. Dumm[252]heiten! Morgen müssen sie ja so wie so herunter. Und schon hatte er ein Pflaumenbäumchen angefaßt und noch kaum zugegriffen, so regneten die blauen runden Riesenbohnen prasselnd zu Boden. Manche platzten, als sie aufschlugen, so schwer waren sie. Und Hansleu lachte mit seinem jungen, glänzenden, gesunden Bauerngesicht in die Krone des Bäumchens hinauf und sagte: "Seid ihr bald alle drunten, ihr Ketzer ihr!" Erst als auch der letzte Stiel kahl hing, ließ er nach. Man sah es schon seinen Armen an, die verrichteten saubere Arbeit, wenn sie einmal anpackten. Dann rief er dem Vieh, um es einzutreiben. Hieseb selbst entwandelte mit dem Gaste auf einem hintern Wege langsam dem Platz vor dem Hause zu. Der Pfad, auch er von Fruchtbäumen besäumt, lag bedeckt mit überreifem Obste, das die Ernte nicht hatte erwarten können, sondern vorzeitig abgefallen war. Man war darüber hingetreten. Ein starker gärender Dunst erfüllte die Luft, als würde gekeltert. "Dreitausend Maß Most werden's sein, ich sage nicht zu viel, Frau Pfarrer, eins ins andere gerechnet," schloß er die Übersicht. Dann blieb er stehen. Das Berechnende, das eben noch in seinen Mienen gelegen hatte, verschwand. Ein stilles, zaghaftes Lächeln spielte über seine Lippen und erhöhte den Ernst auf seinem Gesicht zur Feierlichkeit. Er nickte und suchte und bewegte die Hand. Dann schwieg er wieder eine auffallend lange Zeit. "Frau Pfarrer," sagte er endlich, "ich bin nun einundzwanzig Jahre auf der Seeau Pächter und habe immer zur rechten Zeit gezinst und bin hübsch vorangekommen und hab' auch bereits ein[253]Sümmchen auf der Seite, wenn es Ernst gilt mit dem Alter. Und die Seeau hat mir gefallen, weil sie wohl ausgab und einen Napoleon um den andern abwarf. Darauf geb' ich nun keinen Fünfer mehr, Frau Pfarrer. Ich will von jetzt an die Insel nicht länger lieben, weil sie mir viel einbringt, sondern weil sie so kurios ist und so schön anzusehen." Er blickte sie an in verschwiegenem Triumph. Hatte er das nicht gut gesagt? Hatte er nicht den Nagel auf den Kopf getroffen. "So kurios ist und so schön anzusehen?"

Frau Dora Sandhuber war in seelischen Dingen nicht nur fein eingestimmt, sondern auch wohl geübt. Schwere Jugenderfahrungen hatten sie gelehrt das Leben nicht flach zu sehen, sondern die Tiefen und die Vordergründe gegen einander abzuschätzen. Das kam ihr als Pfarrfrau zu statten. Ihr Scharfblick bewahrte ihren guten, aber allzu vertrauensseligen Mann vor manchen Fehlschlägen im Urteil. Namentlich traf sie in dem einen Punkte immer so ziemlich unfehlbar das richtige: ob nämlich jemand etwas ihm persönlich Eigentümliches in seinem Wandel habe oder ob er bloß als guter Kamerad im gleichen Schritt und Tritt der andern mittrete. Natürlich kam an diesem Maße gemessen der "Sonderbündler" gut weg. Da ließ sie gar keinen Einwand gelten. Der hatte etwas in sein Leben mitbekommen, was die andern nicht hatten. Und wenn Sandhuber damals, jetzt vor langen, langen Jahren, von Hieseb sagen konnte, Hieseb rage in den Bereich der Probleme empor, - nun, so stammte ja diese Wendung ins Philosophische allerdings von ihm; aber die[254]Sache klar gestellt, hatte ihm vorher nach der einmaligen flüchtigen Begegnung mit Hieseb das Fräulein Buchelfinger. Jene Auseinandersetzung war es gewesen, was Sandhuber den Wert ihrer Seele erschloß. Da nun bei Frauensleuten keine Beständigkeit ist, es läge denn nicht irgendwoher auch ein heimlicher Liebesgrund dafür vor, so verdankte Hieseb, ohne es gar zu wissen, die unentwegte, vieljährige Freundschaft der Pfarrfrau eigentlich dem Umstande, daß er ihr damals als gelegentliches Expliciererempel zum Ehestand verholfen hatte.

Freilich für einen Bauern hielt sie Hieseb nach wie vor, und hatte bis dahin auch keinerlei Veranlassung gehabt, ihn für etwas anderes zu nehmen. Jetzt zum erstenmal erregten seine merkwürdigen Andeutungen Zweifel auch hierüber in ihr. Sollte wirklich ein Bauer von sich aus dazu gelangen, seine Erde uneigennützig zu betrachten auf ihre Schönheit hin, wie ein Maler oder sonst ein feinsinniger Naturfreund? Und selbst wenn es auch nur ein vereinzeltes, unzusammenhängendes Aufblitzen ohne Folge bedeutet. Freund Hieseb tastete doch aus dem Schlaf-Dunkel der Nur⸗Arbeitsmenschen auf eine Lichtung zu. Diese verwunderliche Tatsache aus dem bäuerlichen Seelenleben, einmal erkannt, nun noch mit dem Ellstecken auszumessen, dazu fühlte die Pfarrfrau kein Bedürfnis. Sie sagte ihm ins allgemeine allerlei freundliches, sprach ihm auch zu, die täglich neue Freude an seiner Hände Arbeit nicht so leichten Kaufes preiszugeben. Dann brachte sie ihre Bestellung an Obst in Ordnung, begrüßte noch auf einen[255] Augenblick Susann in der Küche, die vor ihr als einer Priestersfrau nie recht warm werden wollte und rief den Ruderjungen von der Stalltüre weg. Aber die Hand drückte sie ihrem Freunde vom Boot aus noch herzlicher als sonst.

Es dunkelte rasch. Am Horizont waren die blutroten Lichtflecken schon fast verglüht. Nur der feine hellgelbe Schein, mit dem die Dämmerung ihren letzten, spärlichen Sonnenrest versendet, flimmerte noch. Auf ihm hoben sich die Uferbäume der Insel ab. Sie hatten alle Farbe verloren. Als schwarze Schattenrisse mit den unendlich zarten Verästungen äußerten sie ein fremdes, blutleeres, gespensterhaftes Leben. Uber der Wiese und dem See schwebte Nebel. Und ein verstohlener, kaum säuselnder Nachtwind machte sich auf mit seinem ängstlichen fröstelnden Geisterwesen.

Rasch ging der Herbst in den Winter über. Bald fiel Schnee. Dann hatte es ausgeschneit. Klar war's und kalt. Es funkelten die Sterne. Der Pächter ging still und unbemerkt hinaus. Schwester, Sohn und Gesinde blieben entweder noch in der Küche oder waren schon schlafen gegangen. Allein trat er auf sein Inselland, und eine ungeheure, unaussprechliche Einsamkeit brach alsbald über ihn herein. Mondnächte konnte er nicht mehr sehen. Wie er damals auf den zarten, weißen Menschenleib zutauchte und an dem Steine aufrannte! Noch immer hatte er es in den Knochen stecken. Stets zur Zeit des sich füllenden Mondes, traf er heimlich An[256]stalten, um dem Gaukelwerk zu entgehen; sobald klare Nächte bevorstanden, setzte er sich lesend dicht an die Lämpe und zog beim Eintritt in den Schlafraum sogleich den Laden zu. Für diesen Zwang hielt er sich schadlos in Nächten wie dieser, wo kein Mondaufgang drohte und überdies die blanke Schneedecke dem schlafenden Lande eigene Leuchtkraft lieh. Das waren dann liebe friedliche Gespenster, die sich ihm beigesellten. Er ließ sie dicht zu sich her und sprach sie an, wie er auf einem Rundgang durch den Stall Pferd und Rinder ansprach. Nicht daß er in weiche Gefühle zerfloß, er spürte sich geschlossener und körperlicher, geschmeidiger und uneingezwängter als jemals bei Tage.

Stillstehen und hinaufsehen, sich emporheben, droben wandern gehen! Er nahm auch das Sternenzelt nicht als Gegensatz, nicht als Himmel, sondern als das Kuppeldach der Erde und bildete sich ein, es gehöre ihm an, wie sonst wo ein Eckchen, sobald er es für sich erworben, sich darin heimisch gemacht und eingerichtet habe. Rübstiehl hatte ihm eine verstellbare Sternkarte zurückgelassen und ihn vorher in ihren Gebrauch eingeführt. Da erlernte er das Alphabet und begann die Welten da oben durchzulesen. Zwei populäre Astronomiebücher legte er nicht mehr aus der Hand, wohl aber ein astrologisches Traumbuch, weil es nichts wie alberne Deutungen enthielt. Mit dem Fernrohr, das Rübstiehl ihm hatte leihen wollen, kam Hans dagegen nicht recht zu gange. Er brachte es selten zu einem befriedigenden Anblick und wenn auch - da steckten ja die Sterne wie in einem Käfig, man habe immer nur einen allein. Das[257]Schöne sei, sie alle zusammen zu sehen, von einem zum andern zu spazieren, ohne deswegen die übrigen außer acht zu lassen. Mit seinen Sperberaugen konnte er immer einen, der ihn besonders bestach, auf ein kleines herunterholen, ihn gleichsam zu sich heransehen, ihn fassen, streichen, drehen und ihn dann wieder fahren lassen, daß er emporschnellte und in seine schimmernde Umgebung zurücksprang. Besonderes Wohlgefallen erregte ihm das Siebengestirn. Er freute sich über die hier zu Land nicht gebräuchliche Bezeichnung Gluckhenne, - die er aus den Hilfsmitteln erfahren hatte, und erwog die Berechtigung dieses Bildes längere Zeit, erst mit Zustimmung, dann mit wachsender Kritik, bis ihm die Form mehr mit einem runden Wagenkorb vergleichbar erschien und er sich gerne selber drin sitzend dachte, um vom "Stiere" gezogen, durch all die Herrlichkeiten des Firmamentes hindurchzufahren. Trotzdem er gegen Mondschein voreingenommen war, vermißte er nicht etwa die Helligkeit des Tages. Gerade die nächtliche Schneelandschaft bei klarem Sternenschein war ihm nachgerade zur angenehmsten Wirklichkeit geworden. Im Mondlicht log alles; da sah eine Pfütze aus wie eine Barre Silbers, die Totenstille winkte und reckte sich. Aber auch die Sonne übertrieb und täuschte. Sie machte mehr vor, als gut war und man mußte dann dies und jenes davontun, um seiner Sache sicher zu sein. So hingegen bei diesem letzten Lichtrest von dem Rachen der Finsternis bewahrt, völlig lautlos und verschwiegen einherzuwandeln, weichen Trittes als schwebte man und ginge nicht auf Füßen. -

[258]

"Hans," scholl es plötzlich aus dem Pachthause, bist vom Verstand? Ohne Überstrümpfe bei dem Schnee." Er hielt seinen Atem an, bis Susanns hausbackene Stimme verhallt war. Auf der grauen Fläche ein Baum - er erkannte ihn an der Krümmung des Stammes - es war der mit den welschen Zwetschgen. Einige benachbarte kahle Kronen bildeten einen künstlichen Horizont wie von Filigranarbeit und ließen noch Luft und fernen Glanz hindurch; nur das schwarze Kapellendach und die mächtigen Haubengiebel des Pächterhauses schnitten kräftig ab. Doch - er wohnte nun schon zur Genüge lang auf der Seeau, er kannte sich aus und seinetwegen brauchte es nicht heller zu sein. Das war es ja eben, was ihn zu solch einem nächtlichen Gange lockte und reizte, von außen her nur Schattenrisse zu empfangen und dann aus sich heraus Farbe und Seele beizusteuern, damit so durch sein Zutun aus der Andeutung etwas Ganzes wurde. Und dann, wenn es so weit in ihm gediehen war, daß er diesen Genuß verspürte, dann legte er sich schlafen mit heimlichem Erwarten, weil ihm der Morgen das aus ihm selbst erwachsene Bild bestätigte und er beim Erwachen etwas von der Freude eines Schöpfers empfand.

Aus Hieseb war ein Gedankenmensch und fast ein wenig gelehrter Kopf geworden. Der Frühling schmolz die Hülle. Der gereifte Mann litt wieder die ehrliche Not seiner jüngeren Jahre und verschmähte es mit einer[259]künstlichen Empfindung sich etwas vorzumachen. Bücher blieben seine Leidenschaft, aber der gelehrte Kram wollte ihm vor der Hand nicht mehr recht munden, als hätte er sich alle Wissenschaft gründlich übergelesen. Aus der Volksbibliothek im "Kloster" drüben hatte er sich mehr etwas fürs Herz holen wollen und Pfarrer Sandhuber, der hauptsächlichste Förderer dieser gemeinnützigen Veranstaltung reichte ihm ohne Besinnen "Uli der Knecht" - er solle sich erst den zu Gemüte führen, der "Pächter" folge dann auf dem Fuße. Er ersehe doch schon aus dem Titel, daß es ein Buch sei, wie für ihn geschrieben. Hieseb stand jetzt an der Stelle, da - bei Gotthelf - Uli und Vreneli endlich übereinkommen: sie hat von ihm geträumt, wacht auf, es leidet sie nicht mehr im Bett, sie schiebt das Fensterchen zurück, atmet Morgenluft. Und wie dann, als Vreneli früh am Tage zum Brunnen geht, sich zu waschen, kein Knecht sich noch rührt, kein Pferd nach Futter scharrt, wie sie da am plätschernden Brunnen den Uli über den Trog sich beugen sieht und sich nun rasch auf den Zehen an ihn heran schleicht und ihm, der nichts ahnt, plötzlich beide Hände vor die Augen schlägt! - Hieseb vermochte an nichts anderes mehr zu denken; immerzu sah er die beiden vor sich am Brunnen stehen. Lange schlief er nicht ein, als wäre es ihm unmöglich, sich von diesem Anblick loszureißen. Im Traume kamen sie ihm nicht vor. Aber kaum, daß er frühmorgens die Augen aufschlug, so standen sie wieder lebendig vor ihm.

Er erhob sich alsbald und kleidete sich an. Gewöhnlich war er zuerst auf den Beinen, manchmal auch[260]seine Schwester Susann. Die jüngere Mannschaft im Hause herum mußte man schon mehr auftrommeln. Je nach Laune besorgte Hieseb das Wecken milder oder mit einem überschüssigen Aufwand von Lärm. Heute aber öffnete er die Türe sanfter als irgendwann und betrat behutsam die Wohnstube, zögernd mit seinen schweren Holzschuhen. Beim Ofen blieb er stehen, vor der Treppe, die in den Schlafverschlag hinaufführte. Einen Augenblick lang lauschte er. Er vernahm sachte, langgezogene Atemzüge, nicht schwer gestoßene, nein, den schwebenden Hauch einer jugendlich elastischen Brust. Endlich rief er mit halber Stimme: "Roseli, Roseli, es ist Zeit." Oben drehte sich das Mädchen in den Tüchern und stieß einen ängstlichen Laut aus, faßte sich aber rasch und erwiderte gleich hinterher vollständig wach: "Ja, Meister, danke."

Sobald Hans sie munter werden hörte, verließ er die Stube und ging ungesäumt an sein Tagewerk. Aber über der Arbeit dachte er immerzu an das Buch vom Uli. Eben auch nur ein Buch so zwischen zwei Pappdeckeln - und doch enthielt es nicht etwa wieder allerhand fremdländische und nur mühsam verständliche Meerwunder, sondern eine Welt genau wie seine eigne, in die er nur Seite für Seite der Nase nach hineinzuspazieren brauchte. Da ging alles ebenso zu wie einst zu Hause auf der Rotmatt und dann drüben im Spittel und jetzt auf der Seeau: in den Stuben, im Stall, auf dem Acker und in den Pflanzplätzen! Und vor alllem der Uli - je weiter er sich hineinlas, desto mehr war ihm, er sei er selber. Und so kam es denn[261]auch, er wußte nicht wie, unversehens dazu, sich in - Vreneli zu vergaffen. - - - - - - - -

Rosi, die Dienstmagd, stammte aus dem Glarner Lande, und verriet mit ihrer leise gebrochenen Sprechart und ihrem südländischen Aussehen den einer Schlaggrenze eigentümlichen Mischungsreiz, als vereinigten solche Wesen von beiden Seiten bloß die Vorzüge. Wie eine Römerin zeigte sie einen Mund voll blendender Zähne und errötete in lauter Purpur, und doch kam bei ihrem Lachen und bei ihrer Scham nur um so deutlicher zum Vorschein, wie bescheidenen Gemütes sie war. Ihre Bekanntschaft rührte von Hansleus Aufenthalt in den Bädern von Ragaz her, wo er beim selben Meister das Metzgerhandwerk erlernte, in dessen Dienst sie stand. Bei seiner Rückkehr fragte er zu Hause an, ob sie nicht eine gute, schaffige Magd brauchten, er wüßte eine, und ehe noch die Zusage eintraf, hatte er sie auch schon abgedungen. Sie rückten gemeinsam mit ihren Siebensachen ein, als wäre es ein Paar. Tante Susann sah wochenlang zu, ohne ein Wort zu sagen, dann aber kargte sie nicht mit ihrem Lobe: "Das ist doch auch nur ein rechtes Mädchen, wie man es heutzutage selten findet."

Hieseb setzte sich den Hut auf und zwar ziemlich unternehmend hinten nach dem Nacken zu. Jetzt mußte es sein; für heute hatte er sich die Entscheidung im Kerbholz angeschnitten: am ersten warmen Tage, wenn sie hinten am Findelgehölz am See wäscht. Hier ums Haus herum empfahl es sich weniger, da war immer jemand da. Nun, die anderen, das ginge zur Not;[262]denn es handelte sich ja zunächst nur Mrum, sich auszusprechen. Er hätte sie ja auch geradzu in die Stube hinaufheißen können. Aber Susann! Sollte die wohl etwas wittern? Sie war in letzter Zeit kurz angebunden und begegnete ihm gelegentlich schon mehr eindeutig grob und zwar immer dann, wenn er im stillen versucht hatte, Rosi unbemerkt auf die Seite zu bringen und auf ein halbes Stündchen mit ihr allein zu sein. Denn wie oft schon, gewiß schon zum zwanzigstenmale hatte er die längst beabsichtigte Aussprache verschieben müssen, weil es sich nie auf natürliche Weise machen wollte. Heißt das, er war meistens auf dem besten Wege; aber da fuhr immer Susann dazwischen. Endlich empfand er es als Ehrensache, mit allem Nachdruck zu beweisen, er habe hier zu befehlen, - das war letzte Woche gewesen, als er meinte, Rosi solle mit ihm zu Markt fahren nach Neuenach; es sei dem Mädchen auch zu gönnen, daß es endlich einmal zum Tanzen käme und es mit Hansleu zu schicken, wäre nicht wohl angängig. Da war die ruhige Susann in hellen Zorn geraten: "Vielleicht immer noch angängiger, als mit so einem alten, angeprägelten Esel, wie dir! Und zum Tanzen kommt das Kind am Leugeltssonntag noch immer früh genug." Seit damals hatten die beiden Geschwister, so verträglich sie sonst mit einander auskamen, kaum ein Wort mehr gewechselt.

Und nun stand dieses bisher hauptfsächliche Hindernis, die Schwester Susann, im Garten; sie hatte, sich mit breiten Hüften bückend, die Bretter von der[263] zum UÜberwintern gegrabenen Grube weggeschoben und einen Kohlkopf herausgenommen, den sie nun zwischen den Händen hielt. Da gewährte sie ihren Bruder, wie er durch den abgehegten Wiesenpfad auf das Wäldchen zuschritt. Immer noch den Kohlkopf in den Händen, schaute sie ihm kopfschüttelnd nach, bis er zwischen den Stämmen des Gehölzes verschwand. "Hans, Hans, oh, oh, oh! Deine Beine sind zu steif, um damit noch auf Freiersfüßen zu gehen." Er tat ihr leid,, des Jammers wegen, dem sie ihn verfallen sah- Zu befürchten war nichts. Gott sei Dank konnte sie darüber beruhigt sein. Sowohl ihren Neffen, als das Mädchen hatte sie, ohne irgendwie eigentlicher Geständnisse zu bedürfen, vollkommen durchschaut. Ihr gutes Herz war heimlich geschwellt. Sie hatte sie schon bei ihrer gemeinsamen Ankunft auf den ersten Anblick hin zusammengedacht gehabt. Aber daß es einer Enttäuschung für den Bruder bedurfte, um das junge Glück zu begründen! Mit klopfenden Pulsen ging sie an den Brunnentrog und pumpte sich Wasser in den Kessel, dann setzte sie sich am ersten Tisch unter den Platanen zurecht, um den Kohl in die rote Tonschüssel, die sie hinzugeholt hatte, zu rüsten.

Unterdessen hatte Hans im Dahingehen seine Blicke dem Lattenhage entlang gleiten lassen. Ihm fiel der weiche, samtgrüne Uberzug einer feinen Moosschicht auf, die an den Hölzern haftete. Sein Blick erhob sich. Hoch ragten die Stämme vor ihm auf. Graue Säulen, unbeschienen von der Sonne, hundert weite Gänge bildend, die sich ihm entgegen öffneten und auf eine hell[264]braune, verdämmernde Wand zuführten. Aber nach ein paar Schritten schon verschob sich der feierliche Hintergrund zu einer grüngoldenen Lichtung. Eine am Ufer hinlaufende Zeile schlanker Birken leuchtete mit dem jungen Laube in die strenge Befangenheit des Waldinnern zart und fröhlich hinein. Und welche hochragende Galerie dunkler Baumstämme Hiesebs Blick auch hinuntereilte voll Verlangen nach einem Ausgange, überall war das Tor durch eine weißstämmige, grünumflorte, junge Birke verstellt, die sich willig von der unsichtbaren Gewalt des Windes biegen ließ und anmutig in den Flanken wiegte. So irrten seine Augen im Bereiche der Einfriedung wieder über den bunten Teppich grauer Moose und goldroter Blätter hin, auf dem die mächtigen Bäume und der kleine Hausrat des Waldes aufgestellt waren. Endlich sah er über sich. In den Lüften oben brach das Himmelsblau durch die zarten Zweige und beglänzte die unzähligen neuen Triebe über all die Aste und Kronen hin.

Bald jedoch entzog er seine Aufmerksamkeit wieder der Schönheit des rings um ihn aufknospenden Erdenlebens und überschlug sein Beginnen für den nächsten Augenblick. Ein kräftiger Wind durchbrauste den Wald, er konnte sich umsehen, ohne fürchten zu müssen, mit dem Geräusch seiner Schritte sich zu verraten. Erst wollte er ihren Stand auskundschaften, sie eine Weile belauschen und dann von ungefähr vor sie hintreten. Zu seiner Verwunderung indessen fand sie sich an dem Ort, wo sonst gewaschen wurde, nicht vor. Die Zuber und das Waschfaß standen da, und die Wäsche blinkte[265]schneeweiß daraus hervor. Rosi war also schon fertig damit. Das konnte weiter nicht wundern, flink wie sie sich in allem anstellte. Aber zum Kuckuck, wo trieb sie sich denn herum? Er bestieg den Findling, um gründliche Umschau zu halten. Er brauchte nicht lang zu spähen.

Durch einen Durchblick der Kronen sah er nahe am Ufer Rosi im Nachen mit glückseligem Gesicht und unter mutwilligem Gelächter auf irgend jemand am Lande hineinreden. Ihre hellen Laute trafen sein Ohr und gingen in dem übrigen Frühlingsgezwitscher unter. Nun richtete sich hinter einem Felsblock sein Sohn Hansleu auf und warf alsbald einen langen, hellglänzenden Hecht, dem er zuvor den Kopf an dem Sandstein dreimal aufschlug, in das grüne Fischerboot. Sie bückte sich nach dem schönen Fisch und erhob den noch zappelnden in ihren beiden krampfhaft zusammengepreßten Händen neugierig zu sich empor. Aber da hatte Hanslen auch schon, barfuß ins Wasser hineinwatend, die von ihm abgewendete Spitze des Nachens zu fassen bekommen und schwang sich mit einem Ruck hinein. Rosi stieß einen Schrei aus und ließ den Fisch fallen. Das Ruder hatte sie schon gleiten lassen, als sie nach dem Fische griff. Wehrlos sah sie sich an den Inhaber des Nachens ausgeliefert, der ihr, noch während er seine Arbeit versah, auf ihre hochmütigen Herausforderungen in aller Gemütsruhe hier und da ein trockenes "Wart du nur" zugerufen hatte. Die von einer kräftigen Morgenbrise aufgeweckte, dunkelblaue Seeflut schob ihre Schäfchenwellen in langen, weißen[266] Zeilen unter dem Nachen durch. Rosi wurde ihre Lage inne und schluckte einen zweiten Schrei hinunter. Zu wem sollte sie denn um Hilfe rufen und gar weshalb? Die einzig vernünftige Rettung nahte sich ihr doch in Hansleus ausgebreiteten Armen, mit denen er sie ganz an den hinteren Bootsrand zurücktrieb, so daß die Schwankende, Zitternde, in tausend Angsten Schwebende sich willig von ihm auf das Querbrett niederziehen ließ. Seine linke Hand drückte immerzu das Ruder nach außen und vereitelte so die Gefahr eines Wellenstoßes von der Breitseite. Mit dem freien Arm dagegen umschlang er das Mädchen ungestüm und küßte es wacker ab. Zwischen hinein in den erforderlichen Pausen ermahnte er es allen Ernstes, sich doch ja hübsch ruhig zu verhalten, ansonst sie beide unverzüglich im Wasser lägen.

Dem Vater auf dem Heidenstein riß ein Luftstoß den Hut vom Kopf, sträußte ihm sein Haar, daß die Strähnen zerzaust in allen Winden flatterten. Da stand er und starrte. Dieses grüne, hochrandige Fischerboot - hatte da nicht auch schon ein schönes, junges Weib sich vor einem Eindringling gewehrt? Lächelnd, singend? Und war Siegerin geblieben, Siegerin auch noch im Untergang? In dem verlogenen, unwahren Mondlicht? War es wieder Teufelswerk? Wieder Hexentrug? Er sah und sah. Der ruhige Glanz der Morgensonne lag über dem Bilde, nur leis verhüllt von Duft und Stille. Unversehens hatte sich der Wind gelegt, die Wellen rannten nicht mehr kampflustig mit weißer Stirn an. Das Rauschen am Strand und im[267]Walde war zu einem traulichen Flüstern zusammengesunken und ließ dem Finkenschlag und eintönigen Schreien der Wasserhühner ihr Recht. Das grüne Boot schaukelte und stampfte nicht länger ungeberdig in widerspänstigem Gegenprall.

Lange schon hatte Susann nach dem Gehölz hingespäht. Sie war noch drei weitere Krautköpfe holen gegangen, hatte auch sie am Brunnen gewaschen, dann langsam die Rippen gelöst und Blatt um Blatt geschält. Endlich, als ihr Messer auch dem letzten ans Herz drang, sah sie ihren Bruder auf das Haus zukommen. Schon sein Gang sagte ihr alles. Er schwankte. Nichtsdestoweniger kam er zu ihr und setzte sich wortlos und schweratmend an den Tisch ihr gegenüber. Sie vierteilte erst noch das Kohlherz, legte dann das Messer auf die Blätter und stellte die große Schüssel sich vom Schoße weg auf den Tisch. Sie hatte so wie so die Gewohnheit, hinter allem, was sie sagte, in jungferlicher Verlegenheit gleichsam besänftigend hinten nach zu hüsteln: "Guten Tag, höhöl" Und: "Es wird etwa nicht sein, höhöl" Dabei hatte sie eine singende, dünne Stimme. Heute handelte es sich um Dinge von solcher Wichtigkeit, daß sie schon zum Voraus sich räusperte und einige seufzerähnliche Töne ausstieß. Und doch bestand, was sie schließlich hervorbrachte in wenigen Worten. "Schau, Hans, dir und mir hat es den Garten doch verhagelt, da muß man nicht noch gehen und sich einen Hochzeitsmaien pflücken wollen. Recht blühen kann es unser einem nie mehr."

Der eine Satz reichte vollständig aus. Hans stand[268]auf und ging zur Lände hinunter. Dort kam eben Hansleun angefahren in seinem Nachen und schickte sich an, das Boot am Weidenbaum festzumachen. Er be gann unverzüglich das glänzende Ergebnis seines Fischzuges von diesem Morgen dem Vater anzupreisen; so viele und so schöne hätten, daß er sich besinne, noch nie angebissen. Ja - die Setzschnüre, das sei das Wahre: nur müsse man sie zu handhaben wissen. Da das zweipfündige Hechtlein solle er sich ansehen. Und er hob den Fisch am Schwanz in die Höhe, bis der ihm mit einer letzten Todeszuckung entschnellte und wieder in den Nachen fiel.

Hans Hieseb nahm die Pause wahr und fragte seinen Sohn ohne Umstände, aber in einem Tone, als wollte er sich erkundigen, wie viel das Pfund Hecht jetzt gelte: "Was ist Hansleu? Ist es dir Ernst mit dem Rosi oder hast du sie nur zum Narren?" Die erste Antwort war ein dummes, glotziges Schafsgesicht. Er hatte um das Mädchen kämpfen wollen. Bauernsohn und Magd - so ganz verstand sich das denn doch nicht von selber. Und nun sollte es gewonnen sein ohne jeden Streich? Mit Übergewalt brachen die Lebensgeister in ihm auf. Aus den Augen schoß überflammendes Feuer: "Vater! Vater!" Ist sie Euch recht, Vater! Nein aber auch Vater!" Und er weinte wie ein Kind, während er noch aufrecht im Nachen stand. Der Alte aber hatte seine Lektion. Sein Blick flimmerte. Die Ohren klangen ihm. Die Aststümpfe am Weidenbaum zeigten mit Fingern auf ihn, das Vogelgezwitscher rings um ihn her lachte ihn[269] aus. Der Tausend ja. Die Zeiten waren vorbei, wo er dem Glück den Marsch machte, wenn es nicht auf den ersten leisen Wink herangeschwebt kam. Jetzt war sein Sohn an der Reihe. Alter Narr er! Warum freute er sich nicht einfach an seinem Sohne?

Die jungen Leute heirateten sich bereits nach wenigen Wochen. Der neue Schwiegervater fand sich mit der Enttäuschung wider Erwarten gut ab. Er gestand sich im stillen, diese Rolle stehe ihm weit besser zu Gesicht, als die andere, die er sich - ein Spuk seines Überrestes an Jugendblut - hatte anmaßen wollen. Mit Freuden wurde er gewahr, diejenige Verjüngung, nach der er sich gesehnt hatte, werde ihm hinreichend durch seine väterliche Teilnahme an dem Glück seines Sohnes gewährt. Und als nun gar die erhofften Aussichten sich pünktlich einstellten, spürte er sich von der Zukunft her durch eine neue Kraft an⸗ und emporgezogen. Er dachte nicht mehr an jene unsichtbare, übermächtige Hand, die ihn von der Heerstraße weg auf Nebenpfade und Seitenwege geführt hatte. Im bescheidenen Mitgenuß jüngeren und ungeschwächten Geschickes wollte er doch noch seines Lebens froh werden. An etwas Trauriges kam ihm der Sinn nicht. Da wurden er und Hansleu einig, den jungen Stier zu verkaufen. Fägschmied, dem man aus nachbarlicher Zuvorkommenheit das Vorkaufsrecht einräumte, ließ sich das nicht zweimal sagen. So einen Zuchtstier gab es weit und breit nicht wieder.[270]Mit dieser Muffel und dieser Fleischwamme vorn herunter! Seine drei dicken Finger waren eingesunken, als er sie ausmessend zwischen die Rippen legte. Und dann zu diesem Körperbau noch diese Weide! Wo waren Matten so dicht mit Klee und fettem Gras bestanden, wie auf der Seeau! Also sich nicht lang besonnen, den großen, flachen Transportkahn flottgemacht, und hinüber! Hansleu stellte sich ans Ufer und horchte: "Ich komme!" tönte Fägschmieds Stimme schwach vernehmlich von drüben. Hansleu ging in den Stall. Auf den ersten Blick fiel ihm Manis verändertes Gebaren auf. Der Stier war gereizt. Es mochte am Wetter liegen und wenn nicht daran, so konnte er sich das hinreichend mit sonstigen Gründen erklären, jedenfalls sah er sich deshalb nicht zu besonderen Vorsichtsmaßnahmen bewogen. Das gebe sich dann. Mani sei auch schon so gewesen. Nicht oft, aber es war schon vorgekommen. Einige Griffe genügten zur Beschwichtigung; wenn es immer anging, wollte er ihn nicht binden, um ihn vorzuführen. Gerade in der Freiheit seiner Bewegungen offenbarte sich die Schönheit an diesem herrlichen Haupt Vieh. Es schritt noch einmal so stolz, sobald es sich ohne Fesseln fühlte. Ja, als wüßte es Vertrauen zu schätzen, zeigte es sich gerade dann oft gefügig und lenksam. Auch jetzt beruhigte es sich in der Tat und schleckte mit der Zunge die Hand. Sobald aber Hanslen allzu zuversichtlich einfach die Kette wechseln wollte, riß sich der Stier los und stürzte mit einem Satz zum Stalltor hinaus. Dort stand er alsbald still, so recht als ein Herr der[271]Schöpfung, und glotzte prüfend um sich herum. Der Vater Hieseb kam dazu und mahnte Hansleu, der nachzueilen vermocht hatte, sachte vorzugehen, Mani werde dann schon zu fassen sein. Zugleich aber, aus einem in ihm aufsteigenden Unwillen über das allzeit eigenmächtige und vorschnelle Betragen Hansleus, gegen das keine Ermahnung fruchten wollte und für das der gegenwärtige Vorfall wieder eine neue Bestätigung bot, stieg in ihm der Gedanke auf, eigentlich könnte es nichts schaden, wenn es diesmal nun für den Jungen eine kleine Lehre absetzen möchte; sicherlich war Hansleu einer von denen, die nur durch Schaden klug werden. Er wolle dann schon dazwischen treten, wenn Gefahr im Verzuge sei.

Mani rollte den weißen Apfel in den rotunterlaufenen Augenrändern und fing an, die frische Luft zu fühlen. Witterte er, daß er verkauft werden, seine schöne Weide und Herde verlassen sollte? Auf dem See kam der Frachtkahn in Sicht, auf dem Mani weggeholt wurde, die Ruderschläge und das Rauschen der geteilten Flut schallten aus der Nähe. Mani scharrte und schnob, hob und senkte den dicken Kopf ein paarmal rasch hinter einander und bezeugte keinerlei Lust sich fangen zu lassen. Da sprang Hansleu unbesonnen dicht vor ihn hin, sprach ihn an und wollte ihn zugleich mit beiden Händen um die Nüstern streichen. Aber schon hatte Mani die Wut ergriffen. Ein Ruck - ein Stoß - ein Sturz gegen die Mauer!

Als Hieseb es aus nächster Nähe mit angesehen hatte, wie das zum Untier verwandelte, edle Rind[272]seinen eigenen Sohn auf die Hörner nahm und ballspielend in die Luft warf, schlossen sich seine Augen unwillkürlich. In einer einzigen furchtbaren Zuckung krampften sich die beiden Höhlen zusammen. Er sah in einen roten Fleck, einen Reif, der aufrecht auf der Kante stand, in eine blutig rote Sonne. Und dann wurde die Sonne brandschwarz, und durch den Reif stieß ein scharlachenes Ungeheuer seinen gehörnten Schädel. Und der ungeheure, scharlachene Auerochsenkopf starrte mit glutigen Augenrädern auf Hieseb und stieß und stieß und stieß nach ihm - - - Entsetzliche Schreie gellten ihm ins Gehirn. Die Starre seines ganzen Leibes wich nicht. Aber die Augendeckel klappten wieder auf. Hanslen lag an der getünchten Stallwand leblos ausgestreckt. Uber ihn hatte sich das junge Weib geworfen und riß an ihm herum, ja, riß ihn mit einer letzten, übermenschlichen Anstrengung und unter einem furchtbaren Aufschrei in die Höhe. Sie riß nur an den Kleidern. Der Leib plumpste mit seinem Schwergewicht nach unten und der Kopf rutschte willenlos zwischen die Schulterlappen des Rockes. Die Tante Susann, die daneben kniete, schob ihren Arm unter den Rücken. Sie zog den Verunglückten an ihren Schoß. Sie griff ihm unter das Hemd ans Herz. Da knickte sie hilflos über der Last zusammen. "Tot!" gellte das junge Weib in schrecklichen Toben. Knechte und Mägde standen herum. Fägschmied und die Schiffer kamen keuchend quer über die Wiese gerannt. "Herr Jesus! Gott im Himmel! - Tot?" - O furchtbar, entsetzlich.

[273]

Der Stier nahm in der angerichteten Verwirrung seinen Vorteil wahr, machte sich aus dem Staube und trollte den Kühen nach, die im Gehölz nach dem See zu weideten. Stumpf, vor den Kopf geschlagen von dem Anblick und dem Geschrei folgte ihm Hans Hieseb. Das Fürchterliche war noch nicht in die Rechenschaft bewußten Schreckens übergegangen. Der jähe Schlag hatte die höheren Fähigkeiten in ihm lahmgelegt, und nur ein elementares nicht bis zur Uberlegung gediehenes Ungefähr blieb in Tätigkeit. So trieb es ihn dem entronnenen Tiere nach, - ob, um es einzufangen, was wußte er? Als er die Rinder unter den Erlen und Buchen nach dem Ufer durchbrechen sah, schlug er den kürzesten Weg ein, um auf die Landzunge zu gelangen, wo die Seeau auslief. Kaum stand er dort außer Atem, unbewußt wo ihm der Kopf stehe, und vor Entsetzen kaum noch fähig, sich überhaupt auf den Beinen zu halten, so trat die ganze Herde zwischen den Stämmen hervor aus dem Gestäude und verbreitete sich über das Ried. Voran der Stier. Er blieb nicht stehen; er betrat das Wasser und schritt durch das Schilf, ruhevoll rauschend. Und hinter ihm her die ganze Herde durch das Wasser auf die Landzunge zu.

Da nun Hieseb sie auf sich zukommen sah und an ihrer Spitze den Gewaltigen, der ihn des Sohnes beraubt hatte, kam gar kein Zorn in ihm auf, konnte keiner aufkommen. Denn einher schritt ja das höhere Wesen, bei dem die Macht stand, gegen das anzustreben töricht wäre. Durch dieses Tier war das schwerste Unglück über ihn gekommen, das ihn überhaupt noch treffen[274]konnte. Was - Tier? Diese Stirn, breit und kraus, die niemals ein Zugjoch geduldet hatte, dieser gerollte Nacken, wo die Kraft von hundert Männern beisammensaß, diese unerhörte Summe von Gewalt, die auf den beiden kurzen Vorderbeinen sich aufbaute, dieser in langen Linien und geschmeidigen Flächen verlaufende übrige Leib, unerschöpflich, Leben zu spenden - war das ein Tier im Sinne des unedeln geknechteten Geschöpfes, das dem Menschen zu dienen hat?

Hieseb wurde zu Mut wie den Urbauern vor tausend und abertausend Jahren, die sich vor dem starken fruchtbaren Ackerstier nie derwarfen, um in ihm etwas äbermächtig Heiliges anzubeten. Vor Erschöpfung wankten seine Kniee. Wieder schloß er seine Augen. An ihm kam in dieser einzigen Sekunde sein ganzes Leben vorüber gejagt, aber nicht in irgend einer schnellsten Bewegung aus eigener Gewalt - nein getrieben, gepeitscht, gewirbelt von irgend einer Windsbraut, von einem sausenden, prasselnden Sturmelement. Und dann sah er in eine Gegend: da waren alle die Orte nebeneinander vertreten, wo er bis jetzt gelebt hatte: irgendwo hinten die Rotmatt mit den Pappelgipfeln über dem Giebel - anderswo das Spitalkloster von Neuenach - in der Mitte sein Seeauerpächterhaus: das brach nun alles auf einen Schlag, aber geräuschlos, auseinander und stürzte zusammen wie Pappdeckelwände. Denn nun fand der große Kulissenwechsel statt. Hieseb stand unter dem bestimmten Gefühl: wenn er jetzt die Augen öffne, dann sei eine Aussicht für ihn frei geworden, in die er noch nie geschaut habe. Er ließ den[275]Blick noch dunkel, hörte die Welle dicht zu seinen Füßen verrauschen. Ein mächtiges, eindringliches ehernes Tonmeer bedrängte sein Gehör; da schlug er die Augen auf: es war die Herde und das Kuhgeschell. Mani hatte die Untiefe ihrem Rande entlang bis zu Ende durchwatet und stieg nun wieder ans Land, dicht vor ihm. Da streckte Hieseb beide Hände nach dem Mörder, nach dem Sieger. Er bekam den Nacken zu fassen, glitt am Halse hinab und brach zwischen den Füßen ohnmächtig zusammen. Der Stier war stillgestanden und hatte die Umarmung willig geschehen lassen. Nun aber kehrte er sich nicht weiter daran, sondern schritt über den Mann, der nach irdischen Begriffen sein Herr war, verächtlich hinweg. Desgleichen die ganze Herde. Auf dem Hofe hatte man in der Bestürzung erst nicht auf den alten Hieseb geachtet. Als man ihn dann vermißte, nach ihm suchte und ihn fand, lag er über und über beschmutzt wie ein Toter am Strande. Bewußtlos wurde er ins Haus getragen. An Hansleus Leiche vorüber.

[276]

Zehntes Kapitel.

Im hintern Hofe des Klosters standen wenige Tage später Ambrosmen und Zumbühl in erregtem Gespräch. Der Spittelschreiber machte sein längstes Gesicht und schien vorderhand ausgeredet zu haben; der Friedensrichter dagegen steigerte sich in eine an ihm durchaus ungewöhnliche Erregung hinein. "Wenn das keine Verrücktheit is! Weil er von dem einen Unglück betroffen worden ist, nun gleich auch noch dem zweiten geradezu Tür und Tor öffnen. Ihr wißt, ich bin keiner von den Frömmsten, aber das heiße sogar ich Gott versuchen!" Und wieder legte er zum Zwecke größerer Deutlichkeit Ambrosmen das allerdings unbegreifliche Verhalten des Seeauer Pächters dar mit so vernehmlicher Stimme, daß zuhören konnte, wer Lust dazu hatte, mochte er übelhörig sein, er verstand es doch noch. Zumbühl war noch nicht zu Ende, als ein heiserer Hustenanfall aus einer offenen Kellertür ihn an die Möglichkeit, von Unberufenen belauscht zu werden, denken ließ. Er lief auf die Offnung zu und sah etwas wie einen Unterrock in der dunkeln Tiefe verschwinden. Er zog es nun vor, nicht länger so offenherzig zu sein und begab sich mit Ambrosmen in dessen Kanzleistube hinauf.

[277]

Die beiden kamen soeben von der Seeau zurück, wo sie aus freundschaftlicher Teilnahme und freilich auch in einer geschäftlichen Nebenabsicht Hieseb aufsuchen wollten. Sie waren zunächst über Erwarten heiter empfangen worden. Hieseb hatte den Schlag überstanden und war bald zu sich gekommen. Die Qual, die in ihm fraß, schwächte ihm nur diejenigen Empfindungen, die ihn verhindert hatten, mit seiner Innenschau noch tiefer einzudringen. "Das kommt alles nicht in Betracht," murmelte er, als die beiden ihn zu trösten versuchten, "ob er, ob ich, ob hundert, ob tausend, deswegen gehen Sonne und Mond doch auf und unter."

Zwar war er nicht mehr jung genug, um sich der äußeren Zeichen seines Elends noch erwehren zu können. Seine Augen waren von beständigem Weinen gerötet; seine Lippen verzogen sich krampfhaft, sobald er sie öffnete. Seine Stimme klang gebrochen. Innerlich aber überwand er das Unglück wirklich. Er nahm sich der verwaisten Wirtschaft wieder an, trotzdem er sie einem tüchtigen Meisterknecht hätte überlassen können.

"Nein," sagte er, indem er den Finger erhob und das Gesicht zu einem geradezu verschmitzten Lächeln erheiterte, "ich halt' es mit den alten Pferden: die legen sich überhaupt nicht mehr nieder, dann brauchen sie sich auch nicht mehr mit dem Aufstehen zu plagen. Also - aufrecht bleiben." Zu einem freilich konnte er sich nicht mehr verstehen, nämlich zu irgend einer Maßregel, die seinen Besitz vor Zerstörung bewahren sollte. Die Pflicht des Tages tun, ja! Aber sich auch nur im geringsten einbilden, man könne dem Schicksal ent[278]rinnen, das über uns beschlossen ist, das wäre unsinnig und töricht. Er hatte Zumbühl, kaum daß er wieder bei Besinnung war, einen regelrechten Brief ins "Kloster" hinübergeschickt, er wünsche seine Fahrhabe, deren Feuerversicherungspolice mit dem nächsten Ersten ablief, künftighin nicht mehr gegen Brandschaden sicher zu stellen; Zumbühl vertrat die Agentur.

Um Hieseb vor diesem leichtsinnigen Schritte zu bewahren, hatte Zumbühl, der sonst umständlich geworden war und außer in Pantoffeln ins "Schifflein" hinüber, nicht mehr ausging, eben weil er für weitere Fahrten Schuhe und Hosenträger hätte anziehen müssen, sich entschlossen, Hieseb in eigener Person aufzusuchen. Er bat Ambrosmen, ihm Gesellschaft oder richtiger Beistand zu leisten. Bei diesem handelte es sich nun schon eher um eine wirkliche Beileidsbezeugung, die aber zugleich auch den beiden mitbetroffenen Frauen, vor allem der armen jungen Witwe gelten sollte. Er wurde vor ihr Bett geführt, hätte aber kaum sagen können, ob sie lebe oder ebenfalls tot sei. Dagegen hatte er sich dann seiner Base Susann tröstend angenommen, die, so gesetzt sie sonst war, jetzt die Fassung nicht wieder erlangen konnte. Ihr Bruder hatte den andern Gast hinausgezogen, damit ihr Wehklagen ihm nicht länger lästig falle. Erst nach mehrfachen Anläufen von seiten Zumbühls wollte Hieseb merken, zu welchem nähern Zwecke das Erscheinen der beiden eigentlich erfolge. Aber er widersetzte sich rundweg jeder Erneuerung. Nun rief Zumbühl Ambrosmen zu Hilfe; beide drangen in ihn und machten ihm die Unvorsichtigkeit klar; er aber ver[279]rannte sich mit Beschimpfungen und Hohnreden immer heftiger in seinen waghalsigen Standpunkt. Schließlich fing er an, verletzend zu werden und hänselte Zumbühl: ihn reuten eben die paar Franken, die er bis jetzt an seiner Police verdient habe; als dieser daraufhin entrüstet erklärte, wenn dem so sei, so kehre er Hans für alle Zeit den Rücken, erreichte er damit nichts, als daß er unter Hohngelächter hinausging. Samuel Ambrosmen blieb noch und versuchte es mit Güte. Es würde sich doch besser schicken, wenn Hans nun etwas in sich ginge, den sündhaften und hochfahrenden Trotz und Kolder dahintenließe und sich größerer Demut befleiße. Umsonst werde ihm Gott dieses Ubermaß an Trübsal auch nicht geschickt haben; er habe eben mehr Unglück nötig, um zur rechten Einsicht zu gelangen, als andere. Mehr wollte er, Ambrosmen, für heute nicht sagen. Aber während Hieseb sich Zumbühl gegenüber wenigstens noch aufgeregt hatte, würdigte er seinen Vetter nicht einmal einer solchen Anstrengung, sondern versetzte kühl: "Vetter Ambrösmelein, du dauerst mich." Da entfernte sich auch der Spittelschreiber, und Hieseb gab ihm keinen Schritt weit das Geleite.

Sich größerer Demut befleiße! Hieseb lachte hell auf, als er nachher sich diese Mahnung des Spittelschreibers nochmals zu Gemüte führte. Hochmütig, über alle Maßen hochmütig war er jetzt geworden - und das erfüllte ihn mit Stolz vor allen den Kreaturen, die ihn aus angelernter Weisheit eines bessern zu unterweisen sich herausnahmen. Von ihm sollten sie zu [280] lernen trachten; er war durch eine Schule hindurchgegangen, durch eine hohe Schule, deren sich außer ihm im weiten Umkreis kein Mensch rühmen durfte. Und da sollte er sich von irgend wem etwas vorschreiben lassen. Bis jetzt war er ein Fragender, Suchender, ein unruhig Tastender gewesen; und jetzt - ein Wissender, Sicherer, Selbstgewisser. Was nach außen hin sich als trotzige Verhärtung ausnahm, zeigte nach innen zu ein frisches, lebenserfülltes Angesicht. So verstockt war er keineswegs, daß er aus sich selber zehren wollte und weiter keiner Umgebung bedurft hätte. Aber er wünschte sich von Jugendlust und leichten Sinn umringt - er, der Zerbrochene, Verstümmelte, Todgeweihte. Die Ambrosmen⸗ und Zumbühlleute mußten da nur in ein Entsetzen ums andere fallen; er aber kümmerte sich nicht im geringsten um ihr Entsetzen: er wollte Lebenslust für den Sterbenden.

Am vergangenen Osternachmittag hatte ein junger Kandidat auf der Kanzel zu Neuenach gestanden, und sich bemüht, den verdutzten und verwunderten Bauern als Auferstehungsbotschaft das Gesetz von der Erhaltung der Kraft klar zu machen. Es war der Pfarrerssohn Arnold Sandhuber, von dem indessen zur Zeit noch nicht zu sagen war, ob er wirklich in den Fußstapfen seines Vaters zu wandeln gedachte oder einer unumschränkten Gelehrsamkeit sich ergeben und das Seelenheil seiner Mitmenschen auf sich beruhen lassen[281]wollte. Seltsame Bücher mit mohammedanischer Schnörkelschrift lagen in seinem Zimmer herum, und auf dem Gymnasium zu Basel war er durch einen deutschen Professor namens Friedrich Nietzsche in die Gedankenwelt der Griechen eingeführt worden. Dennoch verwahrte er sich, ein Abtrünniger gescholten zu werden. In der Bibel und im Gesangbuch stehe eben doch das - nun das Schönste vielleicht nicht gerade, denn Homer und Goethe und diese Größten seien auch noch da; aber das im letzten Grunde Wesentliche, das Quintessenzliche, wenn der Ausdruck am Platze sei. Dieser junge Mann hatte sich dann in seinem jugendlichen Eifer soweit vorgewagt, von der Kanzel herab die Leibnizschen Monaden mit Namen aufzuführen. Über diese Unvorsichtigkeit ging nachher ein mitleidiges Lächeln von Mund zu Mund: jetzt habe, hieß es, des Pfarrers Noldi drei Jahre auf der Universität studiert und wisse noch nicht einmal, daß man Nomaden sage.

In jenen Tagen war es dann auch gewesen, daß Hans Hieseb mit dem jungen Sandhuber eine Freundschaft auffrischte, die fast schon so lange bestand, als dieser lebte. Zur Zeit als noch der Spittelknecht in der Kanzleistube die alten Papiere studierte, aus denen ihm dann das Glück entgegenlachen sollte, da war der Knirps aus dem Pfarrhause öfters um ihn herumgewesen, und der Großgewordene konnte auch jetzt noch gelegentlich behaupten, seine Liebhaberei für alte Schmöker und Scharteken sei ihm damals eingepflanzt worden. Sfäter dann, seit Hieseb auf seiner Pacht saß, belustigte der kleine Mann alle Welt durch die[282] Hartnäckigkeit, mit der er die Seeau als Amerika bezeichnete. Er hatte einmal sagen hören, übers Wasser gehe es nach Amerika. Und seit der Zeit ließ er sich das nicht mehr ausreden. An dieses kindliche Gerede hatte Hieseb gerade in den letzen Jahren denken müssen. Gewiß, er durfte sich auf seinen Lebensgang etwas einbilden. Aber wie anders hätte das noch ausfallen können, wenn sich sein gutes Glück wirklich ins Große entfaltet hätte. Ein Berg gegen einen Maulwurfshaufen. Wochen auf dem Weltmeer gegen den Katzensprung von Neuenach nach der Seeau. Hunderte Haupt Vieh gegen ein schwaches Dutzend. Unbegrenzte Ländereien gegen die paar Jucharten von nicht einer Stunde im Umkreis. - Das war noch damals gewesen, als Hieseb sich so seine Gedanken machte auf sein äußeres Fortkommen hin, als jeder erreichte Erfolg nur seine Unzufriedenheit nach nicht noch größerem Gewinn steigerte, als er beständig nachrechnete, wie es noch besser hätte kommen können, und keinen Satz ohne diese ewigen Wenn und Aber schrieb.

Jetzt, wo er, wie ein gereifter Mann an Kinderträume, lächelnd an dieses eilfertige Mannesstreben zurückdachte, fühlte er sich zu seinem jungen Freunde Arnold Sandhuber hingezogen, von dem er immer schon mit Vergnügen gehört hatte, was für ein lustiger und ausgelassener Student er gewesen sei. Und so begab er sich denn keine zwei Wochen nach Hansleus schrecklichem Tode nach Neuenach hinüber, um von jenem sich einen Gefallen auszubitten. Er brauchte gar nicht ins Pfarrhaus zu gehen, er traf ihn unterwegs an. Der Kandidat[283] konnte eine Scheu vor Hieseb nicht verbergen: ein Mann, der so furchtbar hatte leiden müssen, flößte ihm ein heimliches Grauen ein. Aber Hieseb zerstreute es bald durch sein natürliches Betragen. Dann tat er plötzlich die Frage, ob Arnold ihn nicht einmal mit einer Schar fröhlicher Gesellen aufsuchen wollte. Arnold wurde sehr verlegen und gestand, er habe in der Tat einen solchen Besuch geplant, aber jetzt natürlich dergleichen Gedanken mit Rücksicht auf Hiesebs großen Schmerz fallen lassen. "Was - jetzt natürlich? Jetzt erst recht! Jetzt habe ich dich nötig, Noldi, jetzt mußt du mir einen Schwarm heiterer Zechbrüder zuführen." Und er ließ nicht locker, bis Arnold ihm auf die nächste Woche eine kleine Freiluftkneipe in Aussicht stellte. Als nun der verabredete Tag herankam, ging er hin und richtete drei Zeilen Weines her, schnitt einen Schweinshammen vom Rauchfang und legte zwei frische, runde Landbrote zurecht, während der Meisterknecht die jungen Leute überholte. Von weitem schon sah Hans ihre hellroten Mützen leuchten, und ein kräftiges Lied begrüßte ihn auf halbem Wege. Zu seinem größten Erstaunen aber entdeckte er, als die Insassen sich einzeln unterschieden ließen, mitten unter den Jünglingen einen Kapuziner. Pater Augustin war es nicht, Pater Cölestin auch nicht. Kaum war die Landung fröhlich von statten gegangen, so kam heraus, in was für einer Mission der Staffler Mönch im ketzerischen Neuenach tätig gewesen war. Ein Bauer hatte Ratten im Keller und hatte sich von katholischen Landleuten sagen lassen, das gründlichste Mittel sei eine Be[284]sprechung durch die Kapuziner. Der Bauer erkundigte sich und hörte übereinstimmend nur von Erfolgen. Also hätte er wohl dumm sein müssen, wenn er sich da noch lang an die Konfession stoßen wollte: "Ratten sind Ratten," sagte er zu seiner Frau und schickte nach dem Staffel. Alsbald kamen zwei Sendlinge und erklärten sich bereit, ihm den Gefallen zu tun, unter der Bedingung, mit hinreichendem Proviant drei Tage im Keller eingeschlossen zu bleiben. Als der Bauer am vierten öffnete, hingen drei Riesenmäuse an den Schwänzen vom Querbalken herab. Der eine Geistliche lag als Bruder Saufaus betrunken zwischen den hohlen Fässern; dem andern hatte es nichts geschadet; er war aber froh, mit der Studentenschar nach der Seeau hinüberfahren zu können. Dort angelangt und von der jüngsten Vergangenheit hinreichend unterrichtet, beflissen sich die Studenten nur einer gedämpften und rücksichtsvoll verhaltenen Fröhlichkeit, bis der Gastgeber sie dringend bat, eben diese Rücksicht hintan zu setzen. Er habe sie zu sich kommen heißen, nicht damit er von ihnen erfahre, wie ihm zu Mute sei; das wisse er leider Gottes allein schon nur zu gut. Aber wie ihnen zu Mute sei, den Jungen, Leichten, Sorglosen, das sollten sie ihm vormachen; denn in diesem Kapitel habe er ja von sich aus so gut wie nichts mehr zuzugeben. Die Studenten trugen gerne dieser Auffassung Rechnung und benahmen sich um so lieber ungezwungen, als gerade dadurch dem merkwürdigen Bauern ein Gefallen geschah; und so hob unter dem Laubgezelt der Platanen nach den Regeln akademischer Zech[285]kunst vor den Augen des Kapuziners und Hiesebs ein lustiger, kleiner Kommers an.

Hieseb hatte so etwas noch nicht erlebt. Arnold Sandhuber saß obenan und hantierte mit einem Spazierstock neben ihm auf dem Tisch, den er nun unter Kommandorufen erhob und auf das Holzbrett niederschmetterte. Dazu führte er und die Rotmützigen auf sein Geheiß mit ihren Gläsern allerlei Schwenkungen und Reibungen aus, die an Künstlichkeit über die einfache Sitte des landesüblichen Anstoßens weit hinausgingen. Dann sangen die jungen Leute, tranken sich zu, redeten im Übermaß, bis schließlich Arnold ein Hoch auf den Gastgeber ausbrachte: "Das ist doch noch ein Mann, der trotz mancher schwerer Schicksale jung geblieben ist und es auch ferner mit der Jugend zu halten gedenkt. Zum Dank dafür wollen wir ihm nun das Lied der Jugend singen." Arnold setzte kräftig führend ein, die Freunde schlossen sich ohne Säumen an. "Der hat sie aber gut einexerziert," dachte Hieseb, als das so auf und davon fuhr, wie der Kreisel vom Bindfaden.

Weg mit den Gri⸗illen und So⸗orgen, So⸗orgen

Brüder, es lacacht uns der Mo⸗orgen, Mo⸗orgen

Nur in der Jugend so schö⸗ön,

Bis uns Cypressen umwehn.

Hieseb vermochte dem Inhalt nicht die gewünschte Aufmerksamkeit zu widmen, denn er wurde durch allerlei willkürliche und originelle Tongebungen angezogen, mit denen ein dicker, in sich selbst wohl abgewogener Jüngling neben oder hinter der allgemeinen Fährte her den[286]Gesang bereicherte. Er führte bei den andern den Namen "Faß" und erklärte diesen Titel restlos durch den Anblick, den er darbot. Arnold Sandhuber mußte die Einlagen für eine Störung gehalten haben, denn er ließ das Lied abbrechen und befahl dem "Faß" auszutrinken. "Auch eine Strafe," dachte Hieseb, "der tut's wieder." Aber er tat es nicht wieder, sondern schien in höchstem Ernste bestrebt, seinen Beitrag diesmal ohne Auswuchs und Überschuß möglichst glatt dem Ganzen einzuverleiben, weshalb auch Hieseb dem Wortlaut mit Genuß zu folgen in der Lage war.

Noch sind die Ta⸗age der Ro⸗osen, Ro⸗osen,

Schmei⸗chelnde Lü⸗üfte umko⸗osen, ko⸗osen,

Busen und Wangen uns heu⸗eut,

Brüder, geni⸗ießet die Zeit

Nun kam aber der Geist, der vorhin den einen mit sich fortgerissen hatte, plötzlich gleichmäßig über die übrigen alle. Sie faßten sich unter, versetzten den Oberleib in heftige, aber taktmäßige Schwankungen von einer Seite zur anderen, schrieen die erste Silbe stark heraus und schlugen dabei mit der Faust auf den Tisch:

Got⸗tschuf die Mä⸗ädchen zur Li⸗abe, Li⸗abe

Pfla⸗anzte die sä⸗äligsten Tri⸗abe, Tri⸗abe,

Tief in den Busen uns a⸗ein

Liebet und tri⸗inket den Wein.

Der Kapuzinerpater nickte tiefsinnig vor sich hin, als gäbe er sein Ja und Amen zu dem allem. Hieseb schaute an der härenen, braunen Kutte vorbei still ins[287] abendliche Gelände hinaus. Da bemerkte er mit einemmal den bleichen, schon ziemlich vollen Mond am Himmel. Aber seine eingewurzelte Furcht vor dem gespenstischen Silberlicht wollte sich nicht einstellen. Auch fühlte er ein ganz anderes Leben in sich; das Blut floß leichter durch seinen Leib. Er war bei voller Besinnung. Kein Rausch - das Gegenteil von Rausch. So spiegelglatt wie der See da vorn, so war ihm zu Mute. Und doch ein Gelüste mit darunter, sich in Bewegung zu setzen, zu tanzen, zu schweben! Die Studenten nahmen ihre Weise langsamer, dehnten die Töne und sangen, jetzt ohne die komischen Brechungen und Kehrreime, in feierlichem Klang:

Leichtsinn, du sollst uns im Leben

Liebend und tröstend umschweben,

Und wenn Freund Hein uns beschleicht,

Mache den Abschied uns leicht.

Hiesebs Blicke wanderten stumm von einem zum andern. Er war ihnen dankbar. Sie kamen, ihm etwas zu sagen. "O, ihr Lebendigen!" so durchzog ihn das Gefühl, "o, ihr Leichtsinnigen und Jungen!" Und ruhig heftete er sein Auge auf den silbernen Wiederschein des Mondlichts im See.

Der Meisterknecht ruderte die Jünglinge in später Nacht wieder ans Land und erzählte nachher, auf der mondhellen Wasserfläche sei das Boot durch einen dunkelblauen Wolkenschatten gefahren; da habe "Faß", nach dessen Schicksalen sich Hieseb insbesondere erkundigte, sein eines Bein über den Bootsrand ge[288]schwungen und auch sonst alle Anstalten getroffen, um auszusteigen. Er war schon beim Abschied sehr weltschmerzlich gestimmt gewesen, und hatte Hieseb erklärt, sie beide, "Faß" und Hieseb, besäßen allein noch Verständnis für die Ideale der Menschheit. Hieseb hatte ihm darauf gesagt, er, "Faß", sei noch ein bißchen jung und solle sich erst seinen Rausch ausschlafen; dann möge er sehen, wie es um die Ideale der Menschheit bestellt sei.

Der Kapuziner blieb auf der Seeau über Nacht. Es stellte sich heraus, daß er Träger einer für Hieseb sehr wichtigen Botschaft war. Vor einer Woche hatte ein Kapuziner, der aus dem Luzernischen kam, einen Brief von Hiesebs Vater, dem alten Rotmatthofer Bauern, auf dem Staffel abgegeben, mit der Bitte, ihn gelegentlich auf der Seeau zu bestellen. Hieseb wußte nicht, sollte er lachen oder ärgerlich sein; das sah ihnen wieder ähnlich, dem Alten und den Kapuzinern; die paar Rappen Postgebühr sparen, und den Brief tagelang mit sich herumtragen, ehe man ihn beförderte. Was wohl drin stand? Nun, wahrscheinlich die Antwort auf die Anzeige vom Tode Hansleus. Er erbrach und las. Sebastian Hieseb, zum Briefsteller nicht mehr tauglich, hatte das Schreiben durch den Schulmeister abfassen lassen. Aus dem Briefe ging hervor, Zaver, der jüngere Sohn und künftige Erbe, längst Mitinhaber des Hofes, war kinderlos gestorben und der Alte, wiewohl noch rüstig auf den Beinen, aber steif und eigensinnig geworden, bat seinen Sohn Hans dringend, nun doch zu ihm zu ziehen, es sei Platz für ihn auf[289]der Hofstatt der Altvorderen. Das mit dem Enkel sei traurig. Aber deswegen brauche Hans noch lange nicht zu verzweifeln. Er sei ja, wenn auch nicht mehr der Jüngste, so doch immer noch iung genug. Nur solle er endlich machen, daß er nach Hause komme. Er habe sich lange genug in der Fremde herumgetrieben. In diesem Tone ging es über zwei Bogen hindurch beweglich und ergötzlich zugleich. Hieseb zögerte nicht, seiner Schwester Susann und der Sohnsfrau die väterliche Aufforderung vorzutragen. Die beiden zerflossen in Tränen; aber der Wegzug von der Seeau und die Ubersiedelung auf die Rotmatt wurde als die vernünftige Möglichkeit ernsthaft ins Auge gefaßt. "Auf der Seeau war es ja schön," meinte Susann, "aber was gilt selbst die Seeau gegen eigen Land und altväterischen Grundbesitz!" Und zu diesen ihren Worten nickte Hieseb nachdenklich, so daß Susann glauben mußte, er stimme ihr zu und sei selber dieser Ansicht.

Zu Anbruch der ersten Nacht im neuen Monat, als Hieseb den üblichen Rundgang um die Gebäulichkeiten vornahm, war ihm beim Speicher, als höre er auf der Hinterseite Reibgeräusche, wie von Versuchen, Streichhölzer anzuzünden. Er schlich sich heran und entdeckte in dem hinteren Winkel der Scheune eine in sich zusammengesunkene, hockende Frauengestalt. Wieder ein Strich über die Reibfläche, und der aufschlagende Funke ließ ihn das Gesicht erkennen; es war jene immer[290] noch am Leben gebliebene Muhme seiner Frau, das Hexenbabi, damals wegen ihres unmöglichen Betragens aus dem Pfrundhaus weggewiesen und seitdem zur Landstreicherin herabgesunken. Nachdem sie einen Teil der inzwischen verflossenen Jahre wegen Diebstahls und Brandstiftung im Zuchthaus zugebracht hatte, fand sie in der allerletzten Zeit wieder im Armenhaus drüben Unterkunft. Hieseb ließ ihr eine kleine Unterstützung regelmäßig zukommen, duldete aber nicht die geringste Annäherung mehr. So hatte er sich längst ihre Verwünschung zugezogen, und schon vor Jahren war ihm ihre Drohung hinterbracht worden, er sei an ihrem Unglück schuld und sie werde ihm dafür das Haus über dem Kopf anzünden. Nun hatte die von ihr belauschte und seither von dem erbosten Zumbühl drüben überall ausposaunte Widersetzlichkeit gegen jede weitere Brandversicherung der rachsüchtigen und verworfenen Person Beine gemacht - jedenfalls hatte sie sich den Tag gemerkt.

Es zuckte Hieseb in den Gliedern, sie beim Kragen zu packen. Aber schon im nächsten Augenblick waren seine Instinkte wieder von jener rätselhaften, unnatürlichen Entsagungsstimmung eines selbstmörderischen Fatalismus überholt, die ihm seit dem Umschlag seines Glückes in zunehmendem Maße zur Religion wurde. Wozu denn auf sie losspringen? Warum sie nicht einfach machen lassen, zumal das gespenstische Weibsbild dem leibhaftigen Schicksal ähnlicher sah, als einem noch menschlichen Wesen? Er sann, überlegte und begann zu verstehen: nun also war der Augenblick gekommen,[291] da seine dürstende Erkenntnis gestillt werden sollte; jetzt mußte es ihm aufgehen; jetzt tat er einen Blick hinein, einen Einblick in Urgründe!

Die kauernde Alte kratzte und rieb ihre feuchtgewordenen Phosphorzündhölzchen, von denen mehr als eins wieder erlosch. Da - war sie mit einem leidlich entflammten in ein Heubündel hineingefahren. Lichterloh flackerte es im Winkel auf. Das Köhlerweib fauchte auf wie eine gereizte Wildkatze und stob geblendet an Hans vorbei ins Dunkle hinaus. Dieser schaute eben noch zu, wie die junge Flamme, kaum geboren, sich duckte, dann in einem ersten Ansprung die Speicherwand hinanflog, den Heustock erreichte, zunächst mit einem, dann mit zwei, mit vier, mit zehn Glutaugen zu ihm herniederglotzte und schließlich als riesige Goldkapsel den Futtervorrat in sich einschloß.

Hans blickte so lange, bis er sich von dem herausdringenden Rauchschwall und der übergroßen Helligkeit abwenden mußte. Er rief den Knechten, die eben durch das erste Knistern und Knacken aufmerksam geworden, in die Luft hinauswitterten und sagte ihnen trockenen Tones, die Scheune brenne; dann ging er mit derselben Botschaft ins angebaute Wohnhaus und dort in die Stube hinauf, verständigte die Schwester, half ihr die Sohnesfrau, die zu Bett lag, die Treppe hinunterbringen. ging dann nochmal hinauf und steckte selber Wertsachen und Papiere zu sich. Er verschmähte es, dem nicht zahlreichen und in der Verwirrung kopflos sich überstürzenden Gesinde Befehle zu erteilen oder gar zur Rettung des Hausrates auch nur einen Finger zu[292]rühren. Vielmehr ging er ruhig und hoheitsvoll in den Hof hinunter, setzte sich an den Rand des Brunnentroges und staunte mit aufgerissenen Augen in die mit Windeseile sich überallhin verbreitenden Flammen. Auf seinem Gesicht malte sich weniger Schrecken als eine ungeheuchelte Teilnahme am Brande. Er saß da, wie der aufs höchste gespannte Zuschauer eines grandiosen Schauspiels, unbekümmert darum, daß es sein eigenes Hab und Gut war, was zu schanden ging. Hei, wie das toste und brüllte und heulte und jubelte in diesem Wirbeltanz des Windes mit der Flamme! Er nickte befriedigt. "Ja, ja, eben so etwas," räusperte er vor sich her, da ihn der Qualm husten machte. Dann wechselte er den Platz und setzte sich etwas weiter entfernt auf einen Baumstrunk.

Am Lande drüben war die Brunst sofort bemerkt worden, und die Neuenachener, deren Ruhm ihre Feuerwehr ausmachte, säumten nicht die drei Spritzen, darunter eine mit Dampfbetrieb, auf das breite, flache Frachtboot zu verladen. Es war ihnen schon eigentümlich ergangen mit ihrer Bereitwilligkeit, andern in Gefahr beizuspringen; als sie einmal in ein kleines Nest fuhren, zu dem sie der nächtliche Feuerschein gerufen hatte, wurde ihnen der Zutritt zu der Brandstätte verweigert. "Das ist unsere Brunst," sagten die Leute in dem Winkeldorf und gaben nicht zu, daß ihre altersschwache Spritze von neueren, besser bedienten in den Schatten gestellt wurde. Seither machten sich die Neuenachener rar mit ihrer Hilfe, und wo sie erschienen, da konnte man sich etwas darauf einbilden.

[293]

Auf der Insel angelangt, ging die Arbeit glatt von statten. Die Schläuche erwiesen sich als lang genug und bald ergoß sich der Strahl aus drei Wendrohren in die Flammen. An Speicher und Wohnhaus ließ sich nicht mehr viel halten. Auch war das Gebäude als öffentliche Liegenschaft versichert. Nur von seinem Hausrat und dem Viehbestand hatte Hans die Schätzung zurückgezogen. Die Löschversuche galten somit vorzugsweise dem zweiten großen Gebäude, das aus der eigentlichen Scheune und den Ställen bestand, die kaum eben erst vom Feuer erfaßt worden waren. Dort galt es die Verheerung einzudämmen. Man fühlte sich des besten Mutes.

Plötzlich jedoch erscholl ein furchtbarer, betäubender Knall, der die Luft weit herum erschütterte. Zugleich brachen die Flammen mit einer je der Beschreibung spottenden Gewalt aus und trugen den ganzen Teil des oberen Holzbaues ab, indem sie in riesigen Bogen die glühenden Trümmer weit über die Insel hin zerstreuten. "Potzhagelelement," ging es durch die Reihen der Löschenden und die Saugpumpe stand still, als hätte sie der Schlag gerührt. Fägschmied aber, der diesmal als Spritzenhauptmann der ganzen Unternehmung vorstand, machte ein sehr dummes Gesicht, kratzte sich hinterm Ohr und brummte: "Ja so!" Da er auch einen Großverkauf betrieb, so hatte er noch vorgestern, als er nach Hieseb sehen und in Zumbühls Auftrag einen letzten Versuch wagen wollte, seinem langjährigen Kunden ein Eisenfäßchen von fünfzig Maß Petroleum als bestellten Bedarf für den Winter mit herübergebracht und[294]selber in den Holzschopf befördern helfen, da Hans erklärt hatte, er stelle es nicht in den Keller. Am Holzschopf, der unter die Scheune eingebaut war, brannte es noch lange nicht, als die Feuerwehr kam. In zwei Minuten hätte man das gefährliche Ding in die Wiese hinausgerollt und unschädlich gemacht gehabt. Schon waren sie im schönsten Zuge gewesen, das meiste zu retten - und jetzt - kaum mehr Hoffnung auf den sechsten Teil und die leeren Wände. Und was das schlimmste war, die köstliche Fahrhabe, das Vieh, befand sich wohl schon gerettet außerhalb der Ställe, erschrak aber so sehr über dem Donnerschlag und dem herniederprasselndem Funkenregen, daß auch von den Rindern einige noch kopfüber in die Flammen rannten oder wenigstens im allgemeinen Einsturz schwer zu schaden kamen. Oh, diese Vergeßlichkeit. Fägschmied stieß sich die Fäuste in die Augenhöhlen.

Aber hatte denn keiner von den Seeauern daran denken können? Er suchte den Pächter. Der saß immer noch untätig auf dem Baumstrunk und verfolgte auf das genaueste die Zerstörung des kleinen Quergiebels dort über dem Schweinestall, wie die dünnere Wand bereits hinausgebrannt war, wie nur noch die Strebebalken und auch sie schon ganz verkohlt sich hielten, wie dann endlich der eine sank und der andere nachstürzte. Auf den unablässig Beobachtenden rannte nun Fägschmied los: "Hast denn du nicht daran gedacht?" Doch, er hatte dran gedacht. "Du Hagel!" Prickelnden Spott sprühten jetzt Hiesebs Augen. "Du Hagel!" Fägschmied brüllte vor Wut. Ruhig erwiderte Hieseb:[295] "Hast du jetzt gesehen, wer Meister ist, ihr oder das Feuer?" "Du Strahlhagel!" Beinahe hätte ihm Fägschmied eins versetzt.

Unter dem Gesinde und den Löschleuten ging indessen die Ansicht dahin, Hieseb sei eben vor Schrecken vom Verstand gekommen, was schließlich bei der Häufung und Schwere der ihn treffenden Unglücksfälle nicht zum Verwundern sei. Sein eigentümliches Gebahren hätte sogar den Verdacht eigenhändiger Brandstiftung nahegelegt, wenn das nicht den rein praktisch rechnenden Leuten nach Unterlassung der Versicherung als der helle, unbegreifliche Wahnsinn erschienen wäre. Wie um sie Lügen zu strafen, nahm sich nun aber Hans mit einemmal der Vorgänge an. Er verordnete, was mit den lberbleibseln an Gut und Vieh anzustellen sei und suchte seine Schwester und die Sohnsfrau auf, die, selber nur notdürftig verhüllt und halberfroren sich an einem geschützten Orte in Sicherheit gebracht hatten und sich daselbst von Zeit zu Zeit tiefer in die Tücher und Decken gruben. Hier sei ihres Bleibens nicht länger; sie wollten ans Land. Er rief einen willfährigen Menschen herbei, das Boot zu rüsten. Die zitternden Frauen wurden hineingehoben und Hieseb stieg nach. Der Knecht setzte an, das Schiff kam in Lauf und glitt bis auf die eintönigen Ruderschläge geräuschlos in die Fläche hinaus. Die feine, weiße Schaumlinie, die es bei Tage hinter sich nachzog, war nun ein hellroter Faden.

Hans Hieseb saß rückwärts und sein Gesicht wurde von der Brandstätte her blutrot angeschienen. Daß er[296]so die Seeau verlassen mußte! Aber ihm ging nicht der Abschied zu Herzen. Die Opferflamme dort drüben, die noch immer gen Himmel loderte, griff mit ihrer hundertfingerigen Hand bis auf den untersten Grund seiner Seele. Und er saß und starrte. Ein welkes törichtes Lächeln öffnete ihm den Mund. Er zwinkerte mit den stieren Augen, in denen die letzte Träne versiegt war und lispelte nur immer: "Eben so etwas! Eben so etwas!" Aber in seine wundersame Andacht mischte sich auch die heimlich triumphierende, pfiffige Freude des schlauen Bauern, daß er mit der Erkenntnis der Wege Gottes eben doch auch dem lieben Gott über die Schliche gekommen sei.

[297]

Elftes Kapitel.

Auf der Poststation, die dem väterlichen Rottmatthofe am nächsten lag, bestellte Hieseb einen Einspänner. Die Schwester und die Sohnsfrau saßen im Wirtshause und stärkten sich vor der Weiterfahrt. Er selbst setzte sich draußen auf die Bank. Das Chaischen war eben eingespannt vors Haus geführt worden; es stand aber bereits ein kleiner Bauernwagen ebenfalls ohne Aufsicht da und zwar so, daß die beiden Pferde vielleicht auf fünf Schritt Abstand sich die Köpfe zudrehten. Das Bauernpferd hatte seinen Futternapf an den Kopf gebunden und fraß geruhsam. Das Chaisenpferd, das eben aus dem Stall kam und da jedenfalls sein Teil gehabt hatte, mißgönnte dem andern das Fressen. Obwohl die Bremse fest zugedreht war, riß es sich mit einem Satz dicht heran und belästigte es durch Stöße mit dem Kopf, so daß dieses nur in einer sehr unbequemen Seitenhaltung überhaupt weiterfressen und nur hie und da mit einem Gegenschlag sich wieder etwas Luft verschaffen konnte. Hieseb verfolgte den Vorgang mit Spannung. Nun nicht dazwischen fahren! Er wollte doch sehen, wohin die Mißgunst noch führe. Und wieder ging das Chaisenpferd dem andern zu Leibe,[298]worüber Gewieher und Getrampel entstand. Noch kauend kam der Fuhrmann herausgerannt und führte seinen Bauernwagen um sich selbst herum, so daß das Roß nun in umgekehrter Richtung stand und sich unbehelligt seines Futters freuen konnte; doch ging er nicht hinein, ohne dem ihm unbekannten Bauern derb die Meinung gesagt zu haben. "Bist du denn bei Trost! Sitzest da wie ein Pfund Schnitz und rührst dich nicht. Konntest du nicht zuspringen und den Kaiben eins über die Schnauze geben." Und in der Tat, Hieseb empfand fast etwas wie Scham, daß er so gar nichts mehr von den praktischen Antrieben des rechten Bauern in sich trage. Dieses kleine Erlebnis brachte den Entschluß in ihm zur Reife, sich auf keinen Fall auf dem väterlichen Hofe halten zu lassen, sondern wieder nach Neuenach zurückzukehren und von seinem Rechte der Armenverpflegung Gebrauch zu machen. Eine lange Lebensdauer schrieb er sich insgeheim doch nicht mehr zu.

Als dann das Einspännerchen hinter dem mäßig trabenden Braunen her von der Landstraße in die Zufahrt einbog, die den Rotmatthof mit der Außenwelt verband, näherte sich der über achtzigjährige Sebastian Hieseb dem Gefährt und empfing seine Familie, Sohn, Tochter und Enkelsfrau mit patriarchalischer Würde. Die Botschaft von dem neuen Unglück, der Feuersbrunst, brachte ihn nicht um seine Fassung; einmal nahm er mit der Ergebenheit eines Hochbetagten den Untergang eines Wohlstandes nicht mehr so schwer und dann war das doch wenigstens der Anlaß zu der ihm sehr erwünschten Übersiedelung geworden. Und stand denn[299]nicht der schönste Ersatz bereit? Und der Enkel hatte sogar Hoffnung auf Nachkommenschaft hinterlassen! "He so nun so dann!" sagte er zu den Ankömmlingen, "ihr seid doch da."

Die junge Frau hatte die Fahrt gut überstanden, sie lag nun oben in Susanns ehemaliger Jungfernkammer und schlief friedlich in ihr neues Dasein hinüber. Auch Susann lebte den Umständen gemäß bald auf und griff, da sie alles noch so ziemlich an seinem Platze fand, ohne weiteres wieder in das Hausregiment ein, als wäre sie nicht zwanzig Jahre, sondern eben ein paar Stündchen über Land gewesen. Der alte Hieseb, dem auf der Welt nichts mehr willkommen sein konnte, als sich wieder als Familienoberhaupt zu fühlen, wurde über diesen plötzlich wieder auflebenden alten Zeiten außerordentlich zubaß; er holte nach dem Nachtkaffee noch eine Maß Landwein samt einem gehörigen Stück Käse und brachte Tabak zum Schnupfen und Tabak zum Rauchen, ja er bezeugte nicht übel Lust zu einem Königsjaß, da sie doch drei seien und Susann es auch könne, wurde aber mit diesem unpassenden Vorschlage von ihr heimgeschickt; damit hätte es, dünkte sie, noch Zeit. Selbst Hans war aufgeräumt und bekundete offenen Anteil an seinem Wiedersehen mit der langentbehrten Heimat. Er ließ sich vom Knecht mit der Laterne durch Scheune und Stall begleiten, fand Vieh und Dinge nach Anzahl und Ordnung noch wie vor Zeiten. Als er heraustrat, streifte er mit einem Blick das Scheunentor: ein Dreschflegel hing genau an der Stelle, wo jener bewußte ge[300]hangen hatte. Dann bog er für einen Augenblick um die Ecke, nur um zu sehen, wo es eigentlich gewesen war und wie alles so hatte gehen können. Das gelbe unsichere Ampellicht drang durch die Scheiben ins Freie. Drinnen gewahrte er noch eben die eine Tischecke, an der, genau wie damals, der Vater saß; an dem Rest, der ihm durch die Fensterwand verdeckt war, konnten doch wieder Fägschmied, Wegmann und der Korberfranz sitzen - warum denn nicht? Wieder pfiff und stürmte der Nachtwind. Da trat er einen Schritt vor, beugte sich näher und sah Susanns gute, friedliche Gestalt.

Erst am andern Morgen gab er seinen Vorsatz bekannt und erregte Entsetzen und Bestürzung. In zwei Stunden werde er aufbrechen, er müsse heut noch heim. Heim? War er denn nicht zu Hause? Was wollte er in Neuenach, wo er alles verloren und sich selbst überdies mehr als unmöglich gemacht hatte? Lief er denn nicht Gefahr, sogleich aufgegriffen und ins Gefängnis geworfen zu werden? Susann schlug die Hände über dem Kopfe zusammen; er war also doch zum Narren geworden über dem vielen Ungemach. Was? Und nie mehr wiederkommen wollte er? Pfründer werden unten im "Kloster" bei den armen Leuten und Siechen? Um endlich im Elend zu verkommen? Hans sprach ihr gütig zu und dankte ihr für ihr gutes Herz. Er müsse seine Ruhe noch finden auf den Rest seiner Tage hin, sagte er, und da wäre es das schlimmste was er tun könnte, sich hier zur Ruhe zu se tzeen. Er zog die Wertpapiere aus seiner Tashe und legte sie auf den Tisch, entfaltete ein Vermächtnis all diesen Besitzes zu Gunsten[301]von Hansleus Kind mit Nutznießungsrecht für dessen Mutter und bat, man möchte bei der Taufe, falls es ein Knabe sei, unter den dem Kinde beizulegenden Namen auch den Sankt Leugelts nicht vergessen, damit die Seeauer Abzweigung in den Schicksalen des Bauerngeschlechts auf der Rotmatt ihr Denkmal erhalte. Susann geriet außer sich, daß er so von hinnen wolle, ohne noch den Ausgang abzuwarten, ob sich sein Stamm erhalten werde oder nicht. Aber Hieseb sagte, er würde nur eine Fessel mehr sein, die er zu sprengen hätte.

Der alte Vater war längst schon stillscheigend auf und nieder gegangen in der Stube mit trippelnden, unruhigen Schritten, in lebhaftem Selbstgespräch begriffen. Dann pflanzte er sich vor dem Sohne auf mit seinem ganzen Ansehen. Hans hatte schon zum Hute gegriffen. Er sah verfallener und gebeugter aus, als sein wetterharter Vater, dessen dünes weißes Ringelhaar auf der rosenroten Kopfhaut wie Flaum von Eiderdaunen schimmerte. "Willst du nun Raison annehmen," sagte er, als wäre er wieder wie vor fünfzig Jahren Wachtmeister im neapolitanischen Schweizerregiment. "Ich schaffe auch noch, und da will ein junger Mann wie du bist, einfach mir nichts dir nichts, drausstellen? Vorwärts, den Karst in die Hand und aufs Kartoffelfeld mit dir!"

Und er griff nach einem knorrigen Weichselstock, der hinter der Tür stand. Hans aber hatte bereits Susann die Hände gereicht und sich von ihr umarmen lassen. Seine Schwiegertochter Rosi, die man noch hatte schlafen lassen, wünschte er nicht mehr zu sehen. Neben dem Vater[302]vorüber, der es erst noch sehen wollte, ob er wirklich einen Ausreißer zum Sohne habe, war er durch die Türe ins Freie getreten und wollte noch zum letztenmal sprechen. Da erhob der alte Bauer voll Ingrimm den Stock gegen ihn und rief mit heiserer Stimme: "So geh', du Torenbub, du nichtsnutziger, bist immer ein Zwänger gewesen und hast alles verunschickt, was dir unter die Hände kam. Jetzt willst du deinen alten, steifen Vater, der bald unter den Boden muß, mit dem Weibervolk im Stich lassen? Pfui! Schäme dich! Fluch über dich!"

Susann schluchzte auf. Hinter dem halbgeöffneten Scheunentor standen ängstlich lauschend Knecht und Magd. Oben klirrte das Kammerfenster. "Aber Vater - Vater, wo willst du hin?" schrie Rosi aus dem Fenster; "bei allen Heiligen doch nicht etwa fort! Was soll aus uns werden, wenn du von uns gehst?" Da fuhr es Hans durchs Herz. Er wandte sich ab und wankte unter den Bäumen der Landstraße zu. An der Ecke, wo die Mark des Anwesens zu Ende ging, stand er noch einmal still und warf einen langen Blick über das Gehöft seiner Väter - den Wald, das Mattland, den Baumgarten und das hohe, rauschende Strohdach, hinter dem eine Gruppe von drei Pappeln mächtig gen Himmel ragte. Dann raffte er sich auf und schüttelte den Staub der Heimat von seinen Füßen.

Zu Neuenach hatte man sich über die Feuersbrunst lange nicht beruhigt. Am zweiten Abend noch steckte das "Schifflein" voll saufender, rauchender, fluchender, johlender Menschen, wie es nicht anders zu erwarten[303]stand nach dem Ereignis der vorvergangenen Nacht. Denn eine willkommenere Gelegenheit zum Faulenzen fand sich nicht. Da wurde denn die tüchtige, aber als Bürgerpflicht doch selbstverständliche Arbeit breitgetreten und zur Heldentat aufgebauscht. Fägschmied ließ einen Doppelliter - er sagte jetzt nicht mehr Maß - um den andern auffahren samt Zigarren und Käse, wofür seiner Umsicht und Tapferkeit beim Brande unbegrenzte Huldigungen zu teil wurden. Unter dem Deckmantel einer nicht zu verdrängenden Feierlichkeit herrschte die fröhlichste Laune. Zunächst drehte sich alles um die Frage, was nun aus der Seeau werde. Man wurde rätig, eine Meinung in Umlauf zu setzen, wonach dem Wandel der öffentlichen Bedürfnisse Rechnung zu tragen sei. Die Meierei eingehen zu lassen, liege um so näher, als mit der Zerstörung der Wirtschaftsgebäude die Notwendigkeit einer nochmaligen Verpachtung wegfalle. Wie viel mehr käme es dem öffentlichen Wohlgefallen an dem schmucken Eiländchen entgegen, würde ein Wildpark daraus, für den die Umhegung durch die Natur schon geschaffen sei: ein leichtes Schweizerhäuschen erwiese sich zur Wohnung des Forsthüters und zur Bewirtung der Sonntagsgäste ausreichend. Und dann gab Fägschmied eine gedrängte Übersicht, wie nach seiner Ansicht etwa der Wirtschaftsbetrieb auf der Seeau an die Hand genommen und in neue Bahnen geleitet werden sollte. Dies alles dergestalt zu erörtern war um so angebrachter, als das Gerücht von den bevorstehenden letztwilligen Zuwendungen des Kreuzwirtes immerfort lautbar blieben.

[304]

Zum Brande zurückkehrend, brachte das Trinkgespräch noch allerlei gelungene Stücklein zur nachträglichen Kenntnis. Einer von den friedlichen Marodören, die den Schutt auf Überreste durchstöberten, hatte ein Blech mit gedörrten Pflaumen aus dem eingestürzten Feuerherd gezogen und förderte nun die überheizten und bis auf die Kerne eingeschrumpften Früchte zur allgemeinen Verfügung aus seiner Tasche zu Tage. Da wurde unvermeidlich jeder Witz, mochte er noch so naheliegen, mindestens zweimal gerissen und jeden belohnte dröhnendes Gelächter. Daraufhin griff wieder mehr ein ernster Ton Platz. Man war der Brandstifterin auf die Spur gekommen; der wachsame Schnauz hatte mit seinem unablässigen Bellen nicht geruht, bis der Busch, in dem die Verbrecherin kauerte, durchsucht worden war. Und als neuestes hatte der Landjäger die Nachricht gebracht, die Alte sei von ihrem Sohn, dem Korberfranz, beinahe erwürgt worden und habe sich daraufhin im Gefängnis aufgehängt.

Dann kam die Rede auf die Versicherungsgesellschaften. Es seien alle recht. Aber am nobelsten erstatte doch diejenige, die Zumbühl vertrete. Da mache es auch noch Freude, seine Police zu zahlen. Und nun gehe wahrhaftig der Tropf von Hieseb - Bei diesen Worten geschah es, daß der Gerufene eintrat. Sein unerwartetes Erscheinen wirkte Erstaunen, da es schon hieß, er sei über alle Berge und wisse warum. Indessen das allgemeine Mitleid, dessen er sicher gewesen wäre, hatte er bereits in der Unglücksnacht durch sein herrisches unverständliches Auftreten vollständig eingebüßt.

[305]

Er sagte zunächst kein Wort, grüßte nicht, sah nicht um sich, sondern setzte sich schweigend in die hinterste Ecke, wo er sich für einen Dreier Roten geben ließ, den er gleich bezahlte. Als er dann hin und wieder angesprochen wurde, antwortete ererst nicht. Dann aber legte er los und ging gleich tüchtig ins Zeug, noch immer ein Meister in der Fähigkeit, dem andern hänselnd und spöttelnd alle Schande zu sagen: "Oh, was seid ihr für himmeltraurige Herrgottshunde; bildet euch ein, was Wunders ihr vermögt mit euren Spritzen und Pumpen und ergreift das Hasenpanier vor einem Petrolfäßchen, nehmt Reißaus vor einem Petrolfäßchen!" Seiner Angriffe erwehrte man sich mit Rohheit, schrie ihm die unflätigsten Dinge ins Gesicht. Ja, man beschuldigte ihn der Hehlerschaft, da er um das Vorhaben seiner saubern Verwandten gewußt haben müsse. In diesem Getöse wartete er allemal eine Windstille ab und brachte dann, ohne irgendwie seine schwache Stimme anzustrengen oder sonst Zeichen einer Erregung von sich zu geben, seine Antworten an. Eine jede saß wie ein schöner Fechterhieb. Dann trank er aus und wankte mit dem Ausdruck unsäglicher Verachtung in Blick und Gebahren zwischen den Tischen hindurch hinaus. "Leck Böck!" murmelte er, "leck böck!" als von allen Seiten her die Schimpfworte niederprasselten.

Obwohl die Anstifterin sich der irdischen Gerechtigkeit entzogen hatte, fand die Seeauer Feuersbrunst doch ihr Nachspiel vor Gericht. Da Hieseb im Verhör zugab,[306] den Brand nicht in seinem Keime erstickt zu haben, wiewohl er den Ausbruch wahrscheinlich noch zu verhindern vermocht hätte, ebenso zugab, an das Fäßchen Petroleum im Speicher rechtzeitig haben erinnern zu können, verfiel er der Anklage auf grobe Fahrlässigkeit. Als die drei hauptsächlichen Zeugen traten auf seine alten Freunde: der Pfarrer, Fägschmied, Ambrosmen. Sie wirkten einmütig auf mildernde Umstände; an der Rechtschaffenheit des Angeklagten sei in keinem Falle zu zweifeln, nur hätten eben schwere Lebenserfahrungen sein Gemüt belastet und wohl auch seinem Verstande einigen Abbruch getan. Darauf kam Hieseb zum Wort. Er musterte die Geschworenen, unter denen außer Zumbühl und Doktor Wanger sogar ein Stadtammann und andere Notabilitäten saßen. Vor ihnen legte er ruhig und mit bewußter Würde Zeugnis ab von sich selber. "Schaut ihr Herren, der Fägschmied Kasper hat sich wohl einen schweren Bauch angemästet und dennoch ist er nur ein sprenzelmagerer Kostgänger am Tische unseres Herrgotts. Der Spittelpfleger brächte es nicht übers Herz, einem Maikäfer ein Bein auszuzerren; aber er sieht die Welt durch eine schwarze Brille an, denn er ist ein Betstündler. Und der Pfarrer Sandhuber hat sich wohl von der Universität ein Köfferchen voll schöner Vorträge mitgebracht; aber von den Dingen unseres lieben Herrgotts versteht er einen Deut. Ich will nun ja nicht gesagt haben, daß ich etwa mehr davon verstanden habe; ich fing an daraufloszuregieren und meinte die Welt bliebe stehen, wenn nicht alles nach meinem Steckkopf ginge. Dann kam der Herrgott und[307]hat mirs Regieren abgenommen, und je mehr er mir abnahm, desto leichter ist es mir geworden, den Rest auch noch fahren zu lassen. Und darum hab' ich auch meine verteufelte Base ruhig mit dem Zündholz hantieren sehen und ohne Widerrede Ja und Amen dazu gesagt. Macht euch einen Vers darauf, wenn ihr könnt, und wenn ihr's nicht könnt, dann sag' ich: "Leck Böck, ihr Herren!‘ Es kommt doch, wie es kommt!"

Der Gerichtshof brachte die Sonderbarkeiten Hiesebs bereitwillig in Rechnung und konnte es verantworten in Anbetracht von Hiesebs offenbar verwirrtem Geisteszustand, ihm die Gefängnisstrafe zu erlassen. Das Gericht hatte überdies auch über den Korberfranz abzuurteilen, der beschuldigt war, über seine eigene Mutter hergefallen zu sein, als man sie aus dem Gebüsch zog, und sie so grausam gewürgt zu haben, daß sie beinahe den Geist aufgab, und vielleicht aus Gram darüber sich im Gefängnis selbst entleibte. Dabei war weniger die zweifelhafte Körperverletzung, als die dabei zu Tage tretende rohe Gesinnung strafbar oder doch insoweit fragwürdig erschienen, daß sie eine öffentliche Zurechtweisung erheischte: ein Sohn, der Hand an seine Mutter legte!

Korberfranz war immer noch der kleine lebhafte, etwas verwachsene krummbeinige Zigeuner, bis auf die blauen treuherzigen Augen, die sein verwildertes Gesicht verklärten. Als er aufgerufen wurde, konnte er vor Aufregung lange nicht sprechen und stieß dann abgehackt hervor: "Ja, gewürgt hab' ich sie, und hätt' ich sie erwürgt, es wäre mir gleich. Ich bin ihr Bub; gut, aber[308]was kann ich dafür? Wäre sie mir eine Mutter gewesen, so wie andere eine Mutter haben" - er brach in Tränen aus und schluckte lange, ehe er weiterfahren konnte - "ich habe immer recht getan - nun, daß ich als Unterweiser Apfel stahl, das kommt vor. Aber ich habe doch seither streng geschafft, manche hundert Körbe geflochten und manches tausend Besen gebunden und aus meinem ersten Buben ist etwas geworden, und der Herr Spittelpfleger Ambrosmen ist so gut gewesen und hat mir einen Schulmeister aus ihm gemacht und einen Leutnant dazu. Und da soll ihm nun jeder kommen und ihm nachsagen können, seines Vaters Mutter sei eine Brandstifterin gewesen -" Abermals verlor er die Fassung und knickte auf seinem Stuhl zusammen, laut weinend. Die Richter drangen nicht weiter in ihn und gaben ihn ebenfalls frei.

Bevor sich jedoch das Gericht auflöste, kam der Obmann, ein alter Bezirksrichter in weißem Barte, noch auf die sonderbaren Anzeichen der heute erledigten Fälle zu reden: "Wohin sind wir doch gekommen! Der eine gebärdet sich gotteslästerlich aus zweifelhafter Frömmigkeit, der andere tritt das Sittengesetz mit Füßen aus einem konfusen Gerechtigkeitsgefühl heraus, das wir an ihm nicht verdammen durften. Sollte sich etwa die heutzutage oft zu vernehmende Klage bewahrheiten vom Niedergang der guten alten Tage und von der krausen Beschaffenheit der neuen Zeit, da das Unterste sich zu oberst stülpt und Recht sich in Unrecht verkehrt und Unrecht in Recht?"

[309]

Das nächste Leugeltsfest sah die Seeau in einem neuen Zustande. Ihr Gönner, Jakob Rübstiehl, hatte zu Anfang des Winters das Zeitliche gesegnet und das Vermächtnis war alsbald in ganzem Umfang in Kraft getreten. Schon bei Lebzeiten hatte aus der bloßen Anwartschaft der Bau des Chalet in Angriff genommen werden können, so daß an Stelle der niedergebrannten Liegenschaft ein luftiges Bernerhäuschen die von der Kapelle herführende Allee abschloß. Ein Förster sollte es bewohnen und den Wildstand beaufsichtigen. Mit der Ansiedelung der Rehe und eines Hirschpaares wurde im Frühjahr begonnen. Zugleich sollte das Häuschen die früher betriebene Sommerwirtschaft ersetzen. Dagegen blieb das geplante "Museum" dem idyllischen Fleckchen erspart. Der Stifter hatte den Unsinn dieser Absicht noch rechtzeitig erkannt und so waren der Einbaum und das Kanonenrohr samt den Steinhämmern und einigen Ammonshörnern ins kantonale Zeughaus gewandert, während ein größeres Fossil, das von einem Brillengixer untersucht und mit einem lateinischen Namen bedacht worden war, für ein schweres Geld nach London verkauft wurde.

Neuenach hatte allen Grund, sich seines Mitbürgers Rübstiehl zu freuen. Die Gemeinde beschloß, aus dem Erlöse des Fossils eine eherne Gedenktafel am Findling auf das nächste Fest anbringen zu lassen. Da wurde sie feierlich eingeweiht. Im Namen der Kantonsregierung war Franz Buchelfinger erschienen: er hielt vom erratischen Block auf die bevölkerte Waldwiese hinunter eine schöne Rede und pries den verstorbenen[310]Stifter glücklich, weil es ihm gelungen sei, sich über das Grab hinaus die Achtung und Liebe seiner Mitbürger wach zu halten, nicht zum wenigsten auch durch sein reizendes Büchlein über die Seeau, dem die Mannigfaltigkeit der darin angewendeten Gesichtspunkte einen bleibenden Wert sichern. Dann fuhr er fort: "Überhaupt, ich kann und darf heute kein Blatt vor den Mund nehmen. Es wäre zur Unzeit geschwiegen. Ihr Neuenachener seid ein eigenes und beneidenswertes Völklein. Ihr habt es aus eigener Kraft bewiesen, daß es einen Fortschritt gibt - ich meine damit nicht das parteipolitische Schlagwort - sondern die sittlich bürgerliche Kraft, den Fortschritt zum Guten. Wahrhaftig, ihr habt eure Zeit nicht verloren, habt alles drangesetzt, vorwärts zu kommen, im materiellen wie im geistigen. Jeder von euch ist um ein hübsches Teil weiter gegen früher. Ein paar Stücklein Vieh mehr im Stall, ein paar Ackerlein mehr hinter dem Baumgarten. Ich sagte das auch sinnbildlich. Ihr seid reifer geworden: ihr habt aus dem, was ihr besaßet, heraus zugesetzt, habt mit euren Pfründen gewuchert. Mit einem Wort: Ihr habt euren Mann gestellt jeder an seinem Platz und euch damit zu einem kleinen aber notwendigen Bestandteilchen herangebildet in dem allgemeinen Aufschwung unsres lieben und schönen Landes. Das ist und bleibt das Gemeinsame, das jeder mit dem andern teilt, dieses Streben nach bürgerlicher Tüchtigkeit, dieses sich Zubereiten des einzelnen auf die Gemeinschaft, mit einem Wort - einem Dichterwort - dieses: 'Ans Vaterland, ans teure schließ dich an!' Oder um noch an die De[311]vise der opferfreudigen Bruderliebe zu erinnern: "Alle für einen und einer für alle!" Nach diesem rednerischen Meisterstück konnte sich der alte Warmbacher kurz fassen.

Prächtig stand er da, ein ehrwürdiger Greis im Silberhaar, in ungebrochener Kraft, in wahrer Herrscherhaltung, noch bewußt altmodisch angetan mit langem blauen Gehrock und feuerroter Weste. Festen Schrittes trat er vor, lüftete seinen breiten Bürgermeisterfilz mit patriarchalischer Gebärde und sprach: "Ich kann mich dem geehrten Vorredner nur voll und ganz anschließen. Hut ab vor Jakob Rübstiehl! Friede seiner Asche! Ehre seinem Andenken! Sei ihm die Erde leicht, wie ich schon bei der Beerdigung gesagt habe. Wir haben noch nie einen solchen Ammann gehabt und werden keinen solchen mehr bekommen. Ich muß es wissen, denn ich bin nicht nur sein Vorgänger, sondern auch sein Nachfolger. Also nochmals: Einer für alle und alle für einen. Und nun falle die Hülle von der Gedenktafel." Das wogende, feiertäglich geputzte Volk drängte sich herzu, und wer sehen konnte, las von dem braungoldenem Bronzeschilde: "Dem Sohne der Seeau, Jakob Rübstiehl das dankbare Neuenach." "Präzis!" dröhnte Fägschmieds Beifall, "besser kann man das gar nicht sagen!"

Zur Bewältigung der Festwirtschaft reichte der ehemalige Platz unter den Platanen längst nicht aus. Die Geländer waren niedergelgt und bis weit in die Matten hinein saß das Volk an den vollbesetzten Tischen beim ländlichen Imbiß. Am Ehrentisch ging es, kaum hatte[312]die Erholung begonnen, lebhaft zu. Statthalter Buchelfinger brach plötzlich ein Andenken vom Zaun, das er bei einigen wenigen unter den Anwesenden nicht oder jedenfalls nicht so zu wecken brauchte. "Aber hört, liebe Leute," sagte er unversehens, ziemlich wegwerfend, wenn nicht gar vorwurfsvoll, "der - wie heißt er doch gleich? Der Armenhäusler - das ist aber ein kurioser Heiliger." Nun seine Schwester, die Pfarrfrau! Als hätte sie nur darauf gewartet: "Nicht so, Franz, nicht so!" Und ihre Stimme klang bewegt, mit bitterm Weh untermischt. Zur Unterstützung fuhr auch Doktor Wanger auf: "Zum Donnerwetter, damit soll man uns heute nicht kommen. Offen gestanden, Herr Statthalter, wenn Sie ihn gekannt hätten, wie ich." Buchelfinger sah die beiden nacheinander an. "Aber was wollt ihr denn auf einmal? Man sollte wirklich meinen! Steht mir etwa hierüber nicht zu reden zu? Habe nicht ich ihm den Ehrenbrief überreichen dürfen? Kann es mir da gleichgültig sein, daß er bei einem Haar ins Gefängnis kam. Er wußte eben nicht, was er tat. Unglück und Krankheit brachten ihn von Sinnen. Es ist gut, daß man das zu seiner Entschuldigung anführen kann." Wanger hatte ruhig zugehört, jetzt aber legte er seiner Lebhaftigkeit keine Zügel an: "Ich denke, wo es sich um Krankheit handelt, steht mir zu reden zu. Ich kann nur sagen, Unglück und Krankheit haben ihm den Sinn nicht getrübt, sondern erleuchtet. Jedenfalls hat er mir ein Licht aufgesteckt." "Dann lassen Sie es bitte leuchten," versetzte Buchelfinger nicht unfreundlich, "ich werde keinen Schirm davor auf[313]spannen." Der Doktor spürte die Unmöglichkeit in zwei Worten zu sagen, was er auf dem Herzen hatte. Er setzte zögernd und unsicher ein und kam erst nach und nach in Eifer: "Also, ich will es versuchen. Er hat erst mehr Glück und dann mehr Unglück gehabt, als Unsereiner. Beachtet dieses 'Mehr‘. Es besagt eigentlich alles. Wir fischen mit einem Faden, der drei Ellen lang ist, er mit einem von zehn Ellen. Kein Wunder, daß bei ihm andere Fische anbissen als bei uns. Oder unser Lebensboot sinkt einen Fuß tief ins Wasser: die Furche erregt keine bemerkliche Welle. Nehmt aber ein Dampfschiff, so geraten alle kleineren Fahrzeuge ringsum ins Schaukeln. Und wenn's dann ans Abrechnen geht, worauf es ja doch einmal hinausläuft; bei Unsereinem stimmt vielleicht alles sauber auf den Rappen, aber am Schluß heißt es, Null von Null geht auf. Bei ihm dagegen war ein Überschuß da: Setze drei, behalte sieben! Und wenn ich also zusammenfassen soll, was er vor uns voraus hat, so möchte ich sagen: die längere Angelschnur, den größeren Tiefgang, den unbegriffenen Rest. Und da mögt ihr nun alle miteinander noch so eifrig tun von sittlicher Persönlichkeit und Bürgertugend, darin müßte all unser Geben und Trachten aufgehen, und wie diese schönen Phrasen lauten. Fehlgeschossen, sag' ich, zehnmal fehlgeschossen. Wer wirklich den göttlichen Funken in sich hat, bei dem geht es eben nicht auf, und gerade im Überschüssigen sitzt ihm der Funken." Der Statthalter Buchelfinger spürte die Kritik seiner Festrede durch. Die hätte er an und für sich schon hin[314]genommen, da er weder eitel noch unbelehrbar war und außerdem auf Wangers Urteil große Stücke hielt. Aber diesmal ging er ihm zu weit; das griff ihm das Höchste, Beste an, das er in sich trug. "Mit Verlaub, Doktor, Sie brauchen sich gar nicht so zu ereifern," entgegnete er ruhig, aber doch nicht ohne eine gewisse unverhohlene Angstlichkeit, "in diesem Punkt werden wir uns offenbar nicht verständigen. Daß unser bürgerliches Ideal zum reinsten Ausdruck komme in dem Lebenslauf eines nicht ohne eigene Schuld heruntergekommenen und verarmten Menschen - nein, da mach' ich nicht mit. Übrigens liegt auch in meinem Widerspruch kein Vorwurf gegen Ihren Schützling persönlich. Was wollen Sie: ein Ultramontaner - ein Sonderbündler! Da nützt kein Flicken und Bessern. Einmal wird sich seine Herkunft eben doch geltend machen, und er wird sich gegen Gesetz und Ordnung aufzulehnen nicht scheuen - ja sich noch etwas darauf zu gute tun, wie es bei dem da deutlich der Fall war. Ich bleibe dabei: es geht nichts über die bürgerliche Tüchtigkeit, die unter guten Eidgenossen Brauch ist. Ein hochgespannter, bogenkurviger Lebenslauf hat an und für sich nicht das geringste vor einem schlicht gemächlichen und geraden voraus." "Bestreit ich ja gar nicht," fiel Wanger ein. "Ich habe auch meine Zeit gehabt, wo ich eine bessere Losung nicht kannte als: gleiches Recht allen Schweizern. Ich bin auch nicht anderer Meinung, es bleibt etwas Gutes und Schönes, aber die Hauptsache ist es doch nicht am Leben, es bleibt nicht das Letzte. Uber der Sitte und[315]über dem Recht seh' ich einen höheren Himmel aufgetan. Und er, der arme, sieche Bettler hat mir den Blick dafür geöffnet. Die Hauptsache bleibt, daß jeder mit seinem Schicksal ins Reine kommt. Schließlich mein' ich doch: die Gesamtheit ist um des Einzelnen willen da - und nicht umgekehrt. So lange es beim Einzelnen nicht stimmt, darf es auch in der Gemeinschaft nicht stimmen. Zu guterletzt sind wir alle nur auf unsere zwei Beine gestellt. Und da mein ich nun, damit hat eben Hieseb Ernst gemacht. Er steht ganz allein auf sich selber. An seinem Beispiel bin ich mir klar geworden darüber, worauf es bei uns Menschen zuletzt ankommt - langsam mit den Jahren klar geworden - ja, so recht aufgegangen ist es mir erst, seit ich von seinem Absterben - denn lang' treibt er's nicht mehr - rückwärts durch sein ganzes Leben hindurchsehe, so der Innenwand entlang, verstehen Sie?"

Nun fühlte sich Sandhuber verpflichtet, die beiden geäußerten Meinungen vermittelnd ins schwebende Recht zu bringen. Er hatte über der langen Aussprache aus dem weichen Innern seines Stückes Brot ein allerdings unkenntliches Gebilde zurechtgeknetet; das ließ er nun fahren und verwandte seine beiden Hände zu angelegentlichen, rund ausholenden Gebärden: "Das arme Menschendasein, an das du gerührt hast, lieber Schwager, gebietet uns schweigende Einkehr in uns selbst. Welch ein merkwürdiges Stück Leben, in dem ein wahrhaft göttlicher Duldersinn gepaart war mit einer wahrhaft höllischen Vermessenheit. Wir werden wohl bald zum Staube betten, was an ihm[316]Staub war, der Gute ist sehr übelmögend. Das Unverständliche und nach unserem sittlichen Maßstabe vielleicht auch Unrechte wird ein anderer richten. Fürwahr wenn einer, so kann er mit Hiob sprechen, dem größten Dulder aller Zeiten - vorbehalten den allergrößten -: Nackt kam ich aus meiner Mutter Schoß und nackt werd' ich dahin zurückkehren. Freuen wir uns, daß für ihn eine Ruhe vorhanden sein wird, und laß uns dann über seinem Grabe sprechen: Schlaf in Frieden, müder Bruder.

Am Honoratiorentisch, wo diese Rede geführt wurden, saß auch der Friedensrichter Zumbühl. Er vertrat in Neuenach, man könnte sagen, einen nicht ansteckenden und daher nicht gemeingefährlichen Niedergang. Wohl stiftete er noch von ungefähr Frieden, ohne sich jedoch große Sorgen zu machen, ob er in jedem Fall auch wirklich Gutes stifte. Früher hatte er in diesen Dingen schärfer zugesehen. Jetzt wurde er eben auch älter; die Hauptsache war ihm schließlich, daß man ihn in Frieden ließ. Und so schnäpselte er denn still vor sich hin. Sein Gemüt litt dabei nicht einmal großen Schaden. Gerade an dem Mann, von dem jetzt die Rede war, hatte es sich bewährt. Je mehr es bergab mit ihm gegangen war, desto herzlicher fühlte Zumbühl für ihn. Gesagt hatte er es ihm nicht; er sagte überhaupt nicht so leicht etwas. Aber damals nach der Gerichtsverhandlung versicherte ihm Zumbühl: es sei nun alles gut - besonders über das mit der Police sei Gras gewachsen. Die stille Genugtuung über dieses Wort zur rechten Zeit wurde[317]er ebensowenig los, wie die ungeschwächte Freude an jenem stillen Dienst, durch den einst Hieseb sein Glück gemacht hatte. In sanfter, versöhnlicher Wehmut dachte er, eins ins andere gerechnet, doch recht oft an den Freund. Schweigend hatte er zugehört. Er suchte immerfort an seinem Weine herum, als hätte er etwas in dem Glase verloren. Es war ihm eine Träne hineingefallen, eine richtige Träne. Nun sah er den Blick des Pfarrers auf ihn gerichtet wie aus Unsicherheit, ob noch etwas beizufügen wäre und ihn zur Fortsetzung einlade. Und da hätte er nicht der gute Kerl mehr sein müssen, der er auch bei allem Niedergang zu sein nie aufgehört hatte, wenn er nun nicht Farbe bekannte. Mit der Bündigkeit, die sich in zunehmendem Alter wenigstens dann bei ihm einstellte, wenn es Ernst galt, gab er weiter nichts als den einen Satz zum besten: "Das Ehrenschildlein für den Kreuzwirt Rübstiehl kommt mir doch nur vor wie die Tschinerette in der Blechmusik mit ihrem Tschimbedibum." Es war ihm vollständig einerlei, ob der Tiefsinn dieses Ausspruches begriffen wurde oder nicht; er, Zumbühl, wußte, was er damit sagen wollte.

Die allgemeine Tafelung war beendet. Die Schwingspiele begannen. Ihnen sollte der Tanz felgen. Das Volk entfaltete sich und zerstreute sich über die ganze Insel. Ohne Überlegung und irgendwelche Rechenschaft über den sonderbaren Stand und Wandel der Dinge wunderte es sich nicht, daß auf Wunsch des erkrankten und auf Versöhnung bedachten Rübstiehl nun auf einmal der Warmbacher wieder an[318]der Spitze des Gemeinwesens stand und keiner ihm weder Ruf noch Ansehen bemängelte - wunderte es sich nicht über Fägschmied, der nun das "Weiße Kreuz" gekauft und die Posthalterei überrommen hatte und von seiner Frau und vielen Kindern umgeben den von Regierungswegen gerühmten Aufschwung Neuenachs aufs beste verkörperte - wunderte es sich nicht über den Korberfranz, der, ebenfalls kinderreicher Familienvater, das Besengeschäft noch so gern aufgesteckt hatte, als ihn Fägschmied auf das von ihm verlassene "Schifflein" setzte - wunderte es sich endlich nicht einmal über den Spittelpfleger Ambrosmen. Samuel Ambrosmen hatte über der ihn beseelenden Hingabe an andere sich selbst zuguterletzt doch nicht so ganz vergessen, und nach mehr als zwanzigjähriger stiller Liebe eine Mitgenossin seiner religiösen Absonderung geehelicht, jene ehemalige Kammerjungfer der Frau Sandhuber vor deren Heirat, und seitdem die Kleinkindergärtnerin der Umgegend. "Zuerst mußte das mit dem Leutnant und Schulmeister in Ordnung sein" - erwiderte er auf die Glückwünsche, "dann erst durfte ich an mich denken." Nun wandelte er glücklich selbzweit durch die Menge, als ein lebendiges Sinnbild volkstümlicher Gerechtigkeit.

[319]

Zwölftes Kapitel.

Als Hieseb von seinem Versorgungsrecht Gebrauch machte, hätten seine langjährigen Beziehungen zum Spital ihm eine Aufnahme in der sogenannten guten Pfrund ermöglichen können, wenn er nicht durch sein störrisches Benehmen seit dem Brande jede Aussicht auf eine nur einigermaßen annehmbare Gestaltung seiner letzten Lebenstage verschlechtert hätte. Als er von dem Pflegerkollegium vernommen wurde, verbat er sich leidenschaftlich jede andere Unterkunft als das Armenhaus.

Dieses lag als äußerster Teil der alten Klostergebäude gegenüber dem "Schifflein" am Seeufer im Angesicht der Insel. Hieseb flehte förmlich, ihn möglichst von den übrigen abzusondern, und da verschiedene Anzeichen darauf deuteten, man habe es mit einem Krebskranken zu tun, der bald durch seinen unerträglichen Geruch in den gemeinsamen Sälen lästig fallen könnte, so schlug der Spittelpfleger Ambrosmen seinem Vetter vor, ein bewohnbares Gemach im Kellerraum, ehemals eine Backstube zu beziehen. Es war seit langem zum erstenmal, daß Hieseb daraufhin mit einer Zusage auch laut und vernehmlich seinen Dank verband. Da[320] durch den ehemaligen Backofen dem Hause noch immer die Hauptwärme zugeführt wurde, so ermöglichte das auch für den Winter den Aufenthalt in dem Gelaß. Sonst freilich bestand die Ausstattung aus Lehmboden, feuchten Steinwänden, einem Strohsack, einer rohgezimmerten Bank und einem in der Mitte des Raumes gelegenen Aschenhaufen, der die Abfälle bei der Räumung des Ofens aufnahm, und von Zeit zu Zeit abgetragen wurde. Dort saß Hieseb tagsüber meistens gänzlich in sich zusammengekauert, in einem elenden, erdfarbenen Zwilchrock, den Rücken der Türe zu, und wer dann etwa hineinspähte, und ihn von hinten so da sitzen sah, ohne es zu wissen, was er war, mußte noch am ehesten glauben, es sei ein Sack Kartoffeln, den man auf der Asche abgestellt habe, und der nahe daran sei, umzufallen. Mit Ambrosmen, der ja nun wieder wie in alten Tagen sein Brotherr geworden war, so daß wie damals sein Dasein von dessen Wohlwollen hauptsächlich bestimmt wurde, unterhielt er sich darum immer wieder am liebsten, weil der sich alles bieter ließ und seiner Spottlust eine breite Zielfläche bdt. Hans war alles andere als ein Kopfhänger geworden, ja, je elender und kläglicher sein äußerer Zustand durch den Fortschritt der heimtückischen Krankheit wurde, um so wohler und freier schien ihm manchmal zu Mute zu sein. Seine Lebhaftigkeit konnte keine Grenzen kennen, sein Seelenbedürfnis ebensowenig. So konnte Ambrosmen, wenn er es gut traf, eine ihm selber angenehme und in Wahrheit erbauliche Unterhaltung bei seinem Vetter vorfinden. Doch tat er jedenfalls besser daran, ein[321]williges Gehör, statt Widerspruch mit hinzubringen. Manchmal aber hielt es ihn nicht länger; er mußte dem so wenig gedemütigten Dulder den Standpunkt klarmachen.

Als nun wieder einmal bei Hieseb eine überschwängliche und durch nichts gerechtfertigte Zuversicht auf die Schönheit der Welt und des Lebens zum Durchbruch gelangte und zu einem völlig unverständlichen Strom von Jubel und Dank anschwoll, fühlte sich Ambrosmen, dem es mit diesen Dingen wahrhaftig auch ernst war, doch verpflichtet, einzuschreiten. So raunte er ihm zur Erweckung eines ergebeneren Geistes in verdrießlichem und mahnendem Tone zu: "Und der Mann, den du im Krieg erschlugst? Und dein Unrecht damals an Ursula? Und Hansleu, dein Sohn? Und daß du die Brunst nicht gelöscht hast?" Aber Hieseb schüttelte mit dem Kopfe und deutete mit dem Finger nach der Stirne: "Vettermann," machte er überlegen, "du wirst alle Tage dümmer!" Unmittelbar daran schloß er die schalkhafte oder richtiger die unverschämte Frage, die Ambrosmen allerdings nicht durchschauen konnte, und deshalb auch in ihrer Bosheit nicht verstand: "Ich muß nachher zum Doktor, soll ich vielleicht den Kakadu von dir grüßen?" In Doktor Wangers Wartstube stand in einem großen, glockenhaften Käfig ein prächtiger, rot und grüner Papagei, der zum Ergötzen der Patienten sehr gesprächig war. Vor diesem, so ging in Neuenach die Rede, sollte Ambrosmen eines Tages staunend gestanden haben, da er eines so bunten und glänzenden Federviehs noch nie ansichtig geworden[322] war. Er lief rings um den Käfig herum und betrachtete das gefiederte Wunder tiefsinnig von allen Seiten. Da plötzlich sagte das Wesen laut und deutlich: "Guten Tag!" Ambrosmen traute seinen Ohren nicht. Aber da nochmal - kecker, wie vergewissernd und den Zweifler scheltend: "Guten Tag! guten Tag!" Da trat mein Spittelschreiber gravitätisch drei Schritte hinter sich, zog seinen Hut und verbeugte sich tief mit dem Ausruf: "Verzeiht, ich habe gemeint, Ihr seiet ein Vogel." An der Geschichte war natürlich kein wahres Wort, aber er hatte sie unbewußt an sich sitzen wie eine Klette, die ein loser Junge ehrsamen Bürgern von hinten an den Rockschoß wirft.

Vor eben diesem Papagei stand Hieseb jetzt selber und freute sich, wie reich doch die Schöpfung bedacht sei, daß es außer den Störchen und Hühnern und Schwalben hiezuland noch so absonderlich ausgestattete Vögel gebe, die sogar sprechen konnten, gleich Menschen - als Wanger in die Türe trat und den Kranken in sein Zimmer rief. Hieseb fing an ihm ein Rätsel zu werden, weil er durch seinen Gemütszustand und durch die Abwesenheit lauter Klagen dies furchtbare Leiden, an dem er litt, förmlich Lügen strafte. Er hatte ihn deshalb kommen lassen, um gründlich Einsicht zu nehmen. Hieseb mußte sich ans Fenster setzen und ausziehen; Wanger erkannte alsbald, daß er keineswegs zu schwarz gesehen und fragte den Patienten ins Gesicht: "Warum gibst du denn deine Schmerzen nicht zu? Das ist doch keine Schande." "O ja, Doktor, es tut schon weh!" "Weh! Man meint, du hättest dich in[323]den Finger geschnitten oder wärest die Treppe hinuntergefallen." -"Nun ja - beides zusamengezählt, würde noch nicht viel ausmachen." So ließ er sich langsam hinaufsteigern, als habe er um ein Stück Vieh zu feilschen, bis er endlich gestand, "o doch, es sei schon, um alle Wände hinaufzugehen und auf der Sau davon zu reiten." Als nun aber Wanger in ihn drang, warum er sich denn aber so zusammennehme, ja, wie es ihm überhaupt möglich sei, sich dergestalt zu bemeistern, da legte er sein Gesicht in sehr ernste Falten, gerade als schicke er sich an, ein Geheimnis eigener Erfindung preiszugeben. "Doktor," sagte er, "es hat lange gedauert, bis ich dahinter gekommen bin, jetzt aber hab ich es heraus." Wanger faßte ihn scharf ins Auge. Die Haut war lederfahl wie eine welke Birnenschale, oder wo sie sich noch lebhaftere Farbe bewahrt hatte, strohgelb. "Nun, sag' es mir nur."

Da eröffnete ihm Hieseb zögernd und mit großer Wichtigkeit, weshalb er auch leiser sprach als sonst - die Schmerzen, die seinen Leib zerrissen, hätte er mit der Zeit auf zweierlei Wehgefühle zurückführen lernen: da sei ein Schmerz, der lärme die ganze Zeit und schieße einher, wie früher sein Rattenfänger, wenn er hinter den Hühnern her gewesen sei und nicht gewußt habe, wie bellen und kläffen. Und so heiße er diesen Schmerz denn schlechthin Schnauz und befehlige ihn, wie dazumal das Tier. "Du magst es mir nun glauben oder nicht, Doktor, er folgt mir. Wenn ich recht deutlich rufe: 'Schnauz, an'n Platz!' 'Leg dich Schnauz!' so wird's besser. Nicht immer - der alte Schnauz war[324] auch nicht immer willig - ich muß oft zwei und dreimal rufen. Und wenn er dann eine Zeitlang hübsch still gehalten hat, dann macht er sich langsam wieder an mich heran, fängt an, mir schön zu tun und zu schweifwedeln und bittet und bettelt oder knurrt, bis ich ihn dann eben wieder laufen lasse, und da kann er wieder eine Zeitlang rennen und toben, wenn er nur gleich wieder pariert, sobald ich rufe."

"Aber," fuhr Hieseb fort, "dieser Hundeschmerz ist noch der gutmütigere, weil ich ihn immer um mich habe, so wie eben solch einen Haushund, der immer um einen herum ist und ohne den man es bald nicht mehr machen könne, da ist aber manchmal noch ein anderer Schmerz, viel seltener, aber um so klobiger, das ist am Hunde gemessen der reine Stier, der rollt die Augen und stößt mit den Hörnern und schlägt mit den Hinterbeinen aus, daß man gar nicht mehr weiß, wohin fliehen. Denn etwas anderes ist vor dem Stierenschmerz nicht möglich, als sich auf und davon zu machen, so gut es noch geht. Den kann man lang beim Namen rufen: 'Mani, Mani, was hast du denn nur? Mach' nicht dumm, Mani?' - helfen will alles das nicht, und das beste ist dann eben abzuwarten, bis er von selber aufhört. Und der ist's, Doktor, der mich einmal auf die Hörner nimmt und an die Mauer schmeißt."

Wanger sagte nichts, auch nicht als Hieseb schwieg. Erst als dieser ihn bat, ihm nun aber zu sagen, wie lange er es voraussichtlich noch treiben werde, nicht aus Angst möchte er es wissen, und auch nicht aus Wunderfitz, sondern um sich seine Zeit einteilen zu können, sagte[325]er einfach: "Ich meine, Hans, den Sommer über solltest du's noch machen, und wenn's geht, so kannst du es auch noch schneien sehen, aber nicht mehr manchmal. "Gut," versetzte dieser in größter Seelenruhe, "das ist ungefähr, wie ich mir es aus mir selber gedacht habe.

Im Hochsommer fühlte sich Hieseb etwas besser. Er konnte ausgehen und ging denn auch und setzte sich auf dem Dorfplatz der zwischen "Kloster" und "Schifflein" lag, auf die runde Bank, nicht unter die uralte Dorflinde, sondern unter den Freiheitsbaum, der etwas daneben stand.

Ein herrlicher Tag war am Verkühlen. Die Luft verträumte sich im schwindenden Sonnenglanz und leisem Bienengesumms. Kinder spielten um den Dorfbrunnen. Wer etwa vorüberging, sagte "Guten Abend!" Drüben lag die Seeau in lauter hellen Farben, in einem keuschen, jungfräulichen Lichte wie eine selige, unberührte Insel; der See strahlte, als spiegele er eine zarte Morgenröte wieder. Dahinter schmolz eine weiche Ferne das Gelände ein.

Da kam Arnold Sandhuber des Weges, sah den Alten da sitzen, setzte sich zu ihm, sagte aber nichts. Da fragte Hieseb: "Was hast du da für ein Buch unter dem Arm?" Arnold schlug die hebräische Bibel auf. "Was sind das für Krähenfüße. Steht da etwas vom Hiob drin. An den Hiob muß ich halt immer denken, seit es mir so gegangen ist" - "Das kann ich wohl begreifen, Vater Hieseb, auch mir ist der Hiob einer von den liebsten Menschen geworden, und ich kann Euch nachher vom[326] Blatt weg seine Sprüche übersetzen." "Kuhwarm!" begriff Hieseb - nicht in unpassendem Witz, sondern als ihm nächstliegenden Ausdruck. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Es wäre zu viel von ihm verlangt, er solle die Jacke, die er sein ganzes Leben im Stall getragen und die dementsprechend aussah und duftete, auf sein Alter hin noch wechseln. - "Aber die Freunde? Waren nicht Freunde bei ihm gewesen? Die sagten ihm, wie er's nicht machen sollte, sonst sündige er." Hieseb erinnerte sich dunkel.

"Ganz recht, die Freunde!" rief der Student, "gut, also die Freunde! Ja, da könnt Ihr ebenso gut an Eure eigenen denken. Der eine etwa ein Spittelpfleger, der zweite ein geistlicher Herr, der dritte ein Friedensrichter und dann vielleicht hinten drein noch ein vierter, der die Post hatte, obgleich es ja das damals noch nicht so gab. Aber nehmen wir einmal an, diese vier. Nun die sagten allerdings zu Hiob, er mache alles verkehrt und er werde sehen, die Strafe treffe ihn schon noch - der eine, weil er nicht Sonntag für Sonntag zur Kirche ging, der andere, weil er nicht in jeder Gemeindeverziner gehe statt nur zu ihm und der vierte, weil er die Feuerpolice nicht länger habe zahlen wollen. Aber der Hiob hat ihnen den Meister gezeigt -" Die andächtige Sammlung auf Hiesebs Gesicht zerriß über dem Aufblitzen einer diebischen Freude: "Halt, halt, ich weiß schon, was er zu ihnen gesagt hat, leck Böck, hat er zu ihnen gesagt, gelt Noldi, leck Böck?" Er zog den zahnlosen Mund aus einander zwischen den hervorstehenden[327]Backenknochen und seine Augen verrieten noch einmal den ganzen Schelm.

Da knüpfte Arnold, unversehens und ohne eine rechte Ahnung seines Tuns, über die Jahrtausende hinweg einen Zusammenhang von dem Quell der Oase bis an den blauen Schweizersee und erzählte von Hiob als dem Manne, der sich von Gott seinem Bedrücker hinweg an denselben Gott wie an seinen Bluträcher gewendet habe. Er blätterte sich zurecht und verdeutschte vom Blatt weg aus dem heiligen Gedichte: "Oh, daß ich noch wäre wie in den Tagen meines Sommers mit der Freundschaft Gottes über meinem Zelt, als der Allmächtige noch bei mir war und meine Knaben rings um mich her, als ich zum Stadttor hinaufging und auf dem Marktplatze meinen Sitz aufschlug. Mir hörten sie zu und schwiegen still und harreten meines Rates. Ich bestimmte ihr Handeln, saß da als ihr Haupt und thronte unter ihnen wie im Heerbann der König. Wo ein Ohr nur hörte, pries es mich glücklich, und ein Auge nur sah, rühmte es von mir. Und ich dachte: Mit meinem Neste werde ich erst untergehen und lange Tage sehen wie der rot und grüne Zaubervogel. Meine Wurzel steht dem Wasser offen, der Tau bringt die Nacht in meinen Zweigen zu. Meine Würde ist immer neu bei mir. In meiner Hand verjüngt sich mein Bogen. Und jetzt bin ich ihr Spottlied geworden, sie zeigen mit Fingern auf mich, treten mit Abscheu weg von mir. Und meine Seele fließt aus in mir, die Schrecken des Elends ergreifen mich! Die Nacht bohrt mir die Knochen an und meine Nager schlafen nicht!" - "Schnauz, leg' dich![328]Schnauz am Platz!" rief plötzlich Hieseb mit großer Anstrengung.

Arnold unterbrach sich und bemerkte, wie er zornig um sich blickte. Was war nur? Seinen Rattenfänger hatte er abtun lassen. Und weit und breit war kein Hund dieses Namens. Von Arnold nahm der Alte jetzt nicht länger Notiz, auch als der Schnauz für diesmal wieder vorüber war. Er sprach unverständlich mit sich selber. Seine verwelkten Lippen blieben fest aufeinander gepreßt und verschwanden ganz, so daß an Stelle des Mundes nur eine tiefe Falte lag. Vor seinen roten, wimperlosen Augen flimmerten tänzelnde, flämmelnde Buchstaben: "D.i e.S.e.e.a.u.e.i n.e. G.l.ü .c.k.s.i.n.s.e.l."

Seine Seele begann außer Leibes zu wandeln und verfing sich in unglaublichen, zeitlosen Gedanken. In hundert, in aberhundert Jahren sollte man den Hieseb aufsuchen drüben, wenn er selber wieder zurückgekehrt war. Dann wollte er ihnen die Seeau zeigen, wie viel, viel schöner sie geworden sei. Die Eschen und Ulmen hatten alle purpurrote Stämme und zwischen den blauen und den goldenen Blättern saßen lauter Papageien und Paradiesvögel und sangen und redeten und wünschten einen guten Tag. Hieseb erhob lauschend sein Haupt und hielt das eine Ohr gehaldet, der Baumkrone zu. "Guten Tag," machte es da oben. Und "Koko! Koko!" Er wiederholte jetzt diesen Namen vernehmlich. Er spitzte den Mund wie zum Flöten und brachte einige langgezogene Pfeiftöne zustande. Arnold meinte einen Augenblick, des Doktors Papagei, der Koko hieß, sei[329]entkommen und sitze im Freiheitsbaum und Hieseb rufe ihn. Aber vom Vogel war ebensowenig eine Spur zu entdecken, wie eben noch vom Hund. Da wurde Arnold schaudernd inne, der Alte rede irre. Behutsam stahl er sich von seiner Seite weg. Scheu sah er sich um, ob der Armste noch für einen Gruß empfänglich sei. Aber der saß da angelegentlich beschäftigt, und lauschte und nickte und redete. Er saß nicht unter dem Freiheitsbaum. Er wandelte ja doch drüben auf der Insel, auf seiner Insel. Zwei Papageien! Drei! Vier! Ein ganzes Dutzend! Sie hakten sich mit den Krummschnäbeln ein, krallten sich mit den Füßen fest, bildeten eine Kette von einem Baum zum andern, schwangen, flöteten, kreischten und verführten ein solches fremdartiges und paradiesisches Wesen, daß an den taktmäßig gewiegten Asten die goldgelben Blätter sich loslösten und Hieseb inmitten des kostbaren Regens stand. Er haschte eines auf und prüfte es und steckte das dünne Goldblech zu sich. Nicht daß ihm dann einer kam und ihm die Echtheit abstritt. Sie sollten selbst befühlen, ob da nicht alles übermäßig köstlich vorhanden sei, und auch der letzte Zweifel mußte verstummen. Sie sollten sich überzeugen: der Hiob⸗Hieseb war wieder zu Ehren gekommen, der gekrönte Dulder waltete in einem fabelhaften Reich der Herrlichkeit als König. Er kauerte nicht mehr auf seinem Aschenhaufen. Er steckte nicht mehr in seinen engen und schmierigen Stallkleidern. Er ging in einen weiten wallenden Mantel gehüllt, jeden Tag in einem andern, heute in einem gelben und morgen in einem violetten. Und er wohnte in einem herrlichen Zelte,[330] das man ihm auf der Brandstätte errichtet hatte. Seine Diener waren schwarze Türken mit mächtigen Zozzelkappen und prächtigen Pumphosen. Wer zu ihm kommen wollte, wurde umsonst unter den Platanen bewirtet und konnte haben, was sein Herz begehrte. Aber Ursula mußte da sein - und Hansleu und Rosi und Hansleus Kind - und die Schwester mußte die Kohlköpfe in einem gläsernen Kristallkübel rüsten. - - - - -

Um dieselbe Zeit fügte es sich, daß Frau Pfarrer Sandhuber und Doktor Wanger auf einem Saumpfade am Seeufer von ungefähr zusammentrafen. Die Aussprache ergab sich zwanglos. Sie hatten beide nur darauf gewartet, um unter sich ein Verständnis zu befestigen, für das sie sich auf einander angewiesen sahen. "Er hat sein Leben durchgekämpft, wie, ich wüßte nicht, wer sonst von uns," sagte Wanger, indem er vor der Pfarrfrau herschritt, "erst den Kampf um sein eigenes Dasein, dann zum Wohle der Gesamtheit - das übersah damals Ihr Herr Bruder: Hieseb hat für das Gesamtwohl viel getan - und nun, da er hätte anfangen können von Macht und Stärke zu reden, da ist ihm die Natur zuvorgekommen und hat ihm ihre Allmacht offenbart. Er zeigte, daß er ein Weiser war. Er sagte ja, streckte die Hände willig auf und gab ihr, was er von ihr alles hatte, ihr auch willig zurück, eins ums andere. Erst wunderte er sich, dann bewunderte er und schließlich staunte er und betete an." Wanger hörte auf zu sprechen. Ein abschüssiger Fußsteig über Wurzeln und Baumstümpfe verlor sich auf die schrägen Felsplatten des Ufergesteins. Dort blieben sie stehen. Noch war[331]es taghell. Der See bot auf die Seeau hinaus einen freien, großen Ausblick: ein breites Wasserband und die verblauende Lagerung des dahinter anhebenden Berglandes.

Frau Sandhuber faßte sich ein Herz: "So wie Sie denken, das wissen Sie, Herr Doktor - damit reiche ich nicht aus. Ich bin anspruchsvoller - schwächer, wenn Sie wollen. Ich muß einen mehr mit im Spiele haben." - "Da bin ich doch zu allerletzt ein Spielverderber," versetzte Wanger sehr sanft, - "sprechen Sie sichss vom Herzen: das letzte Wort über unsern - Freund, das ist er doch?" Die Frau nickte stil. - "Ja, aber was denn? Ein armer Sünder? Der eben noch so durchs Hintertürchen in den Himmel kommt?" Sie richtete einen hellen, entscheidenden Blick auf den Fragenden; nun vermochte sie zu reden: "Nein, nicht wie ein armer Sünder durchs Hintertürchen! Wenn ein Mensch, so wünscht er sich die tausend Zungen und den tausendfachen Mund, um damit in die Wette ein Loblied nach dem andern anzuheben. Seine Stimme ruft der Sonne; sein Blut wallt mit Jauchzen, jeder Puls ein Dank, ieder Odem ein Lied. Die grünen Blätter in den Wäldern, die schwanken Gräschen, die Blumen müssen lieblich mit ihm einstimmen. Und, das größte - er küßt die Zuchtrute, die ihm aufgebunden ist - ihm ein Zeichen, daß er geliebt wird. So reißt er sich von den schnöden Eitelkeiten los, singt von Güte, regt die Zunge zu Freudenopfern!

Und wenn der Mund wird kraftlos sein

So stimm' ich doch mit Seufzen ein. -
[332]

Ich erschrecke; sagen Sie: tue ich unrecht, hier Worte anzuwenden, die eigentlich heiligen Dingen zum Ausdruck dienen? - Helfen Sie! Raten Sie! Muß es beim Riß bleiben? Findet sich denn da gar kein Einklang? Soll weder Beten noch Hoffen fruchten?" Weiter brachte sie es nicht. Sie wandte sich von ihrem Begleiter ab. Er sah es ihr am Rücken an, daß ein jäher Krampf sie von unten nach oben durchzuckte, und folgte ihr nicht, als sie ging. Mit Ehrfurcht betrachtete er an der Stelle, wo sie gestanden hatte, die paar feuchten dunkeln Tupfen auf dem eisgrauen Strandstein, bis eine Welle kam, die höher reichte als die andern, und darüber hineinflutete.

Fünfundzwanzig Jahre sollten sich demnächst erfüllen seit den stürmischen Zeiten der bürgerkriegerischen Waffengewalt, aus der dann die Schweiz als eine neue in sich beruhigte und wohl gefestigte Eidgenossenschaft hervorgegangen war. Nicht das unrühmlichste Anzeichen für die ihr innewohnende Tüchtigkeit machte sich in der Unzufriedenheit über jene erstmalige Errungenschaft und in dem unablässigen Streben nach größerer Vollkommenheit geltend. Und so geschah es denn, daß dieses zu begehende Gedächtnis neue Unruhen und Wirrungen mahnend unterbrach. Bei der Wiederkehr des Novembertages, an dem das entscheidende Treffen geschlagen worden war, sammelten sich aller Orten die ehemaligen Teilnehmer jener ernsten Feldübung in den[333]Mittelpunkten ihrer Bezirke, und so erschienen denn auch unter der Dorflinde und dem Friedensbaum von Neuenach einige sechzig Mann in der Absicht, in Reih und Glied zum nächsten Städtchen zu ziehen, dort auf eine größere Schar Veteranen zu stoßen und mit diesen zusammen eine würdige, durch die Ansprache eines Ständerates zu krönende Feier abzuhalten, dann aber wieder auf dem kürzesten Wege, nämlich mit der nun fertig gestellten Seebahn heimzukehren und den Abend im Weißen Kreuz gemeinsam zu begehen.

Die meisten harrten bereits auf dem Platze, der Pfarrer, der Friedensrichter, der Schiffleinwirt, der Spittelschreiber, oder wie er nun größerer Ehren halber hieß, der Spittelpfleger, auch Pfleger schlechthin, nicht zu vergessen den kleinen Korberfranz; denn er war es, der heute alle Kombattanten von Siebenundvierzig unbestreitbar in den Schatten stellte. Schon äußerlich bekundete sich diese Auszeichnung in dem von seinem Gönner Ambrosmen ererbten Zylinder von abenteuerlicher Form und Farbe und in einem aus derselben Quelle stammenden dunkelblauen Nachtmahlsrock, dessen lange Schöße sich an einem kleineren als dem ursprünglich beabsichtigten Träger besonders großartig ausnahmen. Schließlich fehlte nur noch der Schifferfritz, wie Wegmann auch als Eisenbähnler noch immer hieß, weshalb erst der Elfuhr-Zug abgewartet werden mußte. Da meldete sich auch schon ein Pfiff von dem nahen Stationshäuschen her und während sich die Anwesenden der durch das Signal geweckten, noch lange nicht veralteten Freude über den doch schon vor[334]Wochen erreichten Anschluß an die allgemeine Civilisation ein neues Mal überließen, kam der Erwartete mit beschleunigten Schritten die einmündende Gasse herunter marschiert. Seine Brust zierte der strahlend rote Tragriemen seiner Zugführertasche und sein Gesicht ein triumphierendes Lächeln, als trüge er das Großkreuz der Ehrenlegion.

Als sie nun alle vollzählig versammelt waren, die Blechmusik und die gesamte weibliche Zuhörerschaft des Dorfes samt den Schulkindern rings um sie herum, rief auf einmal eine helle jugendliche Stimme: "Antreten! Auf zwei Glieder!" und als die Gruppe der Jubilare dem Befehle gemäß sich lichtete und einer möglichst geradlinigen und parallelen Neugestaltung zustrebte, sah man einen kleingewachsenen jungen Mann, dem eben der erste Flaum ums Kinn flockte, ein Bambusstöckchen wie einen gezogenen Degen führend, mit angelegentlicher Miene und schneidig durchgedrückten Knieescheiben auf und ab stolzieren. Es konnte kein Zweifel bestehen, daß dem Jüngling das Kommando über die würdige Schar zustand.

An einigen Orten der Schweiz herrscht der Brauch, bei derartigen militärischen Gedächtnisparaden ausgedienter Soldaten den jüngsten Leutnant der Gegend aufzutreiben und ihn für diesen Tag mit dem Oberbefehl über die Grauköpfe zu betrauen. In Anwendung dieser Sitte entfiel der Ehrendienst diesmal auf den jungen Gemeindeschullehrer des Dorfes, auf dessen Offiziersbrevet die Tinte noch nicht trocken war. Nun deckte sich diese gegenwärtige Hauptperson mit dem[335] erstgeboprenen Sohne des braven Alt⸗Besenbinders Korberfranz, daher dessen große Glorie am heutigen Tag.

"Achtung!" gebot der junge Häuptling und begab sich an den Flügel, um den vorgeschrittenen Ansprüchen einigermaßen genügende Richtung zu erzielen. Diesem Unternehmen stellte der dicke Fägschmied ein ernstliches Hindernis in den Weg, doch einigte man sich dahin, daß er sich, um nicht die Front zu schädigen, etwas über Gebühr ins hintere Glied hineinragen ließ. Die Feuerwaffen waren durch Stöcke oder Regenschirm genügend angedeutet, so daß der Befehlshaber, nachdem er in Rotten links hatte abbrechen lassen, ohne Umstände das Gewehr schultern ließ. Auf das Vorwärts! Marsch! setzten die Musikanten pünktlich ein und mit strahlenden Augen, überselig vor Vaterglück stiefelte Korberfranz, der mit dem Pfarrer, dem Friedensrichter und dem rotumgürteten Zugführer die erste Viererzeile bildete, hinter dem Traumbild seines Lebens her, dem von ihm dem Vaterlande gelieferten Leutnant⸗Schulmeister. Eine Viertelstunde später fuhr Doktor Wanger in seinem Einspännerchen ebenfalls dem Feste zu. Fehlen wollte er nicht; im Zuge mitgehen aber auch nicht gern und so verband er die Teilnahme an der Feier mit der Erledigung einiger Berufspflichten, die ihn in derselben Richtung entführten.

Das Dorf lag fast leblos. Nur aus den Schulstuben des "Klosters" klangen Kinderchöre. Dort vertrat Arnold Sandhuber für heute den Lehrer. Er erzählte den Kindern die Geschichte der Männer auf dem[336] Rütli. Dann sang er mit ihnen Vaterlandslieder und Choräle. Die Stube lag schräg über dem Kellerraum - Hieseb hörte singen. Auf allen Vieren kroch er von seinem Aschenhaufen nach der offenen Türe, zwei Schritte weit, erklomm eine Stufe und sah von da über die drei übrigen hin platt der ebenen Erde entlang. Die frische Winterluft befreite ihn von dem Modergeruch seiner eigenen Verwesung. Um seinen kahlen Schädel wehten die beiden Büschel Haare, die an den Seiten stehen geblieben waren. Mit seinen glanzlosen, leeren Augen schaute er aus, diesen erloschenen Augen, in deren Winkel es noch aufzuckte wie die Schwinge eines angeschossenen Vogels, der hilflos am Boden liegt.

Er sah nicht den See, nicht die kahlbewaldete Insel. Er sah eine schwarze Stahlplatte; darauf lag ein großer mächtiger Igel, der stellte seine Borsten und Stacheln steif auf. Über dem Igel schwebte mit ausgespreiteten Fittichen ein ungeheuerer grauer Geier. Aber sang denn der Geier so schön? - - - - - - - - - - - - - - - - - - -


Rechtsinhaber*in
ELTeC conversion

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2023). Swiss German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-gsw). Der Sonderbündler: ELTeC Ausgabe. Der Sonderbündler: ELTeC Ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001D-476E-7