Erstes Kapitel

gen seine Gewohnheit empfing Professor Zutreffer, der Chirurg an der schweizerischen Universität Pfalzmünster, unmittelbar vor Beginn der KAlinik rzinen Besuch. Er ging, die aufgeklappte Taschenuhr in der Hand, dem eintretenden Herrn entgegen:„Ach so! Berr von Schlotten!“

Dieser setzte sich erst, als Zutreffer sein Zögern nicht gelten ließ und fortfuhr:

„Na ja noch die paar Minuten! Was machen Sie denn?“ Zutreffer hatte im Feldzug von Siebzig ein Lazarett geleitet, sein erster Kuhm, und damals dem Vater seines Gastes durch einen beherzten Eingriff das Leben gerettet. Daher die Anhänglichkeit; es verzing kaum ein Jahr, daß man sich nicht sah.

Nur diesen, den ältesten Sohn, hatte er schon sehr lange nicht mehr zu Gesicht bekommen; denn er, der erst bei der Garde stand, bekam den Dienst satt und wurde Pflanzer. Es glückte ihm in Mittelamerika, und nun trieb er sich, so wußte Zutreffer, auf den Lebeplätzen von Mitteleuropa herum, ehe er mit seinem vielen

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Bernoulli, Zum Gesundgarten []Gelde dem Fideikommiß seiner Vorfahren zu Hilfe kam.

Wãhrend sie die nächsten Erkundigungen tauschten,genügte Zutreffer ein Blick auf den Freundessohn, wie er bei aller beibehaltenen Leutnantskorrektheit seine eigene Sprache zu reden wußte, wie aus der blasierten Ubersättigung ein frisches Wort, ein heller Blick hervorbrach, wie die gewölbten, makellos polierten rosaroten Fingernägel immerhin an einer breiten, gedrungenen Junkerhand saßen, einer Hand,die im gegebenen Falle zufaßte.

Im Gespräche ließ von Schlotten seine Blicke über die Bilder streifen, die hinter dem Schreibtisch an der Wand hingen: in Stichen und Lichtbildern eigenhändigerWidmung fünf, sechs Charakterköpfe moderner Chirurgen, die zeitgenössischen Operateure von Weltruf.

„Ja“, machte Zutreffer, indem er sich auf seinem Sessel hintenüberbog, „das sind wir Missetäter.“

Schlotten stand auf, sich eine martialische Kriegergestalt mit wallendem Barte näher anzusehen.

„Der das ist der Metzger unter uns“, knurrte Zutreffer, „wissen Sie mit Behagen! die Hemdsärmel nach hinten gestreift! im Blute watend! dem es auf ein paar Knochen mehr oder weniger nicht ankommt.“

Plötzlich lachte Schlotten:

„Wenn ich Ihnen nun aber beichte, Ihnen, daß ich Pensionär bin ich im Gereut oben herzleidend,Herr Professor, schwer herzleidend können Sie sich das vorstellen da bei dem sSie wissen doch, bei dem nun, bei dem “ [2] ĩ Zutreffer mußte die Ironie heraushören! Da schlug es aber im Flur die volle Stunde.

Ein junger Arzt im leinenen Kittelmantel öffnete die Tür und entfernte sich in den von Krankenschwestern und Heilgehilfen belebten Vorsaal.

Es fiel Schlotten auf, wie Zutreffer in diesem einen Moment es fertig brachte, zwischen ihm selbst und dem ihm unbekannten Assistenzarzte einen mißtrauischen Blick hin und her schießen zu lassen. Er hatte nun merklich die Empfindung sehr zur Unzeit gekommen zu sein und empfahl sich rasch.

Im Flur schlug es das akademische Viertel, die Studenten hatten ihre Plätze eingenommen, vorne in der Rotunde des kleinen Amphitheaters war alles zur Operation vorbereitet, der Patient, ein Dienstmädchen, auf dem Rollwagen aus der Abteilung herbeigefahren und das Journal des bisherigen Krankheitsverlaufes vorgelesen, als Zutreffer, das Blatt weglegend, der Einschläferung noch Einhalt tat.

Die Hilfsärzte zogen die Kappe mit dem Chloroform von dem Gesicht des kranken Mädchens zurück;die Schwestern legten die Uniegegend bloß, damit die Geschwulst zum Vorschein kam. Zutreffer rief einen der Zuhörer auf; der Student touchierte die Stelle zaghaft und stammelte von ungefähr seine Diagnose.

„Große Uung!“ nickte Zutreffer, „ich müßte mir da schon Zeit lassen.“

Der Student verwirrte sich noch mehr und murmelte hastig etwas von Geschwulst und Wucherung. [43] „Ich bin Laie,“ versetzte jener in demselben mokanten Tone, „ich verstehe nur klinische Ausdrücke.“

Der Student war aber mit seinem Latein zu Ende,wußte nichts und konnte seinen Platz wieder einnehmen. Dann sagte Zutreffer:

„Ich für mein Teil, meine Herren, würde unbedenklich die Operation vornehmen. Man kann aber auch zu milderen Schlüssen gelangen.“ Er wandte sich an jenen Assistenzarzt von vorhin, der in seinem leinenen Kittelmantel nun neben der Patientin stand:

„Legen Sie los. Ich weiß ja noch gar nicht, was Sie eigentlich meinen.“

Ein mäßiger Lysolgeruch erfüllte den Saal. Doktor Melchior Zwinger schickte sich zum Reden an, mußte aber erst noch ein Hemmnis in sich überwinden, ehe in ruhiger Wanderung dahinglitt. Die anwesenden Zuhörer verwunderten sich, wie ernst und entscheidungsbereit der Aufgerufene zu ihnen hinschaute.Sie legten die Federn aus der Hand und erwarteten die Neuigkeit. Wied Zwinger sträubte sich? Er hatte die Achseln gezuckt? Nun kam er zur Sache:

„Verehrtester Chef! Wenn Sie mich schon fragen!Allerdings! Für nötig halte ich den Eingriff nicht!Wozu denn da schneiden! Wir schwächen einfach die Patientin. Und wenn schon geschnitten sein muß,wäre es überhaupt zu früh. Je früher geschnitten wird, desto mehr Rezidive nachher.“

Unruhe und deutliches Murren unterbrachen den

˖[]Sprechenden. Zutreffer warf einen strafenden Blick durch seine goldene Brille nach den Bänken hinauf.

„Ich muß doch sehr bitten, meine Herren! Sie brauchen sich nicht aufzuregen. Das läßt sich alles hören. Der Herr Doktor wird seine Gründe haben.Passen Sie ruhig auf! Man hat nie ausgelernt.“

Es entwickelte sich eine Auseinandersetzung zwischen beiden über die Natur des vorliegenden Falles;Zwinger erging sich mit der Eindringlichkeit eines Anwalts, als handle es sich um die Freisprechung eines ungerecht Verdächtigten, während Zutreffer ihn nach und nach reden ließ und nur ab und zu nickte oder etwas dazwischen warf. Dann wurde das Dienstmädchen auf dem Rollwagen von dannen gefahren und die schon vorgerückte Stunde mit der Besichtigung einiger Verheilungen zu Ende geführt.

Kaum hatten die Arzte den Saal verlassen, so ging es bei den Studenten über Zwinger her; taktlos und unbotmäßig sei er stets gewesen. Indessen unterschieden sich im Tone der abfälligen Außerung zwei Gruppen. Einige vornehme junge Herren in hellen,dünnen Beinkleidern, dunkeln, langschößigen Schwalbenschwanzröcken und breiten schwarzen Halsbinden bedauerten den Vorfall, weil Zwinger ebenfalls einer Patrizierfamilie angehörte und, mit mehr als einem unter ihnen näher oder entfernter verwandt, jene gesamten Kreise mit in unliebsame Mitleidenschaft zog.Im übrigen regten sie sich nicht übermäßig auf, stellten vielmehr mit mitleidiger Sachlichkeit fest, er habe immer für einen Sonderling und spleenigen Men [3] schen gegolten und sich zum Entgelt dafür über alle Welt erhaben gefühlt. Als sie die Schultern hochzogen, um glatt in ihre gelben und grauen UÜberzieher zu schlüpfen, brachte dieses Achselzucken zugleich ihr maßvolles Bedauern zum Ausdruck.

Ganz anders unmißverständlich gingen einige Studenten vor, die im Gegensatz zu jenen Eleganten ein ungezwungenes, naturburschenhaftes Wesen zur Schau trugen und, weit entfernt, ihre Stimme näselnd zu dämpfen, in lautem Brusttone loslegten.

„Wasd? Eine Operation soll eine Verstümmelung seind Wo soll man denn da hinkommen, wenn man nicht einfach die Methode einer anerkannten Autorität anzunehmen hatd“

„Das ist eben wieder so ein Herrenbüblein, das sich wichtig machen mußte!“

„Abrigens höre ich, es sei das Dienstmädchen aus gesprochen hat.“

„Aha! Eisei! Nun, wenn dem so ist “ und helles Gelächter.

Zwinger trat, wie üblich nach der Klinik, ins Direktionszimmer.

Zutreffer griff ausnahmsweise nach einer halbleeren Flasche mit einer wasserklaren Flüssigkeit, der Etikette zufolge feinstes Kirschwasser, und hob sie fragend in die Höhe: [5] „Nun, Melchior, wie stehts damitd Kleines EmotionsKorrektivꝰ

Zwinger dankte.

„Hören Sie, eigentlich sind Sie doch ein empörend tugendhafter Mensch. Cut es Ihnen denn nicht weh,uns gewöhnliche Sterbliche immerzu halbwegs an den Pranger zu stellen.“

Er trat, nachdem erst seine Zigarre brannte, an den Arbeitstisch und schob weiße Blätter auseinander.

„Ich habe ausgesuchtes Pech. Jetzt hat aber seine Stunde geschlagen. Da seine gesammelten Werke!So viel Betten, so viel Totenscheine.“ Es war die Rede von einem Volontärarzte, dem Zutreffer in seiner überschätzenden Güte ein wie sich nun herausstellte verhängnisvoll ungerechtfertigtes Vertrauen geschenkt hatte. Er erfaßte die Bogen, faltete sie mit scharfem Kniff und stieß sie mit einem Ruck ins Fach zurück.

Dann nahm er die Brille ab und ließ sich in den Cederstuhl vor dem Schreibtisch fallen, worauf er die Beine überschlug, sich weit zurücklegte und mit der einen Hand zwei Mittelfinger der andern ergriff.

Nun mein lieber Melchior. Ich bin wahrhaftig seit zweiunddreißig Jahren Kliniker; aber so ein Exemplar wie Sie ist mir doch noch nicht vorgekommen. Sonst könnt ihr nicht genug drauf lossäbeln,als ob das alles nur Schinken wäre. Hingegen Sie!Es ist ja die helle Freude, Ihnen zuzusehen, wenn Sie erst einmal daran gehen! Aber bis man Sie soweit hat, was braucht es da nicht alles.“[]Er hob für einen Augenblick seine Brille gegen das Fenster und reinigte sie mit einem Lappen Hirschleder. Dann fuhr er fort:

„Daß ein halber Bildhauer in Ihnen steckt, hab ich schon vor Jahren gesagt. Sie sind einer von den Allzuvielseitigen. Wären Sie wenigstens musikalisch; das ist noch das einfachste Ventil, um den überschüssigen Dampf herauszulassen. Daklimpert und hämmert man in der Pause eine Sonate, ein Impromptu herunter oder phantasimpelt vor sich hin und erleichtert sich für die nächsten Stunden. Malen und Dichten läßt sich eher verkneifen. Aber so ein unausgetragener Plastiker ist schweres Geschütz. Da hätt' es mich gefreut, wenn Ihnen das biedere Handwerk eines rechtschaffenen Wundarztes über den Schaden hätte weghelfen können.Was nund?“Melchior saß Zutreffer gegenüber, dem Fenster zugekehrt. Er sah das Haupt seines Lehrers, auf dem blanken Grunde des vollen Tageslichtes, nachdrücklicher, gedrungener, wesentlicher als früher. Ein heller Umrißstreifen, dem braunen, leicht ergrauten Baar und Bart entlang, rahmte in dem schmalen Schattenkreis dieses Antlitzes eine Summe von Kraft,Güte und Klugheit zusammen. Ein ernstes Auge spendete das Licht: derselbe Blick, den Zutreffer stets im Augenblick vor einem entscheidenden Eingriff noch über den weißen entblößten Leib des ohnmächtig ausgestreckten Kranken warf, unmittelbar ehe er die rechte Hand mit dem gezückten Messer zum langen,öffnenden Schnitt erhob![]Und dieser Schule von Selbstzucht und Überlegenheit wollte er jetzt entlaufen, wollte sich eines Zieles entschlagen, das am Ende, wer weiß, wenn er alles daran setzte, ihm nicht unerreichbar blieb: es denen da einmal gleich zu tun, und auch so einer zu werden,einer von den Verehrten, Angestaunten, Siegenden!Er mußte sich auf die Lippen beißen.

Zutreffer nickte abermals.

„Nur nicht kopfscheu! Sie wissen, was Sie bei mir voraushaben. Seien Sie ketzerisch angehaucht so viel Sie wollen. So ein bißchen bin ich auch dabei. Aber,wenn ich bitten darf, innerhalb des Striches! Und wenn Sie tausendmal vor ein paar Jahren von uns aufgegeben gewesen sind und Ihre heutige Gesundheit einzig dem Brühentrank eines alten Kräutersuchers zu verdanken meinen! Mensch! Melchior!Für einen Narren halte ich Sie noch lange nicht, obschon ich Ihr Beginnen höchst töricht finde. Aber ich will nichts gesagt haben, zum Donnerwetter!“

Die Aussprache hätte länger gedauert, wäre nicht die Klingel am Haustelephon in TCätigkeit getreten.Zwinger sprang auf, den Anruf entgegenzunehmen.

„Es gilt mir“, sagte er, „ßZimmer Sechs: der amputierte Fuß.“

Zutreffer hatte über den letzten Erklärungen sein Gesicht in etwas strengere Falten gelegt; nun tat er ziemlich kurz angebunden, und ohne dem Hilfsarzt noch die Hand zu reichen, sagte er im kühlen Tone einer dienstlichen Mitteilung:

„Sie wollen es nicht anders; nun sehen Sie eben zu, [3] wie Sie fertig werden.“ Er ließ den Con in der Schwebe und blieb dem an der Türe Stehenden noch zugewendet.

Aber Zwinger verbeugte sich und ging.

Bei Licht betrachtet einfach unglaublich! Zutreffer setzte sich die Brille wieder auf, ging dreimal das lange Zimmer auf und ab:

„Verrückt! Einfach verrückt!“schrieb am Stehpult vier Zeilen, schellte dem Diener, ließ sich Stock, Hut und Mantel bringen und war eine Minute später draußen auf der Straße. Mit hochgezogenen Armen, den Stock im Rücken haltend,schritt er auf ein stattliches Patrizierhaus zu. Die blaue Renaissancefassade im Erdgeschoß war durch eine Flucht schmiedeeiserner Fenstergitter kunstvoll verschönert.

Es gehörte dem Stadtphysikus Volckhardt, einem der reichsten Bürger, der, ohne jemals bezahlte ärztliche Praxis ausgeübt zu haben, die Befugnisse der amtlichen Medizinalperson nun bald seit einem Menschenalter ehrenhalber wahrnahm.

Als Zutreffer über den Straßendamm hinüber auf den Torbogen zuschritt, öffnete sich der eine der schweren eichenen Türflügel, und der Stadtarzt trat zum Ausgehen fertig, noch einen Handschuh knöpfend, auf die um drei Stufen überhöhte Vortreppe.

Gleich winkte er und rief: „Weiß alles, weiß alles!“

In Wirklichkeit hatte ihn nur das allgemeine Gerede erreicht, das in Berufskreisen in Umlauf war und dahin lautete, der junge Zwinger sei an der ärztlichen Kunst ungefähr in derselben Weise irre geworden, wie

3 16 []sonst ein angehender Freidenker am väterlichen Glauben. Als Zutreffer mit den Einzelheiten herausrückte,dem Vorfall in der Klinik und dem noch jüngeren Geständnis Melchiors, da hätte keine Todes- oder sonstige Unglücksbotschaft den Stadtarzt in größere Bestürzung versetzen können.

„Nicht möglich! Nicht möglich! Pardon! Ich habe keine Zeit.“ So ließ er Zutreffer, seinen guten Freund, einfach stehen, ohne sich mehr umzusehen.

Er eilte im Sturmschritt die stille, kaum begangene Straße entlang, dann in gleicher Weise noch zwei andere, bergab führende hinunter, bis er, um die Ecke biegend, auf einem altertümlichen Platze, dem Fischmarkte,stand, dicht neben seinem Ziele, der Ratsapotheke. Mit ihrer hohen, altmodisch behaglichen Giebelfront stieg sie vor einem ziervollen gotischen Brunnen auf.

Das war wohl das älteste Geschäft; bei keinem sonst hätte sich durch manch gute hundert Jahre hinauf sein Bestehen urkundlich so lückenlos nachweisen lassen.Die ehrwürdigen und in ihrer Rechtskraft längst verjährten Privilegien waren es jedoch nicht allein, was der Apotheke Ansehen und Zuspruch sicherte. Ihr Besitzer, Herr Niklaus Zwinger genoß einen makellosen Leumund. Nur konnte, wer mit ihm bloß beiläufig zu tun bekam, ihn mißverstehen, da er auch seinen Freunden, sobald er sie hinter dem Ladentisch als Kunden zu bedienen hatte, so kurz aufwartete, wie es bei einem Beamten vielleicht für ein Zeichen von unbestechlichem Wesen hätte genommen werden können,bei einem auf seinen Vorteil bedachten Kaufmann 41 []dagegen fast als unvorsichtige Nachlässigkeit auffallen mußte. Diese seine ihm angeblich erst mit dem vorrückenden Alter eigene Verschlossenheit deutend, erzählte man sich, er habe Kummer in seiner Familie.Ein älterer Sohn, Rudolf, hatte sich wider den väterlichen Willen der Schauspielkunst gewidmet, dann ein exzentrisches Verhältnis mit einer Bühnenkünstlerin eingegangen und zerfiel darüber mit seinen Freunden und mit sich selbst.

„Und nun kommt ihm der andere auch noch so!“dachte Volckhardt, als er hinter dem Auslagefenster die Umrisse des alten Zwinger erkannte.

Er packte die Klinke mit einem Griff, als gälte es einen Raubmörder zu verhaften, und stieß die Türe so kräftig auf, daß der übertriebene Ruck den hellen Con der Ladenklingel verdarb. Eben goß der Apotheker von dem einen Fläschchen, das er messend in Augenhöhe erhob, schimmernde glüssigkeit in ein kleineres über. Er gab dem kaum Eingetretenen wortkarg nur den Gruß zurück, stellte aber das erst zur Hälfte eingefüllte Gefäß halbleer ab und schob mit der freigewordenen Hand Volckhardt einen Brief hin, der erbrochen auf dem Ladentische lag.

„Da! Lies!“

So setzte sich der Stadtarzt auf einen für die Kunden bereit stehenden Wartesessel und schickte sich zu lesen an.

Melchior hatte mit allem Vorbedacht die heute erfolgte Entscheidung herbeigeführt; in dem die Nacht vorher abgefaßten Schreiben sagte er das nun erfolgte Ereignis mit Bestimmtheit an. Seit er vor 12 []Jahr und Tag wunderbar genug genesen sei, habe er den heimlichen Zweifel nicht mehr los werden können, ob am Ende nicht das erste beste Kräuterweib den Idealen der Heilkunst näher komme als der mit kunstvollem Wissen überladene Arzt.

Die Stelle, die folgte, entlockte dem Physikus unwillkürlich einen Ausdruck der Verwunderung.

„So ein Bengel!“ sagte er halblaut und nickte zum Vater hinüber.

„Du meinst da, wo er von den Epidemien spricht“,versetzte dieser.

„Und daß eine zwanzigläufige Giftspritze die Sehnsucht der heutigen Medizin bilde, für jeden Bresten ein besonderer Lauf. Zum Kuckuck noch einmal, so was darf man doch nicht laut sagen.“

Dabei verfiel Volckhardt in immer neue Verwunderung und suchte sich mit einigen ungeduldigen schnalzenden Schlägen seiner Zunge über die Verlegenheit wegzuhelfen.Dagegen nahm nun der alte Zwinger einen Redeanlauf. Er griff wie zu einer Tat mit den Händen aus und blickte suchend im Kreise herum:

„Das ist gerade das Traurige an dem Brief, daß ich mich unter andern Umständen herzlich darüber gefreut hätte. Ich lerne Melchior von einer ganz neuen Seite kennen. Ein Tränmer schien er mir zu sein, der sich so durchtastete. Daß er jemals selbständig vorgehen könnte in seinem Urteil und seinem Handeln ich hätt' es nicht erwartet. Das tut er nun beides.Im Übermaß!“ [17] „Siehst du, Klaus, hab ich es nicht immer gesagt,der schlimmste Feind, den unsere Kinder haben, sind die Eltern. So ziemlich jedesmal geht es schief. Daß übrigens dein Junge Augen im Kopfe hat, hättest du wissen sollen. Wie oft hat ihn Zutreffer dafür gelobt, und dem gefällt doch wahrhaftig nicht jeder.“

„Was machen?“, meinte Zwinger niedergeschlagen. „Kennst du diesen Schwengel näher d“

„Schwengeld“ besann sich Volckhardt, „Schwengel?Weißt du den Vornamend“

„Emil, soviel ich weiß.“

„Jetzt wird mir's nimmer besser. Als wäre Schwengel nicht genug. Emil Schwengel, Ulaus! Klaus,ich habe dem Schöpfer für manches zu danken. Aber daß ich nicht Emil heiße “

In diesem Augenblick räusperte sich der neue Gehilfe, der aus dem Laboratorium hinter den Ladentisch getreten war. Volckhardt sah sich um:

„Ich hoffe, Sie nicht beleidigt zu haben.“ Der Jüngling hatte absichtslos gehustet, begriff die Frage nicht und glotzte verblüfft die Herren an.

„Er heißt Fritz“, beschwichtigte Zwinger und öffnete sein Privatkabinett.

-Eine alte Frau kam und verlangte Schweizerpillen.Ein Schulmädchen erstand zwei Stangen Süßholzsaft.Dann trat ein älterer Mann in den Laden und fragte,statt etwas zu kaufen, ob der Herr zu sprechen sei.

Anfang oder Ende der Fünfzig, klein von Statur,eine breit untersetzte, gedrungene Gestalt mit einem unförmlich großen, beinahe halslos aufgesetzten Kopf

4 ⁊[]von Form und Umfang einer mittleren KNegelkugel.Die Stirn wölbte sich übermäßig über hervorstechenden Backenknochen. Der Bart, nicht gepflegt, von unsauber braungelber Färbung, verdeckte den Mund und king zerzaust vom Kinn herunter. Statt daß nun aber, wie zu erwarten stand, auch ein harter,stechender Blick das verwirrte Antlitz zum Abschluß brachte, wurde das auftauchende Unbehagen durch zwei große, milde Kinderaugen Lügen gestraft. Ihr weicher, träumerischer Glanz nahm dem Gesicht seine Härte und machte den verwahrlosten Eindruck der ärmlich und nachlässig gekleideten Gestalt ziemlich wieder wett. Ein Unglücklicher, ein Edler im Elend,dachte man eher.

Angemeldet und ins Kabinett vorgelassen blieb er neben der wattierten grünen Tuchtüre bescheiden stehn.Der Stadtarzt saß auf dem Wachstuchsofa. Der Apotheker stand vorn beim Ofen.

„Sie wünschend“ fragte er trocken.

„Ich hielt es für meine Pflicht, mich Ihnen zu stellen, Herr Ratsapotheker. Sie wissen, Ihr Herr Sohn will für mich Partei ergreifen. Sie mögen sich gewundert haben.“

„Rauchen Sied?“ unterbrach Volckhardt, ohne anzubieten, indem er nur die seinige anschnitt. Der Naturarzt kehrte sich nicht daran. „Gerade weil ich den jungen Herrn lieb gewonnen habe, tut es mir leid: es ist ein unsicheres Ding um unser einen. Wir sind mit allen Hunden gehetzt. Und „viele Hunde‘, Sie wissen ja, auch wenn man kein Hasenfuß ist und Mut hat.“15 []„Hörenssie mal“, durchkreuzte Volckhardt von neuem,„eigentlich führen Sie einen Namen mal a propos!Fängt an wie ein „Schw “! Und endet als Engel! Finden Sie das nicht selbstẽ“ Schwengel zuckte die Achseln und sagte nichts.

„Wissen Sie übrigens, mit wem Sie reden?ꝰ“

„Ich habe nicht die Chre, mein Herr.“

„Nun, Herr Schwengel, ich bin der städtische Physikus, ich habe auf den Unfug im Heilwesen aufzupassen und bin also für Sie und ihresgleichen so etwas wie ein Schutzmann.“

Nur daß Sie an mir nicht viel einzustecken finden werden,; ich habe mir meine Hände und mein Gewissen allezeit rein erhalten.“

„Leider, leider kann ich Sie nicht fassen lassen wegen unbefugten Arznens; denn Sie Schlaumeier haben sich wohlweislich im Landgebiet niedergelassen, DD sein Recht verloren. Aber passen Sie auf, passen Sie auf, Spiel ist, was für einen Vogel wir gefangen habend Ja Curen Allerweltsvogel, den Johann Kasimir Hobler, Häuptling und Mauloberst aller Kurpfuscher hier zu Land! Das kann nett werden, bis da erst gründlich ausgemistet ist.“

Schwengel verwahrte sich entrüstet:

„Mit Hobler hab ich nichts gemein. Ich hab ihm immer mißtraut und mich von ihm ferngehalten; das ist ein ungetreuer Haushalter “

„Pfeifendeckel!“ unterbrach Volckhardt, „tun Sie nicht so zimperlich. Wenn nicht Sie selbst, so sonst

5 414 []einer. Sind Sie wirklich so unschuldig, wie Sie tun, nun dann sollen Sie sich wundern, was für Kuckuckseier Sie in Ihrem eigenen Neste ausgebrütet haben; es scheint,ich weiß besser Bescheid als Sie.“

Der Apotheker lehnte unterdessen an dem hohen, ungeheizten Kachelofen und drückte mit gespreizten Fingern die Handflächen auf die kühlen weißen Platten.Es war ihm lieb, daß Volckhardt das Wort führte und er erst eine Weile zuhören konnte.

Der Stadtarzt blies nun eine dicke Wolke Rauch aus,stellte die Zigarre quer und sah ihr entlang, nach einem Seitenblick auf den ratlos dastehenden Heilkünstler:

„Ich wäre gespannt zu wissen, welcher wie nennt man das welcher Sekte “

Schwengel verzog den Mund: „Sie meinen, ob ich ein gebrochenes Bein mit kalten Umschlägen kuriere oder mit einem heißen Rlistierd“

Nun regte sich Herr Zwinger vom Ofen her: „Sind Sie ein entgleister Mediziner oder haben Sie einen andern Beruf verfehlt?“

Schwengel richtete sich auf. Sein scheuer Blick wurde fester. Er hob an, wurde nicht unterbrochen, faßte Mut und erzählte, erzählte immerzu, bis ein schlichtes und auch in den begangenen Irrtümern ehrliches Leben vor den beiden nicht unaufmerksamen Zuhörern ausgebreitet lag.

Dunkler Leute Kind, in einer Köhlerhütte aufgewachsen, dann Heilgehilfe eines Dorfbaders, war der schwächliche Knabe der Reihe nach allen Krankheiten verfallen gewesen; in seiner nachträglichen Erinnerung wollte 2 Bernoulli, Zum Gesundgarten [17] es Schwengel nicht anders wahr haben, als daß jede Verschlimmerung mit dem Eingreifen eines staatlich approbierten Arztes, jede Genesung dagegen mit der gläubigen Anwendung ländlicher Haus und Geheimmittel zusammengehangen habe. Namentlich die Wirkung giftfreier Kräuter hatte er am eigenen Leibe erprobt und immer zuversichtlicher anderen Leidenden mitgeteilt. So war er durch Erfolge von Fall zu Fall ein Heilkünstler geworden. Wohl hatte er nur populäre Kräuterbücher studiert. Aber auf die Heilpflanzen verstand er sich wie nicht leicht einer. Nach Jahren dürftigsten Daseins war er mit einem Schlag in die Mode gekommen und hatte mit einer ausgedehnten Praxis,die er dicht vor den Toren der Stadt betrieb, und auch mit einem von ihm zubereiteten Lebenselixier, das er sich gesetzlich hatte schützen lassen, VBermögen gemacht.Da er jedoch den Wert des Geldes nicht zu schätzen vermochte und überdies von zweideutigen Individuen ausgebeutet wurde, so war er auch außerstande, den ersten an sich nicht beträchtlichen Umschlag seines Glückes zu überstehen; vielmehr plagte er sich damit ab, sein in den Cagen des Wohlstandes verschwenderisch erbautes, nun aber immer mehr überschuldetes Sanatorium zu halten.

Er schloß mit den Worten: „Es ist trostlos, sich mit weiter nichts als mit dem Glauben an die gute Sache durchzufüttern. Aber ich glaube wirklich daran; ich tue nicht nur so. Das steht mir felsenfest, daß die hohen Herren von der Zunft mit ihrem gelehrten Vergiftungssystem auf dem Holzwege begriffen sind.“

Hierließ Schwengel, durch Volckhardts lautes Lachen [8] unterbrochen, in seinem eifernden und anklagenden Tone etwas nach.

„Lachen Sie meinetwegen über mich, aber versetzen Sie sich in die Lage eines so unbefriedigten und hilflosen Menschen! Aus was für Elementen setzt sich meine Umgebung zusammend Ich selbst bin ja nichts anderes als ein ungehobelter Gesell. Und da nun plötzlich der Bote aus einer andern Welt, ein wirklich Gebildeter,ein vom Schicksal Bevorzugter, der alles schon weiß, was ich zu lernen mich erst noch mühsam abquäle. Ja der! der! durchzuckte es mich. Diesem übergeben können, was du an Erkenntnissen empfangen hast, seinen händen anvertrauen, was die deinen nicht zu halten vermögen, der Jugend, die es segnet und verjüngt.“

Er drehte seinen abgetragenen Strohhut unbeholfen durch die Finger:

„Das ist's, Herr Ratsapotheker, was ich Ihnen sagen wollte. Blind hat mich meine Selbstsucht nicht gemacht.Bin ich doch selbst Vater, zärtlicher Vater! Wenn auch nur einer Tochter. Schließlich sagte ich mir: wenn er dich gesehen hat, wie zum Zerfallen brüchig du bist,wird er dich nicht fürchten und dir wohl auch nicht länger gram sein.“ Er stieß ein heiseres, stumpfes Lachen aus, schob sich am Tisch und den Stühlen vorbei und stand nun bei der Türe, im Begriff, sie zu öffnen.

Der alte Zwinger machte eine unschlüssige Bewegung mit dem rechten Arme. Vielleicht, daß er ihm die Hand reichen wollte. Aber schon hatte Schwengel sich zu einer linkischen Verbeugung zusammengedrückt und verschwand.3 []Volckhardt hielt Zwinger am Armel zurück:

„Ein ganz geriebener Gauner! Ein Oberschwindler!“

Der Apotheker nickte, indes Volckhardt fortfuhr:„Klaus, Klaus, ich weiß nicht du hättest ihn vielleicht doch unter die Künstler gehen lassen, trotzdem du schon einen Widerwillen dabei hattest. Wenn er nun doch Unfug anstellt! Bei den Künstlern schadet das nicht, wie bei uns; dort gehört der Unfug halbwegs mit zum Handwerk.“

Unterdessen hatte der Apotheker am Fenster den mit einem vergilbten Blumenstück bemalten, verschienenen Rollvorhang in die Höhe gezogen. Da war mit einemmal das schmale Hinterzimmer, in dem eben noch Halbdunkel geherrscht hatte, von einem ruhigen Tageslicht erfüllt. Der Schreibtisch und einige alte Stiche mit verblichenem Goldrahmen lebten in dem kleinen Raume auf, und als er auch noch eine Glastüre öffnete und den dahinter befindlichen Laden aufstieß, ergab sich die altväterische Aussicht auf einen kleinen gepflasterten hof mit einer Linde, die in einem von Steinen umrahmten Rasenkreise stand.

Dann zog er an einem breiten Bande, es hing den einen Pfosten entlang herunter, in der Art eines Pantoffelmusters mit Glasperlen bunt bestickt, und rief,während die Schelle irgendwo oben auf dem Flur noch lange weiter bimmelte, halb hilflos, halb gebieterisch nach seiner Frau.

Die derb schallende Stimme der Köchin belehrte ihn,sie sei ausgegangen, um im Spital nach dem Dienstmädchen zu sehen, das heute operiert worden sei. [399] „Schwätz doch!“ brummte Volckhardt. „Deswegen könnte sie längst zurück sein. Was gilts, sie ist bei uns oben und steckt mit der Gay die Köpfe zusammen.“

Er hatte eigentlich einen größeren Morgenausgang geplant gehabt und war nur durch Zutreffers Neuigkeiten bewogen worden, alles andere zu lassen und über die nächsten Straßen den Fischmarkt zu gewinnen. Sonst war dieser Umweg, nach der Ratsapotheke zu gelangen, unnötig. Die Liegenschaften stießen Rücken an Rücken aufeinander. Zwinger konnte ohne Hut Volckhardt begleiten.

Sie gingen durch den stillen Hof, an den steif stilisierten Lattengattern der Güterschuppen und Warenkeller vorbei auf eine Treppe zu, die sie durch ein unverschlossenes und eigentlich nur aus Lauben bestehendes Hinterhaus emporführte.

Im ersten Stockwerk wurde hinter einem mit Drahtgeflecht vergitterten Zugang ein kleiner Garten in Zimmergröße sichtbar, mit einem Gemüsebeet und einem kümmerlichen Weinspalier an schattiger Wand. Volckhardt pflegte selten daran vorüber zu gehen, ohneüber die hängenden Gärten der Semiramis zu witzeln. Heute unterließ er das, blieb jedoch stehen und guckte unwillig in das verwinkelte und verfangene Freigelaß hinein.

„Daß hier etwas gedeiht!“

„Bohnen erfordern eine warme geschützte Lage.Rechts darunter befindet sich der Ofen der Bäckerei von nebenan.“21 []„Bohnen, aha Bohnen da haben wirs ja.“

„Meine Frau kann nicht genug dörren und einmachen.“

„Die sogenannte Bohnensuppe für deine Gicht?“

„Jawohl, die sogenannte Bohnensuppe für meine Gicht.“

„Soll die Harnsäurekristalle auflösen, wers glaubt.Uberhaupt deine Frau, Klaus. Gestohlen hat ers nicht.“

„Ach was, das sind Hausmittelchen!“

„In einer Apotheke noch Hausmittelchen, Klaus,sei nicht so in den Bohnen!“

„Ich gebe ja zu jetzt geht es auch mir übers Bohnenlied.“Argerlich schweigend und in sich gekehrt setzten sie den Aufstieg fort, indem Volckhardt nur in regelmäßigen Schlägen vor sich hin seinen Spazierstock am Boden aufstieß.

Die Wanderung, an Speichern und Estrichen vorbei,nahm über immer engere und steilere Stiegen schließlich den Charakter einer regelrechten Curmbesteigung an, bis Volckhardt ein Fallbrett mit leichter Mühe umklappte und die untere Terrasse seines Gartens betrat.Für so zwei ältere Herren war es eine respektable Leistung, und wie zur Belohnung für die Strapazen begrüßte sie der gewohnte, reizvolle Rundblick über die Vaterstadt.

Sie lag als geschlossenes Bild in weichem Duftglanz ihnen zu Füßen. Eine Volksversammlung, dicht gedrängt, aber vom Augenblicklichen ins Dauerhafte ge [22] steigert, nicht Kopf an Kopf, nein First an First, unabsehbar, soweit das Auge schweifte! Uber der Masse stiegen auf, als seien sie zum Wort berufen und aufgestanden, um sich hören zu lassen, der Dachreiter auf dem buntschuppigen Rathausgiebel, die rote Torkappe des letzten Schwibbogens, dazu dieser und jener höher ragende Bau allgemeinen Stolzes und Nutzens;zuhöchst sonnenbeglänzt, die zierlich durchbrochenen Helmgehäuse der schlanken, rötlich schimmernden Münstertürme.

Uber diesem Eindruck gerieten der Stadtarzt und der alte Herr Zwinger, während sie geruhsam verschnauften, unversehens von dem persönlichen Anliegen auf die Gemeinsamkeiten öffentlicher Vorgänge und hätten sich wohl über dieses und jenes städtische Tagesgespräch in aller Form verplaudert, wären nun nicht weiter oben in der Tiefe des Volckhardtschen Herrengartens von weiblichen Stimmen ihre Namen gerufen worden.

So begaben sie sich, an die Forderungen der Stunde erinnert, zu den beiden Damen, die unter einer alten,herrlichen Blutbuche und unfern eines über einer Felsgrotte aufspringenden Brunnenstrahles auf grünen Sommersesseln sich ihr Zwiegespräch eingerichtet hatten.Schon ehe sie sich zu ihnen setzten, rief der Stadtarzt schon im Gehen, indem er mit geschüttelter Hand lebhaft auf Frau Zwinger zeigte:

„O ja, eben Sie mein' ich, Sie Samaritermutter!“

„Michd Wieso denn mich?“

22*[]„Nun fragen Sie auch noch? Was haben Sie nicht gedoktert und geniggelt mit Absuden und Salben und Aufschlägen! Sonst sind Sie ja eine hand und bibelfeste Protestantin; aber ich wette, dem Wasserpanscher Kneipy haben Sie das Vaterunser nachgebetet, das er sich von seinen Freunden fürs letzte Stündlein ausbat.“

„Und ob ich das habe!“

Nun schmunzelte Volckhardt. Mit seiner guten alten Freundin auf dem Kriegsfuße zu leben, gehörte für ihn längst zu den Unentbehrlichkeiten. So entspann sich zwischen ihnen auch jetzt ein rechthaberisches Kreuzfeuer.

Frau Zwinger hatte immer schon mit Kopf und händen mißmutig abgewehrt:

„Verfaseln Sie mir die Sache nicht so ins Blaue“,mahnte sie: „Die Gesichtsschmerzen!“

Volckhardt zuckte die Achseln:

„Trigeminusneuralgie, gewiß, höchst fatal. Und zudem so weit wir urteilen können, mehr oder weniger zwecklos; wir wissen tatsächlich nicht, wozu diesesßBaumgeästel in unseren Wangen eigentlich gut ist. Wir wären viel glücklicher, wenn wir diesen Nerv nicht hätten fragen Sie Zutreffer.“

An dieser Belehrung fühlte Frau Zwinger klug die Verlegenheit heraus, die sie verbergen sollte und ging desto zuversichtlicher vor:

„Fast die ganze Apotheke hat er seinem Vater ausgegessen Brom, Chloral, Ergotin und diese Zückerchen alle! Schließlich die Pferdekur mit Antipyrin ein bis zwei Gramm täglich, wochenlang! Bis er mir dann 21 []dalag! In meiner Verzweiflung gab ich mich den Einflüsterungen einiger mir bekannten Schwengelianerinnen hin, schrieb, erhielt Rezepte für die Kräutermischungen nach sechs Wochen war er mir gesund,kerngesund, wie noch heute.“

Volckhardt wollte das nicht gelten lassen:

„Die Natur macht Witze. Wir nehmen sie beim Crott, den sie so tagtäglich dahin schlendert, und plötzlich schlägt sie einen Purzelbaum und wir kriegen einen tüchtigen Nasenstüber und wissen uns vor Erstaunen nicht zu fassen. Ja, ja, Mutter Natur ist nicht umsonst weiblichen Geschlechts. Die hat ihre Mucken wie nur irgend ein launisches Weibsbild!“ Er wandte sich, mit einer gleichsam entschuldigenden Auseinanderbewegung seiner Hände, von der alten Dame weg an seine Cochter.

„Oder nicht, Gay, oder nichtd“

Gabriele saß in einem rosahellen Frühlingskleide dabei. Obwohl mit mehr als dreißig Jahren nicht verheiratet, traf sie keinerlei Anstalten, das Wesen einer alten Jungfer anzunehmen. Lachend hörte sie zu und rief voller Fröhlichkeit:

„Ach! Endlich! Er war all die Jahre über so sehr Musterknabe, daß es höchste Zeit ist, wenn einmal die Jugend in ihm durchbricht. Das greisenhafte Benehmen wollte ihm gar nicht anstehen, fand ich. Damals,als wir von der Reise zurückkehrten, und er vollkommen erholt vor uns stand, erwiderte er auf meine Glückwünsche, es sei so etwas wie ein Zwiespalt in ihm, ob er sich auch freuen sollte, seine Gesundheit 25 []gleichsam per Konterbande wieder erlangt zu haben.Wie er nun einmal ist, wurde er diesen Gewissensbiß nie recht los: ob er nicht doch, rein nur als anständiger Mensch, verpflichtet sei, das Heilverfahren,dem er seine Wiederherstellung verdanke, einer Prüfung zu unterziehen. Langsam reifte der Gedanke in ihm. Nun hat er den Schritt heute getan.“

Sie deutete unter den Bäumen hin nach einem Höhenzuge, in dessen Sattel ein Gebäude als helles Fleckchen sichtbar war.

Wie um abzulenken, streckte Volckhardt seine Hand nach dem Buche aus, das auf dem Gartentische lag:ein französischer Dreieinhalb Frankenband in zitronengelbem Umschlag. Nachdem er eine Weile planlos darin herum geblättert, hielt er plötzlich eine Seite fest und rief:

„Da steht es schwarz auf weiß. Tout s'arrangera.“Und er warf das Buch mit einem Ruck auf die Tischplatte zurück.

In diesem Augenblick ertönte die Mittagsglocke von verschiedenen Kirchtürmen und mahnte das Zwingersche Ehepaar zum Aufbruch.

Volckhardt rief ihnen nach: „Eine verdrehte Schraube ist er schließlich scoon immer gewesen, Klaus! Aber Sapperment! Den ganzen Verstand aufs Mal wird er auch nicht verloren haben.“

Nach Tisch, während ihr Vater sich ausruhte, erging sich Gabriele ganz allein im Garten. Wie im Craume wandelnd schritt sie zwischen blühenden und duftenden [30] Zweigen entlang, altgewohnte Wege, von denen die hinteren, geheimen, kaum je einem anderen Fuße dienten als dem ihren. Lange konnte sie so umherirren,immer durch andere Plätze und Winkel und lauschige Verstecke, bis sie vor einem kleinen Denkmale stand.

An dem Felsen, der nach der breiteren Seite sich zur Grotte mit dem Springbrunnen erweiterte, war an dem schmalen sockelartigen Teile, im Schatten der Blutbuche, ein Medaillonrelief aus weißem Marmor eingelassen. Es gab das Haupt einer edlen jungen Frau wieder, die sich mit gesenkten Augen erwartungsvoll und schamhaft nach vorne beugt, etwa um eine Botschaft zu vernehmen, deren sie gewärtig ist. Und da der milde Ausdruck etwas Feierliches, Geheiligtes hatte, neigte sich hier eine Gebenedeite in der seligen Empfängnis des englischen Grußes.

In der Tat hatte Zutreffer, der verwöhnte Kunstfreund, als er seiner Zeit des Felsenschmuckes zum erstenmal ansichtig wurde, unwillkürlich ausgerufen:„Donnerwetter, was habt Ihr denn da für einen Quattrocentoꝰ“Und doch war es nur die vom Glück begünstigte Modellstudie, mit der einst Melchior in der drängenden Ungewißheit, ob Bildhauer, ob Arzt, seine Muluswochen überzwungen hatte. Alles an ihm war Feuer und Flamme gewesen vor Wut und Eifer, daß er nicht durfte, wie er wollte.

Als er einmal, da vorn im obersten Estrich des väterlichen Hinterhauses, wieder von früh an immerzu Ton knetete, wurde plötzlich in der Luke des aufgezo27 []genen Fallbrettes, mit einer unerwarteten, eindrucksvollen Seitenbeleuchtung, ihr Kopf sichtbar, wie sie eben einen Moment in die Werkstatt gucken und guten Morgen wünschen wollte. Da flammte der entzündete Geist auf vor Verlangen, dieses Anblicks sich zu bemächtigen. Das Lehmmodell geriet so ähnlich und lebensvoll, daß er, eines Stückes Marmor habhaft geworden, im Schwung einer unbeschreiblichen Begeisterung das nur wenig erhabene Profilstück fix und fertig ausmeißelte.

Sie war sechs Jahre älter und von klein auf sein mütterliches Freundinchen gewesen. Nichts konnte sie in dem Glauben beirren: er gehöre nicht einem Bandwerk an, sondern einer Kunst. Wie beschaffen die Welt auch war, die ihn in ihre Dienste rief, das wußte sie: er wird sich schon durchringen!

Ihr war bange für ihn, aber nicht so, daß sie für ihn fürchtete. Ersparen ließ sich ihm das durch nichts; also begrüßte sie die Gewißheit: „Jetzt ist er so weit! Jetzt vollzieht es sich in ihm!“

Wie sie nun dastand, rings umblüht und umduftet von jungen Knospen und Trieben, ging der stille Zauber aus ihrem Steinbildnis auf die weichen, lebendigen Züge über, als beuge auch sie sich in irgend einer demütigen Hoffnung, die nicht begreift, aber auch nicht zweifelt.

Schritte schreckten sie auf. Melchiord Der Kies knirschte. Vom Laufen keuchend, stand er vor ihr.

„Hier hast du mich blutarmen, bleichsüchtigen, jägerhemdlichen Pflanzenfresser!“28 []Seine Schultern stemmten sich hinter die Brust zurück. Die Hände waren zur Faust geschlossen. Im linken Mundwinkel rieb sich der obere Eckzahn auf dem untern. Die hellen, frohen Augen wurden tiefdunkel von einem drängenden Willen. Sie spürte das heimliche Feuer, den verhaltenen Dampf seiner Sinnlichkeit.

„Ich verstehe dich“, sagte sie, „du hast dich allzulange der festen hergebrachten Ordnung gefügt in deinem Beruf. Nun ein bißchen in die Unordnung,geltꝰ

„Brava, Gay, bravissima!“ Er rieb sich vergnügt die Hände. „Etwas ungesalzen geschmacklos wird es ja zugehen, aber glaube mir, es ist etwas dran, es ist bei Gott etwas dran.“

„Und dann kehrst du wieder zur Ordnung zurück,aber in Freiheit, als ihr Herr.“

„Bist du gut!“ rief er ganz gerührt und streichelte ihr die Wange. Er neigte auch seinen Mund ihr zu,küßte aber in die Luft. Er war für ein ernstes Wort nicht mehr zu haben, so ausgelassen gebärdete er sich.

„Ziel erkannt Schiffe verbrannt! Lebt wohl,schöne Donna! Tut einen Fußfall für mich vor dem gestrengen Herrn Stadtarzt. Zutreffer erledigt! Nun noch Vater und Mutter!“

Bis er die Falltüre über sich zurasseln ließ, trieb er Unsinn. Sie hörte ihn die vier Treppen hinunterpoltern. Von dem Steinpflaster tief unten klang sein rascher Tritt. Dann war, mit gedämpftem Schmettern,die schwere Hoftüre ins Schloß gefallen.

[23]

Zweites Kapitel

as Sanatorium des Naturarztes Schwengel lag, mehrfach von Wäldern umgeben und zwischendurch mit weiten

Ausblicken in die Ebene, wunderschön auf einem äußersten Ausläufer des hinter der Stadt anhebenden Gebirgszuges. Noch in der Zeit errichtet, da er viel verdiente und über freigebige Gönner verfügte, war nicht eine kahle, dürftige Baracke mit schmalstirnigem Dach und unreinlichen Verputzwänden daraus geworden, dagegen ein eigenköpfig ersonnenes und munter hingesetztes Bauwerk,auf der Talseite sogar schloßartig getürmt und befestigt.

Rings ums Baus dehnte sich ein sauberer Garten.Wohl war es noch nicht der Rede wert, was selbst die größten seiner Bäume den unter ihnen angebrachten grünen Ruhebänken an Schatten spendeten. Die Anlage kam erst in weiteren zehn Jahren zur vollen Geltung. Eingefaßt war sie durch einen Staketenhag mit Drahtgeflecht.

Uber der Einfahrt spannte sich ein leicht gewölbtes gußeisernes Cor. In großen vergoldeten Buchstaben war darüber zu lesen: [3] „Zum Gesundgarten.“ Auf diesen von ihm vermeintlich erfundenen Titel tat sich Schwengel etwas zugute.

In dem Speisesaal ebener Erde richtete ein Kellner noch dies und jenes zurecht. Außer ihm war niemand um die Wege.

Nun benanm sich aber dieser Kellner, nachdem er sich erst durch einen langen Blick rings herum überzeugt hatte, er sei nicht belauscht, höchst auffallend.Als wäre er irgendwoher laut mit Namen gerufen worden, guckte er um, riß den Kopf zur Seite, stierte mit verglasten Augen ins Leere, indessen auf seinem Gesicht sich alle Zeichen des Schreckens malten. Dann stieß er sich die geballten Fäuste in die Augenhöhlen und fiel mit gebrochenen Knien halbwess in sich selbst zusammen. Ein krampfhaftes, ihn stoßweise erschütterndes Schluchzen lief durch seinen wankenden Körper; er konnte sich kaum auf den Füßen halten. Dabei mischte sich in die unartikulierten Seufzerlaute plötzlich der deutliche Aufschrei:

„Ja ja, jetzt bist du halt ein Schelm!“

Er bemerkte nicht, daß sich die Türe öffnete und in seinem Rücken sich ein Gesicht zeigte, das Gesicht einer älteren, häßlichen Person, ein lederfarbenes, plattnasiges Mulattengesicht. Dann schob sich die ganze Gestalt hinter der Cüre vor und trat langsam und völlig geräuschlos, weil sie Filzsocken anhatte, an den Verzweifelten von hinten heran. Jetzt, an ihrer Schürze,an den breiten Arbeitshänden, an dem gebückten Sorgenrücken war die Haushälterin nicht zu verkennen,die mütterlich waltende Seele eines großen, weitschich31 []tigen Anwesens. Sie war auf zwei Schritte herangekommen, es knackste eine Holzfaser in einer Planke des Fußbodens und gleichzeitig gerieten die Gläser auf dem gedeckten Tische ins Klirren.

Da fuhr er auf und nicht anders, als sähe er das leibhaftige Schicksal vor sich, das ihn meuchlings beschlichen habe, um ihn in Verderben und Untergang zu stürzen, schrak er in einer wahren Todesangst zurück.

Sie aber legte ihm den Arm um die Schulter und die Hand aufs Herz.

„Mußt dich nicht fürchten, Albi! Schau, ich hab es schon lang erraten. Aber mußt dich doch nicht fürchten; außer mir hat es noch niemand gemerkt. Gelt, du hast dich verleiten lassen von dem Greuel von Hobler,dem sie jetzt in der Stadt unten den Prozeß machen.Und da heißt es für dich mitgefangen, mitgehangen.Der Schwengel, der war zu tolpatschig, der hat sich nicht dran kriegen lassen. Aber dich junges, heißes Blut,dich hat es gejuckt und draufgestoßen.“

Und als der junge Mann dazu nur immerfort stumm nickte, flüsterte sie innig:

Nicht verzweifeln! Es schadet nichts, Albi, es schadet wirklich nichts.“

Der Kellner hieß Albert Hartmann, und die so tröstend ihm zusprach, die alte Jungfer, war seine Tante Lisette Hartmann, die Schwester seines Vaters. Durch eine weitläufige Verwandtschaft auf die Schwengelsche Familie angewiesen, gehörten sie beide dem Haushalte des Sanatoriums an, sie als dessen oberste Wirtschafterin, er seit einiger Zeit als Kellner.32 []„Tante Lisette, um mich steht es bodenbös.“„Gerad so lang, bis es wieder gut um dich steht.“„Du wirst schon sehen, ich komme ins Loch.“

„Aber auch wieder heraus. Den Kopf werden sie dir wohl zwischen den Ohren stehen lassen. Und dann wirst eben nachher zum Trotz etwas rechtes,hörst d

„Ist das dein Ernst, Tanted“

„Soll ich gar an so was meinen Spaß haben, du dummer Bub'. Und nimm dich zusammen, daß mir die Krimhild nichts merkt! Das Geschöpf tut sonst noch hochnäsiger als sowieso.“

Ein Schuß roten Blutes fuhr Albert zu Kopf. Er reckte sich auf und nahm gerade Haltung an. Er stand jetzt auf einmal da wie auf Kommando, schlank und gut gewachsen.

Nein, nur das nicht. Krimhild darf zu allerletzt was davon merken. Der gönn' ich alles, nur nicht diese Schadenfreude.“

„Still, ich höre sie schon“, raunte Jungfer Lisette und machte sich durch das Nebenzimmer davon.

Albert tupfte sich mit dem Taschentuch das Gesicht trocken und machte sich mit Tischdecken zu schaffen, als leichten Fußes und noch vom Flur her singend Krimhild hereinkam.

Zunächst nahm sie keine Notiz von ihm. Erst als sie sich eine Zeitlang im Schaukelstuhle gewiegt hatte,sprang sie auf und fragte, wo der Doktor zu sitzen komme.

„Neben der Mama, hat der Papa gesagt.“ Er deutete an das Kopfende des mit einigen zwanzig Gedecken besetzten Eßtisches.

Dann hörte er sie nebenan im Kastenfuß eines Wandschrankes herumwühlen und mehrere Gegenstände geräuschvoll übereinanderwerfen, ohne den gewüůnschten zu finden.

„Albert, Albert“, rief sie ungeduldig, im Ton eines meisterlosen Kindes. „Die Drahtschlange die rot und grüne d

Albert holte sie aus einem Schubfach.

„Ist die immer noch nicht in den Ruhestand versetztd“

Urimhild nahm sie ihm ab.

„Warum nicht? Sie federt ja noch ganz gut.“

Sie probierte die elastische Spannkraft des Spielzeugs, preßte den Drahtleib in die Schachtel, Albert mußte Packpapier holen. Mit der Adresse versehen,kam das Paketchen auf den Tisch zu liegen, wo die Briefschaften der Kurgäste ausgelegt wurden.

Sie wollte gleich von Anfang an wissen, woran sie mit ihm war! An den Augen, die einer machte, wenn das Ding ihm durch die Finger huschte und ins Gesicht oder daran vorüberflog, sah sie gleich, mit wem sie es zu tun hatte!

Krimhild Schwengel die Blume des Gesundgartens! Das Fremdenbuch widerhallte von Verschen,die diesem Gedanken Ausdruck zu leihen sich bemühten.Namentlich alle Spielarten der Rose wurden ihr im Gleichnis beigelegt, die Bergrose, die Heckenrose, ja [24] sogar in Anspielung an die Spezialität ihres Vaters die Teerose! Ihr zu Ehren reimte man auch Fruchtdose, Aprikose und Apotheose. Einige Ergüsse deuteten zudem an, auch punkto Dornen habe es bei diesem „Sah ein Anab' ein Röslein stehn“ seine volle Richtigkeit.

In das etwas dürftig und verschienen ausgestattete Boudoir trat ein Mensch in einem karierten Sackanzug,dem man auf drei Schritte den Amerikaner ansah. Seinen ungewöhnlich langen, schlotähnlichen Hals trug er in einem auffallend hohen Stehkragen. Darüber, bei halb geschlossenen Augen, das glatte, ältliche Jungferngesicht. Er sah sich blasiert im Zimmer um, bis Albert seiner Wege ging; dann stürzte er grinsend mit ausgebreiteten Armen auf AKNrimhild los:

„Ich liebe dich! Ich anbete dich!“

„Holla, Mister Faxon, das ist nun die siebente Erklärung heute, und wir kamen auf sechs pro Tagüberein.“

Harry Faxon hatte unbeirrt eine englische Allerweltszeitung aus der Tasche gezogen, hielt sie Krimhild und sich selbst entfaltet vors Gesicht und ahmte dahinter die Geräusche des Küssens nach.

Er betrug sich immer in seinen zwei Extremen,entweder mit steifer Würde oder mit exzentrischen Harlekinsmanieren, wobei er ohne alle Vermittlung von dem einen Zustand in den andern verfiel. Dementsprechend war auch seine Redeweise bald bis zur Trägheit schleppend, bald hastig abgerissen und vor Erregung lallend. Er sprach mit drolligen Fehlern geläufig deutsch, nur sein Akzent war nicht anzuhören. [2] Vom Hausflur ertönte, in unmittelbarer Nähe, die Tischglocke. Urimhild schrie auf und hielt sich die Ohren zu. Faxon ahmte sie lächerlich nach, indem er Arme und Beine in die Luft warf und jämmerliche Fisteltöne ausstieß.

Jungfer Lisette Hartmann eilte herbei:

„Was föllt euch ein. So ein Mordsspektakel wieder!“

Faxon stierte sie regungslos an, dann deklarierte er mit einer königlichen Gebärde auf Krimhild weisend:

„Ich bin in das Fräulein verlobt.“

„Einstweilen wenigstens verliebt. Ist das Ihre ganze Neuigkeitꝰ“

„Und das Fräulein“, warf Krimhild ein, „hat die Ehre, sich mit zehn der hübschesten Mädchen in Mister Faxons weites Herz zu teilen.“

„O Krimhild“, beteuerte er und verdrehte die Augen, „es sind sogar mehr als zehn. Du aber bist Nummer Cins. Ach vorhin hinter der Zeitung! So nahe war ich deinem Munde noch nie. Kein Zoll hat mehr gefehlt.“ Er hätte vielleicht noch lange weiter gefackelt, wenn nicht Jungfer Hartmann als die resolute Person, die sie war, ihn mit zwei Worten gründlich zurechtgewiesen hätte, so daß die im Anzuge befindlichen übrigen Gäste nicht behelligt wurden. Als hätte man auf einen elektrischen Knopf gedrückt, stand Faxon von der Sekunde an wieder steif vor Sittsamkeit und korrektem Betragen und folgte den beiden Frauen, die über den unverhofften Erfolg vergnügt an ihm vorbei hinübergingen, wie ein Lakai hoher Herrschaften in den Speisesaal.

àö[]Nachdem das vorwiegend vegetarisch gehaltene Abendessen beendet war, hielten Herr und Frau Schwengel im anstoßenden Unterhaltungszimmer gewohnheitsgemäß gewissermaßen Cercle. Das eine Vorrecht wenigstens nimmt dem Geächteten kein noch auf dem sie gegen die Großen und UÜUbermächtigen rebellisch geworden sind, bleiben sie Herr und Meister und so schaltete auch Herr Schwengel auf dem eigenen Grunde als angehender Souverän, dessen Leutseligkeit und gewinnendes Entgegenkommen jede Begrüßung in einen Empfang und jedes Gespräch in eine Audienz verwandelt. Obwohl sein Reich im weitesten Durchmesser von Waldsaum zu Waldsaum mit fünfhundert Schritten zu Ende gelaufen war und er außerhalb dieser Gemarkung nicht besser seiner Wege zog als der erste beste Strauchritter, so gebärdete er sich, einmal zu Hause, wie ein kleiner Landesvater und fand bei diesem Bestreben, etwas vorzustellen, einen kräftigen Rückhalt in seiner Frau. Sie betrug sich, unterstrichen bewußt, als die Dame des Hauses eine feine, preziöse, leidend aussehende Erscheinung, mit den gemessen vornehmen Gebärden einer gnädigen Gebieterin.

Frau Schwengel, mit Vornamen Adelheid, nahm auf einem die Mitte der Zimmereinrichtung darstellenden Lehnstuhle Platz. Jungfer Hartmann breitete über einen kleinen Tisch ein gesticktes Cuch und entledigte das vom Aufwärter hereingebrachte Brett zum CTeil seiner Last. Einige ältere Damen und Herren,37 []die dem Ehepaar vom Speisesaal hierher gefolgt waren, gerieten in ein Gespräch. Einer gemütlichen Unterhaltung förderlich und mit den schwengelschen Grundsätzen vereinbar, bestand dieser Nachtrag zur Abendmahlzeit als eine vorteilhafte Einrichtung des „Gesundgartens“ von altersher; die unerbittlich Strengen fandenkeine Gelegenheit, an dem schlichten Abendtisch mit der verdaulichsten aller Speisenfolgen Anstoß zu nehmen; die Liebhaber einer gelinden Zukost konnten sich an einem harmlosen Gesundheitstee und irgend einem leckeren Bissen für die ihnen empfindliche Enthaltsamkeit entschädigen. Als Säftemischer von Beruf mit ausgebildeten Geschmacksorganen versehen, war Schwengel gar kein übler Koch und nahm es mitjedem Feinschmecker auf, falls man sich über den Mangel scharfer Gewürze, in seinen Augen die Wurzel alles Ubels, mit ihm abzufinden geneigt war. Heute kam er in die willkommene Lage, etwas Außerordentliches aufzutischen.

Ein dankbarer ehemaliger Kurgast sandte von seinem jetzigen südlichen Aufenthaltsort eine beträchtliche Ladung Bananen, und zu diesen hatte Schwengel,allen derartigen Möglichkeiten gewachsen, eine Erdbeersahne eigener Mischung geliefert, in die die enthülsten weichen Wülste in ungekochtem Zustand gleich Zuckerbrot gebrockt wurden. Die angestellte Probe ergab einmütige Lobsprüche, es mußten mehr Teller her und die grünen Südfrüchte gingen rasch auf die Neige. Schwengel steckte seine Nase bald nach rechts,bald nach links zwischen die Esser. [38] „Schmeckt angenehm, nicht wahrd Was! Delikat sogar! Wie mich das freut! Ich sage Ihnen, es braucht mehr Arbeit als man denkt: eine geschlagene Stunde habe ich gemischt und gepröbelt, bis ich es hatte. Und da wir nun gerade am Versuchen sind Albert! Albert!“

Er rief und befahl darauf los, bis der singende Teekessel, einige aufgestellte Zitronen und eine halbzerlaufene Bienenwabe vor ihm standen.

Nun fuchtelte und löffelte er aufs neue.

„Jetzt werde ich Ihnen noch meinen Spezialtrank brauen. Da kommt soviel Honig hinzu und soviel Zitronen! Auch da muß es genau klappen. Keinen Tropfen zu viel und kein Brösmelein zu wenig.“

Er rührte wichtig um, schnalzte prüfend und, als es noch nicht das war, träufelte er von der Zitrone hinzu und ging des weiteren mit Wasser und Streuzucker zu Werke. Endlich konnte er anbieten.

„Stark oder schwach? Ach, nehmen Sie's liebergleich etwas dunkel. Verdünnen läßt sich dann immer noch.“

Alsbald war die Runde damit beschäftigt, unter dem Geklapper der Löffel und Tassen dem neuen Getränk ebenfalls die schuldige Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Diese Pause nahm Krimhild wahr.

„Herr Doktor“, sagte sie zu Zwinger, indem sie,mit der Teekanne wandernd, seine Tasse vollschenkte,„es ist ein Paket für Sie da.“

„Für mich? Ein Paket?“

„Für Sie, dort! Wo die Briefe liegen.“29 []„Das hierd“

Sie stellte die Kanne weg und beobachtete. Er drehte es ungläubig nach allen Seiten.

„So ohne jeden Postvermerk. Und ohne daß ich

Da brach die Papierhülle von selbst auseinander.Fauchend federte der rotgrüne drahtene Unhold am Gesicht vorbei.

Er bekam den Schabernack im Fluge zu fassen und wies ihn lachend vor.

Nicht aus purer Kinderei nahm sich KUrimhild dergleichen Experimente heraus. Die gewöhnliche Art,mit neu Angekommenen bekannt zu werden, verlief für sie zu langsam. Je nachdem die Beobachtung ausfiel, war auch ihr Vorurteil über den Examinanden ziemlich unumstößlich gefaßt. Entweder er zog ein saures Gesicht oder ein vergnügtes oder höchstens noch ein dummes. Der da, der Doktor, der hatte bestanden!Schwengel tat geschmeichelt und wollte Askulap anfangen; aber seine Tochter machte ihrem Vergnügen so vernehmlich Luft, daß ihre Mutter sie vorwurfsvoll zur Rede stellte:

„Was wieder für ein Lärm und Gelächter! Im höchsten Grade unfein! Und wie du aussiehst! Rote Flecken im Gesicht und zerzaustes Haar!“ Die Stimme dämpfend fügte sie bei: Was muß der denken!“

Krimhild kehrte sich nicht an die Schelte, sie zuckte die Achseln und setzte ihren Rundgang mit der Ceekanne fort.

Da meldete sich Kandidat Blötherlein, ein nerven [120] kranker Herr mittleren Alters, der hinreichend windschief und zerstreut aussah, um ein grundgelehrtes Haus zu sein, mit dem Geständnis, zwar sei er nicht von fern ein Tierbändiger, vor wirklichen Schlangen nehme er schleunig Reißaus, aber er habe ein Buch in Arbeit, das den Titel führe: „Die Schlange in der Kultur.“

Ob dieser Neuigkeit vergaß Faxon seine bis jetzt bewahrte Würde vollständig; er sprang auf, drehte und wand sich um sich selbst und war auf dem besten Wege, durch ein kreisrundes Rumpfbeugen rückwärts seinen Kopf zwischen den gespreizten Beinen durchzuschieben und so am Ende noch, wie Herr Blötherlein unter allgemeiner Heiterkeit bemerkte, sein eigenes Haar aus der Vogelperspektive zu besichtigen.

Als bei dem gesetzteren Teile der Anwesenden, vornehmlich bei den schwarzgekleideten, nervösen alten Damen das unverhohlene Mißfallen über dieses akrobatische Zwischenspiel sich gelegt hatte, hob Blötherlein nochmals nachdrücklich hervor, zu einem Schlangenmenschen nach Zirkusart fühle er nicht von ferne das Zeug in sich; es handle sich bei ihm um die Emblemsymbole: um das Ringeltier in der Bild- und Gedankenwelt vergangener Zeiten, also: um die Schlange im Sündenfalle, um die eherne Schlange in der Wüste,dazu um das Drachenmotiv des antiken Mythus, um die zum Kreis gebogene Schlange, die sich in den Schwanz beiße.

„Ich fand“, erzählte er, „in einem alten Druck ein Gedicht, das lautet:

*1 []„Bei Eva holt sich Adam Rats Doch Eva sprach: die Schlange tats;Die Schlange aber hielt den Mund Und züngelte im Hintergrund.“

Sie hätten sehen sollen, wie auf dem derben groben Holzschnitt das menschliche Gesicht der Schlange recht maliziss auf unsere Stammutter herunterblinzelt.“Faxon schrie Bravo. Krimhild klatschte in die Hände.Frau Schwengel jedoch richtete mit ihrem preziösen Augenaufschlag an Blötherlein die Gewissensfrage:

„Aber mein bester Herr Blötherlein, wenn Sie ein dickes Buch über die Schlange im Paradies schreiben glauben Sie denn an den Teufel?“

Schwengel trachtete die Pause, die nun erfolgte,abzukürzen.

„Ach, Mamachen,“ lachte er trocken, „muß es denn gleich einer mit Hörnern und Feuergabel seind Ubrigens nicht übel: Und zischelte im Hintergrund. Wirklich nicht übel! Oder heißt es züngelte? Züngelte oder zischelte bleibt sich ja ganz gleich!“

Zwei von den schwarzgekleideten nervösen alten Damen standen auf, und bald ging es an ein allgemeines Gut Nacht sagen.

Schwengel begleitete Zwinger persönlich in die Turmstube des ersten Stockwerks, die er bewohnen sollte. ,Hier tu'n Sie als ob Sie zu Hause wären. Platz genug für zwei, wenn es sein muß. Haha. Und ein Komfort wie bei Fürsten!“F []Mit großer Wichtigkeit hantierte er an einer Zugvorrichtung an der Erkerwand herum, scheinbar um Gardinen auf und nieder zu lassen. Aber Zwinger vernahm ein knirschendes und kreischendes Geräusch zu seinen Bäupten und blickte über sich an das gewölbte Erkerdach. Es teilte sich und spaltete sich auseinander.

Das war auch noch so eine der überflüssigen Liebhabereien Schwengels beim Hausbau gewesen; er dachte mit der Zeit eine kleine Sternwarte oder Wetterstation im Turm einzurichten und leistete sich daraufhin den Luxus einer verschiebbaren Kuppel.Aber das unterblieb wie noch mehr als eine der vorgemerkten Anlagen.

„Wissen Sie, Dokterchen, wenn es nach mir gegangen wäre! Tausend und eine Nacht wäre nichts dagegen!Genau wie Aladins Wunderkuppel! Oder richtig das war ja eine Lampe. Aber so in dem Genre etwa.Sie verstehn mich! Ein italienischer Maurer hat mir den Kopf vollgeschwatzt, wie das in seiner Heimat auf den Türmen der nobeln Paläste der Brauch sei Hut auf, Hut ab, je nachdem! Verstehn Sie.“ i

Mit sonderbaren, nicht eben angenehmen Eindrücken begab sich Melchior dieses erstemal zur Ruh'.

„Das kann nett werden,“ dachte er, „wenn der immer nur leeres Stroh drischt. Und die Gesellschaft ist meist recht zweifelhaft.“

Er nahm sich fest vor, gleich morgen früh seine ernsteren Ansprüche unmißverständlich durchblicken zu lassen. [12] Ihm gegenüber lag, nur durch den Flur getrennt,Schwengels Sprechzimmer. Es war noch früh, als er dort anklopfte und eintrat.

„Nund Wie behagt es Ihnen bei uns?“ forschte Schwengel.

„Ach“, sagte Zwinger kühl, „bin ich denn der Gesellschaft wegen hierd Darüber machen Sie sich keine Sorge!“

„Darüber nicht“, repetierte Schwengel scheuen Blickes, „aber über etwas anderesd Sorge! Also doch Sorge! So sind Sie noch nicht unbedingt unser?

„Herr Schwengel, ich bin Ihr Mann, insofern ich es mit Ihnen wage. Aber mich blindlings an Sie ketten, kann ich nicht.“

Schwengel ging unruhig quer durch das Zimmer,hin und her:

„Damit ist mir nur halb gedient, das werden Sie doch einsehen. Ich soll Ihnen mein Geheimnis ausliefern. Eine gewisse Sicherheit ist doch das mindeste,auf das ich Anspruch habe. Ich brauche einen Nachfolger, einen Jünger. Sonst bring ich es zu keiner Ruhe mehr in diesem Leben. Vielleicht um so rascher in einem andern.“

Zwinger, der Schwengels Kreuz und Quergänge im Zimmer herum durch eigene Zickzackwanderungen ergänzte, stellte sich jetzt vor ihn hin.

„So kommen wir nicht weiter, Herr Schwengel.Vergessen Sie doch nicht, was ich schon im Punkte des Vertrauens wirklich geleistet habe. Doch nicht mehr und nicht weniger als einfach einen Strich durch meine []gesicherte Zukunft gemacht. Beweise, daß es mir ernst ist, haben Sie. Nun muß es sich zeigen, ob Ihr Lebenswerk, wie Sie's nennen, auch so geartet ist, daß ich es zu meinem Berufe umschaffen kann. Da muß vieles übereinstimmen. Das sehen Sie eind Gut! Dann wäre ich dafür, nicht länger unsere teure Zeit mit langen Reden zu verschwenden. Frisch ans Werk!“

Unter den Kurgästen hatte Zwingers Ankunft freudige Erwartungen geweckt. Einen Uberläufer seines Schlages sah man in dem Seyaratistenzirkel mit dem Glorienscheine des Bekenners angetan und erhoffte ein neues Aufblühen der unterdrückten und verfehmten guten Sache. Unter diesen Umständen wollte niemand auf die eigene Besserung verzichten.

Die Sprechstunde war belagert von dem Dutzend wirklicher und eingebildeter Kranken, auf die zur Zeit das Sanatorium seine Daseinsberechtigung gründete.

Zwinger empfing die Leidenden. Der fremde Eindruck seines sonderbaren neuen Berufes schwand, sobald er über der ersten Untersuchung sich einer kleinen Allmacht bewußt wurde.

„Es hat was für sich“, dachte er, während der Patient, eine der alten Damen, sich umständlich auszog,„daß ich mir keine Mühe verdrießen ließ, um gewissenhaft ein ansehnliches Schulränzlein ordentlicher Kenntnisse zusammenzupacken. Ich weiß, wie's im gesunden Körper aussieht, und was der kranke Körper für Gesichter schneidet und für ein Rauderwelsch redet, weiß ich einigermaßen ebenfalls.“

Und so tat er denn, was seines Amtes war, horchte 45 []mit wanderndem Ohre einen Leib um den andern ab,methodisch, gewerbsmäßig, mit der Sicherheit des geübten Handwerkers, und als der Letzte entlassen war,da zweifelte er nicht einen Augenblick an seiner vollkommenen Kunstfertigkeit und vermochte nur mit schwer verhehltem Mitleide diese und jene Rede an den alten Schwengel zu richten.

Der wußte eigentlich blutwenig! Als er ihn bat, die Verlagerung einer Gefäßwand ebenfalls mit den schulgemäßen Handgriffen, die er ihm zudem vormachte,festzustellen, gebärdete dieser sich so linkisch, daß man hätte meinen sollen, er bekomme solche Dinge zum ersten Male zu fühlen, und als er nach dem symptomatischen Knistern einer Lungenspitze dem Schreibenden in die Feder diktierte: „Kleinblasiges Geräusch“guckte ihn der so verdutzt an, wie wenn es sich um das fremdeste Fremdwort handelte.

»Aber nach der Sprechstunde maß Schwengel ihn mit einem langen Blick; seine Stimme tönte spöttisch:

„Ja, da haben wir es ja. Das Kind muß einen Namen haben. Was es taugt, ist Nebensache. Die Arzte wissen, was uns fehlt, also machen sie uns auch gesund. O Verblendung über Verblendung! Als ob mein Hund jedem schon gehorchte, der ihn zu rufen weiß! Sie sind noch jung. Wenn Sie nicht zu hochmütig sind, auf einen alten Mann zu hören, so fliehen Sie die Verkünstelung und kehren Sie zur Naturzurück.“

Zwinger unterbrach hier den Lehrmeister schroff.Es verdroß ihn, abermals seinen bis jetzt doch schon zur Genüge bewiesenen Vorschuß an gutem Willen [48] von Schwengel immer noch nicht in Rechnung gebracht zu sehen.

„Als wäre meinerseits noch nichts geschehen! Das möcht ich mir ein für allemal ausgebeten haben. Umsonst steh' ich doch nicht vor Ihnen. Wie wäre das anders zu bewerkstelligen gewesen, als eben durch die Flucht, zu der Sie mich erst noch auffordern.“

Da ertönte aus dem einen, dem Wartezimmer entgegengesetzten Nebengemach ein mäßiger Jubel von Mädchen und Kinderstimmen. Schwengel hatte kaum die ersten Laute vernommen, so leuchtete sein Auge auf. Er öffnete triumphierend die Türe.

Zwinger schaute in ein sauberes, mit glasierten Steinplatten ausgeschlagenes Kabinett und erkannte bald das im Hausbau mit vorgesehene, geschickt ausgedachte Caboratorium zur Herstellung der frischen Pflanzensäfte. Auch blinkten ihm, spiegelblank geputzt, die Metallteile der Fruchtpressen und des für die Abkochungen bestimmten Herdes entgegen.

Als er, durch Schwengels lebhafte Winke aufgefordert, eintrat, stand im Hintergrunde eine Schar von Bauernkindern und jungen Frauen, mit einer ganzen Ernte von Kräutern und Heilpflanzen beladen.Sie wünschten laut und deutlich Guten Morgen.

Das sehen Sie sich erst an“, rief Schwengel erregt,„das sind meine Hilfstruppen. Was die auf dem Arm tragen, davon wird die Welt gesund und nicht von den Drogen und Giftgetränken. Ihren Herrn Vater meinte ich nicht: Sie brauchen nicht gleich wieder zu denken, ich sei ein Grobian.“ [48] Schwengel hatte sich aus dem Landvolk der Umgegend eine kleine Dienerschar herangezogen, die Bescheid wußte über den Standort der Pflanzen und über die beste Erntezeit. Entweder es wurden nun gleich im Sommer die Säfte aus den frischen Gewächsen in großen Mengen bereitet oder die betreffenden Blätter, Stengel oder Blütendolden gedörrt und für spätere Verwendungen aufbewahrt.

Die bäuerlichen Sammler und Zuträger standen vor ihren Büscheln und Bündeln und vollen Körben.Ein jedes legte seine Ware auf ein bestimmtes Brett oder den betreffenden Behälter, wie es durch besondere Emailschildchen noch ausdrücklich vorgemerkt war.Hier lag die Schafgarbe mit ihren rötlichweißen Trugdolden und den fiederschnittigen Blättern, da das gläsern schimmernde, zerbrechliche und doch rauhe Cungenkraut mit den rot aufblühenden und blauwelkenden RiesenVergißmeinnichtblüten, dort der Schachtelhalm mit dem strohgelben Stengel und der mit Uränzchen besetzten Kolbenähre. Das Hirtentäschelkraut voller Schotenherzchen, die gelbköpfigen Schäfte des Huflattichs in ihren weißwollenen Wämsern, die böse Brennessel, die Kuhblume Löwenzahn, der Vogelknöterich, die glatten, bittern Herzblätter des Flieders das alles sah Zwinger rings umher in Bündeln und Garben ausgebreitet. Dazwischen Körbe mit Blättern der Erdbeere, der Walnuß, der Weinrebe, oder es türmten sich kleine Beigen von Eichen und Birkenrinde.

Das Fenster stand offen. Die Zugluft mischte alle die Düfte, die von den einzelnen Pflanzen im Hin

F []welken besonders wahrnehmbar aufftiegen, in einen kräftigen Würzhauch zusammen.

In der heilkräftigen Zubereitung der nun schon zum wieviel hundertsten Male hier ausgelegten Kräuter bestand die wirkliche und unanfechtbare Tüchtigkeit Schwengels, und wenn er bei der zunehmenden Reizbarkeit seiner älteren Cage dazu die Geduld verlor,Die Pressungen und Abkochungen, denen sie seit Jahren vorstand, hatten noch jeder Probe genügt, so oft und unvermutet der Vater sie vornehmen mochte.Dies hob er nun auch Zwinger gegenüber hervor und zupfte unter allerlei nervösen Zwischenrufen bald da einen Stengel an oder stieß dort noch einen vorstehenden Stiel in den Gesamthaufen zurück, wog auch das eine und das andere Bündel auf der Wage und was solcher kleinen Handlungen mehr waren;dann aber schützte er eine Abhaltung vor und bat Zwinger, sich mit Krimhild ins Einvernehmen zu setzen: er werde sie heraufschicken.

Geräuschlos und bescheiden, mit dem schlichten Tagesgruß, betrat Krimhild die Kräuterküche.

Er hätte sie beinahe nicht wiedererkannt. Weniger der hellblauen, steifgestärkten Rockschürze wegen, die sie von unten bis oben umhüllte und ihre sonst schlanke, geschmeidige Gestalt recht stattlich und frauenhaft erscheinen ließ. Es war, als gäbe überhaupt nicht ein äußerer Unterschied den Ausschlag, als nahe sie ihm in einem anderen Geifte.

Sie ging mit einer Selbstverständlichkeit vor, als

Bernoulli, Zum Gesundgarten [49] ahnte sie nicht, was sie bei der neuen Bekanntschaft auf eigene Rechnung und Gefahr einbüßen oder verpassen könnte. Weder benahm sie sich naseweis oder altklug, noch benutzte sie den Vorsprung an Fertigkeit und Kenntnis dazu, ihm beiläufig einen billigen Bären aufzubinden. Wenn Sie einen Blütenstengel hochhob oder eine Flasche gegen das Licht hielt, tat sie das mit jener hausmütterlichen Zutat, die zwischen der chemischen Retorte und dem LKüchengeschirr eine Verwandtschaft herstellt. Nach einiger Zeit war die Lektion erteilt.

Zwinger überschlug in Gedanken, was er noch zu fragen oder zu beanstanden hätte. Nicht das geringste.Er hatte alles begriffen, und unwillkürlich schaute er seiner Lehrmeisterin voll in die Augen. Auch da war nichts Gemachtes oder künstlich Aufgedrehtes zu entdecken.

Die Saftpressen waren bereits außer Tätigkeit.Die Kessel am Herd standen über dem flammenden Feuer. Es zischte und brodelte. Krimhild wechselte noch einige Eisenringe und Deckel. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl und konnte ausruhen; fürs erste blieb nun weiter nichts mehr zu tun.

Da trat Frau Schwengel bei den beiden ein, einen üppigen Strauß prachtvoller Teerosen in der Hand.

„Krimhild, Herr von Schlotten ist hier. Eben angekommen. Er bringt uns Rosen. Ich behielt die roten und gebe dir diese. Ist es nicht ein Staat? Schauen Sie nur, Herr Doktor! Haben Sie schon etwas so Schönes beisammen gesehend“

81.

[]Krimhild murrte: „So! die dunkelroten hast du behalten.“

Frau Schwengel tat etwas verletzt.

„Ich dachte gut zu wählen, mit dem helleren Strauße für dich als Mädchen.“

Krimhild stampfte leise mit dem Fuße auf.

„Was braucht der überhaupt zu kommen. Ist das Anstand, mich unablässig zu langweilend Ich habe schon hundertmal gesagt, ich wolle nicht.“

„Meinst du denn, mir seien die Besuche gelegen?Wir können ihn doch nicht empfangen, wie wir wünschten in einem Haus voll Kranker kann man nicht Rücksicht nehmen, wie man gerne möchte.“

Sie verließ die beiden eben so unvermutet, wie sie zwischen sie getreten war die Rosen hatte sie auf die Aberbleibsel einer Garbe Kamillen hingelegt.

„Sind Sie nicht ein bißchen zu rasch gewesen“, fragte Zwinger nach einer Pause, während der Krimhild unverwandt die Augen auf ihn gerichtet hielt.

Nun zuckte sie lässig mit den Schultern.

„Zu raschꝰ Beim so und sovielten Male, noch zu rasch.“

„Hält Sie Ihre Frau Mutter sehr strenge d“

„Wie ein Kind bin ich behandelt.“

„Aber doch nicht von Fremden. Eltern sehen leicht in ihren Kindern immer noch „das Kind“. Kommt in den besten Familien vor.“

„Das ist es nicht, sehen Sie. Mama fürchtet, wenn ich nicht bald einmal zugreife, so könnte sie um etwas kommen.“ [531] „Und Ihr Herr Vater?“

„Fragt die Frau Mutter, was er zu finden habe.“

„An Ihrer Stelle würd' ich mir den Herrn doch noch einmal anseh'n.“

„Werdeich wohl müssen, ich fürchte eshilft ihm nichts.“

„Das können Sie zum voraus nicht so bestimmt versprechen. Vielleicht stellt er es nicht so ungeschickt an, wie Sie es ihm zutrauen.“

Urimhild drohte mit dem Finger: „Wollen Sie wohl ruhig sein, Sie! Das kann nämlich noch eine ernsthafte Geschichte werden mit Schlotten! Bis ich eines Tages bei Nacht und Nebel über alle Berge bin. Ja ja, schauen Sie mich nur an.“

Dabei wendete sie sich nach dem Fenster, machte sich an einem Riegel zu schaffen und summte vor sich hin, kehrte dann aber wieder auf ihren früheren Platz zurück. Zwinger, der nun seine Augen schärfte, bemerkte, wie ein erhöhter Ernst auf ihren Gesichtszügen langsam von einem verlegenen Lächeln durchbrochen wurde.

„Ach was!“ machte sie, „Ihnen kann ich's eigentlich sagen: ich ich mein Herz ist anderswo; ich bin nicht frei mehr.“

„Das ist was anderes!“ versetzte Zwinger mit einer leichten Verneigung.

Sie hielt ihn mit einem Blicke fest und errötete.

Noch eins: er heißt: Hans. Mehr darf ich nicht verraten. Ach nein doch nicht Hans. Aber irgendwie heißt er schon, und wir wollen ihn einstweilen Hans nennen.“

5*[]Als sie sah, wie Zwinger darauf hin stutzte, zog sie einen Briefumschlag aus der Schürzentasche, führte ihn an den Mund und drückte einen Kuß darauf.

Nun dämmerte es Zwinger allmählich, er werde auf eine liebliche Weise zum Besten gehalten.

„Hören Sie, jetzt wird mir die Sache doch etwas gar zu gartenlaubisch.“

„Mein voller Ernst. Ich bin drauf und dran. Ich setze meinen Willen durch und scheue kein Opfer.“

„Nun!“ nickte Zwinger, dem die Situation, sollte auch ihre Wahrhaftigkeit auf schwachen Füßen stehen,Spaß zu machen begann „wenn es sich so verhält und Sie einen Ritter in der Not brauchen bitte “

„Ich darf also auf Sie zählend“

„Nous allons voir. Wenn's mir zu bunt wird, kann ich dann immer noch streiken.“

„Es wäre lustig wie man das zuweilen in Romanen liest. Ich in meinem grauen Reisemantel, an Bord eines kolossalen Amerikadampfers, wenn der Uessel stampft und staucht und man den ganzen Tag auf und nieder tanzt, wie auf einer Wippe.“

Und beim Gedanken an eine derartige Ausreißerexistenz erfaßte sie eine solche Lustigkeit, daß sie ganz übernommen wurde und von jähem Gelächter zu einer förmlichen Rumpfbeuge vorwärts in sich zusammenklappte gegen allen Tanzstundenanstand.Da wußte er denn: eine raffinierte Kokette war das nicht. Das war ein ausgelassenes Kind. Er bekam es da mit einem fröhlichen Kameraden zu tun.

23 [8] „Krimhild!“ tönte die heisere Näselstimme des alten Schwengel durchs Haus herauf.

„Ich komme schon!“ warf sie über die Schulter und wandte sich zur Türe, blieb aber vor dem Rosenstrauß stehen und griff danach.

„Urimhild!“ ertönte es abermals und schärfer.

„Ja doch!“ rief sie; sie schrie es ordentlich, ließ sich aber im übrigen nicht stören. Zwinger sah ihr zu, wie sie sich anschickte, die herrlichen Blumen zu betrachten und den Wohlgeruch sich zu Gemüte zu führen.

Er lauerte insgeheim, ob nicht ein nichtssagender und gerade darum verräterischer Blick, so von ungefähr aus dem äußersten Augenwinkel ihm schräg zuschieße.

Aber sie blieb unbeweglich abgewendet. Ihrem Auge war die lange, dunkle Wimper vorgesunken. Die Brust hob sich sichtbar in tieferem, regelmäßigem Atemholen. Den Strauß hielt sie sich entgegen, dicht unter das Antlitz.

Jetzt war Ruhe bei ihr eingekehrt, die schöne Ruhe der gedankenlosen, unmittelbar stillenden Befriedigung. Dem wirr umher zerstreuten und seine Zweckmäßigkeit aufdringlich ausdünstenden Gesundheitsheu hatte ihre Hand den Strauß Rosen entrückt, und nun kam nichts Früheres mehr in Betracht. Sie versank dem Geschenk dieser nächsten paar Sekunden und nahm Anblick und Duft der blühenden Schönheit in sich auf.

Nun erst verließ sie ihn, und Melchior dachte bei sich nur immmer aufs neue: „Was, ein Barond So, so,ein Barond Das wäre doch aber dumm von ihr.“ [37] Der Freiherr von Schlotten fügte sich unauffällig der Zahl der Kurgäste ein.

Noch bevor er vorgestellt wurde, fand Zwinger Gelegenheit, ihn von ferne zu betrachten, hinter einer Zeitschrift hervor, auf einem Stuhle abseits. Der Baron, mit den Schwengels im Gespräch, kehrte ihm den Rücken zu: noch sah er nichts vom Gesicht, nur den eckigen, starken Kopf und den steifen, sehnigen Nacken. Da dachte er: der Mann hat Kraft. Dann sah er ihn von der Seite: die gebuckelte Stirn, die breite Wange, den hervorspringenden Knochen. Da sagte er sich: der Mann hat Willen. Schließlich, herangerufen und bekannt gemacht, sah er ihn von vorne und war überrascht, ein schmales, längliches Gesicht zu finden,einenkleinen, hübschen Mund, um den ein feines, kinderhaftes Lächeln spielte, und zwei Augen, die sich ganz still verhielten. Da sagte er sich: der Mann hat Gemüt.

Schlotten überflog Zwinger, als er vor ihm stand,mit einem Blicke.

„Ja, der war's, der rief damals Zutreffer zur Vorlesung!“ Er ließ nichts merken; der Arzt erkannte ihn offenbar nicht wieder.

Zwinger sprach in der Tat den Baron wie jemand ihm gänzlich Unbekannten ganz ins Allgemeine an und zog sich nach wenigen Minuten wieder von der Unterhaltung zurück.

Er wollte noch in der lauen Nachtluft vor dem Hause auf und abgehen und stieß auf den Kandidaten Blötherlein, der, die Uhr in der Hand, vor dem Schlafengehen seine Abendpromenade erledigte.

* [5] „Ah,“ sagte, von einigen genealogischen Kenntnissen geleitet, der KRandidat, „die Freiherrn von Schlotten,potztausend! Alter Adel! War denn das nicht ein Schlotten, der unter dem Herzog “, und er ließ eine langfädige Weisheit von der Spule laufen.

Der Kellner Albert, der nichts mehr zu tun hatte und müßig vor der Haustür stand, mischte sich, von Blötherlein um etwas befragt, in die Unterhaltung.Zwinger hörte ihm erstaunt zu. Eine solche Bemerkung erwartete man nicht gerade von einem Kellner.

Albert sagte: „Ja, das ist noch ein echter Aristokrat,der es im Blute hat und nicht anders kann. Einst auf einer Reise ist ihm das Geld ausgegangen, und als er dann angebettelt wurde, schenkte er seine letzte Zigarette weg, die er sich eben hatte anzünden wollen.Ich weiß das von seinem KNammerdiener, der früher mit ihm hier war.“

Krimhild sorgte dafür, daß Zwinger bei Tisch neben Schlotten zu sitzen kam. Am zweiten Abend, kaum war man vom Cisch aufgestanden, so stürzte sie sich auf Zwinger, zog ihn ins Wohnzimmer hinüber und unterwarf ihn ohne Umstände einem förmlichen Verhör.

„Und du

Nund“

„Unterhalten?“

„Sehr gut sogar. Er war nicht so zugeknöpft wie das erstemal.“

„Dazu ist er doch viel zu schlau.“

„u schlau?“ [534] „Er hat doch gemerkt, daß ich mit Ihnen gut stehe.“

„Wie unartig! Statt einzusehen, wie aufrichtig er es meint. Glauben Sie denn, es koste einen solchen Herrn keine Uberwindung, sich auf ignobelen Chambregarniemöbeln niederzulassen, einen Feinschmeckerkeine Uberwindung, für die Tartarbeefsteaks aus roten Rüben oder Kartoffelkoteletts Appetit zu heuchelnd Und das haben der Herr Baron doch alles, ohne eine Miene zu verziehen, getan.“

„Und deswegen soll ich ihn heiraten. Sie sind wirklich zum Totlachen.“

Mein. Aber spielen sollen Sie nicht mit ihm wie die Katze mit der Maus.“

„Dem tut das doch nichts. Der ist abgebrüht. Ich hab es ihm ins Gesicht gesagt: Wer weiß, wieviel Frauen Sie überhaupt schon haben, und die fünfte zu sein, danke!“„Das hätten Sie ihm gesagt?“

„Ja wohl! Das wäre bequem, sich amüsieren und herrlich und in Freuden leben, so bis gegen sein vierzigstes Jahr, und dann heiraten, um aufgehoben zu sein, wenns Alter kommt.“

Nochmals. Das haben Sie dem Baron gesagtd“

„Aber natürlich. Haarklein so. Darüber wurde erdoch nicht böse. Er senkte den Kopf ein wenig, schmunzelte und schaute mich so von unten auf an.“

„Diese Behandlung!“

„Das ist nicht alles. Ich will's Ihnen sagen. Ich hab ihm auch einen Brief geschrieben aus freien Stücken.Und durch den Albert ihm ins Chalet hinübergeschickt. [57] Hochgeehrter Herr von Schlotten! Ich danke für die Rosen und danke für die Bonbons. Ich habe noch nie so schöne Pralines geschenkt bekommen. Aber Gedankenstrich und Ausrufungszeichen! Ihre Sie sehr hochschätzende.“

„Schämen Sie sich doppelt und dreifach!“

„Ich mich schämen? Warum nicht gard“

Nach und nach fanden sich die andern, die sich noch auf der Veranda und im Garten aufgehalten hatten ein. Schwengel wollte in seiner etwas weit getriebenen Leutseligkeit Schlotten nötigen, sich auf das Kanapee niederzulassen, in dessen altersschwachem Zustande gerade seine nicht zu verachtenden Vorzüge lägen.

„Es hat Berge und hat Täler. Suchen Sie sich ein Tal aus.“

Nun kannte erstens der also Geehrte den Witz bereits, und sodann lag diese Zumutung jenseits der Grenze, die zu überschreiten er Lust verspürte.

An einem runden Tisch, auf dem Bücher lagen, saß Frau Schwengel in eins vertieft. Es war eine Anleitung zum Studium der Handfläche. Was andere sich als Zeitvertreib gefallen lassen, war ihnen wert genug, allen Ernstes dran zu glauben.

„O die KUunst hat ihr wahres!“ sagte Frau Schwengel unter bedeutsamen Augenaufschlag.

Krimhild war an Zwinger herangetreten und betrachtete die Innenfläche an seiner Linken, da sie sich an diesen Weisheiten mit großem Cifer zu beteiligen pflegte.[]„O prachtvoll!“ rief sie aus, „eine Linie wie ich sie so noch nirgends fand!“

Welche?“

„Diese hier, die alle andern schneidet. Sehen Sie,senkrecht läuft sie von der Handwurzel nach dem Mittelfinger. Nein, aber sieh nur schnurgerade!“

Herr von Schlotten prüfte sich die eigene Hand auf das Vorhandensein seiner Erfolgslinie und fand nur geringen Rückhalt für eine Verheißung.

Urimhild wandte sich ihm zu.

„Ihre Hand, Herr Baron.“

Zwinger hörte, wie er mit gedämpfter Stimme raunte: „Sie bitten mich um meine Handꝰ“

und traute seinen Ohren nicht, als Krimhild zurückgab:

„Halten wir's nun einmal umgekehrt.“ Dabei faßte sie von Schlotten an den Fingerspitzen, die dieser ihr willig überließ.

„Sehn Sie, der Ballen da unten am Daumen: hu!bei Ihnen ist's ja ein förmlicher Hügel. Schon gut Danke!“

Krimhild hatte sich dann an Faxon herangemacht,der eben erst aufgetaucht war. Sein Hals steckte in einem furchtbaren Stehumlegkragen, so daß man versucht wurde, sich zu fragen, wer ihn wohl da hineingehoben habe.

„Schon mehr Großvatermörder“, bemerkte Blötherlein.

Faxon setzte sich auf einen niederen Feldstuhl in der hintersten Ecke, mit tief unglücklichem Gesicht, aber die 59 []Hände in den Hosentaschen. Krimhild wunderte sich über seine Niedergeschlagenheit.

„Ist Ihnen eine vom Dutzend untren geworden?“

Faxon zuckte verächtlich mit der Wimper und würdigte sie keiner Antwort. Das verdroß sie.

Auf dem Teetisch stand ein Fruchtkorb mit Apfelsinen. In den griff sie hinein und warf Faxon einige an den Kopf: „Da! Eins! Zweil! Drei!“

Vor Freude über diese Form der Berücksichtigung verzerrte Faxon sein Gesicht, fing die OGrangen auf und schickte sie ebenso rasch und geschickt zurück. Eine Zeitlang spielten sie zusammen in immer schnellerem Tempo Ball.

Plötzlich befiel Krimhild eine neue Laune. Mir nichts,dir nichts wurde der weit abstehende Zwinger durch einen unvermuteten kühnen Querwurf aufgeschreckt und zur Teilnahme genötigt. Sie warfen nun die Bälle mit unverminderter Geschwindigkeit an der Lampe vorbei und über die Köpfe weg sich kreuzweise zu.Der durch diese Kunstfertigkeit im Dreieck entfachte und durch die Flucht der schwarzgekleideten, nervösen alten Damen noch gesteigerte Lärm gab Schwengel Gelegenheit, die Würde des Hauses zu wahren.

An der Wand stand der übliche Pensionsklimperkasten in unechtem Palisander.

Er öffnete den Deckel des altersschwachen Pianos,das er wie den kostbarsten Konzertflügel behandelte.Ein durchdringender Kampfergeruch entstieg dem Saitengehäuse. Die Motten hausten verheerend darin, und da Schwengel die Kosten der Neubefilzung nicht auf [650] wenden konnte, so reinigte er die Innenwände hie und da mit einer Drahtbürste und vor allem eben betrieb er mit großer Zähigkeit die Vernichtung des Ungeziefers, wie er beizufügen pflegte.

„SZwar nicht mit Blei, aber doch mit Pulver.“ Er konnte nicht genug rühmen, als Erfolg seiner unausgesetzten Wachsamkeit versagten einstweilen nicht mehr als zwei Tasten, eine weiße oben und eine schwarze unten.

Frau Schwengel erteilte Krimhild unterdessen eine ihrer üblichen Verweise, weil sie rote Flecken im Gesicht und in Strähnen aufgelöstes Haar hatte von dem tollen Getue.

Krimhild jedoch setzte sich ans Kavier und spielte einen Walzer. Kaum hatte sie begonnen, so sprang Faxon wie elektrisiert auf, ergriff die drei Orangen wieder und warf sie als fertiger Taschenkünstler mit seinen Händen durch die Luft, ohne daß eine einzige ihm zu Boden fiel. Selbst die alten Damen faßten jetzt Zutrauen zu seiner Geschicklichkeit und blieben im Bereiche seiner Fingerfertigkeit ruhig sitzen.

Da kam der Kellner Albert zornig auf Faxon zugerannt, fing ihm seine Bälle, einen um den andern,ab, warf sie in den Korb und stellte diesen da hin, wo er gestanden hatte. Faxon ließ sich diesen Eingriff ohne Widerrede gefallen.

Noch mehr wunderte sich Zwinger aber, daß der Kellner offenbar die Rücksichten eines Machthabers in Anspruch zu nehmen gewohnt war. Mit dersanftesten Stimme, die sie eigentlich nur noch gegen Schlotten 61 []in Anwendung brachte, lud ihn Frau Schwengel ein,mit Krimhild vierhändig zu spielen. Alsbald saß er neben ihr in seinem Frack und führte mit ihr einiges gemeinsam aus.

Als er sich vom Stuhl erhob, stellte Krimhild, ohne ihn erst zu fragen, ein bereits aufgeschlagenes rotes Heft auf das Pult, setzte sich hin und fing an zu begleiten.

Da legte der Kellner mit einer Leidenschaft und einer Stimme los, daß Zwinger seinen Augen und Hhren nicht traute.

Nicht nur gebärdete sich der Sänger hingerissen und fassungslos; auch Krimhild, unbekümmert, was ihre hände zu spielen hatten, saß aufgerichtet, das Gesicht der Zimmerdecke zugekehrt und sog offensichtlich die Leidenschaft des Kellners ein Durst und Gier auf den Mienen, und eine schöne Wildheit im Antlitz.

Einzig er war ob dieser Darbietung wie aus den Wolken gefallen. Die andern wußten von Albert wenigstens soviel, er habe früher bessere Tage gesehen.

Er faßte den unerwarteten Vortragskünstler schärfer ins Auge, und da wurde ihm, als müßte er ihn schon irgendwo gesehen haben.

Als die Gesellschaft sich auflöste, näherte er sich ihm. Albert verzog den Mund.

„So wollen Sie mich doch wieder kennend“

Er entsann sich Zwingers aus dem gemeinsamen klinischen Erstlingssemester sehr wohl. Dann hatte er dem medizinischen Studium Valet gesagt und mit eini [32] gen minderen Streichern und Bläsern als deren Klavierspieler und Dirigent eine wandernde Tanz und UAurkapelle gebildet und in dieser Eigenschaft auch wohl im „Gesundgarten“ gewirkt.

Warum er dann, als es mit dem luxuriösen Aufwand dort nichts mehr war, in der niederen Stellung eines Aufwärters geblieben war, hätte Zwinger gerne in Erfahrung gebracht. Aber ein Verhör anstellen wollte er nicht und Albert wurde immer einsilbiger und verschlossener.

Er nippte nur noch an der verschalten Brauselimonade, die ihn Zwinger hatte sich holen heißen, und schließlich schlief er, auf dem Stuhle sitzend, vor dessen Augen ein.

Als Zwinger dann unter eigentümlichen Zweifeln rücksichtsvoll bereits eine Weile vorher die Treppe hinangestiegen und in seiner Turmstube verschwunden war, erschien unten in dem verlassenen Gesellschaftszimmer, wo der übermüde Kellner noch immer eingenickt auf seinem Stuhle hing, ganz allein Krimhild.

Eine Zeitlang betrachtete sie den Schlafenden mit einem rätselhaften Blick: einem Gemisch von Mitleid und Rachsucht. Dann trat sie auf den Zehen heran und tupfte ihn mit dem Mittelfinger, den sie allein von den Fingern der rechten Hand ausgestreckt hielt,auf der Schulter an. Er erwachte sofort. „Vorwärts,Albert“, sagte sie ruhig, „komm, ich will dir noch helfen aufräumen. Armer Kerl, so müde bist du. Oder geh [63] gleich ins Bett, ich will für heute statt deiner überall löschen und riegeln.“

Er rieb sich die Augen frei, verkniff sich ein Gähnen und schraubte dann die eine Hängelampe aus.

„Gut, daß du mich aufgestört hast. Es ist niederträchtig, so sitzlings vom Schlaf überrumpelt zu werden.Du wolltest mir eben zu schaffen machen und bedrängtest und drücktest mich als Nachtmär und hast mich nun,ich möchte sagen, von dir selbst befreit.“

Sie brachten das Zimmer rasch in Ordnung und als sie das Klavier schlossen und die Noten wegpackten,sagte Krimhild:

„Weißt du, daß ich eigentlich gekommen bin, dir zu danken, weil du heute Abend so schön gesungen hast.Da geht einem das Herz auf, wahrhaftig ja. Sie haben es alle gesagt im Hinaufgehen.“

Albert schwieg eine Zeitlang und richtete dann seine Augen auf sie:

„Also das hast du doch gemerkt. Im übrigen brauchst du dir nichts einzubilden. Ich habe nur für mich selbst gesungen, nicht für dich. Sozusagen mein Abschied man kann nicht wissen.“

„Hohol“ stutzte sie verwundert, „das klingt ja wie:Bitte morgen früh die Rechnung zum Zug 7 Uhr 28.“„Ich habe mein Köfferchen gepackt für alle Fälle. Mit welchem Zug wird sich dann weisen.“

Sie gab sich den Schein, aus dieser Andeutung sich nichts zu machen.

„Herr, dunkel ist der Rede Sinn. Wir wollen doch 4 []lieber schlafen gehn. Ich ins Oberstübchen und du in den tiefen Keller.“

Da trat er an sie heran und sagte zu ihr mit verhaltener Stimme:

„Wie's dem Fräulein beliebt. Laß dir nur eins sagen.Du magst es hoch im Sinn haben und einen Reichsbaron spazieren schicken, um einen Stadtherrn einzuheimsen: deswegen kommt es doch wie es kommt, und du wirst mein, wie es einmal abgemacht war: das schwöre ich dir mit einem guten Eide.“

Sie drehte ihm den Rücken und legte die Hand auf das Geländer der Haustreppe: „Was schwatzest du dad Ich will euch alle an meinem Faden tanzen haben,merkt euch das!“ und stieg an ihm vorüber die Treppe hinan.

Von Stufe zu Stufe wurde ihr Atem freier, so kurz er auch ging und so schnell ihr das Herz unter dem Hhemde schlug. Von diesem Menschen sich zu entfernen,über ihn emporzusteigen, ihn tief unter sich zu lassen,darin begriff sich zurzeit ihr eigener Lebensdrang.Denn in diesem Menschen verkörperte sich für sie eine Macht, und zwar keine geringere als ihre ganze Vergangenheit, die bereit war, die Hand über sie zu schlagen und sie für immer an sich zu ketten.

Albert Hartmann war von den vier Söhnen eines geistlichen Volksmannes der jüngste gewesen. Der Vater, ein Dorfschuster aus einer benachbarten Ortschaft hatte sich zum mystischen Wanderprediger ausgebildet und gegen das Ende seines Lebens Sommer für Sommer eine willkürliche Seelsorge ausgeübt, wo

A [65] bei sich seine beweglichen Redensarten mit den robusten Vorschriften Schwengels zu einer derben geistigen Landkost vermengten. Mit der Kameradfchaft dieser vier Knaben war Krimhild aufgewachsen, und eigentlich spielte sie, das flinke, aufgeweckte, blitzhübsche Ding,das sie war, von jung auf bei allen vieren Braut.Dann starb der philosophische Schuhmacher; sein Haushalt, von jeher auf Wandel und plötzlichen Abbruch angewiesen, zerfiel. Einer der Söhne ertrank beim Baden. Die beiden anderen, nicht kompliziert veranlagt, machten in der Welt draußen ihren Weg. Von Zeit zu Zeit meldete ein Brief den guten Gang ihrer Geschicke mit Heirat, Lohnverbesserung und Kindersegen.

Ihrem Bruder Albert erging es schwerer. Als die einzige Hinterlassenschaft, die in Frage kam, empfahl ihn der Vater auf dem Totenbette seinem Freunde Schwengel, zu dem er immer als einem ihm übergeordneten, ihn zu Dank verpflichtenden Gönner aufgeblickt hatte. Seine Schwester Lisette verdiente auf dem „Gesundgarten“ ihr Brot seit dessen Bestehen und bildete die lebendige Bürgschaft, daß der letzte Wille ihres Bruders in Kraft blieb, und an Albert hatte sie Mutterstelle vertreten, schon als seine eigene Mutter noch lebte.

Soweit für Krimhild diese Umgebung, in die sie hineingeboren war, in Betracht kam, spürte sie, je selbständiger sie selber wurde, im Laufe der Jahre immer deutlicher eins: ihr Vater, ihre Mutter, die Patin Lisette und wer es sonst sei, der in ihr Leben *5 []hineinzureden von früher her noch ein Recht hätte,kamen für sie nicht als ernstliche Hindernisse zur Geltung, wenn es einmal galt, frei zu werden und den Willen durchzusetzen. Nicht so einfach dagegen war es, über Albert sich zu erheben. Ihm hatte sie sich einst mit der Unschuld des Kindergemütes zu eigen gegeben zusammen hatten sie den Fuß ins Leben hinaus gesetzt und gemeinsam einen Blick in eine lockende Ferne getan. Wenn sie sich wenigstens über ihn hätte erhaben fühlen dürfen! Albert war aber so klug wie sie, so begabt wie sie, so ehrgeizig wie sie und außerdem des stärkeren, männlichen Geschlechtes!Aber sie wollte und mußte es und steckte es sich nun klar und bestimmt zum Ziele: diese Kleineleutewirtschaft loswerden, diesen Albert sich vom Halse schaffen!

[67]

Drittes Kapitel

Welch fataler Zwiespalt! Woran bin ich nun eigentlich mit diesem Kurpfuscher,woran mit mir selberꝰ Etwas ist ganz sicher daran! Aber wie dessen habhaft werden? Wie es auf Fiffern und Formeln bringen? Was ist Abfall und kommt auf den Kehrichthaufen? Und was bleibender Kern, tüchtig und dauerhaft genug, um dem allgemeinen Erkenntnisschatz einverleibt zu werdend“

Das erkannte Melchior bereits am fünften oder sechsten Tage und holte sich Schwengel ernsthaft heran.

„Es hilft nichts, Meister Schwengel. Wir müssen Fall für Fall buchen nur durch die gewissenhafte Sammlung aller Krankheitsbilder kommen wir zu einem Uberblick. Zeigen Sie mir doch, was Sie von früher her an Tabellen haben?“

„Tabellen?“

„Wie, Sie haben nie Buch geführtd“

Schwengel zuckte die Achsel:

„Früher wohl. Da ließ ich mir noch von euch Zünftigen imponieren und glaubte euch das Handwerk abgucken zu müssen. Nein, gekonnt hab ich's. Was Ordnung halten betrifft, habe ich auch Patentärzten 38 []in nichts nachgestanden.“ Er langte einige Kartonschachteln vom Bücherbrett und breitete eine Schicht Blätter auf dem Schreibtisch aus:

Mötig ist es aber nicht; ich unterlasse es seit Jahren.“

Zwinger machte aus seiner Uberraschung keinen Hehl:,Wied Sie führenkeine Krankheitsberichte mehrd Hören Sie! Dann liegt ja Uraut und Rüben bunt durcheinander?“„In meinem Kopfe nicht,“ lächelte Schwengel verschmitzt, „ich entsinne mich über Jahrzehnte zurück der Fälle, als ob sie sich gestern ereignet hätten.“

„Was nutzt mir die Ordnung in ihrem Kopfe. Sagen Sie nicht, ich soll das alles einmal übernehmend Wollen Sie mir denn Ihr Gehirn hinterlassend“

Darauf wußte Schwengel nichts mehr zu sagen. Er schloß seinen Schreibtisch auf und brachte schmale,längliche Bücher zum Vorschein, offenbar Rechnungsbücher.„Da ist hingegen alles aufgeschrieben, wie sich's gehört.“ Er schlug eine Seite auf und fuhr mit dem Finger die Ziffernsäule herunter:

„Da meine Monatseinnahme. Zwanzigtausend Franken. So ging es jahrelang. Aber jetzt schlechte Zeiten. Es kann aber anders kommen. Unter mir kaum mehr ich habe mich überhoben es war eben doch alles auf einem zu großen Fuße veranlagt. Nun steck ich bis über die Ohren drin. Schulden wie ein Hund Flöhe! Macht nichts! Ist meine Sache. Sie haben freie Bahn. Halten Sie sich an das!“

Wieder glitt sein Finger über die Zahlenreihen. [9] „Geld können sie einmal hier verdienen, wie Heu,man muß es nur richtig anzufassen wissen.“

„Aber da muß ich doch bitten, Herr Schwengel,“unterbrach Zwinger „des Geldes wegen bin ich nicht hier. Wir brauchen kein Wort mehr zu verlieren.Ich setze mich. Haben Sie kein unangebrauchtes Buch mehrd Das muß nun alles unverzüglich ins Blei kommen. Sonst bleib' ich keinen Cag länger.“

„Doch“, rief Schwengel erleichtert, „da ist noch eins“und zog es, über und über mit Staub bedeckt, von einem obersten Schafte herunter; Zwinger, der schon vor dem Schreibtische saß, streckte die Hand danach aus; aber Schwengel ging ans Fenster, öffnete und klopfte und blies den Band pedantisch lange Zeit von allen Seiten in die frische Luft hinaus ab. Er holte dies, räumte jenes weg, war nur noch Organ und dienstbarer Geist, so daß Zwinger, Frage auf Frage häufend, und keine umsonst, schon im Verlauf einer Stunde die planmäßige Anlage einer rationellen Krankenbuchführung praktisch eingerichtet vor sich liegen hatte.„Das bekommt nun doch ein Gesicht, und gar kein übles!“ dachte er, behielt aber die ftrenge Miene nach wie vor bei, da er mit dieser Maske seinen Zweck so flink erreichte. Schwengel schwebte in tausend Angsten und mengte unter seine sachlichen Auskünfte einmal über das andere: „Meinetwegen, Sie halten mich also halt für einen Schwindler.“ Oder: „Der Schein mag wider mich sein. Ich mag wie ein Scharlatan dreinschauen.“ [70] Nach derartigen Anwandlungen von KUleinmut schnellte Schwengels hohe Meinung von sich selbst bei der nächstfolgenden Ermunterung schnurstracks in eine extreme Höhe hinauf. Am selben Abend schwenkte er Zwinger in seiner dürren pergamentgelben Hand einen in der Erregung zerknitterten Briefbogen entgegen:

„Haha! Hahal Triumph und Sieg! Uönnen wir lachen! Das dicke Ende kommt nach Kraut hin,Kraut her, die CTheorie billigt die Praxis. Wissen Sie,werd Der größte Botaniker der Jetztzeit und vielleicht auch aller folgenden.“

„Wie?“ stutzte Zwinger „Aberfeld doch nicht etwad“

„Erraten! Erraten! Aberfeldissimus ipsissimus. Da kann sich Linnè ins Mauseloch verkriechen.“

Und er drückte Zwinger die Epistel in die Hand,in der in der Tat Frau Professor Aberfeld sich und ihren Mann als Aurgäste anmeldete: der Gelehrte, schon hoch in den Fünfzigern, sei einer langwierigen Magenkrankheit verfallen, die Kunst der Arzte vergebens, es habe sich nur noch um die Operation gehandelt, von der aber Zutreffer in Anbetracht der äußerst geschwächten Konstitution des Patienten abgeraten habe. Zutreffer selber sei es dann gewesen, der zu der Pflanzenkur wenn auch unter höchlichem Achselzucken wenigstens nicht Nein gesagt habe, allerdings mit der ausdrücklichen Begründung, er kenne den jungen Zwinger als gewissenhaften und tüchtigen Mediziner: also zur Not unter dessen Kontrolle denn ehrlich gesprochen sei 71 []die Medizin hier mit ihrem Latein zu Ende und es stehe daher dem Kollegen frei, va banque zu spielen.

Gleich nach Ankunft des Ehepaares auf „Gesundgarten“ wurde der kranke Herr in Kur genommen.Zwinger ließ Schwengel gewähren und mußte sich sagen: alle Achtung, wie dieser Naturlaie, einmal vor eine wirkliche Gefahr gestellt, innerhalb seiner Befangenheit sich auskannte, dem Ubel auf den Leib rückte und die Wiederherstellung sichtbar in die Wege leitete. Sein Vorbehalt, gegenjede einzelne Maßnahme jederzeit Einspruch zu erheben, kam nicht ein einziges Mal zur Anwendung; Schwengel befleißigte sich in der Behandlung des Falles einer würdigen Sachlichkeit.

In der ersten Sprechstunde: „Herr Professor, Herr Professor, Sie sind außerordentlich belastet, fast alle ihre Organe sind angegriffen. Wie gut, daß Sie von der Operation Abstand genommen haben. Nun heißt es genau nach Kurvorschrift die Fremdstoffe ausleiten! Ein Pläsier sind diese Darmeingießungen weniger. Aber das macht sich. Sie werden sehen. Solange Sie Durchfall haben, kein Obst! Reizlose Hausmannskost, drei Mahlzeiten, vorwiegend Brühsuppen, Haferschleim haha! Sie bekommen es schon richtig vorgesetzt. Zwischendurch nichts! Trinkend Wasser! Haben wir prima rein, farblos, geschmacklos. Nicht so wie Sie in der Tiefe flüssige Steinkohle. Wie's mit dem Schlaf steht, wird sich weisen.“ 3

In der zweiten Sprechstunde: „Ja, was wollen Sie []denn! Schwerkrank! Hauptherd im Verdauungsapparat! Aber zerstört ist noch kein einziges ihrer Organe.Also Mut und Geduld es gibt nur eine Krankheit nämlich schlechtes Blut, und bis da rein gemacht ist braucht's Zeit. Lassen Sie die Heilsäfte in sich wirken;mit ihnen unterstützen wir ja die Natur, die Fäulnisse aus dem Körper auszuscheiden. Da hat sogar ein rechtschaffener Durchfall sein Gutes; dito ab und zu eine kleine Ubergabe obenhinaus.“

In der dritten Sprechstunde: „So hm es geht Ihnen schlechter. Das wußte ich, unter uns gesagt, zum voraus. So geht es nämlich immer. Die Natur stellt Sie erst ein bißchen auf die Probe, ehe sie Ihnen hilft. Denken Sie denn das lassen sich Ihre Cingeweide ungestraft gefallen, wenn sie bis in die innersten Schlupfwinkel hinein unerbittlich visitiert werden: da mucken eben auch Krankheitsherde auf, die sich bis jetzt ruhig verhalten haben. Aber ist Ihnen nicht schon viel heller im Kopf oben gewordend“

In der vierten Sprechstunde: „Seh'n Sie! Hab ich nicht recht gehabtd Allgemeinbefinden besser, Schlaf besser, Appetit besser, keine Schmerzen auf der Brust mehr, und das Hauptübel! kein Durchfall und kein Erbrechen mehr! Und daß Sie nun einen verschleimten Rachen habend Und daß Sie das linke Bein juckt? Seien Sie froh, da haben Sie also auch noch solche Störenfriede sitzen gehabt, und nun hätten wir die Racker gründlich aufgestöbert.“

Zwingers Anteil an diesem Kurverlauf bestand in folgenden Beobachtungen: durch Beklopfen und Be73 []tasten war in der Magengegend eine kompakte Stelle wahrzunehmen gewesen.

„Ist es das? Ist es das?“ hatte Schwengel ihn nachher bestürmt.

„Ich sage nichts“, hatte Zwinger sich verwahrt.Diese bedenkliche Stelle schwoll in der ersten Zeit etwas an und war auch auf Druck schmerzhaft; aber nach dem schlimmen und gewaltsamen Ausbruch vor der letzten Untersuchung war es nicht mehr möglich,eine noch bestehende Verhärtung festzustellen, geschweige denn sie lokal genau abzugrenzen.

„Da ist in der Tat ein Geschwür zum Ausfluß gebracht worden oder aufgesaugt worden“, bestätigte Zwinger dem Patienten.

Dieser selbst fühlte sich von da ab wohler, sah auch nicht mehr so aschgrau und welk aus; er fand sogar,nach dem Urteil seiner Gattin der beste Gradmesser seiner Gesundheit seinen Humor wieder, indem ihn, den schon von Natur Schlanken, bei einem Blick in den Spiegel sein abgezehrtes Aussehen zu dem Protest veranlaßte, noch mehr wollte er nun aber nicht ausgenommen werden, er sähe sowieso schon aus wie ein gemästeter Bindfaden. So bestand für alle Beteiligten Anlaß zur Hoffnung und Zufriedenheit.Frau Professor Aberfeld insbesondere verhehlte ihre Genugtuung nicht, das Wagnis betrieben zu haben.

Sie war eine feine, altfränkische Erscheinung, die noch Hobelspanlocken und einen im Rücken dreieckigen Schal trug, und sprach mit distinguierter Behutsamkeit, daher auch mit einer überschüssigen Be[]tonung, immer um etwas ernster, als die Lage oder der Gegenstand erfordert hätte, nur um ja nichts zu versäumen. Auch zwinkerte sie lebhaft mit den Augen,sobald sie sprach.

„Dieser Schwengel“, artikulierte sie, in einem Gespräche mit Zwinger begriffen, „ist ja ein ganz kurioser Kauz. Ich möchte sonst in aller Welt nichts mit ihm zu tun haben. Aber, Gottlobedank. meinem Mann hat er geholfen.“

„Einstweilen. Wir wollen es nicht beschreien.“

„Ja, haben Sie ihn denn noch nicht über den Berg?“

„Halbwegs, Frau Professor. So Paßhöhe! Droben,aber noch nicht drüben.“

„Ach es wäre sublim, es wäre adorabel!“

„Harren Sie tapfer aus so wird es wohl werden.“

„Sie wissen, wir sind einfache alte Leute. Aber wenn's ans liebe Leben geht, muß man's dran wenden.“

Der Professor konnte nun den Versuch wagen,einen Abend unter der übrigen Gesellschaft zu verbringen. Er wurde von Herrn von Schlotten mit Hochachtung ausgezeichnet. Das förderte in ihm eine Art höflicher Galanterie zutage; er übernahm in geistreicher Weise die Führung der Unterhaltung, er sprach von alten Zeiten, von den ganz alten, die er selber auch als Kind nicht mehr erlebt hatte: nur als vom Tanzen die Rede war, pries er es als einen Vorteil,noch von seinem Tanzmeifter im Menuett unterwiesen worden zu sein. Er ermunterte sich soweit,daß er in Vonterbewegungen zu seiner Frau, die 75 []ebenfalls einigen Bescheid wußte, diesen feinsten Ausdruck ehemaliger Gesellschaftlichkeit anschaulich imitierte und auch ein Rondo mit gleichem Erfolge andeutete. Der kleine Vorgang fiel genügend echt aus,um die zusammengewürfelte Gesellschaft in diesem höchst parvenühaften Raume Lügen zu strafen und jedem auf die ihn betreffende Weise das Gewissen zu wecken. Schlotten zumal geriet in ein fieberhaftes,aufgeregtes Benehmen, in eine Unruhe, in der seine bisher so tadellose Selbstbeherrschung versagte. Alle anderen überboten ihre Fertigkeiten ins Außerordentliche; zum Beispiel stand Faxon dreimal hintereinander Kopf und zündete Streichhölzer an ihren frei in die Luft emporgeworfenen Schächtelchen an.

Herr Blötherlein trug mit edlem Anstand des „Sängers Fluch“ vor und deklamierte auf allgemeines Verlangen das Gedicht zum zweitenmal. Dieses Dakapo war veranlaßt durch den urkomischen Reiz, den das drollige Dialektdeutsch des Vortragenden, seine hochtrabende Aussprache und ein gänzlicher Mangel an Gefühl für die Possierlichkeit der Situation auf die Zuhörer ausübten; Herr Schwengel hingegen war ehrlich enthusiasmiert und konnte nur durch das energische Verbot seiner Frau verhindert werden, einige für frühere Gelegenheiten, vorwiegend Hochzeitsfeste,verfaßte eigene Dichtungen zum besten zu geben.

Einzig Zwinger und der Kellner Albert enthielten sich der Geselligkeit und trieben sich wohl eine Stunde lang zusammen draußen auf dem Korridor herum,bis Krimhild in die Türe trat und sie deswegen zur 757 []Rede stellte. Sie warschuld an Zwingers Verstimmung gewesen, obwohl er sich mehr nur einbildete, von ihr schnippisch behandelt worden zu sein, als es wirklich der Fall gewesen war. Er verfiel darauf, sich Gedanken zu machen und geriet tiefer in das Mißtrauen hinein,entweder im Auftrage der Eltern oder aus eigenem Antriebe führe das junge Mädchen etwas gegen ihn im Schilde, eben den einen Anschlag, um den es sich allein handeln konnte. Diesen ganzen Abend hindurch war er sozusagen gewappnet, um wirksam zu parieren.Aber dann verging wieder eine Viertelstunde nach der anderen, ohne daß seine Rüstungen zur Abwehr Verwendung fanden; er begann sich insgeheim nach dem Zwecke seiner Wachsamkeit zu fragen; als dann immer nichts Alarmierendes sich melden wollte, mußte er,wenn ersich nicht selbst lächerlich vorkam, seine Zweifel von sich weisen, als seien da am Ende heimliche Absichten im Spiele. Gestand er sich nur das Gegenteil ein: das Mädchen kümmerte sich nicht im geringsten um ihn, und das biß ihn in die Nase.

Jetzt rief sie ihn also heran, und es fiel ihm nicht schwer, mit einer gelangweilten und herablassenden Miene unter die Ausgelassenen zu treten.

„Ach, gestrenger Herr Doktor“, sagte der alte Herr Aberfeld, „Sie kommen wohl, mich ins Bett zu spedieren.“„In der Tat, Sie tun ein übriges, Herr Professor,gleich den ersten Abend.“

Aber da machte sich KArimhild, wie um vorzubeugen,schmeichelnd und bettelnd an Aberfeld heran, „Herr 77 []Professor“ hinten und vorn und, Bitte noch ein halbes Stündchen“, daß der schließlich sagte: „Gut denn, mein Kind, meinetwegen noch etwas zum Zuspitzen.“

Schon den ganzen Abend hatte er seine Freude an ihr gehabt, und nun wandelte ihn die Lust an, sie in eine Lage wirklicher Überraschung zu versetzen, wo sie dann, keiner vorbedachten Künste mächtig, unverstellt sich geben müsse, wie sie sei.

„Dann werde ich Sie mit Erlaubnis der Anwesenden in einen Geheimbund einführen. Hinaus mit Ihnen.“

Es handelte sich um ein ebenfalls biedermeierliches jou d'esprit; wenigstens war der an sich ziemlich einfältige Spaß sonst niemandem bekannt; es bedurfte daher einiger Einführung, wie die Anwesenden, denen die Rolle des Chores zufiel, sich bei der Zeremonie zu gebärden hätten, so daß Krimhild draußen vor Ungeduld immer schon an die Cüre schlug:„Noch nichtd Wie lange denn noch?“

Frau Professor setzte sich an den Klimperkasten und spielte mit Marionettenfingern etwas wie einen feierlichen Freimaurermarsch. Dazu mußte der Chorsingen:

„Schlorum, Schlorum, Schlorum Bumibedum Schlorum,Alläh ist groß!“Mit den Gebärden Sarastros holte Aberfeld Krimhild herein, führte sie an der Spalierreihe der Singenden vorbei, winkte Schwengel und Zwinger wie zwei Zeugen heran, zog ein frisch geplättetes noch gefältetes Tuch, ein seidenes buntes Taschentuch größten For [782] mates, hervor, rot umrandet und mit gelben Ochsenaugen gemustert, und band damit Krimhild den Blick zu. Sie mußte sich auf einen Sessel setzen und allerlei Hokuspokus mit anhören, bis sie nicht mehr wußte,wo man mit ihr hinaus wollte. Plötzlich bekam sie einen Kuß auf die Wange; im selben Augenblick fiel die Binde: dicht, unmittelbar vor ihr, hob Zwinger sich von ihrem Gesicht weg. Nur war es nicht, wie sie glauben mußte, der vor ihr stehende Zwinger, sondern ihr Vater gewesen, der sie von der Seite geküßt hatte.

Sie stieß einen Schrei aus, sprang verlegen aber noch lachend auf, rannte in die andere Ecke des Zimmers und setzte sich da, ihr Gesicht in die Hände vergrabend gegen die Wand.

Schwengel klopfte Zwinger auf die Schultern:„Sehr gut gespielt, Dokterchen, sehr gut gemacht!Es schmeckte sauersüß. Halb geniert sie sich, halb muß sie lachen. Hoffentlich nützt der Denkzettel.“

Und nun waren die Sschleusen seiner Geschwätzigkeit wieder aufgezogen und es kam zu läppischen Tiraden, bei denen er sich selber gar nichts dachte:

„In dem Stadium befanden wir uns doch alle einmal. Hab ich dich nicht feierlich versichert, Mamachen, ich sei ein ausgebrannter Krater und nun,du bist nicht gerne in Gesellschaft daran erinnert, begreiflich, begreiflich! Davon abgesehen, so jung bin ich auch nicht mehr: wer die Frauen los sein will,muß eine von ihnen heiraten. Anders lassen sie einen nicht in Ruh'; das werden Sie mit der Zeit schon noch einsehen, Doktorchen.“ Frau Schwengel schmunzelte.79 []Zwinger tat nur seine Schuldigkeit gegen Aberfeld und mahnte:

„Herr Professor, zum dritten und letztenmal.“

„Ich gehe schon“, versetzte dieser, „machen Sie sich keine Sorge. Ich werde ausgezeichnet schlafen.“

Es gab sich dann, daß Zwinger mit Herrn von Schlotten, der drüben im Schweizerhäuschen wohnte,noch vors Haus trat. Sie atmeten unwillkürlich tiefer und langsamer in der kühlen und dunkeln Luft.

„Es ist nicht angenehm, die von andern verbrauchte Luft zu atmen“, sagte der Baron, „das allein reicht für mich hin, mich von jedem Kirchenbesuch zu dispensieren.“

Sie sprachen dann von Hochgebirgstouren, da sie sich beide als leidenschaftliche Bergsteiger fanden,und er fuhr fort:

„Und wäre es nur, um einmal, nicht hier, in ihren Alpen, nein drüben, in den Kordilleren, wo alles noch viel ungeheuere Maße annimmt, jene eine höchste Morgenwanderung getan zu haben: so hoch und so einsam, daß man das eigene Blut sausen hört da ein See, dahinter eine hellgraue riesige Fluhwand rings kein lebendes Wesen und dahinein nun“ dabei klopfte er mit dem Finger an seine Brust „hier, diese menschliche Misere.“

Er warf noch einen spähenden Blick am Hause empor, hinauf zum Dachstübchen, in dem Krimhild Licht brannte, und verabschiedete sich von Zwinger.n []Dort im Dachstübchen oben beschäftigte sich Krimhild, da sie keineswegs schlafbedürftig war, mit der Durchsicht von eigenen Aufzeichnungen und besonders ihrem Tagebuch des letzten Jahres. Da stand zu lesen:

Meinetwegen vom Scheitel bis zur Sohle ein Edelmann! Aber wenn ich mit ihm vierhändig spielen muß, so tret ich ihm auf die Hühneraugen wozu ist sonst das Pedal da.

Faustdick hat er's hinter den Ohren und auf uns Weiber versteht er sich, daß es eine Art hat. Darum denkt er jetzt auch bei mir: Piano, piano, es wäre doch das erste Mal, daß ich meinen Kopf nicht durchsetze.

Ich mag ihn jetzt eigentlich besser als früher: er gefällt mir. Zumal da die Kur angeschlagen und er mehr Haare hat.

Unsinn! Ich hasse ihn wie wenn er nach Zwiebeln röche!

Sie verehren, Herr Baron, so oft und so viel Sie wünschen! Aber ich soll Sie ja o Gott, o Gott!

Unmittelbar! Unerkünstelt! Ohne Zubehör und Verbrämung! Vier Wände, um darin zu lieben und mit Fenstern, daß Sonne herein kann! Läßt sich das denn

J

Bernoulli, Zum Gesundgarten [31] im Laden kaufen, wie Tuch, das man von der Stückrolle beliebig abschneiden kann, eine Elle oder zwei oder fünf oder sechs?

Bald kann ich keinem Hosenbein (so im Alter zwischen zwanzig und vierzig) mehr begegnen, daß ich mich nicht ganz von selber frage: „Ist er's oder ist er's nicht?“ Ich finde das unanständig! Und wenn man sich nun gar noch zu denken hätte, daß es zu guter Letzt auf weiter gar nichts hinauslaufen soll,als einmal auf einen abgerissenen Knopf, eine schlechtgerüstete Lampe, eine versalzene Brotsuppe pfudi pfudi gagga!

Es geht nichts über einen Amerikaner. Eigentlich kommen sie alle aus Amerika, sobald sie verliebt sind.

Geh du nur den Weg im Stillen Tue was das Herz dich heißt,Deinen Weg nach deinem Geist Geh du nur den Weg im Stillen,Deinen Weg nach deinem Willen.

Das stand zuletzt da. Gleich darunter schrieb sie nun im Verlauf eines halben Stündchens, indem sie in den reichlichen Pausen ihre Zähne am Stielende des Federhalters probierte:

„Glückd? Glückd? Was heißt Glückd Wenn in zehn Jahren zwischen beiden kein hartes Wort gefallen ist,dann erzählen es diese Mustergatten überall herum [32] und spiegeln ihr Eheglück auf die Gasse hinunter und zum Nachbar hinüber. Ich mag sie nicht, diese Zuckerund Honigehen, wo man sich vor lauter Schlecken die Zähne verdirbt, daß hinterher das Beißen wehtut.Besser zwei harte Köpfe als zwei weiche Herzen.Wenn mich einmal mein „Hans“ aus dem Häuschen gebracht haben wird da werd' ich immer auf den Stockzähnen lachen. Ihm gleich vor Wut mit gekrallten Nägeln ins Gesicht springen mögen, aber es dann im letzten Moment doch lieber bleiben lassen und ihn dafür küssen! So denk ich mir's am schönsten.“

Sie las sich diesen Aphorismus mit dem Bewußtsein, etwas Gutes aufgeschrieben zu haben, mit wachsendem Vergnügen immer aufs neue halblaut vor.Es litt sie nicht länger auf dem Stuhle. Sie schwebte mit wiegendem Tanzschritt auf den Zehen um den runden Tisch herum, auf dem die gelbe Kerzenflamme flackerte. Plötzlich hielt sie an, griff wieder zur Feder und warf quer, in einer zügellosen Linie, noch die Worte auf das Papier:

„Um Himmelswillen keine Hauskatze! Keine Schmeichelkatze!l Tiger! Tiger! Königstiger!“

Eine Sucht nach Schlaf überfiel sie. Sie riß sich die Keider vom Leibe. Sie blies nicht nein, sie spie die Kerze aus, und wie vom Stoße eines Sturmes erzitterte das Haus bis hinunter, als sie sich mit einem Sprung auf ihr Bett warf.

Gerade unter ihr, in der Turmstube schickte sich Albert Hartmann nach verwichener Mitternacht zum 33 []Aufbruch an, aber Zwinger nötigte ihn zu bleiben,noch eindringlicher, als er ihn schon genötigt hatte,zu ihm aufs Zimmer zu kommen. Heut Abend auf dem Flur hatte sich sein Eindruck vollendet, es bei diesem Kellner mit einem höchst merkwürdigen Menschenkinde zu tun zu haben. So blieben sie beisammen in flüsterndem Gespräch, bis es hell wurde. Beiden brannte der Name Krimhild auf den Lippen, Zwinger aus Neugier, überhaupt näheres von ihr zu erfahren,Hartmann aus Neugier, inwiefern sie in der Gedankenwelt des Neulings schon eingebürgert sei aber beide behielten ihn bei sich und begnügten sich, über den bevorstehenden Kurpfuscherprozeß sich zu unterhalten, und im Austausch darüber wuchs Albert vor Zwingers Augen als starke Persönlichkeit empor.

„Ist ja Blödsinn“, sagte der Kellner, seine Leidenschaft dämpfend, „seit hunderten von Jahren leistet sich der Staat seine Landeskirche und überläßt es den Privaten, der Krankheit zu steuern. Umgekehrt ist recht gefahren Religion Privatsache und die Befugnis zum Arznen gehört verstaatlicht. Arzte soll man anstellen und besolden und die Pfarrer laufen lassen.Nicht das Gewissen der Leute soll man unter Aufsicht stellen, wohl jedoch ihren Salva venia Leichnam vom Gehirn bis zum Allerwertesten!“

Zwinger sprang über diesen Worten die Erkenntnis auf, sein Privaterlebnis stehe mit nichten so außer jedem öffentlichen Zusammenhang; desto angelegentlicher bemühte er sich, seinen Standpunkt vor Extravaganzen zu salvieren, wie sie ihm hier zu Gehör kamen.84 []„Verstaatlichung des Persönlichsten was es gibt.Wer wird dann sein Leben noch mutig in die Bresche schlagend?“„Ich bin Sozialdemokrat“, versetzte Hartmann,„jeder einzelne Arzt soll kontrollierbar, wählbar, absetzbar sein.“

„Dahin werden Sie's schon bringen, so wie bei uns die Dinge liegen; da gerät man gleich in Wallung und ist mit Zetermordio bei der Hand für reaktonäre Gefahr und drohenden Staatsstreich. Geben Sie erst dem öffentlichen Heilwesen einen politischen Anstrich,so wundere ich mich über nichts. So ziemlich jeder, der bei seinem Hausarzt nicht auf seine Kosten gekommen zu sein meint, oder etwas nachträgerischen und zanksüchtigen Gemütes ist, begrüßt die politische Ausgestaltung seiner persönlichen Unzufriedenheit und unterstützt sie. Alsbald widerhallen Zeitungen und Bierhäuser vom Zetergeschrei gegen gesundheitliche Bevormundung und verfassungsfeindliche Hemmung öffentlicher Wohlfahrt. Unwürdige Quertreibereien gegen Ehre und Ansehen des ärztlichen Standes sind die unausbleibliche Folge. Für ein Dringlichkeitsbegehren laufen im Umsehen die nötigen paar tausend Unterschriften ein und nun entfaltet sich das Spiel der Leidenschaften auf die gesetzmäßig herbeizuführende Entscheidung hin. Neben dem anmaßenden und hochtrabenden Getue hergelaufener Pfuscher und Nichtskönner melden sich überlegte und gerechtere Wünsche nach einer weniger einseitigen Krankenbehandlung und der Aufnahme ergänzender Methoden in den Lehrplan 85 []für ärztliche Ausbildung. Es bildet sich unter den Bittstellern eine begehrliche und eine ruhige Strömung aus; die Naturfanatiker wollen mit der Freigabe der ärztlichen Praxis den Scharlatanen Tür und Cor öffnen; die Vernünftigen und Unbefangenen unter den Initianten fordern, es sei an der städtischen Hochschule ein Lehrstuhl für Naturheilkunde zu errichten. So wird es kommen!“

Aufmerksam hatte Hartmann der Erörterung zugehört und zum Schluß lebhaft nickend zugestimmt.

„Bravo! Aber warum sagen Sie das so bedenklich!Wäre es nicht prachtvoll, wenn es schon so wäre? Und wäre es vor allem nicht auch Wasser auf Ihre Mühle?Haben Sie denn nicht den Schritt getan und sich zur Schulmedizin in Widerspruch gesetztꝰ“

„Aber doch gewiß nicht zu dem Zweck, daß sie noch mehr Staatsmedizin werden soll, als sie schon ist.“„Unterbindet denn der Staat, ich meine unseren idealen, den Zukunftsstaat, die Tüchtigkeit? Stellt er nicht gerade den Tüchtigsten obenand“

„Ja, das fehlte gerade noch: der beste Arzt wird als solcher Bundesrat. Wo denken Sie hin die Zukunft des Arztes liegt ganz anderswo hinaus.“

Und Zwinger stockte und strich sich suchend mit der Handfläche über die Stirn:

„Die Zukunft des Arztes sapperment wo hab ich denn das nur gelesen. Richtig ja Nietzsche „Menschliches Allzumenschliches“, das sind mir dann noch Ausblicke: es gibt keinen Beruf, der eine so hohe [209] Steigerung zuließe, wie der des Arztes. Gemütsdiplomat! Seelendetektivl! Anwalt der Muskeln! Polizeiagent der Sinne! Wohltäter der menschlichen Gesellschaft! Erwecker geistiger Freude und Fruchtbarkeit!Verhüter böser Gedanken und Vorsätze! Der Tierbändiger des Unterleibs! Der Züchter besserer Geschlechter! Wenn er Ehen stiftet und Ehen verhindert!Wenn er selbstmörderischen Seelenqualen und Gewissensbissen den Boden unter den Füßen entzieht!Und diesen denkbar höchsten Individualitätstypus wollen Sie verstaatlichen, monopolisieren: Sanitätsinstruktor erster Klasse?

Alberthatte verwundert zugehört und nickte lächelnd vor sich hin.

„Daß man da noch lange hin und herreden muß.Austurnen sollte man dergleichen können hier mit den Muskeln. Das wäre das Wahre.“ Er schlug mit der Faust auf den geschwellten musculus biceps des andern Armes und musterte Zwinger herausfordernd,indem er auf ihn zutrat.

„Schlank! Zäh! Durchsetzlich! Famos sind Sie beschaffen! Andere als wir mit unseren geraden und starken Gliedern sollten nicht Arzte sein.“

Er löschte die Lampe. Sie standen sich in der kaum erst sich erhellenden Dunkelheit gegenüber und maßen einander, so ungefähr sie sich auch nur sahen. Die Gestalten wuchsen und wirkten mächtiger im Schattenriß.

„Wir sehen aus wie Geister“, sagte Melchior erstaunt.

„Gut, dann lassen sie uns handgreiflich werden“, [57] erwiderte Albert und besprach mit ihm einige turnerische Griffe und die dadurch veranlaßten Funktionen des Muskelspiels. Dabei faßten sie sich schließlich ganz kräftig an, gerieten in ECifer und rangen wirklich. Albert war der Stärkere. Er stemmte Melchior ein gutes CTeil über sich in die freie Luft, so daß ein dumpfer Stoß, wie von einem Sturmwind, das stille Haus erschütterte, als der unfreiwillig Erhobene mit den Filzsohlen seiner Hausschuhe wieder zu Boden sprang.Keuchend traten sie auseinander.

„Ach was“, meinte Albert, „KGehirn und Muskeln!Seelenheilkunde und Gymnastik! Alles andere ist frommer Zeitvertreib. Auch Ihre Pflanzenkunde. Damit kommen Sie nicht weit!“

In diesem Abschluß gipfelten die stundenlangen nächtlichen Reden der beiden abtrünnigen Heilbeflissenen genau mit Tagesanbruch, so daß nach voraufgegangener zunehmender Helligkeit nun eine mächtige Röte durch den Erker einflutete und sie veranlaßte, ans Fenster zu treten. Der ganze unbeschränkte Aussichtsplan hinab in die Rheinebene war in einer gewaltigen Aufklärung begriffen, aus dem schwärzlich Finstern ins dunkel Glühende erwachend.

Zwinger wandte sich an den Kellner in Erwartung einer teilnehmenden Außerung am Naturspiele. Aber ihm war alsbald, trotz der Deckfarbe der roten Beleuchtung, Albert werde bleich im Gesicht; auch unterschied er, wieder hinausspähend im nächsten Vordergrunde die schwachen Umrisse einer sich bewegenden Gestalt, die hinter der Gartenumfriedung hin und [48] herlief. Auch Signalpfiffe, bestimmter als der vereinzelt anhebende Vogelgesang, wurden vernehmlich :Albert stammelte etwas Unverständliches, riß hastig das Fenster auf, erwiderte flötend das Merkzeichen und verließ nach einem unverständlichen Blick auf Zwinger schnell die Stube. Dieser hörte ihn behutsam nach unten gehen und leise aufriegeln; dann sah er,wie er auf den unheimlichen Fremden zuging und gleich mit ihm hinter dem Hause verschwand.

Im Laufe des Vormittages klopfte man bei ihm an.Es war Jungfer Lisette, die ihm unter Tränen Alberts heimliche Bitte überbrachte, doch ja von dem seltsamen Vorgang nichts verlauten zu lassen und auch selber nicht dahinter zu dringen. Doch stand sie zu sehr unter der Notwendigkeit, ihr bekümmertes Herz zu erleichtern, und so erfuhr Zwinger, die nächtliche Erscheinung sei niemand anderes als der flüchtige Kurpfuscher Johann Kasimir Hobler gewesen, der von den Steckbriefen der Polizei bedrängt und von den Landjägern allerseits aufgespürt, einen verzweifelten Versuch gemacht habe, im „Gesundgarten“ Unterschlupf zu finden. Albert habe ihm aber jede Beihilfe rundweg abgeschlagen. Nach diesem Geständnis fiel jedoch die gute Seele in einen solch verzweifelten Weinkrampf, daß es nahelag, doch irgend welchen Zusammenhang zwischen den beiden anzunehmen, von deren geheimnisvoller Begegnung Zwinger in der Morgenfrühe unfreiwilliger Zeuge geworden war.

Bereits die Abendblätter konnten die um die Mittagszeit in einer Vorstadtkneipe der Stadt erfolgte 29 []Verhaftung des Hobler feststellen, und für die „Gesundgarten“Gäste war das eine Sensationsnachricht;denn nun konnte der längst bevorstehende Prozeß und damit die öffentliche Erörterung und Aufhellung so manchen falschen Gerüchtes und so mancher verschleierten Tatsache ihren regelrechten Anfang nehmen.Schwengel holte seinen Zylinderhut aus dem Kasten.

„Ich muß jeden Augenblick bereit sein, dem Rufe der Pflicht Folge zu leisten.“

Faxon kam dazu und erbot sich, der Seide aufzuhelfen. Er redete solange auf Schwengel ein, bis der ihm sein Staatsstück überließ. Der machte sich alsbald ans Werk, holte eine Terpentinflasche und ein weißes Läppchen und begoß und bestrich mehrere Stellen mit großem Ernste.

Schwengel sah mit steigender Bangigkeit zu:

„Hören Sie, Sie betreiben mir die Sache doch etwas zu salbungsvoll.“

Faron aber tathöchst zuversichtlich: zwei bis dreistunden trocknen lassen, so sei er wieder funkelnagelneu.Schwengel merkte jedoch alsgemach, daß Faxon seiner besten Hauptzier den Rest gegeben habe und war über diesen Mißbrauch seines Vertrauens sehr aufgebracht.

Er stellte Faxon zur Rede. Der aber wurde zur Ausflucht geistreich: „Ja, dann hat er eben bei seinen hohen Jahren das Terpentin nicht mehr vertragen.Friede seiner Asche!“ Es blieb Schwengel nichts übrig,als wenn es erst drauf und dran war, in einem abgetragenen Schlapp oder Strohhut den bedeutsamen Gang nach der Stadt zu tun. [44] Er trug dem Amerikaner seinen dummdoreisten Eingriff wie eine schwere Kränkung nach.

Unaufhörlich war er in und vor seinem Hause in Bewegung. Kein Bewohner, dem er nicht noch persönlich seine Versicherungen und Beteuerungen vortrug:Ich lege Zeugnis ab, ohne zu erröten, wenn es sein muß, vor Tausenden. Ich kann mit reinem Herzen den Eid leisten. Bei mir ist alles sauber, alles sauber.Die Sache ist gerecht. Und je gerechter sie ist, desto mehr werden Wölfe im Schafspelz ihr zu schaden suchen.“ So ging es den ganzen Tag von einem zum andern bis zum ÜUberdruß. Nur die nervösen schwarzgekleideten alten Damen verloren die Geduld nicht und sprachen ihm Mut zu. Aber er beruhigte sich nur auf Augenblicke; dann schrie er wieder, Albert solle ihm den Gehrock bürsten.

Schwengel fiel nicht unter die Anklage. Dagegen hatte der bloße Umstand, daß einer seiner Naturheilkollegen zum notorischen Betrüger geworden war, das Ansehen der Bewegung schwer geschädigt.

Im stillen hoffte Schwengel sogar, der Skandal werde seiner eigenen Wirksamkeit zur Folie dienen;deshalb auch seine Sorge, nur um alles vor dem Gerichtshof gute Figur zu machen.

Nun ereignete sich aber etwas Unerwartetes. Ein Gefährt fuhr an, mit einem in Zivil gekleideten höheren Polizeibeamten und einem Landjäger zu Insassen.Sie drangen ohne Umstände ins Haus ein und verhafteten nach einem kurzen erregten Wortwechsel den 91 []Kellner Albert in der Küche. Albert bekam die Sprungfessel angelegt und wurde in der Kutsche weggeführt.Er sei betrügerischer Umtriebe und der Mithehlerschaft mit dem Hauptschuldigen schwer verdächtig das war die einzige erhältliche Auskunft.

Krimhild, die mit Zwinger eine Pflanzenabkochung vorgenommen hatte, rannte auf den Lärm hin aus dem Laboratorium und kehrte bald darauf laut weinend zurück.

Im Verlauf der Arbeit beruhigte sie sich und erzählte:

„Ich habe eine sehr glückliche Jugend gehabt. Ich besaß alles, wonach mein Herz begehrte, sogar einen Bräutigam. Sonst spricht man von einem Spielzeug in diesem Tone. Kann es anders sein in diesem Alter?Ich bitte Sie, mit sechzehn Jahren! Ein verlobtes Schulmädchen! Ich tändelte die Angelegenheit in mein achtzehntes hinüber. Da, als allmählich in mir der Sinn erwachte für das, was wahrscheinlich Liebe sein könnte, gingen mir die Augen auf; ich löste die Brautschaft schleunig. Ja, schauen Sie mich nur an löste sie mit derselben Unbefangenheit wie am Strickstrumpf eine verfehlte Masche. Und doch blieb es richtiger, ihn zu betrüben, als ihn zu täuschen. Nun ist das Schreckliche geschehen sein Leben ist zerbrochen.“

„Albertd“ stieß Zwinger aus.

Krimhild sank, ohne mehr einen Laut von sich zu geben, auf den nächsten Stuhl und starrte verstört,leeren, aber bereits wieder trockenen Auges auf den Fußboden.22 []Da drang Frau Schwengel in einem ziemlich unbeschreiblichen Aufzuge mit fliegenden Haaren und gen Himmel gestreckten Händen bei den beiden ein und erging sich in den gewähltesten Lamentationen,als wäre sie von Beruf Klageweib. Jungfer Lisette folgte ihr auf dem Fuße, mit lange nicht so eindringlichem Gebaren, um so aufrichtiger niedergeschmettert.Endlich erschien auch Schwengel in Filzpantoffeln leise wimmernd im Türrahmen.

Alsbald sprang Krimhild auf die Füße und erklärte den Dreien sehr vernünftig und bestimmt:

„Nur, wenn ich bitten darf, jetzt kein Theater!Ja ja, ich weiß ich hab ihn zur Verzweiflung getrieben, nicht wahrd Aber ich bin nicht gewillt, dieses Erlebnis, an das ich denken werde, so lang ich lebe,mit irgend einer Kriminalromanrührseligkeit in einen Topf werfen zu lassen. Soll mich der blinde Lauf der Dinge übertölpelnd Ich war im Begriff, mich von Albert für immer frei zu machen; nun greift mir sein Unglück vor nein, so laß ich mir's denn doch nicht erleichtern. Ich werde ihn im Gefängnis aufsuchen. Herr Doktor Zwinger, wissen Sie Bescheid, wie ich da Zutritt erlange. Oder nein, Sie sollen damit nichts zu tun haben. Ich werde Herrn von Schlotten bitten; der hat Zeit für solche Geschichten.“

Wenige Tage später betrat Stadtarzt Volckhardt den altertümlichen, von efeuüberwachsenen Türmen und Mauern umschlossenen „Lohnhof“, wie man in 93 []Pfalzmünster das städtische Untersuchungsgefängnis immer schon nannte, und sah, wie eine junge Dame von ungewöhnlichem Außeren, sich mit einem Wärter herumstritt. Sie war auffallend einfach angezogen, ein billiges englisches Herrenhütchen und ein glattes fußfreies Tuchkleid. Hinter ihr stand ein vornehmer Herr,ohne in die Verhandlungen einzugreifen, ein Lächeln des Wohlgefallens auf den Lippen über die steigende Ungeduld seiner Begleiterin.

Volckhardt näherte sich in dem Augenblick, als die Dame voll Eifer in die Worte ausbrach: „Ich muß aber zu Albert Hartmann.“

Da trat der Stadtarzt auf sie zu, bat sie, von ihrem unausführbaren Vorhaben abzustehen und gab auch seiner Vermutung Ausdruck, wen er vor sich habe.Als das unter Verwunderung bestätigt wurde und Schlotten sich ihm vorstellte, benahm er sich verbindlich, lüftete seinen steifen, grauen Hut und nannte seinen Namen:„Volckhardt, Stadtarzt Volckhardt. Ich habe durch Zutreffer von Ihnen gehört, Herr von Schlotten. Ist es Ihnen recht, so gehn wir ein paar Schritte zusammen.“ Und wiewohl er einer den Uurpfuscherprozeß betreffenden amtlichen Erkundigung wegen den Untersuchungsrichter hatte aufsuchen wollen, verschob er das und wandte sich mit den beiden dem noch mit Schießscharten und Auslugtürmchen versehenen Torbogen zu, der aus dem, Lohnhof“ auf die Straße führte.

Federleicht schwebte Krimhild hinter seinem Rücken herum an seine rechte Seite und nahm den, wie sie 94 []fand, scharmanten alten Herrn auf diese Weise in die Mitte zwischen Schlotten und sich. Als sie unter einem munteren, aber ganz allgemein gehaltenen Gespräche an eine mit schön gepflegten öffentlichen Anlagen geschmückte Straße gelangt waren, „Graben“ gegen Stadtgraben hinzog, war die Bekanntschaft soweit gediehen, daß Volckhardt beim Abschiednehmen sagte:

„Schade! Aber ich trinke um vier Uhr mit meiner Tochter Tee. Es soll uns freuen!“

Bis dahin hatten sie noch ein paar Stunden Zeit.Das Wetter war so schön, Mailuft, Maisonne! Die Bäume im ersten hellen Grün! Der Straßendamm von einer feinen Staubschicht bedeckt, schimmerte reinlich. Uberall, an den spielenden Kindern, an den vorübereilenden jungen Mädchen die frischen, sauberen Frühlingsleinen! Ein altes Festungsbollwerk, nun in eine Aussichtspromenade verwandelt, trug auf seinem hochgewölbten Rücken fremde, zartblühende Zierbäumchen unter stämmigen weitverästeten Ahornen und Kastanien.

Sie spazierten in einer Allee, in der im Laufe der Minuten ein Reiter und zwei etwas herrschaftliche Wagen an ihnen vorübertrieben: ein Anlaß, von Pferden und Equipagen anzufangen und im allgemeinen auf das Leben der reichen und vornehmen Leute zu reden zu kommen.45.[]Arimhild merkte, er suchte nach einer Gelegenheit,sich auszusprechen und wünschte eigentlich selbst ein gleiches.

Nun fuhren sie nach einem Zunftrestaurant, dem besten in der Stadt.

Bevor sie es betraten, verweilten sie an dem schönen Schaufenster eines Juweliers. Krimhild geriet beim Anblick der Schmucksachen in Entzücken, und als er sie nach ihrem Geschmack in Ringen ausforschte, zeigte sie auf einen dünnen, sehr zierlichen Reifen, in dessen Mitte ein siebenzackiges Krönchen eine große, grauschwarze Perle trug.

„Schwarze Perlend Sod Das gibt es auch?“

„Aber liebes Fräulein, warum soll es das nicht geben. Wissen Sie mir einen vernünftigen Grund,warum es das nicht geben soll?“

„Eigentlich ja Sie haben recht warum soll es das nicht gebend Bloß Perle und Schwarz es mag ja dumm von mir sein; doch ich empfinde das als einen Widerspruch.“

„Aber dumm gewiß nicht; wieso denn dumm. Wir Menschen sind einmal so geartet. Was uns nicht wie Blümlein auf der Wiese unter der Nase aufblüht,das gibt es nicht, meinen wir. Das ist dann dumm. Dadurch berauben wir unser Leben seiner schönsten Reize.“

Krimhild war unterdessen in den Anblick des seltenen Kleinods versunken.

„Wirklich, wundervoll! Dieser matte, dunkle Glanz!Wie versteinerter Samt! Wie der Schmelz auf dem Flügel eines Trauermantels. So heißen sie dochꝰ Dort 45 3 []gefiel mir immer das besonders, daß, je länger man hinsah, das Schwarz eigentlich zu einem dunklen, tiefen Blau wurde. Ob es hier wohl auch so ist. Man sieht es schlecht. Die dicke Scheibe ist dazwischend

Entzückt hörte ihr Schlotten zu. Plötzlich fing er im gleichgültigsten Con an: „Richtig, das wäre was für meine Schwägerin! Kommen Sie doch mit hinein.“

Er ließ sich den Ring aus der Auslage holen, Krimhild ging mit ans Licht; ja, das war dieses schwimmende,schimmernde Schwarz, das von Rechts wegen dunkelstes Blau war. Er zahlte bar mit einer großen Note.

Krimhild sagte weiter nichts mehr und war es zufrieden, daß sie zu Tisch geführt und das gleich beim Eintritt diskret bestellte Essen in einer hübschen überwachsenen Gartenlaube aufgetragen wurde, wo sie für sich allein waren. Als sie sich in einem bequemen Lehnstuhl zurecht gerückt hatte, zupfte sie ordnend an einem Strauß Feldblumen herum, die ihr im Gürtel steckten, zog sie heraus und stellte sie in ein Glas Wasser.

„O je!“, sagte sie, „sie sind mir ganz und gar verwelkt. Ich habe sie heute früh dem Doktor Zwinger unter den Händen weggezogen; er hätte sie mir sonst eingekocht.“

Indessen entging es ihr nicht, je behaglicher sie sich D Haltung eine wachsende Unruhe kaum länger zu bemeistern vermochte. Seine Rede floß weicher und leiser.Schließlich nahm er keinen Anstand, sie zu bitten, erfaßte sanft ihre Hand und fragte, ob sie nicht den Ring mit der schwarzen Perle von ihm annehmen wollte.? Bernoulli, Zum Gesundgarten [97] Da legte Krimhild die Serviette neben sich auf den Tisch und versetzte rundweg:

Wir wollen diese Sache nun heute ein für allemal erledigen, lieber Herr Baron. Ich werde nie etwas von Ihnen am Leibe tragen, weder Schmuck noch Blumen.“

Dabei schaute sie ihn groß an und sah, wie sein Blick,an den ihrigen geheftet, traurig wurde.cangsam schob sich seine Hand in die Tasche, zog das viereckige Etui des Goldschmieds hervor und ließ den Deckel springen. Dann stellte er es aufgeklappt zwischen sie und sich mitten auf den Tisch, neben das Glas mit Zwingers Feldblumen.

„Ich dachte mir halb und halb, daß ich die Schwägerin zu spielen hätte“, sagte Krimhild und senkte ihren Blick wieder auf das Juwel, und allmählich entzündeten sich ihre Mienen in leiser Habsucht.

Sie in diesem wachsenden Geize zu sehen, brachte ihn heimlich außer sich; er stammelte: „Gut, es sei so.Ich will ihn Ihnen nicht an den Finger stecken.Nehmen Sie sich ihn selbst; er ist herrenloses Gut.Ergreifen Sie Besitz davon. Nur nehmen Sie ihn!“

Da flammte es in ihren Augen auf; ein Blick so dunkel und so tief und schwarzblau schwimmend wie die Perle da vor ihr, und wahrhaftig, sie nahm sich den Ring und schob ihn sich an den elfenbeinweißen Goldfinger ihrer linken Hand, und hielt sie ihm mit aufgestütztem Ellenbogen hin, daß er es sehen sollte,wie angegossen der Schmuck saß.

„Dann will ich damit geboren sein“, sagte sie,u8 []„dann will ich es wie einen Bestandteil meiner selbst an mir behalten. Die Perle sei mir ein ursprünglicher Besitz, so wenig ich mein Auge oder einen meiner weißen Zähne mir erst noch brauchte schenken zu lassen.“

Es erfolgte eine Pause, während der sie schweigend aßen und tranken. Dann, als wäre nichts von Belang vorgegangen, kam sie auf ihre Absage zurück:

„Was Sie sich zwischen uns ausgedacht haben“, fuhr sie fort, „es wäre Ihr Unglück und meines.“

Da schlug er die flache Hand leise am TCisch auf.Seine Augen taten sich erst weit auf und taten sich dann zu. Der Kopf sank ihm langsam vornüber.

Sie hörte ihn leise stöhnen.

Mit einem Ruck fuhr er empor und stand neben ihr. Sie fürchtete sich nicht, obgleich sie es ihm anmerkte, mit seiner Selbstbeherrschung sei es zu Ende.Er tat den Schritt zu ihr hin, der ihn noch von ihr trennte, sank in die Knie und küßte ihr die Hand. Dann setzte er sich wieder auf seinen Stuhl ihr gegenüber.

Krimhild war etwas aus der Fassung geraten. Sie wollte die Unsicherheit verbergen.

„Und wenn es nun eben nicht da ist, was Sie von mir wollen“, sagte sie hastig, „wenn ich Ihnen Ihre Liebe unmöglich erwidern kann? Was man so im Durchschnitt unter Glück versteht, an Ihrer Seite könnte es mir wohl blühen. Luxus, Wohlleben, alles nach Wunsch und Wahl das könnte mir gerade passen.Sie würden stark und umsichtig hinter mir her sein.Und doch eine Zeitlang übertäubt oder niederge39 []kämpft, bräche eines einsamen Tages oder in einer schlaflosen Nacht der Kummer auf. Hintergehen würde ich Sie. Steinelend müßten Sie mir werden. Ich liefe Ihnen davon.“

Der Freiherr sah sie während ihrer vielen Worte unverwandt an und schwieg. Auch als sie in Erwartung seiner Gegenrede aufhörte, sagte er nichts. Nur ihren Blick suchte er innig und ernst und nickte ihr mit schmerzlichem Lächeln drei oder viermal langsam zu.

Urimhilds Gegenwart! Jedes Wort und jeder Blick von ihr! Sie versagte sich ihm. Dennoch hatte er ihr zu danken. Die Frauen er kannte sie auswendig.Diese allein war ihm unbegreiflich vom ersten Augenblick an gewesen und bis zur Stunde geblieben: ein Traumwesen, das Kind eines fernen Morgensternes, das erste Ding auf Erden, das er mit seinen Wünschen umfing und wieder entlassen mußte, unausgekostet und nicht zu Ende gekannt. Ihn trieb eine unaussprechliche Begier, hinter sie zu kommen, wie er hinter alles andere gekommen war, auch diesmal eine hülle nach der anderen abzustreifen, bis ihm schließlich nichts mehr den letzten Blick verwehrt hätte, den Blick auf den Grund. Aber da hüllte sie sich nur dichter in ihren Schleier und erlaubte ihm kaum, dessen Saum anzurühren.

Sie schleckte mit gespitzter Zunge verlegen am Rand des leeren Champagnerkelches und wich seinem unverwandten Blick aus.

Es schlug irgendwo die Zeit. Schlotten verglich seine [9] CTaschenuhr, und bald brachen sie auf. Sie waren schon auf dem Wege nach der Spitalstraße, da blieb Krimhild stehen, sie hatten Zwingers Feldblumen im Glase vergessen. Er eilte zurück und holte sie. Sie steckte sich den unscheinbaren Strauß aufs neue an den Gürtel.

„Und das Etui zum Ringd“

„Das hab' ich stehenlassen. Es steht noch dort. Ich brauch es nicht. Ich werde den Ring mein Leben lang tragen.“

Hinten auf ihrem Gartenplätzchen unter der Blutbuche empfing Gabriele Volckhardt eben Besuch von Rudolf Zwinger, dem älteren der beiden Apothekersöhne. Er war der Schauspieler; ihm war die Affäre mit der odiosen Person passiert! Aber obschon es noch nicht allzu lange her war, daß er seine ehrbare Familie dadurch ins Stadtgerede gebracht hatte,lenkten bereits noch kräftigere Neuigkeiten die Aufmerksamkeit weiter; Rudolf verlebte wie üblich den Sommer im Elternhause und ohne daß er von dem Vorfall einen unangenehmen Nachgeschmack zu merken bekam, sprach er wieder bei den alten Freunden vor.

Als er nun wie in alten Zeiten wieder aus der Versenkung auftauchte und das Brett einspannte,daß es im spitzen Winkel offen stehen blieb, da war ihr, es sei erst gestern gewesen, daß sie ihm wohl auch auf den Bodenraum hinunter gefolgt war, wo er dann einen Monolog um den anderen an sie heran 101 []schrie. Von der jähen Erinnerung und teilnehmendem Mitempfinden bewegt, ging sie ihm entgegen.

Schon nach seinen ersten Worten und Gebärden erkannte sie, Rudolf sitze durchaus nicht als ein anderer vor ihr. Es war seine selbe redselige, wortreiche, glatt hinfließende Art, sich auszudrücken, dieselben kleinen Eitelkeiten, die er immer an sich gehabt hatte. Dieser Griff ans Knie, im Augenblicke, wo er sich auf den Stuhl setzte, um das gestraffte Beinkleid in Falten zu ziehen die Lagerung der gepflegten Hand an die Wange mit ästhetisch entfalteten Fingern, das war alles genau wie vor Zeiten.

Rudolf lebte über der Zwiesprache mit ihr zusehends auf. Er musterte den Garten, erkundigte sich nach ihrem Vater und mit einem Blick auf die Tassen und Teller ob sie Besuch erwarte und ob er störe.Er machte sogar Witze über Plauderstündchen und Teekränzchen „so unter uns Pfarrerstöchtern“.

Sie lud ihn zum Bleiben ein. „Ich weiß wirklich selbst nicht, wen ich dir ankündigen soll. Papakam gar nicht dazu, auszureden. Ein interessantes Paar! sagte er nur.“

In diesem Augenblick hörte man von der Veranda her zwei Schläge auf den Gong. Als Gabriele nach einer Minute zum Empfang nach vorne ging, kam ihr der Vater mit Krimhild und von Schlotten über den mit feinem gelben Kies bestreuten Vorplatz entgegen,und bald nahm die kleine Gesellschaft Platz.

Der Baron erkannte Rudolf gleich nach dessen ersten Worten an der Stimme; er hatte ihn öfters spielen sehen.192 []Gabriele beobachtete den Jugendgespielen auf die Wirkung, die dieses Erkanntwerden auf sein Gebaren ausübe, und als nun Rudolf mit gewollter Nachläs-sigkeit auf die angerührten Erinnerungen einging,bald diese Rolle erwähnte, in der er seinen Mann gestellt, bald eine andere nannte, die ihm leider entzogen worden sei, wandte sie sich, in der Mitte zwischen zwei paarweisen Unterhaltungen, wie sie saß, Volck-hardt und der jungen Dame zu, die bereits in höchst angelegentlicher Auseinandersetzung begriffen waren.Worüber, wußte sie keineswegs. Sie neigte sich zu ihnen hin und vernahm sie immerzu von seiten ihres Vaters: „Und Melchior!“ „Aber Melchior“ von seiten der Dame jedoch: „Und der Herr Doktor!“„Aber der Herr Doktor!“

Jetzt erriet sie, wen ihr Vater vor sich habe.

Aus jedem Worte Krimhilds sprach eine grenzenlose Zuversicht in die Unternehmung ihres Vaters,und da mochte sich nun Volckhardt noch so sehr ereifern,er kam ihr nicht bei. Keine Beweisführung, kein noch so plausibler Schluß wollte bei ihr verfangen. Ihren mangelhaften und wenig schlagkräftigen Gedankengängen half sie durch anmutige Zugaben nach, und eben weil sie so natürlich zu ihren Verneinungen den Kopf schüttelte, so natürlich aus leuchtenden Augen ihre Gewißheit ihrem Gegenüber an den Kopf strahlte,sah sich Volckhardt, der amtliche Pfuscherjäger von der Cochter des Quacksalbers in die Enge getrieben, nicht auf redliche Männerart im abwägenden Austausch der stärkeren und schwächeren Argumente, sondern durch 103 []diese für die Klärung der Sache höchst ungehörigen und überflüssigen Nebenreize.

Als Gabriele ihre Aufmerksamkeit dieser Auseinandersetzung zuwandte, ging Krimhild zu einer herausfordernden Sprache über, so etwa, als wäre sie die Gönnerin, der es zustand, zu ermuntern und einzuladen.Sie nickte der auch um vieles älteren Gastgeberin zu: „Sie müssen uns bald einmal mit Ihrem Herrn Vater im „Gesundgarten“ oben besuchen, Fräulein Volckhardt.“

Gabriele übernahm das Gespräch schon ihres Vaters wegen.

„Das liegt dort hinten oben, am Gereut“, versetzte sie gemessen.

„Ja, ganz dort hinten oben“, frohlockte Krimhild,„auf freier Höhe. Man thront über der Welt bei uns oben. Sie müssen einmal kommen und es sich ansehen.“

Volckhardt in seinem Unmut warf dazwischen: „Sünd'und schad' ist es um euer herrliches Luginsland.“

Krimhild sah ihm mit heiterem Gleichmut mitten ins Gesicht: „Wie wär' es jetzt auch, Herr Stadtrat,wenn Sie es mit meinem armen Vater einmal ein bißchen versuchen wollten, statt nur immer über ihn loszuziehen. Irgend einen Bresten haben Sie oder jemand aus Ihrer Bekanntschaft wohl auszukurieren.Ich kann Sie versichern. Sie werden es nicht zu bereuen haben.“

Treuherzig blickte sie während dieser Zumutung 104 []dem alten Herrn ins Auge, so daß er seine Cochter ärgerlich nach dem Verbleib des Tees fragte.

Die Mägde waren schon dabei, alles auszurüsten. Gabriele goß aus dem singenden Kessel das siedende Wasser in ein ungemein zierliches, sanft bemaltes Porzellankännchen, auf das Krimhild nun aufmerksam wurde.

Rudolf Zwinger, der immer schon hie und da einen streifenden Blick hinübergeworfen hatte, nahm den Augenblick, da Volckhardt auf den Baron zutrat, wahr und näherte sich Krimhild mit der lebhaften Ermunterung: „Ei ja, mein Fräulein, das sehen Sie sich nur einmal gründlich an, echt Sèvres.Doppelt so alt, als wir drei zusammen!“

„Oho!“ machte Urimhild und guckte ihn verwundert an.

Volckhardt bot Schlotten Zigarren an.

„Ja was, auf Kubad Und haben TCaäbak gebaut?dann probieren Sie einmal die da, ob sie Sie nicht anheimelt.“

Aber es dauerte nicht lange, so kam der „Gesundgarten“ an die Reihe.

„Eine tolle Wirtschaft!“ lachte Schlotten schließlich,„aber ich kann Sie versichern, Herr Stadtarzt, so ganz ohne ist der Schwindel nicht. Rein aufs Menschliche abgestellt, ist, glaub ich, etwas daran. Meine Neger und meine Kulis wie haben die's gemachtd Umsonst sind die Leute auch nicht Pflanzer. Die leben mit den Kräutern auf Du und Du.“ [95] Voldchhardt wiegte den Kopf: „Es soll mich freuen,wenn er ein Problem aufgespießt hat, das ihm an der Gabel stecken bleibt und nicht in Stücken links und rechts von den Zinken herunterbröckelt. Ich finde nur, er macht sich das Leben unnötig sauer. Als seines Vaters Sohn hat er auch nicht allzuviel zuzusetzen.Also wozud? Daß er ein Scharlatan wird, dazu ist viel zu viel los mit ihm. Also wird er sich daran verbluten.Das ist aber diese Schwengelei auch bei tausendfacher Uberschätzung auf keinen Fall wert. Denn es ist ein netter Kerl, kann ich Ihnen sagen, ein reizender Kerl.“

Aus dem Gebüsch erklang Krimhilds übermütiges Cachen. Gabriele hatte sie durch den Garten geführt und ihr den Felsblock mit dem Marmormedaillon gezeigt, dem Jugendwerke ihres gemeinsamen Freundes. Krimhild war, sobald sie erfuhr, was dies Steinbild bedeute und wer dessen Urheber sei, mitten im frohen Geplauder verstummt und stehen geblieben.

„Wasd Das kann er auch, der Tausendsassad“ sagte sie nach einer Pause.

Darauf entnahm sie ihrem Gürtel den kleinen Feldstrauß und legte ihn auf einen Vorsprung des Felsens unter das Medaillon hin. Und dann fing sie ganz einfach laut zu lachen an.

Als die Herren sie einholten, sagte sie zu Volckhardt:„Ich wollte gern Medizin studieren, Herr Stadtarzt.Etwas Latein kann ich schon. Soll ich's nicht doch noch tund

Volckhardt rieb einen Augenbilck die Lippen anein

I []ander: „Gesetzt den Fall, Sie wollen später auch nur Kranke pflegen ich habe mit Diakonissen zu tun.Diejenigen unter den Schwestern, die etwas taugen,die haben zumeist in jungen Jahren etwas anderes werden wollen und sind nun gewissermaßen ihre eigenen Patienten.“Da loderte mit einem Male eine helle Begeisterung von Kopf zu Fuß durch Krimhilds leichten, elastischen Leib:

„Ahl“ rief sie und war Feuer und Flamme. „Wo Not am Mann ist und wo man sein Leben aufs Spiel setzt! Wo die Leute sterben wie die Fliegen das wäre mir der Mühe wert, so ein Dienst würde mir passen!“

Volckhardt nahm ihren Anblick voll in sich auf. Unter seiner Oberlippe, die er nach dem rechten Mundwinkel hin etwas verzog, blitzte ein blanker, goldplombierter Eckzahn; mit dem kratzte er auf der Unterlippe hin und her.

Alle zusammen traten sie nun in den untersten Teil des Gartens, auf die freie Terrasse, dicht über dem Hinterhaus der Ratsapotheke, mit dem Blick über die zu Füßen sich dehnende ehrwürdige Stadt.

Es wurde Nacht, ehe Schlotten und Krimhild oben eintrafen. In der Droschke setzte sich Schlotten auf den Rücksitz in der Diagonale Krimhild schräg gegenüber. Er vergaß sich nicht einen Augenblick. Auch ein wenig in der Hoffnung, sie auf diese Weise noch am ehesten umzustimmen.107 []Der Droschkengaul ging gleich wie das Bisewetter,daß es den leichten Wagen auf dem Stadtpflaster kreuz und quer schlug.

„Kein Wunder“, erklärte der Kutscher vom Bock in den aufgeklappten Verschlag hinunter, „er hat sechs Stunden gestanden und nichts getan. Jetzt ist es ihm halt zu wohl. Wenn es dann erst gächauf geht, wird er bald hübschelig tun.“

So war des Lärmes und der Unruhe wegen erst ein Gespräch überhaupt nicht möglich. Urimhild war froh, als sie die Stadt im Rücken hatten.

Der Sonnenuntergang hatte sich ins Gelbe verfärbt. Fahl, matt, gespenstisch dehnte sich der dämmernde Himmel, und die blauen Lagerungen der Höhen nahmen sich verängstigt und gedrückt aus.Manchmal irrlichterte aus einer grünen Dämmerung schwefelhell ein Stück Rhein auf.

Bei sich selbst hatte Schlotten auf den heutigen Tag die Entscheidung anberaumt und seinem Verstande nach, auf die nun erfolgte Absage durchaus gefaßt,in dem kleinen Chalet nebenan, wo er wohnte, seine Koffer seit heute früh gepackt stehen, so daß er sie nur vom Kutscher aufladen zu lassen brauchte. Aber eh es dazu kam, wollte er noch alles aufbieten.

Er hob unverfänglich an: „Nun hätten wir uns also im Städtchen herumgetrieben. In dieser sogenannt freien Natur sehnt man sich manchmal nach einer Straße, wo man fünf Minuten lang zu beiden Seiten Bäuser hat, so daß man nicht in die Ferne sehen kann, nur in die Höhe.“083 []Nicht wahr?“ versetzte Krimhild schnippisch, „ich armes Tierchen tat Ihnen leid. Es langweilte sich so nach Noten da oben.“

Da sah er denn ein, Umwege führten hier nicht mehr zum Siele, und eröffnete ihr seinen Entschluß, gleich nach der Ankunft wieder abzureisen: „Wenn nicht noch “

Dieses „Wenn nicht noch “, das er offen ließ,ohne ihm einen Sat folgen zu lassen, verstimmte sie vollends.„So reden Sie doch deutsch mit mir“, fuhr sie heraus, „Sie haben zum Abschied alles frei. Sie können mich küssen, wenn Sie Lust haben. Aber raten möcht ich's Ihnen nicht.“

Damit stellte sie also selbst die Entscheidung auf das ab, was er jetzt sagte und tat. Er grub sich die Nägel in die gewulstete Handfläche. Jetzt hieß es „Durch“, wie er's bei der Schwadron gelernt hatte.Nun hielt er mit seiner wahren Meinung nicht länger hinter dem Berge:

„Ich kann mir nicht helfen, wie ich's drehe und wende, Sie stehen sich vor Ihrem eigenen Glück.Nur ein Kerl meines Schlages, der auf alle Fälle ans Ziel gelangt, je nach Bedarf mit Peitsche oder ohne Peitsche, kann mit Ihnen der Widerspenstigen Zähmung aufführen. Sie verkommen ja da oben.“

Seine Kühnheit behagte ihr:

„Gut!“ nickte sie, „weiter im Text.“

„Mit Ihnen tändelt man nicht, wie mit den hundert andern. Wenn ich mich korrekt benahm es war 109 []nur Hülle, zum Bemänteln. Ein harmloses Jeu d'Esprit das glauben Sie selbst nicht. Oder dann weiß ich besser Bescheid als Sie.“

Krimhild blitzte ihn mit den Augen an: „Seh' ich also wirklich aus wie eine Spanierin! Ob ich schön bin, es wirklich bin, will ich wissen. Wenn Sie mich nur so finden, was hab ich davon?“

Das Droschkenpferd war in die normale Gangart zurückgefallen und erledigte die schnurgerade Landstraße in einem mäßigen Trabe. Nur ab und zu scheute es an einem der rechts und links in regelmäßigen Abständen hingelagerten Schutthaufen. Dann warnte es der Kutscher vor dem Seitensprung mit einem verhaltenen „Prrr“ oder „Sßt“. Sie waren jetzt am Waldrande, beim Beginn des Aufstieges.

„Der KUutscher hört uns zu“, flüsterte er, „gehn wir zu Fuß.“

Wir können ihn hier entlassen“, meinte sie.

Schlotten bestand darauf, ihn mit hinauf zu nehmen.So stiegen sie aus. Die Waldnacht nahm sie auf, dunkel und undurchdringlich. Ganz schwach nur war der Weg den sich anstrengenden Blicken wahrzunehmen. Hinter ihnen prustete das Pferd, knarrten die Räder, lärmten die Kummetschellen, schallten die Hüstrufe und knallte die Geißel. Die beiden Blendlaternen am Bock schienen ihnen die Rücken an und warfen ihre Schatten unruhig und verworren in Riesengröße über die Straße hinauf.Schlotten brach das Schweigen:„So werde ich mir wenigstens einmal sagen kön

4 [20] nen: ich habe das seltsam wunderbarste Weib gekannt. Sie konnte dastehen, und Blumen wuchsen um sie her, und sie ließ sich von ihnen umgeben und freute sich der stillen Schönheit. Da huscht es über ihre Augen, eine Kraft, sie weiß nicht woher, kommt über sie. Sie sieht die Blumen nicht mehr. Ihr harter Fuß tötet achtlos alle Lieblichkeit. Wasser und Feuer, und Gazelle und Löwe, und Weichheit und Flaum und CTraum und Imperatorenkraft alles, alles zusammen in einem Weibe.“

Sie bogen um eine Straßenkurve, und da der Wagen noch vor der Biegung unten war, sie selbst aber in derselben Flucht schon darüber, wurden sie von den beiden Lichtern der Droschke grell getroffen.Schon immer hatte Krimhild geschnupft und mit dem Taschentuch sich zu schaffen gemacht. Jetzt sah Schlotten mitten in ein tränenüberströmtes Angesicht.

„Sehen Sie mich nur an“, sagte sie hustend, „ich heule schon die ganze Zeit. So was geht mir auf die Nerven.“Da blieb er stehen, er hob seine rechte Hand, hob sie höher, um durch eine Gebärde dem Ausdruck zu Hilfe zu kommen. Mit dem Mittelfinger griff er auf den Daumen: es galt, etwas sehr Zartes sehr sorgfältig anzufassen: einen schönen Schmetterling, einen seltenen, prachtvollen Trauermantel.

„Sammetener als Sammet!“ Mehr sagte er nicht.Da drehte das Fuhrwerk hinter ihnen in den Rank ein. Sie standen einen Augenblick gänzlich im Finstern, bald darauf hatten sie die Lichter wieder im 1 []Rücken und ihre ungefügen, entsetzlichen Schatten vor sich her.

Kein Wort mehr fiel zwischen ihnen im Weitergehen. Schlotten ließ seinen Kopf willenlos auf die Brust sinken. Müde zog er seine Füße unter sich vorwärts. Auch ihm rannen die Tränen die Backen herunter. Der Nachtwind kältete ihm das Gesicht.

Krimhild ging zwei Schritte vor ihm. Sie schneuzte und trocknete sich und stieß in ihrem verhaltenen Weinkrampf trotzige Laute aus.

Auf „Gesundgarten“ oben vernahm man endlich bei der großen Stille, die herrschte, die scharrenden Hufschläge und das Kratzen der Räder. Man hatte bereits die nähere Umgegend mit dem Windlicht abgeleuchtet.

Als die beiden in das kleine, nur von der Kerze erleuchtete Wohnzimmer eintraten, ließ Schlotten die Eltern gar nicht zu Worte kommen. Er bat, sich sofort verabschieden zu dürfen.

„Ich habe heute Ihr Vertrauen unhöflich ausgiebig in Anspruch genommen. Dafür war es auch das letzte Mal.“

Während sonst Frau Schwengel in ihrem durch die bange Ungewißheit überreizten Zustande die Ankommenden mit einer Flut von Anklagen überschüttet hätte, verlor sie nun vor Überraschung die abgepaßte, ausgedachte Haltung und stand in ihrem abgetragenen Schlafgewand, mit ihrem schlecht geordneten, angegrauten Haarputz recht jämmerlich da.112 []„Sie gehen fort“, murmelte sie entgeistert, „wie einst Ihr Vater. Aber verlassen Sie uns nur, das tut den Gefühlen keinen Eintrag. Unsere Achtung und Liebe folgt Ihnen unverändert.“

Krimhild sah ihre Mutter erstaunt an. Sie begriff nicht, was das sollte, der alte General von Schlotten,über den man wohl gelegentlich gesprochen hatte, auf einmal dazwischen hinein!

Schwengel stotterte:

„Was Sie da sagen. Aber Sie entziehen uns doch die Freundschaft nicht.“

Schlotten beruhigte beide.

„Aber das ist doch nicht so ängstlich. Aber das ist doch nicht so eilig“, flunkerte Schwengel aufs neue,und als jener dabei blieb, zuckte er die Achseln:

„Ja was ist da zu machen. Ich sage ja: entziehen Sie uns die Freundschaft nicht. Behalten Sie uns in gutem Andenken.“

Schlotten grüßte und ließ sich gute Reise wünschen.Dann zog sich das Ehepaar zurück mit Rücksicht auf den angegriffenen Zustand der Frau Schwengel.

Krimbild blieb vor ihm stehen und rührte sich nicht.Im zuckenden gelben Licht der Kerze sah er jetzt in ihr verweintes Gesicht und nickte ihr wieder drei,viermal zu, traurig und ergeben.

„Jetzt heißt es Lebewohl,“ sagte er, „aber hören Sie mich an nicht auf Nimmerwiedersehen. Sie werden mich noch einmal nötig haben. Ich kann warten.“

Da war es Urimhild, er stelle es absichtlich auf die Rührung bei ihr ab. Ein neuer Zorn fiel sie an.s8 Bernoulli, Zum Gesundgarten [113] „Für ein Abschiedswort doch etwas gar zu schön!Nein ich gebe Ihnen die Hand nicht; ich bin wüůtend. Sie auch, Sie quälen mich mit Ihren ewigen Beteuerungen, wie sehr Sie meinetwegen leiden. Es verdrießt mich, es stört mich, daß Sie mich lieben.“

Sie stampfte mit dem Fuße auf, sie wendete sich von ihm weg und kehrte sich in die Ecke.

Dieses letzte Restchen Stolz besaß er noch: er ging.

Krimhild rührte sich nicht vom Fleck, bis sie ihn durch den Hausflur von dannen gehen und draußen noch reden hörte und dann wieder hörte, wie das Pferd anzog und der Wagen wegfuhr. Fernab rückte das Geräusch.

Ach, aufjubeln hätte sie mögen. Endlich!

Den Kerzenstock in der Hand, stieg sie vom Erdgeschoß eine Treppe höher und lauschte dort durch das offenstehende Flurfenster ins Freie hinaus.

Sie wollte sich überzeugen, ob von den Rädern oder der Laterne des zu Tal fahrenden Gefährtes,das den Baron entführte, noch ein Schall oder Strahl zu ihr heraufdringe. Sie spähte und horchte, aber sah und hörte nichts. Ein mächtiges Rauschen und Brausen schwoll aus den Wäldern und der Niederung empor.Da hielt sie das Licht vors Fenster, dem Winde schräg dar, so daß es alsbald flackerte und erlosch. So stand Krimhild im Finstern.

Melchior hatte heute den Cag über fleißig gearbeitet. Er brachte System und Ordnung in die Wirrnisse des alten Schwengel. Was der biedere Kräuter144 []praktiker da mit blind zugreifender Hand an Einsichten gehoben hatte, das wollte er ei nun, was denn wollte erd War das wirklich so sehr der Rede wert,was er wollteꝰ

Ihm mochte die kühle, darlegende Rechenschaft nicht gelingen. In langen, weit ausholenden Schritten durchmaß er sein Zimmer unendlich oft. Es geriet aber nichts aus Rand und Band in ihm. Seine Schritte erklangen in genau denselben Abständen: ein eintöniger, mechanischer Pendelschlag.

Diesem langsamen, gleichförmigen Schrittfall hörte KUrimhild, als sie draußen im Finstern stand, eine Weile zu, spähend der Stelle zugekehrt, woher sie ihn gehen hörte. Ein Lichtstrich unten und ein Lichtstrich oben liniierten sozusagen die Finsternis.

Es ärgerte sie, daß er immerzu ging. UNonnte er nicht auch einmal stehen bleiben und horchen! Sie hätte dann gehustet. Aber nein: immerzu, immerzu.

Da schlich sie auf den Zehen an die Türe, schwang die Hand mit dem gebogenen Zeigefinger und klopfte an, zwei kurze, trockene Doppelschläge. Sofort stand drinnen alles still.

Wenigstens hatte nun dieses unerträgliche Gewandel ein Ende. Sonst jedoch rührte er sich nicht.Da klopfte sie noch einmal.

Jetzt rief er: „Herein!“ Aber zögernd, unsicher, wie zur Frage.

Die Türe tat sich vor ihm auf und im Rahmen stand sie, mit der er sich in den letzten paar Stunden so unablässig beschäftigt hatte, ja mit ihr, von Rechts

4 [45] wegen, nicht mit ihrem Vater, mit ihrem Kastanienhaar,mit ihren Kohlenaugen, mit ihrer bleichen Haut, mit ihrem herrlichen Schwebegang von Rechts wegen, nicht mit dem Heilsalat und den Gesundheitsrüben des Daters.

Sie trat ein, schloß die Cür lautlos und reckte ihre Arme quer aus.

„Puuh!“ machte sie in einem langgedehnten und verhaltenen Ausruf und schüttelte sich gelinde. Dann setzte sie sich auf den bequemen Großvaterlehnstuhl in die Mitte des Zimmers, doch nur vorläufig, nur auf die vordere Uante, und legte die Arme leicht an den breiten Lehnen auf.

Der „Gesundgarten“ auf seiner freien Höhe da oben war außer der höheren Lage auch dem Machtbereich dersprichwörtlichen Sittenstrenge der Stadt um einiges entrückt. Der Götzendienst mit dem Naturgefühl faßte die in ihren Grundsätzen und Hoffnungen vereinten Männlein und Weiblein unversehens zu einer Bruderschaft zusammen, wo manche sonst übliche Schranke fallen konnte, ohne daß deshalb gleich etwas Böses geschah. Der äußere Niedergang der Anstalt schob ebenfalls die Bewohner näher aufeinander. Niemand sah etwas darin, daß anstatt der Dienstmädchen Krimhild, allein oder mit Fräulein Hartmann zusammen,morgens in den Zimmern auch junger Herren mit dem Besen kehrte, Staub wischte und ihnen das Bett machte.

Das überraschte Melchior also weniger, daß sie zu vorgerückter Nachtstunde ihn heimlich aufsuchte.

Der Wechsel an sich, die jähe Fortsetzung der ver [10] blasenen Einbildung, in die nun ohne weiteres die Wirklichkeit einsprang und damit genau an der Stelle fortfuhr, wo sie den Traum zerstört hatte!

Er wußte, sie war nach der Stadt gefahren, weil sie den Kellner Albert im Gefängnisse besuchen und ihn trösten wollte, und der Herr von Schlotten begleitete sie.„Wurden Sie vorgelassen?“ fragte er.

KArimhild schüttelte den Kopf.

Erst war es nur, seine Frage zu verneinen. Aber darüber hinaus tat sie der Bewegung keinen Einhalt.

Meinnein! Neinnein!“ machte sie singend.

Ihr Kopf wiegte sich, ihr Körper wechselte den Schwerpunkt im Takt von rechts nach links und zurück, die Füße schaukelten desgleichen und leise, ganz leise sumste sie mit festgeschlossenen Lippen die Tonlinie des Walzers „Rosenknospe“, auf den Text:NeinNMein.“

Da merkte er den unaussprechlich heimlichen Spaß und hatte ihr Geständnis handgreiflich vor Augen.

Unvermutet erschütterte ein Windstoß das Haus.Aus einem entfernten Zimmer hörte man einen Patienten lange und ausdauernd husten. Das machte ihnen die Heimlichkeit ihrer Lage klar.

„Gehen Sie! Gehen Sie!“ raunte er erschrocken.

Da schaute sie ihn an tausendfach lieb und gut in einem Male, und über diesem Blick fiel es ihm wie Fesseln von den Gliedern. Er mußte sich aufsie stürzen:seine Arme breiteten sich gegen sie aus. Sie aber hielt 117 []ihm beide Handflächen entgegen. Aus ihren kohlschwarzen Augen brach der Strahl des gefundenen Glückes.

„Morgen! Morgen!“ dabei saß sie noch in dem mächtigen Fauteuil S einen seligen Augenblick kurz und flog dann auf! Sie schlüpfte in die leere Ecke des Zimmers und drückte eine kaum sichtbare Capetentür auf.

„Bis morgen!“ flüsterte sie noch einmal.

Er hörte, wie sie von innen einen Schlüssel im Schloß drehte und dann behutsam auf den Zehen,dicht an seiner Wand, Stufen, offenbar einer geheimgehaltenen Wendeltreppe, in die Giebelstube über ihm emporstieg.

Er starrte die Capetentüre an, die er bis jetzt für einen ihm verschlossenen Wandschrank gehalten hatte,und, überwältigt von Stürmen der Ahnung und Hoffnung, hörte er im Geiste nur immer wieder: „Bis morgen!“Rasch warf er sich auf sein Lager, um einzuschlafen,als stünde es in seiner Macht, damit den Anbruch des Tages zu beschleunigen.

[118]

Viertes Kapitel

Mit dem Tage stand er auf und ging ins Freie. Er wollte sich doch einigermaßen ausbesonnen haben und über sich selbst im klaren sein, wenn er des Mädchens wieder ansichtig würde.War das ein Morgen! Noch dazu der Himmelfahrtsmorgen! Eine leise, weit entfernte Kirchenglocke, die aus dem katholischen Hinterland her schon so früh über den Bergklang, erinnerte ihn daran. Sonst achtete Melchior längst nicht mehr auf die roten Cage im Almanach. Schon als Student hatte er das Mißfallen der Familie herausgefordert, als er zu seinem medizinischen Vorexamen im Übereifer über die wechselnde Woche hinweg durcharbeitete und so gar am Christabend und am Neujahrstag auf der Anatomie sezierte und präparierte. Später, in den Kliniken, hatte nicht der christliche Kalender, sondern die Willkür des Urankheitsverlaufes unter den Patienten ihm seine Ruhetage vorgezeichnet. Heute nun, seit der Kinderzeit wieder zum erstenmal, wurde er mit Vergnügen inne,daß die Welt Sonntage hat.Er eilte in Wonne den Bergrücken hinan, der vom Sattel des Gereut sich in stattlicher Wölbung zum 119 []sogenannten Stollen erhob und, einmal in diesem hochragenden Punkte gipfelnd, schroff, in Nasenform,zur Fluh abfiel. Fröhlich schritt, ja stürmte er durch den wieder ein neues Mal grün werdenden Wald.

Oben, auf dem Aussichtsturm genoß er wohl das Allgemeine seines Wanderzieles, den herrlichen Höhenfrieden, den Rundblick dieses für Ausflüglerbegriffe beliebten Panoramas und die wie ein kühler CTrunk ihm zuströmende Frühlings und Morgenluft. Aber es kam nicht zu einer Versenkung, zu einer stillglücklichen Hingabe. Die junge Sonne bestrahlte da nicht einen naiven, geruhsamen Sonntagswanderer, der die vor ihm sich dehnende Landschaft „schön“ findet, den es interessiert, ob man heute das Signal auf dem Belchen mit bloßem Auge zu entdecken vermag. Im hellen Morgenstrahl stand er, erschauernd über der Flut des aus ihm hervorbrausenden herrlichen Menschenstolzes.Zeitlos war dieser Augenblick, auf jedes Datum spottend! Wie einst schon in Griechenland der junge Wettläufer einen glückheißen Blick über die Arena warf, ehe er in sie hinein sprang, so glänzte Melchiors Auge nun dem Tage entgegen, seinem Tage. Wie die Hand das Geländer anpackte! Wie das leise Beben des Körpers sich dem ganzen Turme mitteiltel Er war ein wenig ins Unie gesunken, als gälte es den Anlauf zu einem großen Weitsprunge. Voll seliger Unruhe schaute er in die ihm von Kindesbeinen vertraute Landschaft hinunter wie in eine geheimnisvolle Fremde. Die wollte er sich mit Erlebnissen bevölkern, damit sie ihm zur Heimat werde.20 []Aus diesen Empfindungen weckten ihn die in der tiefen Schweigsamkeit schon aus der Entfernung vernehmbaren Schritte eines anderen frühen Spaziergängers, der nun auch unten aus dem Walde trat und ebenfalls die neunundneunzig Stufen am Eisenturme hinanzuklimmen begann.

Zwinger erkannte alsbald den Kurgast Innozenz Blötherlein. Der Mann gehörte zu denjenigen, die er sich insgeheim zu einem gelegentlichen näheren Studium vorgemerkt hatte der erste instinktive Eindruck von ihm war ja zweifelhaft; jedoch wußte Zwinger seine geheime Antipathie nicht durch stichhaltige Gründe gestützt. Im Gegenteil hatte Blötherlein schon die eine oder andere treffende Bemerkung zur Unterhaltung beigesteuert und erschien Zwinger überhaupt als eine Art Typus für die medizingegnerischen Eiferer, deren näherer Bekanntschaft er sich nicht entziehen durfte.

Dieser zwiespältige Eindruck bestätigte sich auch bei der nun erfolgenden Begrüßung. Zwinger war aufs neue angewidert durch die aufdringliche kriechende Freundlichkeit, durch die weibische Stimme, durch den schleichenden Gang, durch die streichende, seifige, ausweichende Manier, wie Blötherlein ihm die Hand reichte. Jedoch konnte ersich der Redegewandtheit und den geäußertenklugen Gedanken nicht entziehen, so daß ein längeres, aufschlußreiches Gespräch die Folge war.

„Schon so zeitig, Herr Doktor Zwinger! Immer mit dem guten Beispiel voran! Recht so! Recht so!Der Papa Schwengel kommt nicht mehr so ganz nach 121 []mit dem Exempelgeben. Ich versichere Sie übrigens nachträglich noch meiner Sympathie dazu gehört Mut so einfach einer geschlossenen Zunft den Rücken zu kehren. Ich selbst, sehen Sie ich habe das Schulmeistern auch an den Nagel gehängt ; die Pflege meiner Persönlichkeit stand mir höher als Amt und Würden so vegetiere ich denn mit zweieinhalbtausend Fränklein Zinsen ich kann nicht klagen, man behält doch den Rücken gerad und die Augen offen und läßt sich für den Notfall auch einiges Haar auf den Zähnen wachsen.“

Dabei stand er vor Zwinger, der sich ihn über diesen Redeschwall näher ins Auge faßte, mit zwinkernden kleinen Augen, mit gekrümmtem Rücken, und unter seinen Lippen kamen grüne, unsaubere Zähne zum Vorschein. Zwinger erwiderte auf belanglose Weise, damit fürs erste die Unterhaltung noch im Fluß blieb, und überlegte bereits, wie ein schickliches Ende unauffällig herbeizuführen wäre, als Blötherlein, mit Zwinger eben am Fuße des Aussichtsturmes angelangt, in seinen Erwägungen zusehends eine höhere Warte zu ersteigen begann:

„Ohne indiskret sein zu wollen, Herr Doktor Zwinger ich rubriziere eigenartige und bedeutende Menschen nach Rassenmerkmalen bei Ihnen bin ich offengestanden noch nicht im reinen. Mir ist nicht ganz klar, welchem Schweizer Schlage Sie angehören.Hhaben Sie sich darüber noch keine Gedanken gemacht ?Zwinger war unschlüssig: „Ich denke, hier herum

* [2] sind wir Alemannen, vielleicht mit einem Schuß Burgunder darunter.“

Blötherlein verwahrte sich: „PBurgunder schon gar nicht. Die Alternative könnte doch nur lauten: Alemanne oder Schwabe. Sind Sie nicht vielleicht einmal in früheren Zeitläuften so vom Bodensee hergekommen oder sonst irgendwo aus der schweizerischen Levante?“

„In der Tat meine Vorfahren sind rheinaufwärts zu suchen.“

„Und haben im Wappen?“

„So einen Bärenbändiger mit einemSchweinsspieß.“

„Also, also“, frohlockte Blötherlein, „da haben Sie's ja. Ihr Temperament ist eine Mischung halb und 00Wären Sie nur Alemanne, so wären Sie bedächtig,nüchtern und geradeaus der Nase nach, dann hätten Sie kaum sich ihre Laufbahn mit dieser Energie verdorben; ein Alemanne wird niemals denken: die Welt kann mir den Buckel hinaufsteigen. Das haben Sie dem schwäbischen Einschlag in Ihnen gutzuschreiben. Die Alemannen sind ernste, phantasielose, pflichttreue Menschen, die ihren festen, sicheren Gang gehen, nicht nach rechts noch links sehen und keine Sprünge machen.Das tiefe Gemüt gedeiht dagegen erst auf schwäbischem Grunde: es braucht seine Zeit, Wurzel zu schlagen,und seine Zeit, zu reifen. Sie wissen ja doch: das Schwabenalter! Das ist beileibe kein leeres Gerede,das hat seine ganz feste Bewandtnis. Warten Sie,bis Sie erst selber vierzig sind.“23 []Diese wunderliche Belehrung verblüffte Zwinger nicht wenig; sie erhellte ihm mit einem Schlage den immer schon dumpf empfundenen, bis dahin unerklärlichen Zwiespalt seiner eigenen Natur. Am wohlsten war ihm immer gewesen, wenn er auf seine Weise ein einfacher Mensch sein konnte, ein Gevatter Schneider und Handschuhmacher auf eigene Faust:gewissenhaft, brav, pünktlich einst schon als Klassenerster in der Schule, dann als Student mit dem Punktmaximum in allen Examen, und vor kurzem noch der musterhafte, zuverlässige Assistenzarzt: das war seine Tugend und Gerechtigkeit gewesen, aber bei Licht besehen auch seine Bequemlichkeit und sein Behagen.Er hätte es gerne auf diese strenge und pflichtmäßige Art weiter getrieben, es war zugleich die kommodeste.

Aber da nisteten irgendwo in einem hinterhaltigen Winkel Reste oder Ansätze einer anderen Natur, einer nicht zu zügelnden, ungebändigten, aufwallenden Leidenschaft, vor der er nie sicher war, ob sie nicht eines schönen Tages ihm seine sauber aufgeräumten Siebensachen ohne weiteres drunter und drüber, auf einen Haufen, in die nächste Ecke warf. Und das sollte also ein Schwabenerbteil seiner Altvordern seind Warum nicht? Habeat sibil Was konnte er dagegen haben?Unangenehm empfand er in diesem Augenblick nur, daß derjenige, der ihm dieses Licht aufsteckte,Blötherlein hieß und selber aufdringlich schwäbelte.

Der gesprächige Rassenphilosoph schlug eine neue Wendung ein:124 []„Merken Sie nun auch, warum ein Gemütsmensch,wie Sie es im Grunde sind, sich von dem medizinischen Schulbetrieb nicht befriedigt fühlen konnte?“

„Allerdings“, warf Zwinger ein, „in unseren Uliniken macht sich das Laboratorium oft breiter, als sich mit dem Begriff verträgt, den wir uns von einem ordentlichen Spitale bilden. Wir experimentieren und vivisezieren ein bißchen reichlich am Menschen als dem differenzierten Wurm und Frosch herum, statt unsere Kranken nun auch wirklich zu heilen. Meine gelegentlichen Versuche als Liebhaber in der Bildhauerei haben mich auch als Arzt immer die Einseitigkeit besonders empfindlich spüren lassen, daß wir stets bloß Knochen zersägen und Symptome vertreiben, statt den Menschen als Ganzes zu nehmen, den Rhythmus der Körperfunktionen untereinander zu uns reden lassen “

„Und zuletzt“, unterbrach Blötherlein gewichtig,„für das Göttliche, das im Menschen erschimmert, unsern Blick zu schärfen. Verbinden doch durchgehende Lebenskreise Leib und Seele, Glauben und Wissen,Natur und Geisterwelt “

Zwinger schüttelte den Kopf: „Auf dieses heikle Gebiet wünsche ich Ihnen nicht zu folgen. So ausgeprägt ist der Schwabe in mir auf keinen Fall.“

Aber Blötherlein ließ nicht locker: „Wie steht es bei Ihnen in puncto punctiꝰ Ist Ihnen der Para-relsus zur Bibel geworden, wie sich's bei einem rechten Naturarzt gehört?“

Zwinger lachte auf: „Paracelsusd Der alte Unabe 125 []aus dem sechzehnten Säkulo? Der possierliche Wunderdoktord Zurück zu dem? Ist das jetzt die CLosungd

Blötherlein verwahrte sich: „Furück doch nicht!Vorwärts zu ihm! Empor zu ihm! Er der Lutherus Medicorum, der nicht bloß Mediziner war, sondern ein Theosoph und religiöser Mensch zugleich.“

„Bedaure unendlich“, erklärte Zwinger jetzt, „wenn Sie mit solchen Geschichten anrücken, bekommen Sie es bei mir mit einem völlig unbegabten Adepten zu tun. Die Mühe können Sie sich wirklich sparen.“

„Erlauben Sie gütigst“, eiferte Blötherlein, „aber wenn Sie, wie ich fürchte, noch nicht eine Zeile von ihm sich zu Gemüte geführt haben! Da handelt es sich dann nicht um Schrullen, sondern um eine klaffende Lücke in Ihrer Bildung. Und dabei sind Sie ein Sohn jener Stadt da unten.“ Er wies durch einen Ausschnitt in der Waldung auf das im Morgenglanze daliegende Pfalzmünster hinunter.

„Gut; dann bitte ich mir von Ihnen den Paracelsus aus“, schloß Zwinger das Gespräch, da ihr Rückweg vor ihnen nun den Anblick des Sanatoriums auftat.Blötherlein brachte ihm den einen schweren Bibliotheksfolianten aufs Zimmer, und Zwinger benutzte den vor ihm liegenden Vormittag und las sich im Paragranum heimisch:

„Das gesundtmachen giebet den Artzet/ unnd die Werck machen Meister und Doktor/Nicht Keyser/nicht Bapst/ nicht Facultät/ nicht Privilegia noch kein 126 []Hohe Schul/ es ist noch kein Artzet auf den Hohen Schulen nie geboren worden.“

Potztausend! Das ist deutsch gesprochen! Welcher Stolz! Welches Selbstbewußtsein! Aber warfen sich nicht gerade die Scharlatane so in die Brustꝰ Geriet man nicht unversehens in niedere Gesellschaft mit einem solchen Stolze?

Aha! Hier! Gegen die Allopathie: „Da schlahe der Bleisack zu/wer wollt solch Mörderey wissen aufzurichtend Den habt ihr ixmal geräucht/ den ixmal geschmirt / den ixmal gewaschen/ den zwei oder drei jar im Holtz umbgefürt: In dem ligt ein fierling Quecksilber / in dem ein halb pfund/ in dem ein pfund/ in dem anderthalb pfundt: Da ligts im Mark / da ligts im Geäder/ da ligt es in Gleichen/ da ligt es lebendig/ da ligt es pulvers weiß/ da ligt es sublimiert in dem ligt es calciniert/ in dem resolviert / in dem precipitiert und also dergleichen mit anderen Dingen auch: Wer kann einen jedlichen sein büberey verdeckend“

Donnerwetter! Haut der in die Steine! Stoff für zehn Injurienprozesse! So ein Mundstück!

Der Glücklichel Damals noch mit heiligem Pathos Binsenwahrheiten verkünden zu dürfen:

„Der Artzt soll stehn in des Himmels/des Wassers/des Lufts / und der Erden erkanntnus/ und außer den selbigen den Microcosmum.“

Und weiterd Ei! Famos! Aber vortrefflich! Daß der nicht längst für die Arzte zum Luther geworden ist!Mit einer so ausgeprägten Divination für die unmittelbaren Heilinstinkte.127 []„Darum soll der Artzt vom Volk sein glauben haben/dann der Heilig Geist ist der Anzünder des Lichts in der Natur. Fraget die Bauern darumb.“

Aus den vergilbten Folioblättern drang es Melchior wie ein Weckruf ins Gewissen. Er nahm aber nicht wie Blötherlein und seine theosophischen Genossen den alten Doktor von Hohenheim zum Eideshelfer für einen kleinlichen und heimischen Aufruhr gegen seinen eigenen Stand und Beruf. Er ließ es sich nicht beikommen, mit den Invektiven eines derben Krafthubers aus einer längst verklungenen Zeit einiger Berührungspunkte wegen nun einfach die für wissenschaftlich geltende Heilmethode zu brandmarken. So grob war die Unüpfung keineswegs; aus einer feinen Seide spannen sich die Fäden, die ihn in dieser festtäglichen Morgenstunde mit dem alten Ankläger der auch von ihm insgeheim bezweifelten Sache verbanden.

Das Exemplar, aus dem er den großen Arztehasser las, gehörte dem alten Bestande der städtischen Bibliothek an; wer weiß, da hatten es wohl auch seine Altvordern, die alten Botaniker und Arzte und Apotheker namens Zwinger in der Hand gehabt. So stieg ihm, durch mannigfaltige Beziehungen geschürt, der

Genius loci seiner guten Vaterstadt entgegen: das humanistische Ideal von dem Menschen, der sich nicht bloß als Stoff fühlt, der sich vielmehr sagt: „Du bist auf ein Wachstum angewiesen, du darfst Besitz ergreifen von dem Reichtum der Welt und, wenn du deine Grenzen gefunden hast, bleibt dir das Vorrecht, dein 123 []übermächtiges Schicksal erst recht aus vollem Herzen zu lieben.“

Er ließ den schweren Band zufallen und trat an das offene Fenster seines Turmerkers zum bewußt nach diesem Ziele gerichteten Blick hernieder auf die Stadt.Das Geläute ihrer Kirchenglocken schwebte in einer leisen, gereinigten Verflüchtigung zu ihm empor. Das zwang ihn zu einer Sammlung, die einem brünstigen Gebete entsprechen mochte, wenn ihm schon weder eine Bitte noch ein Gelübde auf die Lippen trat.

So konnte sich das Sonderbare ereignen, daß er,wieder unter Menschen tretend, auf dem Flur zuerst Krimhild begegnete und sich in diesem Augenblick wahrhaftig nicht mehr entsann, welchem Wiedersehen zuliebe er gestern nacht den neuen Tag herbeigesehnt hatte.Erst das erwartungsvolle Erstaunen auf Krimhilds Angesicht erinnerte ihn blitzschnell an sein Versäumnis.Schwach errötend, ebenso zuversichtlich als zaghaft,traten beide aufeinander zu, reichten sich die Spitze der hand und fanden sich in dem gemeinsamen gleichzeitig ausgesprochenen Lobpreis dieses Morgens ohne gleichen. Als ihm nun Krimhild von ländlichen Bräuchen und Spielen erzählte, die wie üblich am Auffahrtstage im Laufe des Nachmittages sich um den Gesundgarten herum zutrügen, da vereinigte sich die Ubermacht der von allen Seiten auf ihn einstürmenden Freude zu dem heißen Wunsche: fortan jedem Menschen ein Bruder zu sein, jedem zu helfen, jedem etwas Liebes zu tun.

J Bernonlli, Zum Gesundgarten [29] Am Nachmittage ritten Bauern aus den umliegenden Ortschaften mit Bändern am Hute und an den Schläfen ihrer Rosse die alten Grenzmarken ab; bald sah man sie ferne irgendwo in der Landschaft draußen,bald trotteten sie auf dem Sträßchen hinter dem „Gesundgarten“ vorüber. Der Wald bevölkerte sich mit Stadt und Landvolk. Dorfkinder trieben sich feiernd herum: die Mädchen, die noch nicht konfirmiert waren und also noch nicht die Kopfhauben der Erwachsenen tragen durften, hatten sich aus Zeitungsblättern die begehrte Zierde nachgebildet, so daß jedes seinen, Lätsch“auf dem kleinen Haupte trug, wenn auch nur als papierenes Schnittmuster, an dem noch irgendwo ein Uberrest der großen Titellettern erkennbar war.

Zwinger begleitete das Ehepaar Aberfeld auf seinem gemächlichen Spaziergang. Unter einem eben erblühten Apfelbaume trafen sie inmitten einer Kinderschar ein Mädchen, das einen dicken Blumenkranz im Haar trug.

„Warum hast du einen Kranz auf“, erkundigte sich Frau Professor.

„Das ist die Auffahrtsbraut“, erklärte ein Unabe.Uberhaupt war FrauProfessor beflissen, möglichst überall „Richterbildchen“ aufzustöbern und äußerte ihre Freude vor jedem neuen Motiv, das sie richterisch anheimelte.

Im Walde, mehr der Höhe zu, ging es auf einem hölzernen Canzboden sehr fröhlich her. Dort trafen sie auf Blötherlein, der sofort die Beziehung mit der Osterszene im „Faust“ klarstellte und auch unerbitt130 []lich anfing: Der Schäfer putzte sich zum Tanz Mit bunter Jacke, Band und Kranz

Zwinger verspürte nicht die geringste Lust, sich der wechselvollen Schönheit noch gewaltsam bewußt zu werden. Strömten ihm doch die Herrlichkeiten durch alle Porenzu, hielten, ihm war, durch die Fingerspitzen,unter den Nägeln durch, wonnigen Einzug in seinen Körper!

„He dal“ bemerkte er zu Blötherlein, „Sie haben mir heute früh den burgundischen Beisatz wegstreiten wollen. Sehr mit Unrecht! Zum schwäbischen Mystiker taug' ich schon gar nicht und auch mit dem alemannischen Pflichtmenschen ist es soso lala. Aber zum Genießer, zum kultivierten Aufnehmer, zum Roy fénéant glaube ich mich nicht übel geartet.“

Eine Laube im Garten des Sanatoriums war von einem üppigen Pfeifenstrauch überklettert. Seine Blätter hatten eben ihr volles Flächenmaß erreicht,wurden aber noch, in jungfräulicher Zartheit, vom ungehemmten Sonnenlicht erfüllt und durchflossen.Es fügte sich, daß sich dahinter eine plaudernde Gruppe zusammenfand und Krimhilds Haupt vor das größte,ausgewachsenste, das lichterfüllt frei in der Luft hing,zu stehen kam, und auf diese Weise von einem breiten Glorienreifen zugleich hoffnungsgrün und goldhell umglüht wurde. Melchior wurde dieses Wunderspiel gewahr und fing den Anblick mit Entzücken in sich auf:ja, ja, so war es in Wirklichkeit, was hier sich im duftigsten Gleichnis andeutete, dieses reine bräutliche Wesen wurde von dem heiligen Glanze der Natur 131 []umspielt und stand vor ihm als der Engel seines eigenen Lebensideales. Er erzählte ihr leise dieses sein Gesicht, sobald sie abseits heimlicher miteinander sprechen konnten. Sie freute sich und fand es eigentlich in der Ordnung, ihm so verklärt erschienen zu sein.Dabei hatte es mit der Annäherung für heute sein Bewenden. Wohl trafen sie sich, so oft eine leise Regung sie zusammentrieb. CTraten sie wieder auseinander, so geschah es ohne Entsagung; denn noch befanden sie sich in einer wunschlosen Erwartung aufeinander angewiesen und waren ohne geheime Unruhe und Furcht jedes seiner Sache vollkommen sicher. Ja,ihre Schen, heute schon Kuß und Umarmung zu erstehlen, beruhte auf der Ahnung, es könnte um diese unbeschreibliche Friedlichkeit ihrer Gemüter geschehen sein, wenn erst einmal das Glück Ernst mache und auf seinen Rechten bestehe. So genossen sie heute auch für ihre Liebe nur erst den süßen Vorgeruch, wie er an der heurigen Himmelfahrt über der blühenden Welt geschwebt hatte.

In den Werktag, der folgte, brachte eine gerichtliche Nachforschung einigen Tumult. Alberts Kammer wurde durchsucht und einiges Verdächtige, namentlich Geheimschriftliches, in Beschlag genommen. Im übrigen ging der von der Stadtpolizei entsandte Detektiv gnädig zu Werke und begleitete die Anfragen,die er an die Schwengelschen zu richten hatte, mit gelinden Tröstungen, der Hartmann scheine ja keiner von den Schlimmen zu sein, man werde ihn wohl bald 32 []einmal wieder laufen lassen. Durch ihn erfuhr man auch, der Verhaftete werde dieser Cage in Untersuchung genommen werden.

Der Kriminalkommissar, dem in schwereren Strafsachen die Erstaufnahme der Tatbestände zu leiten oblag, ein breitschulteriger, großstämmiger Mann, empfing alle Schelme ohne Zeugen in seinem Bureau im „Lohnhof“. Eine natürliche Bonhomie machte ihn für seinen Beruf seltsam geeignet. Er verhörte sie, indem er sich mit ihnen unterhielt. Keinerlei losdonnernde Bärbeißigkeit, keinerlei kettenrasselnde Drohung. Er sprach über Diebstahl, Mord und Codschlag wie über eine Bagatelle, etwa, als gälte es festzustellen: „Gehört dieser Zweibätzler da Cuch oder gehört er mirꝰ“Es handelte sich einzig und allein darum, der Schlauere zu sein. Die Polizei mußte die Gauner eben ganz einfach übergaunern; diese ergaben sich der größeren Meisterschaft ihres eigenen Handwerks am ehesten.So gelangte der Kommissar durch die Aneignung der gegnerischen UKenntnisse unwillkürlich zu einer Wertschätzung der verbrecherischen Kniffe und Fertigkeiten,indem er einen Erzschelm, der ihn wochenlang an der Nase herumzuführen vermochte, als einen Bestandenen, als einen Mann von Zunft zu respektieren nicht umhin konnte, während er in einem demütig reuigen oder vorschnell geständigen Gefangenen den Anfänger oder den Stümper bemitleidete.

Den Hartmann maß er bei dessen Cintritt schätzend 133 []ab und wäre geneigt gewesen, sich auf einen Ausgepichten und Abgefeimten gefaßt zu machen. Derverdüsterte Trotz in den Mienen, die Energie des Blickes und die straffe, sehnige Gestalt ließen auf einen ungewöhnlichen Fang schließen.

„Hartmann Albert? In Sachen Hobler. Seid Ihr's?Nun wir haben da Beweisstücke in Händen. Sie sind allerdings chiffriert. Ihr könnt nicht verlangen, daß ich das lesen kann.“

Hartmann fühlte sich und lächelte hämisch.

„Ich verweigere die Auskunft.“

„Wie Ihr wollt“, machte der Kommissar, „dann setzt es eben Wasser und Brot.“

Hartmanns Aberlegenheit erstieg den Gipfel.

Adiorov Mev Soco“ warf er hin ,falls Sie griechisch verstehen.“

Bei diesen gelehrten Brocken malte sich auf dem Gesicht des Beamten eine unentstellte, ehrliche Enttäuschung:

„O jeh! O jeh“, rief er und schnalzte ärgerlich mehrmals gegen die Zähne, „also wirklich? Klassisch kommt Ihr mird Hört, Hartmann, da ist Hopfen und Malz verloren. Ein so dilettantischer Spitzbube ist mir noch nicht durch die Finger gegangen. Für so dumm haltet Ihr uns?“

Dabei nahm er einen Briefbogen von seinem Schreibtisch, hielt ihn Hartmann hin und fragte ihn,ob das der von ihm verfaßte Geheimbrief sei. Als dieser es bestätigen mußte, trat der Kommissar dicht an ihn heran, hielt ihm das Blatt buchstäblich unter 134 []die Nase, fuhr mit dem Knöchel seines gekrümmten Zeigefingers den chiffrierten Zeilen entlang und entzifferte den Inhalt fließend in einem Zuge, ohne jede Stockung.

Hartmann wurde käsebleich.

„Aha, jetzt seid Ihr platt. Hättet Ihr wenigstens Geheimsiegel genommen. Aber es uns auch gar so leicht machen. Da heißt's eben auf den Hosen sitzen und schaffen; Spitzbubenkauderwelsch ist mindestens so schwer als Französisch. Ich hab' es mir auch sauer werden lassen, bis ich's konnte. Nun, Ihr haltet Euch wohl für überführt und seid geständig, hed“

Hartmann nickte, indem er den Kopf sinken ließ.Der Kommissar setzte sich an seinen Schreibtisch, und während seine Feder über die aufgeschlagene Seite des Untersuchungsprotokolls flog, wo es hieß: Hartmann bekenne sich schuldig der Hehlerschaft und betrügerischer Unterschleife im Zusammenhang mit den Schwindeleien des Hauptschelms J. N. Hobler sprach er, in Absätzen immer wieder dem vor ihm stehenden Sträfling zu:

„Hartmann, Hartmann, laßt die Finger von diesen Sachen. Ein ehrliches Gewerbe ist das Stibitzen zwar nicht; immerhin, es will gelernt sein und, wohl verstanden, beizeiten. Ihr seid mir ein bißchen gar zu fahrig und wißt nicht wo hinaus habt die Maturität gemacht, könnt auf dem Piston blasen, seid ein adretter Uellner, wie ich höre und dann doch noch hinterher umsatteln und Gauner werdend Ein bißchen wohl spät, wo soll da noch was Gescheites herauskommen!135 []Ich glaube nicht, daß Ihr es je zu was ordentlichem bringen werdet als Strolch. Schließlich ist das ein Talent wie ein anderes, man hat es, oder man hat es nicht.Wenn nicht von Gott, so vom Teufel... Johann Kasimir Hobler, der Tausend! Das ist noch ein Halunke,bei dem mein Weizen blüht! Da weiß unsereiner noch, wozu er auf der Welt ist. Aber, wenn man so uninteressant und belanglos, ja geradezu schlecht schwindelt wie Ihr, sokomm ich mir verdammt überflüssig vor im Dienste der bürgerlichen Weltordnung. Warum habt Ihr Euch nicht an dem Galgenvogel ein Beispiel genommend So einen Lehrmeister und selber ein so klägliches Fiaskod Das heißt man schlecht abschneiden,saumäßig schlecht. Uberlegt es Euch doppelt und dreifach, eh' Ihr dabei bleibt!“

Das alles klang weit weniger nach Ironie, als nach einem rechtschaffenen Arger.

„Das kann ich Euch jetzt schon sagen“, fuhr er über dem Weiterschreiben fort, „Euch erwischen wir jedesmal. Völlig aussichtslos! Also, wozud Sitzt eben nur die paar Wochen Untersuchungshaft ab: damit werdet Ihr wohl überhaupt heraus sein, für die paar hundert Fränklein, die Ihr da gemaust habt, pro Tag fünf Franken! Nachher speit Ihr wieder flott in die Hände und faßt irgendwo herzhaft zu. Es laufen sogenannte ehrenhafte Leute herum, gegen die seid Ihr immer noch der reine Waisenknabe; zu einem nützlichen Glied der menschlichen Gesellschaft reicht es noch lang. Aber ein Zuchthäusler mit seinen gesalzenen zehn, zwölf,fünfzehn Jahrend Ja, gut' Nacht! Da muß man schon 136 []seinen stattlichen Haufen zusammengebosget haben.Für nichts und abernichts geben wir auch nicht gratis Kost und Logis.“

Jetzt war die Folioseite bis in ihre andere Hälfte hinein von der Aufzeichnung bedeckt; der Beamte schob das Buch schräg an die Tischecke dem Sträfling auf Sehweite hin, las ihm, was er unterdessen geschrieben hatte, vor und reichte ihm die Feder. Während Albert unterzeichnete, tupfte jener auf einen elektrischen Drücker, dessen Draht in die Wache hinunterläutete.

Der Landjägerkorporal erschien in der Cüre, und ehe er den Verhörten abführte, rief der Kommissar diesem noch zu:

„Also, Hartmann, laßt es Euch gesagtsein! Rechtsum geschwenkt und wieder brav geworden! Dann habt Ihr doch Euer Futter und Euere Zigarre. Und heiraten tut Euch immer noch eine!“

Leere, feuchte, fleckige Mörtelwände, Gitterstäbe vor dem engen Tageloch, der Strohsack, der Holzsessel mit dem eingestoßenen Geflecht zum Sitz und der nur noch halben Lehne! Und eine stramme eichene Türe, und der Schlüssel hatte geknarrt, daß es eine Art hatte! Jajaja, Hartmann Albert, regelrecht hinter Schloß und Riegel, regelrecht auf Numero Sicher, wie sich's gehört, wie sich's gehört!

Er warf sich auf seine Pritsche, daß das Stroh im Sacke aufknirschte und das Holzgestell ordentlich knackte.Er schloß die Augen, um nicht sehen zu müssen, wo er 137 []war; er hielt den Atem an, um diese widerliche, unerträgliche, dumpfe Stock und Stickluft nicht mehr aufzunehmen.

Lange lange daß er überhaupt so lange ausharren konnte, ohne einen Atemzug! Er wollte einen tun. Aber er konnte nicht. Es griff ihm jemand oder ein Etwas mit eisernen Krallen ums Schlüsselbein herum die Lungen zu. Er mußte nachsehen, was denn das war und schlug die Augen auf. Da saß ihm eine große rotbraune, gespenstige Eidechse mitten auf der Brust ach, ein Chamäleon, ein richtiges Chamäleon schauderhaft! Diese gebuckelten Glotzaugen,dieser sägeschartige, gezähnte Rückenkamm, diese entsetzliche Kiefertasche am Kinn, und der lange Schwanz mit dem dreifach aufgeringelten Ende, der immerzu auf dem Herzen aufklopfte. Aber das grauenhafteste war:„Jetzt bin ich Kellner“, grinste das Chamäleon und schimmerte grünlich

und: „Jetzt bin ich Hoboist“, und schillerte violett und: „Jetzt bin ich Quacksalber“, und schillerte kreideweiß und: „Jetzt bin ich Strolch“, und schüttelte ihn so entsetzlich heftig, daß ihm Hören und Sehen verging und er den abermals eingetretenen Farbenwechsel gar nicht mehr feststellen konnte .

Achzend wälzte sich der Schlafende vor Qual,bis ein wild herausgebrüllter Schrei ihn vom Alpdruck erlöste. Er sprang auf die Füße und kam auf [100] diese Weise gerade vor das Guckfenster zu stehen,in den Bereich des einfallenden blauen Himmels,indem er sich das wirre Haar aus der Stirne strich.Seine schwarzen, stechenden Augen, weitaufgerissen,dürsteten nach Helligkeit und Erleuchtung.

Der schräge Sonnenstrahl scheuchte aus dem finsteren, schattenzerfressenen Gesicht den Menschenhaß und brachte es zur Klarheit, so daß es aufleuchtete und in ausgesprochenen, deutlichen Linienverlief.Die Stirne, in lauter Licht gebadet, wölbte sich weit und stolz und verriet die Geburt eines heiteren, guten Gedankens hinter ihrer steilen Schädelwand.

Zögernd, ein Lächeln der Verwunderung über seinen Einfall auf den Lippen, trat er unter die Lücke, deren Fallfensterchen offen stand, überzeugte sich mit einem tiefen Atemholen von der gelinden Einwirkung der CLuft von draußen und begann sich auszuziehen; seinen Kellnerfrack und darauf seine wenigen und geringen übrigen Kleidungsstücke legte er eins ums andere auf den Strohsack, bis er, gänzlich unbekleidet, den nackten rechten Arm erhob und in den schmalen Licht und Luftweg hinein dem eindringenden Elemente darhielt. Sein übriger Körper fröstelte in der Feuchtigkeit des Kerkers; desto voller empfand er den Segen der Bestrahlung, je nachdem er nun die einzelnen Gliedmaßen abwechselnd dem hellen und strömenden Streifen zudrehte.

Es war ein Gelübde, das sich da vollzog, das Gelöbnis, seines jungen und zähen Leibes als eines höchsten Gutes dankbar froh zu werden. Wie er aus 139 []Nerven, Muskeln und Gebeinen zusammengesetzt sei,hatte er seiner Zeit im Seziersaale gerade noch gelernt; nun wurde er sich durch die Gefängnishaft jählings bewußt, wie gedankenlos er es damit gehalten habe. Das sollte anders werden; er wollte sich auf den künftigen Genuß seiner Freiheit hin erziehen und seine unfreiwillige Muße täglich zu Freiübung und Muskelspiel verwenden, damit er dereinst als ein Herrscher über seine körperlichen Kräfte mit dürstender CLunge frische Luft schöpfte, überall, wo er wollte, daß ihn sein Fuß hintrug.

Etwaum diese Zeit hätte Albert einen Besuch erhalten sollen; von denbeiden Rurgästen Faxonund Blötherlein. Sie hatten aber keinen Zutritt erhalten können und waren unverrichteter Sache wieder abgezogen.

Zu Fuß traten sie den Rückweg an, der sie in der ersten Hälfte auf offener Landstraße und dann durch Wald zum Gereut emporführte. Für einen längeren Spaziergang dieser Art herrschte beträchtliche Hitze.

Die beiden waren die richtigen Gesundheitsfexen, die keine Vorsorge für ihrWohlbefinden aus dem unmittelbarenBedürfnis des Augenblicks herauszutreffen pflegten; sie setzten immer erst eine umständliche Uberlegung ins Werk, ehe sie sich zu einer Maßnahme entschieden.

„Ist es wohl schon heiß genug für bloß fünfzig Schritt in der Minute?“ seufzte Blötherlein, kaum waren sie außerhalb der Stadt.

Faxon lüftete sein kurzrandiges, grobstrohenes 40 []Amerikanerhütchen und sah die Gegend der Bandschleife nach. Dort hatte er ein kleines Thermometer stecken: eine siebenfach gewundene, auf einer grünen Blechscheibe befestigte winzige Glasröhre mit dem feinen, kaum sichtbaren Quecksilberstrich.

„Siebenundachtzig Fehrenhiet“, konstatierte er und bedeckte sich wieder.

Blötherlein ließ sich immer aufs neue von der engeren Skala des alten Fahrenheit ins Bockshorn jagen, welche gegen die auf dem Kontinent geläufigen einzutauschen Faxon als eingefleischter Angelsachse sich nie bequemen wollte.

„So heiß!“ sagte er ängstlich, nahm seinen Rock über den Arm und verlangsamte seinen Gang auf ein Mindestmaß. Einen grünen Halm hatte er bereits im Munde und kaute daran.

Faxon dagegen machte keine Miene, sich seines langen, kaftanähnlichen Obergewandes zu entledigen. Er ließ es bei allem Wandern von oben bis unten zugeknöpft.Mit dieser Unempfindlichkeit gegen die Witterung hatte es bei ihm eine eigentümliche Bewandtnis. Er war doch etwas anderes als bloß der närrische Salonclown. Der Unsinn, den er trieb, entsprang weniger einer oberflächlichen Leichtfertigkeit als einer allerdings auf amerikanische Weise innerlichen Natur. Er lebte in der eigenen Welt seiner Stimmungen und Bedürfnisse und besaß wirklich selbstsüchtige Kraft genug, alles außer ihm Liegende Lügen zu strafen und als Luft zu behandeln, sobald es nicht mit den Zu141 []ständen in ihm selbst übereinstimmen wollte. So brachte er es nun fertig, bei strahlender Sonnenwärme im zugeknöpften Überzieher seines Weges zu ziehen und von Kälteschauern geschüttelt zu werden,nur weil es in ihm selbst frostig und winterlich aussah.Dabei hatte er die Hände in den Taschen stecken und machte ein langes, tiefsinniges Gesicht.

Auch seinem Begleiter fiel es auf: „Was guckt nur der Mister so sauertöpfisch in die Welt?“

Faxon zuckte verächtlich mit der Wimper und bedeutete ihm, mit einem schiefen Aufschlag seiner Augendeckel: „Ich liebe sie nicht mehr. Seit sie geheiratet hat,ist sie anders geworden.“

Es kümmerte ihn nicht, wie es in Wirklichkeit stand:Krimhild tat nicht so zu ihm, wie er es wohl wünschte.Also war sie mit einem andern verheiratet; also war Zwinger dieser andere.

Fast wäre Blötherlein an seinem Grashalm erstickt.Er hustete unter immer neuen Lachanfällen, während Faxon in dem trockenen Tone, der seinen Schrullen eine erhöhte Wirkung gab, fortfuhr:

„Ich träumte diese Nacht von ihrer Hochzeit. Ich war Brautjungfer.“

So maßlos komisch das klang: er hatte wirklich diesen Traum geträumt, und diese Tatsache wurde für ihn der Anlaß zu einer gründlichen Umkehr.hätten die beiden in Alberts Zelle Einlaß gefunden,Faxon wäre vor salbungsvoller Beredsamkeit übergeflossen und seine Ermahnungen hätten in der Weisheitsregel gegipfelt: „Alle Trübung der Seele kommt [2] vom Weibe. Daher fliehe das Weib. Verfalle nicht dem Weibe.“

Und wenn dann der Sträfling nach der Ursache dieser Warnung sich erkundigt hätte, so wäre ein Brief der Tante Lisette aus Faxons Busentasche zum Vorschein gekommen, und er hätte von ihrer Hand lesen können:

„Lieber Neffe, schlage dir Krimhild aus dem Kopfe.Sie hält es jetzt mit dem jungen Doktor. Der Baron ist Knall und Fall abgereist. Es wäre ja vielleicht für sie und uns alle ein Glück, wenn es so käme. Ergib dich endlich drein, sei vernünftig und mach uns keinen Strich durch die Rechnung. Bedenke, was auf dem Spiele steht. Sie will es zwar nicht wahr haben, so oft man davon anfängt. Aber es wird schon so kommen.Also mach dich auf alles gefaßt und bleibe standhaft.“

Der Brief, der diese Worte enthielt, war indessen von den beiden Boten den Wärtern zur Weiterbeförderung nicht ausgehändigt worden, da er erst geöffnet und von Amts wegen gelesen worden wäre.In Faxons Brusttasche trat auch er unverrichteter Sache wieder den Heimweg an. Er lag ihm über dem herzen wie eine eiskalte Kompresse.

In dem affektiert gemächlichen Gesundheitstempo,fünfzig Schritt die Minute, keinen mehr und keinen weniger, schlenderten die beiden über die staubige Landstraße. Faxon ließ nun tropfenweise seine Weisheit laut werden.

„Ich leide nicht, das body leidet. Ich bin guter 143 []Dinge, das body ist schlechter Dinge. Mein Geist liebt Krimhild; mein body haßt sie.“

„Es ist mir eine Freude“, bestätigte Blötherlein,„wie gut Sie Ihre Seele in Sicherheit gebracht haben in diesen für Sie doch gewiß kritischen CTagen. Da sieht man doch, welch tiefe Wahrheiten den dualistischen Begriffen zugrunde liegen, von denen die moderne Flachdenkerei nichts wissen will: Himmel und Bölle, Seele und Leib, Hüben und Drüben. Wir Theosophen sind die wahren Naturalisten. Wir kennen auch keine andere Welt als die Natur, aber nicht die mechanische, sondern die begeistete, durchgottete Natur.“

Uber Faxons trübseliges Gesicht flog ein Schein:

„O“, sagte er, „da kommt mir ein Witzblitz. Hat Krimhild zu mir gesagt: Mein lieber Mister, geh zum Teufel! Heißt aber auf englisch: Go to heaven! Ist aus meiner Höllenfahrt eine Himmelfahrt geworden!“

Hübsch, Mister“, quittierte Blötherlein, „wirklich,wie Sie das Leben nehmen!“

Sie hatten den Wald betreten. In der Kühle beschleunigten sich ihre Schritte trotz des beginnenden Aufstieges.

Sie unterhielten sich nun, bis sie auf „Gesundgarten“ angelangt waren, von der mediumistischen Begabung der Frau Schwengel.

„Die wird uns noch manche merkwürdige Erkenntnis vermitteln“, sagte Blötherlein.

Faxon nickte in gläubiger Unschuld.

„Sie halten sie doch auch für eine direkt bedeutende Frau!“ fragte Blötherlein wieder.44 []Faxon wurde feierlich: Immer wenn ich Madame Edelhaid ansehe, habe ich das Gefühl, ich stehe vor einer Nymphe.“

„Sie wollen sagen: vor einer Sphinx!“ verbesserte Blötherlein.

Frau Schwengel hielt sich ein kleines Schoßhündchen mit Namen Joli, eine Kreuzung von Zwergpinscher und Seidenspitz. Das Merkwürdige an diesem sonst unscheinbaren Tierchen war seine Fähigkeit, an den visionären Hellgesichten seiner Herrin teilzunehmen. So oft sie ihren „Zustand“ hatte, kauerte das hündchen ihr zu Füßen neben dem Lehnsessel, duckte den Kopf glatt dem Boden entlang und stieß in Pausen ängstliche, abgerissene Unurrtöne aus. Die bewegten, jüngst verflossenen Wochen hatten ihre Reizbarkeit gesteigert. Ihre Gedankensplitter, ihre Vorstellungskerne, ihre Erinnerungstropfen und Phantasiekörner, die sich in dem Moment des erhellten Schauens wie in einem Kaleidoskop zu dem farbigen Durchblick zusammenfügten, lösten die unangenehme und mürrische Laune ihres wachen Zustandes, gewöhnlich auf den Abend hin jeden dritten, vierten Cag,in ein leichtes reizendes Trugbild auf.

Gleich nach Schlottens Abreise fiel das zwischen Krimhild und Zwinger bestehende geheime Einvernehmen auf. Krimhild war nicht mehr ausgelassen und schnippisch gegen den jungen Arzt, aber auch nicht verschlossen und spröde in sich gekehrt. Eine verräterische Ruhe, ein ungestörtes Gleichgewicht in Rede und Benehmen weckte Neugier und Verdacht o Bernonlli, Zum Gesundgarten [145] der Mutter. Die Schlotten und die AlbertCTeilchen verschwanden unter die Bewußtseinsschwelle. Die Krimhild und ZwingerTeilchen setzten sich in Bewegung und begegneten sich in artigem Gegenspiel.

Als nun heute die beiden jungen Leute einfach mitteilten, sie wollten den Nachmittag im Walde verbringen und sie immer noch nicht zurück waren, da geriet das Mutterherz in Wallung. Die noch lautlos und unsichtbar gaukelnden Hoffnungsmächte verdichteten sich, traten in die Erscheinung, erglühten zu farbigen Gestalten und wurden alsbald von Frau Schwengel als Personen, die vor ihren Augen eine Handlung aufführten, leiblich angeschaut.

Sie blickte in eine Art Paradies, in einen mit herrlichen bunten Bäumen ausgestatteten Gottesgarten.Unter einem der ältesten und schönsten Bäume standen Krimhild und Melchior. Sie waren beide gänzlich unbekleidet bis auf einen Hüftengürtel aus grünem Laube, genau so wie der biblischen Schöpfungsgeschichte gemäß, die beiden ersten Menschen. Die zur Seherin gewordene Frau Schwengel nahm auch an dem adamitischen Kostüm des Paares keinerlei Anstoß; die beiden waren im Paradies und da war das natürlich und gottwohlgefällig.

Jetzt hörte sie sprechen, obwohl sie deutlich erkennen konnte, daß keines von beiden den Mund öffne und sie sich nur stumm in die Augen schauten. Es mußte also noch ein drittes lebendes Wesen da sein,das sprach. Da erst bemerkte sie, daß an der Stelle,wo der uralte Stamm der Paradiesesche sich in seine 146 []drei Hauptäste gabelte, ein rot und grüner Drachenoder Schlangenleib sich gegen die beiden herabließ und sprechend den Kopf von einem zum andern bewegte.

Frau Schwengel stieß einen Schrei aus und starrte mit glasig leuchtenden Augen in den dunkeln Winkel des Zimmers. Jungfer Lisette eilte aus der Fensternische herbei, um sich keine Silbe entgehen zu lassen.Joli, das Bündchen, legte die kurzen Ohren glattgestrichen nach hinten, streckte sich so dünn wie möglich die Diele entlang und knurrte dumpf und schnurrend, daß es sich wie ferner, leiser Crommelwirbel anhörte.

Mit verhaltener Stimme murmelte Frau Schwengel:

„Die Schlange sagt zu Urimhild: Ihr werdet ganz gewiß nicht sterben; Gott weiß gar wohl, sobald ihr davon esset, da werden euch die Augen aufgetan,daß ihr werdet wie Gott und erkennet gut und böse.Das ist richtig. So steht es geschrieben. Die Schlange ist bibelfest. Das ist gut. Ha, was für schöne goldene Apfel in dem Baum hängen! Krimhild streckt die Hand aus. Sie pflückt. Den größten pflückt sie. Den goldensten. Sie beißt ihn an. Sie gibt ihn Melchior. Er ißt auch. Es schmeckt ihnen gut. Aber nund Sie schauen sich um. Sie bekommen Angst. Sie hören etwas. Es kommt jemand. Wer kommtꝰ Warum kommt er nicht?Warum gehn sie weg? Warum haben sie sich ins Gebüsch geschlagend Warum ist niemand mehr da? Wo ist die Schlange die Schla a “

10 *X []Der leichte Anfall war vorüber. Sie versank in einen schlafähnlichen Zustand, in dem sie unartikulierte und unverständliche Laute von sich gab.

Unterdessen ging Schwengel im anstoßenden Zimmer unruhig auf und nieder. Er stand nun schon den ganzen Tag unter dem Eindruck einer gehörigen Standrede, die ihm seine Frau gehalten hatte. „Was d“hatte sie zu ihm gesagt, „Du willst ihr Vater sein und paßt nicht besser auf sie auf. Raff dich auf und sprich ein Wort.“ Frau Schwengel mußte Jungfer Lisette beiziehen, bis er es glauben wollte. Dann aber tat er nichts anderes mehr als die glücklichen Folgen dieser Entdeckung zu berechnen.

„Ei ei, ei ei, was ihr nicht sagt! Das ist noch eine Neuigkeit. Mir soll's recht sein. Ich kann mir gar keinen lieberen Schwiegersohn wünschen. Er ist ja wie gemacht dazu. Er hat die Mitgift im Handwerk.Ich brauch mich dann vor ihm nicht zu schämen. Ich steh dann doch nicht mit leeren Händen da. Famos!Die göttliche Fügung, wie sie im Buche steht.“ Auch als die Frauen ihn verlassen hatten, ging er mit stillem Schmunzeln herum und wusch sich immerzu reibend und drehend seine Hände in der Luft.

Nur vor der Aussprache, die ihm noch bevorstand,fürchtete er sich einigermaßen, ehe er mit sich über den passendsten Ton ins reine kam.

Sollte er sich großpatzig herausfordernd vor dem Nichtsahnenden aufpflanzen, ihn mit der flachen Hand auf die Schulterklopfen und sagen: ,Hören Sie mal, Sie!Wie steht's nund Sie könnten sich eigentlich nachgerade 148 []erklären. Meiner Frau oder mir, das ist dann gleich. Nur sollen Sie es nicht auf die lange Bank schieben.“

Oder schonend um die Sache herum reden und sagen: „Finden Sie, Krimhild hätte zur Baronin Schlotten gepaßtꝰ Schade oder nichtꝰ“

Oder am Ende doch lieber gar nichts sagen?

Er zerbrach sich den Kopf und kam zu keinem Ergebnis.Er schaute durchs Fenster in den Abend hinaus.Vom Sonmmenuntergang erglühte die Landschaft im tiefsten Rot. Insbesondere war das Wiesenland zwischen den beiden Wäldern von der purpurnen Färbung ergriffen. Zur Seite der grünen, nun wunderbar ins Tiefe gesteigerten Mattenflächen streckte sich eine buschige Hecke von Haselstauden. Schwengel sah,darüber hin, ein junges Paar aus dem Walde treten.Sie schritten den Waldsaum entlang abwärts. Jetzt standen sie hinter dem geröteten Staudenwalde und machten Halt. Die beiden KÄöpfe ragten eben noch sichtbar empor. Die zwei dort oben küßten sich!

„Sollte das “ schoß es ihm durchs Gehirn.

Da kam das Mädchen um die Ecke des Kornfeldes gebogen und die Matte herunter auf das Haus zugelaufen. Den übermütigen Sprüngen nach Krimhild. Der Herr hinterher, aus dem Gange zu schließen,Zwinger!„Auf frischer Tat ertappt!“

Schwengel, außer sich vor Freude über diese unverhoffte Vereinfachung, brauchte sich keinen Augenblick zu besinnen:49 []„Hat's geschmeckt, werde ich sagen. Hat's gut geschmeckt? Dann hab ich ihm die Schlinge am Halse zugezogen.“

Nicht lange, so hörte er sie die Treppe heraufkommen. Es klopfte. Zwinger trat erst allein ein, als er aber die Tür schließen wollte, schlüpfte Urimhild hinterher. Melchior rückte gleich unbefangen heraus:

„Lieber Herr Schwengel, Krimhild und ich lieben uns und können nicht ohne einander sein.“

Schwengel faßte sich und sagte, unter Ausbrüchen eines wohlwollend stumpfsinnigen Grinsens:

„Ei, was Sie nicht sagen. Hör' ich recht! Aber meine Frau hat es ja kommen sehen. Meinen Segen!Meinen Segen!“

Der neugebackene Brautvater öffnete die anstoßende Türe mit einiger Feierlichkeit, Jungfer Lisette kam ihnen entgegen, sie, die einzige, die soeben Zeuge gewesen war, auf welche Weise Krimhilds Mutter die Dinge hatte „kommen sehn“.

In dem Gemach waren die Gardinen vorgezogen.Man sah nichts von dem schönen Abend draußen.Frau Schwengel drehte sich, kaum erwacht, nach den Ankommenden um und lächelte ihnen matt entgegen.

Sie besaß keine Erinnerung an die gehabte Halluzination. Aber irgendwie mußte diese doch nachwirken;dennsie murmelte: „So, habt ihr euch nun angezogen.“

Die Hauptrolle nahm jedoch das Hündchen für sich in Anspruch. Unter lautem Gebell sprang es unablässig an Krimhild empor und gleich so hoch, daß es mehrmals ihre Hand zu lecken bekam. [50] Am selben Abend schlich Urimhild, als die andern schlafen gingen, auch sie selbst oben in ihrem Dachstübchen verschwunden war und es von innen geräuschvoll abgeriegelt hatte, unhörbar leise durch die winzige Wandtreppe wieder ins untere Stockwerk vor Zwingers Tapetentür und pochte um Einlaß an. Blötherlein und Faxon, die bis dahin in derselben Flucht ihre Zimmer liegen hatten, waren zusammen nach Schlottens Abreise ins kleine Schweizerhäuschen drüben umgesiedelt, so daß nun Zwingers Turmstube auf dieser Hälfte im Hause völlig vereinzelt bewohnt war;zu aller Vorsicht hatte Krimhild selber die leeren Stuben unter Vorwand der häuslichen Ordnung tagsüber von innen abgeschlossen und die Schlüssel einem von ihr verwahrten Körbchen einverleibt.

Nun lag sie ihm in den Armen.

Nach unendlichen, immer heißeren Küssen, die sie erst auf Stirn und Wangen, dann auch auf den Mund und schließlich nur noch auf den Mund empfangen und erwidert hatte, löste sie sich aus der Umschlingung los.„Ja“, hauchte sie, „diesmal ist es das rechte.“

Er fiel vor ihr nieder und umfing ihr die Unie und küßte gedankenlos in ihr Kleid hinein.

Sie tat erschrocken:

NMein, nicht so. Aufstehen sollst du und dich artig neben mich setzen. Wir sind doch keine Kinder mehr.Wir wollen vernünftig miteinander reden.“

Sie zog ihn neben sich auf das Sofa, besänftigte den Stürmischen in gelinder Abwehr mit kleineren,versüßenden Liebesentschädigungen und sagte dann,151 []als er ruhiger war, zu ihm: „Ja, so; lege deine Arme hinten um mich. Ich will mich leicht an dich lehnen,meinen Kopf dir auf die Schulter betten.“

Er gehorchte.

Da fing sie, an ihn geschmiegt, aber ohne zu ihm aufzublicken, die Augen in irgend eine Ferne gerichtet, zu reden an:

„Ich kann die Worte nicht finden. Mein Herz ist zu übervoll. Ein plötzlicher Wechsel ist mit mir vorgegangen. Ich spüre ein nie gekanntes Gefühl; ich spüre Liebe wahre, reine Liebe göttlichen Abglanz.“

„O du liebe Plaudertasche!“ stammelte Melchior,dem das schon zuviel der Weisheit war, „potz, redest du aber wie ein Buch, ein gescheites!“

Sie ließ sich mit nichten beirren und fuhr in dem nämlichen Ernste fort:

„Dir sagen, daß du es bist, den ich nötig habe, daß du es bist, der mich über diese Erde begleiten soll, daß du es bist, der mich wirklich versteht. Du allein wirst das aus mir machen, was ich zu sein habe, du allein wirst mich emporführen. Was wär' ich ohne dich!“

Als sie so zu ihm sprach, wurde es still in ihm. Er hörte ihr zu.

Der erste Rausch des Besitzes hatte ihn überwältigt,die gierige Selbstsucht hatte sich müde geschlürft. Jetzt empfand sein Stolz einen gewissen Stillstand der Sättigung.Er schaute ihr dicht unter die Augen und betrachtete die Lippen, von denen es eben auf ihn zutönte: „Du!Du allein!“ [4152] Er drückte einen Kuß darauf, einen einzigen, langen zarten Hauch.

„Wie das, mein Kindd Woher diese Sicherheit, dieses grenzenlose Vertrauen? Es übernimmt michschwer.Da solltest du mich doch fast schon länger kennen.“

Sie schüttelte den Kopf und nun sah er sie die hände falten und den Blick aufschlagen; aber über einen Namen für den Gott, zu dem sie ihr Herz erhob, verfügte sie nicht. Ohne Anrede betete sie mit einemmal:

„O schenk uns Herzen so hoch wie deine Gipfel,so rein wie der Schnee der Gletscher, und laß uns erkennen die äußere Hingebung, die oft vergessene Tugend. Mach uns beide stark und heilig und gerecht und eifersüchtig im Gehorsam, beim ersten Zeichen vorzurücken in der erhabenen Hoffnung auf dem harten Wege, der zum Ideale führt.“

Krimhild umschrieb mit diesen Worten vielleicht ein theosophischfreidenkerisches Gebet oder ein Gedicht von Lamartine oder Longfellow.

Sonst war Melchior rasch dabei, diesen bergsteigerischen Lebenssport zu belächeln, wonach wir auf unserer Erdenfahrt es unter einem Glärnisch oder einem Finsteraarhorn nicht tun und überdies auch noch beide Hände frei haben, um während einer beschwerlichen Wanderschaft eine Fahne hochzuhalten, auf der geschrieben steht: Excelsiorl Nun nahm er fromm und gläubig dieses altmodische Tugendgelübde in sich auf.

„Jad?“ machte sie in kindlicher Freude, „darf ich?Gefällt es dir?“53 []Er bat sie darum.

Da fing sie an von zwei Wanderern zu erzählen,die im Tale ihres Weges ziehn: Morgenwind, Rosenduft, blauer Himmel. Dann: Gewitter, Gluthauch,Wüstensand, verdorrtes Gras. Dann: steile, weglose Felswände, gipfelwärts, Rundsicht, Alpenglühn. Aber aus der primitiven und sentimentalen Ausstattung der wechselnden Staffage, jetzt Tal, jetzt Steppe, jetzt Hochgebirge, klang es wie ein Echo immer wieder:„Eines für sich allein hätte es nicht überstanden. Aber:sie waren zu zweien.“ Wie mitleidig hätte er sonst über eine so triviale Weisheit die Achseln gezuckt!Und wie rührend schön drang sie ihm nun ans Herz aus Krimhilds Munde!

Indessen fand sie auch rechtzeitig ein Ende für ihre Andacht, die sie in dieser Weise auf der Schwelle ihres Glückes verrichtete. Als die Besuchsstunde bei der Gottheit abgelaufen und sozusagen das Ja und Amen ausgesprochen war, trat sie aus ihrer Zurückhaltung und unnahbbaren Vergeistigung wieder heraus, lehnte sich lässiger an ihn an, schickte ihm ab und zu einen kecken Blick oder ein lebhafteres Wort, bis er sie mit neuen Küssen an sich riß. Sie küßte nach Kräften wieder und jubelte dazwischen:

„War es heut nicht himmlisch im Walded So soll es alle Tage werden. Aber noch himmlischer ist es jetzt so ganz verschwiegen bei dir.“

„Alle Abend?“ forschte er.

Sie legte den Finger auf den Mund.

Als sie schließlich von ihm loskam, schlugen sie noch 154 []mit unzähligen Händedrücken und Handküssen eine gute Viertelstunde heraus, bis sie endlich oben auf der Schwelle ihrer Kammer stand und er ihr den letzten Fingerkuß durch die Wendeltreppe herauf zuwarf.

Am folgenden Morgen erhob er sich mit Sonnenaufgang und ging ins Freie.

Er warf einen Blick zu Krimhilds Dachfenster hinauf; es war noch verhüllt.

Es trieb ihn in den Wald und auf einen höchst gelegenen Bergvorsprung, den sogenannten „Stollen“.Dort öffnete sich ihm ein Ausblick über den Höhenzug und in die Niederung bis tief in die Rheinebene hinunter. Da lag noch alles still und unaufgeweckt in einer ungeheueren Einsamkeit. Er aber modelte sich das von selbst nach seinem neuen Sinne. Sein Auge verfolgte das Silberband des Rheins und bemerkte,wie von links und rechts die Nebengewässer sich mit ihm vereinigten. Er suchte nach einem einzelnen Berge,keiner stand frei, alle waren verwachsen und leiteten zu anderen Höhepunkten über. Das Netz der Landstraßen, die sinnreichen Beziehungen zwischen den Ortschaften, als wären sie aufeinander angewiesen und könnten jede für sich nicht bestehen, die staffelförmige Anordnung der Gehölze an den Erdwällen und den höheren Berghalden, das bunte Mosaik der bebauten Felder mit den vielen grünen, braunen und gelben 155 []Rechtecken, und wo er hinsah, nichts als einzelne, selbständige, für sich selbst ganze und gültige Bestandteile,in die diese auf den ersten Blick hehre und stumme Einsamkeit gesprächig auseinanderfiel.

Das wirkte mächtig auf ihn ein und bestätigte ihm die erlebte Wandlung seines eigenen Innern. Immer noch klang ihm Krimhilds liebes Wort von gestern im Ohre nach: „Jetzt waren sie zu zweien.“ Kristallenklar ging es ihm in der Morgenfrühe auf, was das eigentlich heißen wollte: fortan im Austausch leben,im Widerhall klingen, im Spiegel erscheinen!

Auf dem Rückweg kam ihm Krimhild entgegen. Sie dachte sich, wo er hingegangen sei, und wollte ihm eine Freude machen, auch nicht hintanstehen im Bedürfnis nach einer morgendlichen Weihestunde.

Sie begrüßten sich beinahe scheu, jetzt in den ersten Stunden eines neuen, noch unangebrauchten Tages.Aber sie küßte ihn unaufgefordert, fast gewohnheitsmäßig, wie aus alter UÜung, flüchtig auf beide Wangen und fing auch gleich von dem gestrigen Glück an.

„O wie unsagbar schön, so mitten in der Nacht,als um uns her alles totenstill war und du mich an dich drücktest und unsere Herzen gegeneinander schlugen!“„Es gilt also“, fragte er, „du liebst michꝰ“

„Ja, ich liebe dich“, entgegnete sie und blickte ihm frei in die Augen „liebe dich wahrhaftig und fühle diese Liebe groß werden in mir, spüre, wie gut mir das bekommt, dich zu lieben.“

Er stutzte ein klein wenig, ihr junges Glück im 156 []Range einer erfolgreichen Badekur gewertet zu sehen.

Er fand sich aber gerne damit ab: „Umsonst wohnen wir auch nicht auf dem Gesundgarten, liebes Kind.“

Sie freute sich nun der Waldesstille und des sie unterbrechenden inbrünstigen Vogelsanges.

Dann hob sie wieder an: „Weißt du noch, was ich dir gesiern gesagt habe.“

Er dachte an ihr ausdrückliches: „Hu zweien“, und ergriff ihre beiden Hände und dankte ihr aufs neue dafür.

Da sagte sie:

„Dann behalte diese meine Worte immer in deinem Herzen, und so oft du dich ihrer erinnerst, sollst du meiner gedenken, die ich dich von ganzer Seele liebe.“

Er sah sie jählings an. Was sollte dasd

„Man kann nicht wissen“, fuhr sie fort, „ob wir jemals einander fürs Leben angehören. Ich würde mich über nichts wundern. Ich bin auf alles gefaßt.“

So wurde nun also die große neue Gewißheit, die Urimhild ihm geschenkt hatte, in aller Unbefangenheit oon ihr selbst wieder durchkreuzt? Oderd

Ein lauernder Blick entwischte seinem Auge.Hatte dieser Zweifel ihrerseits noch tiefere Gründed Nahm sie ihn auch nicht ernster als die andern und erhörte ihn nur, um ihn wieder zu entlassen zum Zeitvertreibd

Sie sah, wie er erschrak.

„Melchior!“ rief sie, „Entwürdigt es denn unser Glück, daß ich noch nicht daran glauben kannd Kann 157 []ich ehrlicher und offenherziger es anerkennen, Fals auf diese Weise? Wir wollen gewiß das unsere tun.Aber sollte es jemals zur Crennung kommen, dann wird meine Liebe zu dir sich nicht verwandeln. Nie wird sie aufhören dein Andenken wird mir weiter helfen. Immer wirst du mir fehlen, und nichts in aller Welt kann für dich in die Lücke treten.“

Sein Verstand vernahm diese Worte, und er erkannte allerdings in dieser Beteuerung eine höchste Gewähr ihrer Liebe zu ihm. Aber seiner Seele war das Rätsel, das ihn erfüllte, nicht zu fassen noch zu lösen.

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1 3.[]

Fünftes Kapitel

e Genesung des Professors Aberfeld von seinem schweren Magenleiden war neuerdings, ohne eigentlich in Frage gestellt zu sein, doch niederge halten worden durch beängstigende Abmagerung und durch äußerst schmerzhafte und häufige Hexenschüsse. Schwengel war mit Ermunterungen allezeit zur Hand und mahnte ihn, tapfer auszuhalten und sich weder um das eine noch um das andere zu kümmern.

„Da ist weiter gar nichts dabei. Das muß so sein.Ein Krankheitsherd zerfällt eben nach dem andern,daher die Stiche beim Aufatmen, die Brustschmerzen,die Schüsse, die Abmagerung. Das tut Ihrer Konstitution, Ihrer Lebenskraft, Ihrem Wohlbefinden nicht den mindesten Abbruch. Wie viele haben mir nicht schon gerade dafür gedankt, daß sie magerer geworden sind. Ich rate Ihnen: kehren Sie sich nicht daran; setzen Sie die Kur nicht aus. Wied Sie sind dazu entschlossen. Nun gut wie Sie wünschen.Sie stecken in Ihrer Haut, nicht ich. Sie können von heute auf morgen austreten; ich kann Sie mit gutem Gewissen gehen lassen, weil ich Sie für derart her159 []gestellt, gekräftigt und gesund erachte, als das mit Ihrem Alter verträglich ist.“

So war es: die eigentliche Kalamität, der heftige Magenkatarrh mit allen seinen widerwärtigen Erscheinungen, namentlich Erbrechen und Schlaflosigkeit war gehoben, und so blieb denn Aberfeld dabei,den „Gesundgarten“ demnächst doch nicht vor einer Woche zu verlassen. Diese acht Tage, einer wie der andere von schönstem Wetter begünstigt, gereichten Zwinger zur Klärung. Aberfeld, dem Naturforscher und weisen, herzenshöflichen Menschen blieben, auch vor jedem Aufschluß und Bittgesuch um Rat, die Schwierigkeiten von Zwingers Lage nicht verborgen.Der Austausch erfolgte auf den geruhsamen hygienischen Spaziergängen des für diese Abschiedswoche vom jungen Arzte begleiteten Ehepaares. Die altväterisch eingehende Liebe der beiden auch im Genuß von Wald und Gelände führte zu einem wechselnden und gerecht ausgleichenden Scheidebesuch auf den Ausruhpunkten und Lieblingsbänkchen in der Runde.

Auf dem Plätzchen „Waldesruh“, unter den weitausgreifenden grünen Astfängen einer stattlichen Buche, sagte Aberfeld:

„Das hätten wir uns nicht träumen lassen, mein guter Herr Zwinger, als Sie damals bei mir allgemeine Botanik hörten, daß ich Ihnen noch einmal in solchen Nöten beizustehen hätte. Mit meinem Beistande ist es überdies bei allem besten Willen fadenscheinig bestellt; denn es herrscht nun einmal ein durchgreifend anderer Komment zwischen der Welt der 160 []Erkenntnis und der Welt der Praxis. Der Erkenntnisler gestatten Sie dieses Monstrum von Wort der Kürze wegen ist darauf angewiesen, möglichst oft seine Ansichten zu wechseln, die gute an die bessere einzutauschen. Der Praktiker kann nur mit Ansichten etwas anfangen, die, bei ihm selbst, in seinem Gehirne sich festgesetzt haben. Denn wo soll der Arzt hinkommen, der am Krankenbette sich in einem em-barras de richesse befindet und nicht einfach, meinetwegen zwischen zwei Scheuledern, der Nase nach auf jedes festgestellte A mit dem entsprechenden B zu reagieren weiß. Und nun sollen Sie auf einmal beides miteinander verbinden, Ihre Kenntnisse umpacken und am Krankenbette handeln. Ein halsbrecherisches Kunststück! Da Sie aber unter der Notwendigkeit Ihrer Uberzeugung stehen in Gottes Namen so wagen Sie's und scheuen Sie auch Not und Eselsbrücken nicht, bis Sie mit Sack und Pack drüben sind!“

Durch eine in einer Lichtung einsam ragende königliche Eiche gefesselt, blieben sie selbdritt stehen, und Aberfeld meinte über der Betrachtung dieser pflanzlichen Majestät:

„Ja ja, Quercus Robur! Mein Geschmack ist der Lichelkaffee zwar nicht; aber daß so ein Inbegriff von Kraft wie der Eichbaum unter seinen viel mächtigeren Tugenden auch noch eine kaffeeschwesterliche Gesundheitsanwendung zuläßt, fand ich von jeher einigermaßen ergötzlich. Wissen Sie übrigens, daß in den Gerbereien die Arbeiter Lohe trinken, wenn ihnen etwas fehlt?“1 Bernoulli, Zum Gesundgarten [161] Zwinger nickte siegesgewiß:„Jawohl, Herr Professor, diese therapeutischen Volksinstinkte!“„Ich bin der letzte, der sie geringschätzt“, erwiderte Aberfeld lebhaft, „die gesundmachende Wirkung von Kräutern ist die primitivste Heilerfahrung der Menschheit.“

„Warum“, fiel Zwinger ein, „kann sie, ihrer Naivität entkleidet und kritisch gesichtet ins Bewußtsein erhoben, nicht die vollkommen einfachste und stichhaltigste werdenꝰ“

„Gewiß warum nicht“, nickte Aberfeld, „nur!“

„Nurd?“ fragte Zwinger gedehnt.

Da stieß Aberfeld aus wie eine Verwünschung:

„Die Bakterien! DieBakterien! Dieses windige Dreczeugs. Das ist radikales Rattengift gegen Ihren heiteren medizinischen Kinderglauben.“

Sie waren auf dem Aussichtspunkte „Stolleneck“angelangt. In dem aus Naturknüppeln und breiten Rindestücken anmutig errichteten Waldhüttchen kam Zwinger ausgiebig zu Worte:

„Die Bakterien sind jetzt an der Mode. Eines Tages kann es wieder heißen: O Serum! O jerum!Das Reagenzglas und der lebendige Körper ist zweierlei. Gegengift im Tierblut erzeugt und vom Menschenblut selbsterzeugtes Gift ist abermals zweierlei.Sogar Blut, von Mensch zu Mensch überführt, verhält sich als Fremdkörper. Und umgekehrt: füttern Sie einmal kerngesunde Menschen von energischem, alkalischem Blute mit Bazillen, so sind die Bazillen des 162 []Teufels und nicht die Menschen. Das alkalische Blut tötet alle Bazillen.“

Aberfeld verhehlte sein Erstaunen nicht über eine derartige Kühnheit, indessen Zwinger fortfuhr:

„Wieviele unserer Heilpflanzen sind an ein mineralisches Molekül gebunden: Kali in Kartoffel und Weizenbrot, pflanzensaure Alkalien in den grünen Gemüsen und im Obst, der Kalk in den Haferspeisen,der Kalk in den Nußblättern, der Kalk in der Eichrinde: dort sogar volle siebenundsiebzig Komma einundneunzig Prozent. Also wohlverstanden: vegetabilisch vermittelt hochwillkommen; aber pulperisiert auf der Messerspitze weg damit! Ich bin extremer Vitalist. Es muß alles vorher schon gelebt haben. Ich ergebe mich der Materie nicht. Die Chemisten kann meinetwegen der Kuckuck holen; diese Alleszerpulverer,diese Färber und Spielverderber!“

Die Ankunft städtischer Spaziergänger unterbrach diese Verwünschung; denn ein junger Herr, zufällig gerade wissenschaftlicher Beamter einer chemischen Fabrik, kam mit Frau und Kindern des Weges und bei der von der Stadt her bereits vorhandenen allseitigen Bekanntschaft rückte man im Hüttchen zusammen und spann die Erwägungen weiter, wobei der neu Hinzugekommene im Laufe des Gespräches folgender Meinung war:

„Muß man demn sich auf Systeme versteifend Ich kuriere mich und mein Haus von Fall zu Fall. Kinder,zeigt euere Zähne! Blendend und noch ohne jeden Schaden! Fluorkalzium! Vom zweiten Jahre täglich 118 [163] eine Messerspitze volll Mein Zahnarzt hat mich zwar ausgelacht; aber ich laß mirs nicht schelten. So wenig wie die Somatose. Wirkt fabelhaft. Wir Erwachsenen sollen uns natürlich Appetit machen durch Bewegung und körperliche Arbeit. Aber was wollen sie bei Kindern; ist doch so viel einfacher, und jedesmal Bärenhunger. Ich selber, sonst kerngesund, leide an zwei Dingen: Migräne und Schmerz im Fuß. Für das erste ein Gramm Antipyrin, für das zweite ein Schnaps:beides totsicher, wie weggeblasen. Was sonst an Gebresten uns anfällt, wird mit einem alten Hausmittel bekämpft; nun, Ihr Herr Vater verkaufts.“

„Ach so, das Nothelfpflaster. Sehn Sie! Aus lauter Uräutern!“„Doch daß ich's nicht vergesse“, fuhr jener fort, „für Magendrücken Bismut. Tadellos! Tadellos!“

Tags darauf kam Aberfelds Spezialschülerin, eine Doktorin, die Reformkleid und Brille trug, um über ihre neuesten Untersuchungen Bericht abzustatten. Sie hatte in einem Torfmoore auf Knöllchenbakterien und Fadenpilze Jagd und an den Heidekrautgewächsen in der TatWurzelpilze ausfindig gemacht, mit Eigenschaften, wie man sie bis jetzt erst an Schmetterlingsblütlern beobachtet hatte. Aberfeld machte große Augen:

„Aber das wäre ja sehr, sehr schön. Bis jetzt ist Stickstoffassimilation nur bei Kulturpflanzen nachgewiesen.Wenn das nun auch für die Wälder gilt?“

Das gelehrte Mädchen legte die Ergebnisse vor. Auf 164 []ein Gramm Zucker, den die Heidekrautpilze zur Atmung, das heißt zur Unterhaltung der assimilierenden Lebenskraft verbrauchen, speichern sie sechs bis zehn Milligramm Stickstoff auf.

„Ei der Tausend“, quittierte Aberfeld, „bis dahin war ein Milligramm veratmeter Zucker auf zwei Milligramm assimilierten Stickstoff der Kekord bei jenem komischen Bakterium, das im Boden lebt, seiner Gestaltung nach ein Vetter des Buttersäurepilzes.“

Damit wandte er sich an seine Frau und an Zwinger, die auf dem Waldbänkchen bei dieser Unterhaltung dasaßen, ein bißchen wie vor böhmischen Dörfern; denn mehr als einen Hochschein besaßen beide von diesen Vorgängen in der Welt des Unendlichkleinen nicht.

„Das wäre nämlich der erste Schritt zur Lösung des Waldrätsels“, erklärte er, „jeder Förster weiß, daß der Wald sich selber düngt. Aber woher verschafft der Wald sich selbsttätig immer von neuem jene Stickstoffverbindungen, die wir unseren Kulturpflanzen imSstalldünger,Salpeter und Ammoniumsulfatals Nahrung zuführen?“

Abwesend und träumerisch schweifte sein Blick durch die grüne leisrauschende Herrlichkeit des Waldwebens,das ihn rings umgab; zusehends befiel ihn eine Unruhe. Durfte er hier in Müßiggang dem Naturgenuß sich überlassend Er gehörte nach Hause in sein Laboratorium. Der Stickstoffhaushalt des Waldes aufgeklärt,beantwortet! Ein Problem der Probleme für den Botaniker gelöst! Er wollte noch diesen Abend wieder in die Stadt hinunter.

Nur dem gemeinsamen Zureden von Gattin, Arzt 165 []und Schülerin gelang es, seine Ungeduld zu beschwichtigen. Er blieb noch genau die Zeit hindurch, die er sich zu seiner Erholung von vornherein vorgenommen hatte.

Da brach fünf Tage vor Aberfelds Abreise in dem nächsten Dorfe plötzlich eine Diphtheritisepidemie aus,gleich sehr heftig und in beängstigender Ausdehnung.Der Landarzt, selbst vorwiegend Homöopath, genügend ketzerisch angehaucht und im übrigen schon ein älterer, etwas bequemer Herr, rief Zwinger zu Hilfe,um mit ihm gemeinsam die Gefahr zu bekämpfen.Sie entschlossen sich zu einem kombinierten Verfahren,indem sie die betroffenen Eltern in jedem einzelnen Fall mit der erforderlichen Aufklärung vor die Wahl stellten: mit Serum oder ohne Serum. Die Mehrzahl zogen die Einspritzung vor; denn die Bevölkerung bestand zu einem guten Teil aus Fabrikarbeitern oder bereits verstädterten Bauern, von denen viele schon etwas hatten läuten hören. Es wurde also aus der Stadt frische Lymphe beschafft, und Zwinger nahm an dreizehn KRindern die Einspritzung vor; etwa halb soviel sollten ohne das Gegengift behandelt werden.Nun ereignete sich das verwirrend Schreckliche, daß ausnahmslos alle die Geimpften glänzende Erfolge aufwiesen, indem der weiße Belag abfiel und auch keinerlei sonstige Schädigungen sich meldeten, während in reinlicher Scheidung alle sechs Nichtgeimpften der mörderischen Krankheit erlagen und starben. Zwinger stand wie unter einem Bannfluche, so sehr lähmte ihn 66 []diese mit der Promptheit eines Gottesurteils eingreifende Probe aufs Exempel und schmetterte ihn nieder.

„Dagegen müssen Sie hart werden“, mahnte Aberfeld, „Sie dürfen sich nicht durch die Brutalität eines solchen Zufalles aus dem Sattel werfen lassen. Haben Sie wirklich Ihren Lebenswillen zu einer solchen Unabhängigkeit emporgehoben, daß Sie zu den Ansichten und Gewohnheiten Ihrer Zeit und Ihrer Berufskaste aus einem inneren Zwange in Gegensatz traten, dann gibt es keine Rückkehr mehr, nur noch Flucht. Oder dann eben die Tapferkeit, die unter allen Umständen standhält und auf dem Platze bleibt.“

Aber diesen Worten fand sich Zwinger wieder zu sich zurück. Rasch meldete sich in ihm jene zu keinen Ausgleichsverhandlungen fähige starre Festigkeit, und er antwortete seinem ehemaligen und nun sich ihm abermals, jedoch in Dingen einer höheren Weisheit bewährenden Lehrer:

„Sie haben recht. Ich darf mich getäuscht haben;aber ich darf es mir nicht eingestehen. Solange ich Widerstand leisten kann gegen den ringsum auf mich anstürmenden Schein, der mich Lügen strafen möchte, solange habe ich gewonnenes Spiel, wenn nicht so,dann doch so. Das muß sich alles erst weisen, und einmal muß ich ja Grund finden: nur weiter getrotzt,ehrlich und steckköpfig. Sollte ich einmal Ursache zur Demut haben, dann wäre es um mich geschehen. Ist das wohl sehr gottlos geredetd“

Aberfeld wehrte mit einer leisen Bewegung des Kopfes ab; dabei krauste und fältete sich die Gesichts167 []haut unter seinem rechten Lide; aber das Auge blickte klar und teilnahmsvoll Zwinger an, während das linke durch die darüber gesenkte Wimper beinahe vollständig verdeckt war.

Urimhild wohnte diesem Gespräche bei; denn sie kam eben mit Melchior vom Dorfe herauf und hatte das D wartet; in ihren Armen war es gestorben. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten; infolgedessen sah sie den Beruf ihres Geliebten in der Vergrößerung und Verklärung des Martyriums.

Indessen kam nun bei Melchior erst recht eine ehrliche Verzweiflung zum Ausbruch. Die Ratlosigkeit, in der er sich im Grunde über sein Cun und Treiben befand, seit er eigene Wege eingeschlagen hatte, artete unter dem über ihn hereingebrochenen Mißerfolg in jähe Verwirrung aus, und kaum, daß er sich mit dem einen Vernunftgrunde notdürftig beruhigte, stürmte schon durch eine entgegengesetzte Lücke ein Sturz neuer Selbstanklagen auf ihn ein. Und nun gar am Vorabend von Aberfelds Abreise!l Von nun an den Mann der Erkenntnis nicht mehr um sich zu haben! Nicht anders als stürbe ihm etwas, wenn der nicht mehr da sei, konnte er sich nicht länger bemeistern und schüttete dem alten Herrn unter Tränen sein Herz aus:

„Was soll ich machen! Da bin ich nun hineingetapst.Aufs Geratewohl, weil zufällig einiges den gutenSchein für sich hattel Nun weiß ich weder aus noch ein. Was für ein Fluch ist es doch, der Sklave menschlicher Bedürftigkeit zu sein. Wie so herrlich anders sind Sie ge168 []stellt Sie, die NurWissenschaftler, die Erkenntnisler, wie Sie selber es nannten! Noch gar, wenn ich bedenke, was nun Ihr Herz bewegt! Auch eine Ernährungsfrage, aber eben nicht im Zusammenhang mit irgend einem Bedürfnis! Nicht um wimmernde, winselnde Kranke handelt es sich, sondern ganz einfach um ein Tatsächliches, zu dessen Anderung wir gar nichts beizusteuern brauchen. Wie glücklich ist doch die Theorie zu preisen. Wie beneide ich diesen Blaustrumpf, der den Heidewurzelbazillus aufgestöbert hat.“

Aberfeld wehrte ab:

„Grau, teurer Freund dabei wird es bleiben.Und noch mehr als Goethe hat die Bibel das Richtige getroffen: unser Wissen ist Stückwerk. Wir theoretisch Forschenden müssen uns also erst recht nach der Decke strecken. Sie Herren von der Praxis sind keineswegs so stiefmütterlich behandelt, wie es Ihnen zurzeit scheinen mag. Es kommt alles auf Sie selbst an; Sie sind,wenn Sie erst wollen, Ihres Glückes Schmied. Benutzen Sie doch diesen schönen Sommer, den Sie vor sich haben, und vergessen Sie nicht, was für ein klassischer Boden für den Botaniker dieses Berggelände ist.Pinax theatri botanici diese Grundlage unserer Wissenschaft lange, lange vor Linne in Pfalzmünster unten ist sie geschrieben, und hier diese Flora um uns herum trifft sie an. Also stauben Sie Ihre Botanik wieder ein bißchen ab. Nicht zur praktischen Verwertung, nein ich möchte sagen, zu Ihrer Erbauung.Kräuterdoktor hin oder her suchen Sie in Ihren Mußestunden die physiologische Fühlung mit der Pflan169 []zenwelt zu gewinnen. Sie werden sehen, es gereicht Ihnen zum Troste. Es geschehen da possierliche und absonderliche Dinge unter den Pflanzen, und ich denke,auch das Jungfräulein Krimhild wird sich gelegentlich gern davon unterhalten lassen.“

„Du“, rief sie in verhaltener Leidenschaft halblaut,aber fast keuchend an ihn hin, ungeachtet, daß ihr Brautgeheimnis auch vor diesen Ausnahmegästen vorsichtig gewahrt worden war, „zu den Göttern gehen sollst du.Das Feuer vom Himmel holen sollst du, bei deiner lebendigen Seele.“

In der Hautfältelung auf Aberfelds Gesicht zuckte eine Sekunde lang das Erstaunen über das also preisgegebene Geheimnis auf; beide Augen taten sich gleichmäßig auf, so weit sie konnten. Dann, ohne sich berufen zu fühlen und davon Notiz zu nehmen, wandte er sich an Krimhild und sagte sanft:

„Liebes Kind, wir wollen uns nicht vermessen. Wir leben nicht mehr im Zeitalter der Titanen. Aber einen Winkel erhellen, der sonst dunkel bliebe, ein Licht anstecken, daß sonst nicht geleuchtet hätte, in der ungeheuern Welt, daß soll er wohl.“

Unterdessen hatte Frau Professor auf Nummer Acht in dem zweifenstrigen Zimmer die Koffer fix und fertig gepackt und zugeschnallt. Das beiderseitige Nachtzeug und das Toilettennecessaire kam am folgenden Morgen in der Handtasche unter. Sie hatten den Einspänner bestellt und waren schon vor zwölf Uhr mittags wieder in der Stadt unten.

„Und hüten Sie sich vor Linne, von dem haben wir 70 []die Scheuklappen!“ rief Aberfeld noch, als er aus dem Wagen heraus Zwinger die Hand reichte. Alsbald sollte er erfahren, wie dieser Rat gemeint war. Auf seinem Schreibtisch in der Curmstube fand er Aberfelds Hauptwerk „Das Pflanzenleben“, den Grundstein seiner Berühmtheit vor, zwei dicke Bände ex dono autoris.

„Vorwärts, vorwärts“, murmelte Zwinger beglückt,„eetzt heißt es sich nicht lumpen lassen“, und blätterte von Ungeduld mit je einer Hand in je einem Bande.Daß er dieses gelehrte Werk nicht unverzüglich verschlang, trotzdem man ihm nachrühmte, es lese sich wie ein Roman, hatte folgende Bewandtnis.

Die Post brachte mit Zeitungen an Schwengel, aus denen er sich über den Stand der Kurpfuscherangelegenheit auf dem Laufenden erhielt, Melchior gänzlich unerwartet einen Brief seines Bruders Rudolf.Als er ihn gelesen hatte, befand er sich in Aufregung,obwohl das Schreiben nur den harmlosen Vorschlag enthielt, Melchior möge ihn unter die Zahl seiner Patienten aufnehmen.

„Du bist vielleicht überrascht“, schrieb Rudolf, „in mir einen gläubigen Anhänger Deiner medizinischen Ketzerwirtschaft vorzufinden. Doch entpuppe ich mich als solchen bei Dir nicht etwa infolge einer gewaltsamen Bekehrung. Meine Instinkte haben mich eigentlich schon längst diesen Weg gewiesen. So oft ich vegetarisches Regime befolgte, fühlte ich mich entschieden wohler. Natürlich nicht Pflanzenfresser à outrance.Milch an erster Stelle; Nahrung vom lebenden TCier, [171] nicht vom toten Tier. Ist Dir übrigens der Witz bekannt, daß einer ein Gericht roher Himbeeren mit der Begründung ablehnte, er sei Vegetarianerd!! Doch Spaß beiseite. Ich verfüge wirklich schon über eine höchst respektable Erfahrung der Naturheilkunst. Allerdings nicht ausübender Weise, sondern passiv in des Wortes verwegenstem Sinn: eine Erfahrung köchst leidender Art sogar. Das schlimmste war eine Massagekur, wobei ich tatsächlich einen Monat lang mich in der Rolle des Hackbretts oder vielmehr des darauf befindlichen zu hackenden Fleisches befand ich brauche kaum beizufügen, daß es keine stumme Rolle war, die ich da spielte, als ein in voller Manneskraft stehender Masseur mit den Kanten seiner Handflächen auf mir wie besessen herumhieb. Die ersten zwei Wochen wurde ich täglich dreimal auf den Kopf, die letzten zwei desgleichen auf den Bauch gehauen, dazu zwei Bratäpfel den Tag und drei Schnitten Torfbrot.“

Diesen Bogen in den Händen, irrte er treppauf,treppab durch das Haus und machte aus seiner Bestürzung kein Hehl.

„Was zum Uuckuck haben Sie nurd“ fragte Schwengel, der seine schwiegerväterliche Würde immerhin noch nicht auf den Duzfuß gestellt hatte. „Sie sind ja kreidebleich.“

Aber sowohl er wie die Frauen fanden die Nachricht noch nicht halb so schlimm. Frau Schwengel, die über zwei Morgenröcke verfügte und nun den besseren mit dem Spitzenbesatz bevorzugte, lispelte mit müder Nonchalance: „Das seh ich nun wirklich nicht ein,172 []lieber Melchior. Baldige Veröffentlichung ist immer das ratsamste. Und gar die eigenen Eltern wollen Sie denen die frohe Kunde von Ihrem Glück noch lange vorenthaltend“

Krimhild schwieg und blickte unverwandt über den Tisch zu ihm hin, und so oft er seine Augen erhob und die ihrigen suchte, tröstete ihn ihr klarer Blick.

Mit einem schrillen Mißlaut pfiff und klirrte es ihm durch die Seele: „Schief! Schief!“ Er und Krimhild,wann und wo es war, ja, tausendmal ja; aber die Schwengelin und der Zwinger, der „Gesundgarten“am Gereut und die Ratsapotheke auf dem Fischmarkt?Wenn er die Liebe zur Tochter des Naturarztes in einem kräftigen Willensanlauf zum feststehenden,folgenschweren Entschluß erhoben hatte, so war das nicht einen Augenblick lang in dem Wahne geschehen,einen Ausgleich oder eine Rückkehr anzustreben.

In jugendlichem Trotz, in der Hoffnung auf den Uberfluß des Lebens, der auch die empfindlichsten Einbußen dem ehrlich Strebenden zu ersetzen imstande sei, hatte er es über sich vermocht.

Kaum stand er mit Krimhild wieder oben in der Kräuterküche an ihrem gemeinsamen Cagewerk, so sagte sie von sich aus zu ihm: „Was die sich einbilden?Ich bin nun einmal die Krimhild Schwengel und kann's nicht ändern.“

Er freute sich ihrer Einsicht und glaubte sich schon in Sicherheit, als Krimhild fortfuhr: „Ich will es meinen Eltern schon noch deutlich beibringen, daß sie 173 []aus dem Spiele zu bleiben haben. Aber wie wär's,wenn du mich mitnähmest? Fast bin ich so unbescheiden, mir das richtige Benehmen und das richtige Wort zuzutrauen.“

Melchior sah noch nicht tiefer in Krimhilds Vorschlag hinein und winkte kopfschüttelnd ab.

Sie aber drängte: „O bitte, bitte doch. Ich möchte gar zu gern. Auch wenn es uns Umstände macht, wenn es nicht gleich das erstemal geht, du hast doch Freunde, die uns, denk ich, gern beistehen werden.“

Jetzt merkte er plötzlich, daß sie irgendwo hinauswollte.

„Freunde? Ich versteh dich nicht. Was denkst du dir nurd“

Sie lächelte noch listiger und flüsterte: „Ich war schon bei Volckhardts kürzlich. Ich kenne das Fräulein.“

Dann redete sie ihm den Schrecken, in den er bei diesen Worten fiel, von der Seele weg, bis er von der Belanglosigkeit jenes Besuches überzeugt, eigentlich in Erwägung zog, ob das am Ende nicht ein Ausweg wäre.„O Urimhild, Gabriele ist ein herrlicher Mensch,kann ich dich versichern. Du hast recht, wozu hat man einen Schutzengel an der Seite und läßt sich in der Not nicht am ersten von ihm an die Hand nehmen.“

Krimhild wippte mit geschlossenen Füßen wie ein Gummiball: „Bist du einverstanden? Gehen wird“

„Da ich weiß, was sie über meine gute Mutter vermag, müssen wir es schon mit ihr versuchen.“174 []„Aber wannd?“

„Ja dann möglichst bald. Mach dich schon fertig.“

Krimhild hatte noch aus den guten Tagen eine Garnitur eingekampfert im Aleiderschrank hängen, in der sie sich sehen lassen konnte: einen Hut mit zwei echten Federn, ein Pariser Modellkostüm und einen Schirm mit eingelegtem und gelbgoldenen Griff.

Auf dem Gipfel seines Größenwahns und seiner Gründerphantasien hatte Schwengel einst seine Tochter mit in die Stadt genommen, um sie erst einmal anzuziehen, wie es sich gehöre. Im feinsten, teuersten Magazin war es gewesen. Doch war die Coilette so gut wie nie gebraucht worden.

Frau Schwengel und Jungfer Lisette drangen, sobald der Entschluß laut wurde, lebhaft auf Krimhild ein, doch ja einigen Aufwand zu treiben, „da man es doch habe“.

„So will ich erst einmal Probe halten. Er soll dann entscheiden, ob ich ihm gefalle“, lachte sie, und es verging mehr als eine Stunde, bis sie in ihrem Aufzuge vor ihn trat.Einigermaßen angedonnert war er ja von der Eleganz; aber da es lauter gute und geschmackvolle Sachen gewesen waren, und Krimhilds Liebreiz nun mit einem Male einen aparten Rahmen um sich herum hatte, so war es Melchior zufrieden, und sie beschlossen,die nächste Fahrgelegenheit wahrzunehmen.

Unterwegs aber wurden sie sich über die Schwierigkeiten klar. [175] „Zu zweien bei Volckhardts mit der Tür ins Haus fallen, ist unmöglich“, summierte er.

„Weißt du was“, schlug Krimhild vor, „ich werde mich in eine Konditorei verstecken.“

„Um dir dort mit einer Portion Fruchteis die nötige Kaltblütigkeit anzuessen? Gut, ist mir recht. Aber nach einer Viertelstunde wirst du von ungefähr vor Volckhardts Haus auf und ab promenieren. Nummer Siebzehn!

Krimhild war einverstanden und lachte vor Freude.

Als sie dann Melchior an der Ecke der Straße, an der das Haus lag, bei einem Zuckerbäcker unterbrachte,winkte sie ihm seelenvergnügt noch durch das große Fenster der Ladenauslage nach, während er schleunig seinen Weg zu Ende ging.

Das Herz pochte ihm bis an den Kragen hinauf,und seine Knie zitterten leise, so daß er sich durch beschleunigte Schritte betäuben mußte. Er stand fast eine Minute unschlüssig auf dem Stufenvorsprung vor der kunstvollen geschnitzten Eichentür, ehe er die Klingel zog.

Alsbald öffnete die ihm von Kindesbeinen auf bekannte Dienerin Kathrine. Sie verwirrte sich in ihrer Aberraschung vor feierlichen Komplimenten, die sich in ihrer devoten Verschrobenheit genau so gleich geblieben waren wie die krinolinenmäßige Steifheit ihrer blendend weißen Schürze.

„Ach der Berr Doktor. Seh ich Ihnen wieder einmal bei unsd Nein, tut mir leid, der Herr Stadtrat sind ausgegangen. Aber Jungfer Gabriele sind [176] daheim. Wenn der Herr Doktor Ihnen bemühen wollen.“

Er trat in den hohen, kuppelartigen Treppenraum, in den eine Menge Türen und Seitengänge mündeten und eine breite Staatstreppe mit einem schmiedeeisernen Ziergeländer sich herniederließ. Eine erquickende Kühle, ein feierliches Schweigen umgab ihn. Seine Schritte hallten auf den Terrakottaplatten des Flurbodens.

Einen Augenblick später stand er in dem Salon,zwischen kostbaren alten Holländern in ihren schweren breiten Goldrahmen, zwischen mächtigen Kommoden,Konsolen, Lehnstühlen, seidenen Sofas und bauschigen,faltensteifen Vorhängen. Die Jalousien waren heruntergelassen. Alles lag in dem Raume da wie in Vergessenheit und hundertjährige Träume versunken.

Beschämt musterte er sich selbst; er kam sich wie der Entweiher einer abgeschiedenenSstätte vor, und schließlich wurde das Unbehagen so stark, daß er sich nicht lange mehr besann, sein Taschentuch entfaltete und sich den Staub der Straße noch rasch damit von den Schuhen wischte.

Schon hörte er draußen Stimmen und leichte, schwebende Schritte. Geräuschlos tat sich die Cüre auf, und Gabriele stand vor ihm in dem verhängten, dämmerigen Raume.

Sie ließ ihn nicht die geringste Hemmung oder Zurückhaltung empfinden, erkundigte sich vielmehr in aller Unbefangenheit nach seinem neuen Berufe,ob er sich wohl dabei fühle und befriedigt sei, und trieb i2z Bernoulli, Zum Gesundgarten [177] ihn ahnungslos immer mehr in die Enge, da sich nicht die kleinste Fuge erspähen ließ, wo er sich mit seinem Notschrei und seiner Bitte um Beistand dazwischen klemmen konnte. Er wurde einsilbig, horchte ihr zu und zwar mit wachsender Freude, überhaupt wieder einmal ihr gegenüberzusitzen und zuzuhören, wie sie sprach. Seine Absicht, um deretwillen er hergekommen war, erlahmte über dem angenehmen Bewußtsein, in diesem Hause nicht nur ein guter Bekannter zu heißen.

Hingegen fiel es ihr allmählich auf, wie schweigsam er wurde und wie sein Gesicht in tiefen Schatten lag. Sie schob dies auf das Zwielicht und eilte, auch aus einem eigenen Bedürfnis nach mehr Licht und frischer Luft, an das eine Fenster, schloß es auf und zog den auf Viertelhöhe gesenkten Rolladen bis zum Fensterkreuz in die Höhe. Melchior hatte sich ebenfalls erhoben; nun standen sie nebeneinander und schauten beide vom Erdgeschoß auf die unmittelbar vor ihnen liegende Straße.

Sie war gänzlich menschenleer; nur auf dem Fußsteig gegenüber ging langsamen Schrittes Urimhild auf und ab.

Gabriele wurde durch die auffallende, reizende Gestalt gefesselt und wollte die fremde Dame unauffällig während der Unterhaltung mit Melchior sich des näheren betrachten, als Krimhild, durch das plötzliche Geräusch der Stimmen aufmerksam geworden,sich dem Fenster zudrehte, Gabriele mit einer graziösen Verneigung respektvoll begrüßte und in diesem Augenblick auch von ihr wieder erkannt wurde.178 []Seltsam! Melchior nickte mit so eigentümlichem Ausdruck auf die Straße hinunter! Die Ahnung zwang sie,ihm voll ins Gesicht zu sehen. Er erwiderte den Blick etwas unsicher und sagte:

„Ja, Gabriele, es ist so. Ich sehe dir's an, du hast es erraten. Krimhild ist mein. Ich kann euch allen nicht helfen. Es war stärker als jede Rücksicht und Kugheit.Werdet ihr mich begreifen? Du vielleicht noch am ehesten!“ Er stieß diese Sätze heftig heraus, einen nach dem andern.

Gabriele hatte sich anfangs an der Gardine ihr im Rücken festgehalten.

Dann ging es mechanisch mit ihr weiter; ohne Überlegung tat sie von selbst, was die Sekunde heischte grüßte Krimhild gemessen freundlich, wies sie mit einer Handbewegung an, doch einzutreten, eilte an die Türe und drückte auf den Klingelknopf neben dem Pfosten.

Dann unterbrach sie Melchior, während er noch zu ihr sprach:

„Einen Augenblick! Wenn du mich eben entschuldigen willst.“

Bald darauf wurde Krimhild von der alten Kathrine hineingeführt: „Wollen die Herrschaften vielleicht solange Platz nehmen.“

Gabriele war schon in der nächsten Minute zurück und trat rasch auf die beiden zu, reichte erst ihm, dann ihr die Hand und sagte beide Male:

„Meinen herzlichsten Glückwunsch!“

Ihr war nicht unbekannt, daß mit der Entsendung

3*179 []des Bruders Rudolf zur Kur im „Gesundgarten“ ein erster Annäherungsversuch gemacht werden sollte,und begriff nun, welche Erschwerung die Lage erfuhr.

Die beiden befleißigten sich größter Offenheit, Krimhild fast noch mehr als Melchior. Nur auf die Hoffnung hin, daß durch Melchiors Tüchtigkeit das Werk ihres Vaters zu einer neuen ungeahnten Blüte gelange,könne, äußerlich betrachtet, dem geplanten Glücke etwelcher Bestand zugetraut werden.

Uber diesen sachlichen Angaben, die der UÜbersicht über das Wagnis erst zu Hand und Fuß verhalfen,fand Gabriele ihre klare Ruhe wieder.

Die Naivität dieses Liebesglückes, das im luftigen Unschuldsgewande einer kindlichen Hoffnungsfreudigkeit seine sonst gänzliche Blöße notdürftig verhüllte, hielt in ihr jede ironische Belustigung nieder.Gerne fältete sich sonst ihr feines Gesicht lächelnd und naserümpfend, wenn sie derartig ausgesprochen jugendliche Anwandlungen im Zusammenhange mit Beiratsgelüsten zu sehen oder zu hören bekam. Dieser Anblick jedoch rührte sie.

Nachdem sie den nach ihrem eigenen Dafürhalten hächst trostlosen Stand der Dinge genugsam erfahren hatte, durchfuhr sie mit einem Male ein tapferer humor, lachend ihr Teil mit beizutragen und den Ciebesleutchen da vor ihr diejenige zu sein, die sie in ihrer Bedrängnis aufzusuchen kamen: eine gute Fee mit der Wünschelrute. Unverzüglich gebärdete sie sich als die alte, joviale Freundin, die sich etwas herausnehmen darf:180 []„Kinder“, rief sie, „da habt ihr nun aber was schönes angestellt. Du liebe Zeit!“

Alls daraufhin die beiden ganz verdutzte Gesichter machten, versprach sie, sich noch heute zu Mutter Zwinger zu begeben und die Sache so gut es gehe einzufädeln und dann entweder selbst zu schreiben oder Nachrichten, wenigstens wegen Rudolfs Kur,zu veranlassen.

„Aber“, fuhr sie fort, „wie könnt ihr nur so sorglos sein. Wüß! ich euch nur schon wieder auf eurem Gereut oben. Wenn euch jetzt jemand zusammen antrifft! Ich bebe, offen gestanden, Papa kann jeden Augenblick nach Hause kommen. Eine muß doch wenigstens den Kopf oben behalten.“

Sie hatte ausfahren wollen und sich das Coupè bestellt. Als sie durch den hinteren Ausgang in den Hof trat, stand der Kutscher in voller Livree da, und das Pferd, zwischen die beiden Deichseln eingespannt,streckte wiehernd und prustend den Kopf aus derRemise.

„Sie fahren sofort, Johann“, sagte Gabriele, „und zwar ein junges Paar. Man darf es aber noch nicht wissen.“

Johann schmunzelte diskret.

„Ziehen Sie die Vorhänge vor! Und daß Sie mir nichts annehmen. Hier!“ Sie steckte ihm einen Fünffrankentaler zu.

Johann öffnete das Gittertor der Einfahrt. Gabriele holte rasch die zwei heraus und schob sie befehlshaberisch, ohne eine Widerrede gelten zu lassen,in das Innere des Wagens.181 []„Wenn Ihr nun nicht gleich Vernunft annehmt, so seid ihr verloren. Ich werde schreiben. Adieu! Es ist die höchste Zeit.“

Sie schloß den Schlag, und das elegante Gefährt rollte mit seinem verhüllten Inhalt über die Pflasterung auf die Straße.

Gabriele erlegte auch dem übrigen Personal Stillschweigen auf, und kam eben von einem Rundgang durch den Garten wieder nach vorne, als ihr Vater von dem Uaffee bei Zutreffer heimkam.

„Du?“ fragte er erstaunt, „Wolltest du nicht ausfahren? Eben ist Johann mit verhängten Zügeln an mir vorbeigesprengt, mit einem Gesicht, als entführte er mindestens ein flüchtiges Liebespaar. Und dabei waren noch die Umhängchen vorgezogen.“

Gabriele erwiderte einfach, sie hätte den Wagen vorgeschickt, da sie erst noch spazieren wolle und Johann Bescheid gesagt, wo sie ihn erwarte. Aber es war gar nicht nötig, den Vater erst noch abzulenken; denn von sich aus fing er ganz wo anders Feuer:

„So, daß du's nur weißt heut ist endlich Zutreffer ein bißchen ausgerückt, wie's mit der Bagage im Gereut oben steht. Der Papa Klaus war nicht dabei, und so konnte er frisch von der Leber reden. Schöne Zuversicht! Dieses Weibsbild da mit dem protzenhaften Namen, das mit hier war, muß schon das meisterloseste Geschöpf unter der Sonne sein. Den Freiherrn hat sie abgewiesen, obschon er in sie vernarrt ist und ihr unablässig den Hof machte. Ja, doppelt genäht hält besser dieser Albert im Lohnhof hinten der sagt 182 []tupfengleich das nämliche. Ihm hat sie offenbar auch den Kopf verdreht; er behauptet noch steif und fest,einst mit ihr verlobt gewesen zu sein und hält seine Ansprüche an sie aufrecht. Nun wird sie wohl unseren dummen guten Melchior in ihre Netze gezogen haben.Jetzt ist es aus und fertig mit ihm. Wir müssen jeden Gedanken an ihn aufgeben. Mir tun nur die Eltern leid. Du könntest eigentlich nachher ein bißchen hinunter gehen und seine Mutter auf das Schlimmste vorbereiten. Er ist imstande und steht eines Tages mit ihr bei ihnen im Zimmer. Oder gar bei uns!“

Als Gabriele zwei Stunden später auf dem Fischmarkt unten vorfuhr, traf sie Frau Zwinger und Rudolf zu Hause. Sie erzählte offen heraus die doppelte Veranlassung dieses Besuches, die Befürchtung des Vaters und die Bestätigung dieses Verdachtes in weit größerem Umfange noch, als er gehegt worden war.

Rudolf geriet aus dem Häuschen:

„Was! Der Lecker! Bätt' ich ihm wahrhaftig gar nicht zugetraut. Eine wunderschöne Person! Kann's ihm nicht verdenken! Wenn du sie gesehen hättest! Ich gestehe, daß ich mich auch im stillen ihretwegen ein bißchen auf die Kur gefreut habe.“

Er vermochte aber seiner gebückt über ihrem Strickzeug sitzenden und leise weinenden Mutter die Bekümmernisse nicht zu verscheuchen.

„Mir soll es ja nur lieb sein, wenn er die rechte Frau gefunden hat. Aber wie läßt sich das nur so obenhin glauben. Ich dachte schon immer im stillen: was mag das nur geben dort oben.“83 []„Jedenfalls“, fuhr sie fort, „müssen wir schlüssig werden, ihr lieben Leute, ob wir ihn halten oder fallen lassen wollen, und gleich.“

Sie kamen insgeheim überein, eine Liga zu Melchiors Beistand unter sich zu begründen, und wäre es auch nur, um ihn fühlen zu lassen, er stehe nicht allein in der Welt draußen und habe seine Heimat auf alle Fälle behalten.

„Wenn sie ihm bestimmt ist, dann werden sie auch zusammenkommen“, schloß Frau Zwinger nach einer Pause.

Dann sah sie Gabriele dankbar an: „Was aber du für eine Liebe bist, das wird er eines Cages schon noch erfahren. Und ein bißchen weiß er es auch schon wie wär er sonst zu allererst zu dir gekommend“

Herr und Frau Zwinger hatten in den vergangenen Wochen die stärkende und aufrichtende Wirkung der angestammten Lebensanschauung an sich erfahren.Auf der Unterlage einer gedanklich nüchternen, jedoch lebhaft empfundenen Frömmigkeit überstanden sie im Verlauf der täglichen Regelmäßigkeiten den nicht geringen Kummer um den Sohn Melchior ohne Schädigung ihrer Gesundheit oder auch nur übermäßigen seelischen Druck. Durch die Jenseitshoffnungen, die als wesentlichster Bestandteil der sonst calpinistischen Religionsübung ihr Gemüt erfüllten, war eine gewisse Entwertung der wirklichen Vorgänge in dieser irdischen Gegenwart von vornherein gegeben, damit 184 []aber auch, im Falle von Unglück, eine beträchtliche Verminderung des bei den Glaubenslosen nicht zu betäubenden Schmerzes. Was aber an Anfechtungen und Widerstreben gegen den Lauf der Dinge nicht gänzlich überwunden war, verwandelte sich ebenfalls in das Wohlgefühl einer heimlichen Neugier, wann und in welcher Form die über allem Zweifel erhabene Wendung zum guten vor sich gehen werde.

Den hauptsächlichen Crost fanden sie in dem Bewußtsein, an der Gemeinsamkeit mit anderen ebenfalls geprüften und ebenfalls standhaft ergebenen Glaubensgenossen einen Rückhalt zu besitzen. Da lag es nun in der Natur der Sache, daß sie mit Vorliebe sich den Nachruf nebst Lebenslauf zu Gemüte führten,der gemäß althergebrachter Art bei keinem noch so anspruchslosen Leichenbegängnis zu fehlen pflegte.

Der alte Zwinger hatte heute einem besonders ausgezeichneten Dulder die letzte Ehre erwiesen, einem Manne, der einst einen Schwiegersohn am Trunk, den Rest der Familie bei einem furchtbaren Eisenbahnunglück verloren, und seitdem, selber an den Füßen und im Rücken gelähmt, die letzten Jahre das Bett nicht verlassen hatte. Als er nun im schwarzen Anzug von der Beerdigung zurückkehrte und, noch den Zylinder in der Hand, seiner Frau dieses Ubermaß von Prüfungen beweglich schilderte, hörte diese erleichtert zu, denn sie dachte: „Das war die beste Vorbereitung auf meine Hiobspost.“

Aber sie brachte kein Wort über die Lippen, obwohl Gabriele gleich aufbrach und Rudolf sie begleitete.185 []Sie wollte warten bis nach dem Abendessen:„Wenn er was im Magen hat, schlägt es ihm nicht so leicht auf den Magen.“

Uberdies fand ihr fürsorglicher Eifer einstweilen Betätigung genug, indem sie dem alten Herrn beim Umkleiden behilflich war, und als sie ins Wohnzimmer zurückkehrten, brannte die Lampe und lag die Abendzeitung auf dem Tisch. Die regelmäßige Lektüre des Blattes genau um diese Stunde gehörte längst zu seinen gesundheiterhaltenden Gewohnheiten.

Er setzte sich, den Rücken gegen den Tisch, mit übergeschlagenen Beinen bequem auf dem Lehnstuhl zurecht, so daß von der Hängelampe das volle Licht auf die Zeitung fiel, las einen Artikel nach Belieben an,glitt dann über eine Zeile hinaus, träumte weiter statt weiter zu lesen, schlummerte wohl auch halbwegs darüber ein, raffte sich wieder auf, setzte wieder ein, las weiter, las zu Ende, und wenn er die Zeitung aus der Hand legte, hatte sein Geist in ähnlicher angenehmer Weise eine Pflichterfüllung hinter sich, wie der Körper nach dem täglichen Verdauungsspaziergang.

Doch fing diese häusliche Prozedur nicht auf der ersten Seite an, auch nicht auf der dritten, wo die Drahtberichte und letzten Neuigkeiten gesammelt waren, sondern auf der hintersten, bei der Spalte der Todesanzeigen.

„Sooo!“ hieß es dann in gedehnter und aufrichtig teilnehmender Beschaulichkeit, „ist der jetzt gestorben.“Führte aber in der langen Liste keiner von den Toten 86 []einen der bekannten, alteingebürgerten Geschlechternamen, so sagte er zu seiner Frau völlig harmlos:„Heute steht Gottlob niemand im Blatt.“

Gabriele Volckhardt, in ihr väterliches Haus zurückgekehrt, mußte über ihren eigenen Abendbeschäftigungen immer wieder zwischendurch der armen Eltern gedenken: „Weiß er's nun wohld Hat sie es schon über sich gebracht? Wie hat er's aufgenommend Wie mag es ihm bekommend“

So sehr verwirrte sie diese Unsicherheit, daß ihr Vater, der nur einsilbige und verlorene Antworten von ihr erhielt, sie aus seiner Zerstreuung schließlich ärgerlich aufscheuchte: „Gay, mein Kind, was hast du nurd Du bist ja wie vor den Kopf geschlagen.“Damit griff er hinter sich und holte sich ein Bündel Papiere heran, die er gleich angelegentlich erlas und einige davon seiner Tochter zuschob.

„Siehst du“, fuhr er fort, „dem ist nun wirklich so,wie ich immer schon dachte! Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Dieser Gesundgartentropf, der Schwengel, ist wirklich der Sohn des Fürchtegott Leberecht Schwengel, letzten Scharfrichters des Rates von Pfalzmünster. Der Herr Staatsarchivar war so freundlich, mir alle die betreffenden Belege aus den Akten ausschreiben zu lassen.“

Gabriele warf einenzerstreuten Blick auf die Blätter.„Ei!“ sagte sie, „da hast du ja wieder ein paar Nummern in deine historische Kuriositätenmappe.“487 []„Und was für ein paar schöne!“ bestätigte der Physikus eifrig. „Hier, sieh dir's an, ein Brettkonto aus den dreißiger Jahren. Du kannst es nicht entziffern. Dann gib her; das heißt “

Und er fuhr mit seinem Finger unter der Zeile her,während er las: „Die Hochgeachten‘, das sind die Ratsherren, Gay! ‚wie auch die Hochgeehrten herren Drey‘ die sogenannten DreierHerren, Gay belieben an F. L. Schwengel Executor für den 6. Heumonat 1837 Vier Verbrecher vom RathHaus bis auf die Richtstätt mit meinen zwei c. v. Pferdten zu führen, drey durch das Schwert zu enthaupten und der vierte daselbest zu brandmarken ist für alles zusammen 280 Franken 4 Batzen s Rappen, per acquit Dero bereitwilliger Diener Fürchteg. Leber. Schwengel, Scharfrichter.“Gabriele schauderte bei dem Gedanken, wessen Enkelin die Braut ihres liebsten Freundes demnach sei;und bei ihrem trotz allem Wohlwollen in Familienfragen strengen und exklusiven Sinn steigerte diese neu hinzugekommene Erkenntnis ihre Verwirrung erheblich.Ihr Vater aber hatte für den ersten Zettel bereits einige weitere gelegt und fuhr fort: „Jetzt kommt es aber erst, Gabrielchen. Diese ganze Schwengel und Schwefelbande ist mit Kurpfuscherei erblich schwer belastet. Der Urgroßvater Schwengel, der ebenfalls schon städtischer Scharfrichter war, hat vor geschlagenen hundert Jahren bereits Krakeel gehabt mit meinem ehrwürdigen Amtsvorgänger, dem Physikus 188 []von 1797. Er ließ sich die Einbildung nicht ausreden,er sei der Sohn einer Hexe und besitze durch diese seine Herkunft Beziehung zu geheimen Künsten. Denke dir, mein Kind, daß der Kerl einen schwungvollen Handel mit Hexensalbe betrieb; und es ging die Sage,dieses Schmierzeug bestehe nicht nur aus den Säften von allerlei dubiosen Uräutern, als da sind Sonnenblume, Mohn, Nachtschatten, Schierling und Bilsenkraut; sogar Fett von neugeborenen Kindern soll sie enthalten haben. Und mit einem Schoppen Muttermilch muß alles das eingekochtsein. Ist es zu glauben?“

Diese Räubergeschichten nötigten Gabriele ein erzwungenes Lachen ab; ein Blick auf die Pendeluhr belehrte sie, daß sie nun ihrem Vater für den üblichen Abendtrunk zu sorgen habe.

Alsbald erschien auch feierlich und geräuschlos Kathrine mit dem Präsentierbrett.

„Kathrine“, sprach sie da Volckhardt an, „erinnert Sie sich aus ihrer Jugendzeit an den Scharfrichter Schwengeld Hat sie nie von ihm reden hören? Oder ihn gar gesehen?“

Kathrine blieb mit gravitätischer Wichtigkeit stehen.

„Zu dienen, Herr Stadtrat, er war von magerer,mittlerer Gestalt und trug einen Zopf und Schnallenschuhe und kurze Hosen.“

Als Volckhardt sich weiter erkundigte, wie er denn im Umgange gewesen sei, ob ein Sauertopf oder ein freundlicher Mann, wurde Kathrine geheimnisvoll und dämpfte ihre Stimme vorsichtig: „O Herr Stadtrat, freundlich war er schon, allzu freundlich schier 189 []gar. Meine selige Mutter wußte ein Liedchen davon zu singen. Wenn sie nicht so eine über alles tugendhafte Frau gewesen wäre! Aber es ist nichts vorgefallen. Sie hat es auf dem Todbette ihrer Schwester,meiner ebenfalls jetzt längst seligen Muhme anverD richter verziehen. Meine Mutter selig war Witfrau,Herr Stadtrat; ich habe meinen Vater selig kaum gekannt. Aber den Scharfrichter hab ich wohl gekannt;er war ein kleiner freundlicher Mann und trug, wie gesagt, noch einen Zopf. Er hatte sich von seiner Frau scheiden lassen und diese lebte getrennt von ihm, mit ihrem Sohne, von dem man jetzt ein so großes Aufheben macht, auf dem Lande. Es hieß bei ihrem Bruder, einem Kohlenbrenner.“

„Ja, bei Köhlersleuten ist er aufgewachsen“, bestätigte der Stadtrat. „Er hat es mir selbst gesagt.“

„Gay“, hob er dann an, als er seine Flasche ausgetrunken hatte und die herumliegenden Schriftstücke sammelte, „diesmal muß ich nun umgekehrt den Abend vor dem Tag loben. Die Fünfuhrpost brachte die Wendung. Historia kühlt manches Mütchen; es ist gut, daß ich das alles weiß. Den Zorn auf diesen Gesundheitsschwindler, den kann ich mir fortan schenken. Umsonst sitzt unsereiner auch nicht jeden andern Sonntag im Münster in seinem Stuhl gerad der Kanzel gegenüber,um nicht auch mit Milde und Mitleid bei der Hand zu sein, wenn es not tut. Da sieht man es wieder einmal, daß sich die Sünden der Väter an den Kindern rächen bis ins dritte und vierte Glied. Ich werde nicht 190 []länger auf dem armen Teufel herumreiten. Mein Gutachten über ihn wird human ausfallen, so human wie möglich. Bist du es nun zufrieden, Gay? Du hast doch immer schon den Leuten im Gesundgarten oben zum besten geredet. Du Gutel!“

Dabei griff er ihr an den Hals und streichelte sie sanft unter dem Kinn durch.

„Weißt du wasd“ fuhr er fort, „ich bin so gut aufgelegt, daß ich noch eine Flasche trinken werde als Extra heut Abend. Und wir machen noch eine Partie Tricktrack dazu!“

Da nahm sie sich zusammen und wickelte das sich heute verlängernde abendliche Programm mit mehr Aufmerksamkeit zu Ende ab: sie trank mit ihm Bier,spielte mit ihm Tricktrack, las ihm sogar noch ein bißchen vor, bis sie ihm Schlag elf Uhr, eine volle Stunde später als sonst, die Kerze ansteckte und Gutnacht wünschte.

Dann jedoch, der Tagespflicht ledig und sich selbst überlassen, verfielsie einer leeren, schalen, verflogenen Mutlosigkeit, einem dumpfen Brüten und Grübeln.Mitternacht war vorüber, sie saß immer noch angekleidet im Lehnstuhl in ihrem Jungfernstübchen oben.

Kein Schlaf, aber auch keine Erregung wollte sie befallen. Lustlos saß sie da; zwecklos kam sie sich vor.

Liebte sie denn Melchiord

So wie damals das Mädchen einen Unaben geliebt hatte, indem es ihn hütete, ihn hätschelte, ihn führend an die Hand nahm, so liebte sie ihn eigentlich bis zum 191 []heutigen Tage, als ob er nicht längst ihrer Obhut,ihrer Zärtlichkeit, ihrer Leitung entwachsen war.

Aber irgend jemand anderen als sie selbst ging ja diese ihre geheime Gesinnung doch nichts an und sie hatte sie unwillkürlich beibehalten, jetzt bald ein Jubiläum lang, weil sie auf diese Weise am harmlosesten und besten zu ihrer Sache kam: so selbstverständlich unbefangen liebend.

Und da fiel nun diese jahrealte, schützende Einbildung wie fauler Zunder in Fetzen auseinander.Heute, als er mit seiner Braut bei ihr vorsprach, bei ihr zu allererst und sie um ihren Beistand anging!Uonnte er ihrem Jugendbunde zarter huldigen als dadurch, daß er für einen Lebensbund dessen Segen sich holen wollte?

Und dagegen sie! Statt froh und teilnahmsvoll die Hände segnend über ihn zu erheben, überstürzte sie sich in der ersten Hast mit einigen billigen Dienstleistungen. Dann sank sie zurück, nicht etwa in Verzweiflung und Jammer und heiße Cränen nein,einfach in eine fade, lauwarme, mißlaunige Bitterkeit.

[192]

Sechstes Kapitel

t dem homöopathischen Kollegen im Dorfe unten hatte Zwinger mitten auf der Straße, vor dem „Gasthaus zum Ochsen“ einen Stand, und der Kollege sagte ihm:„Kollega, wir Arzte dürfen uns nicht überschätzen.Was wäre denn, wenn verbrieft und versiegelt ausgemacht wäre, welches System das einzig richtige ist und wir dann demnach einmütig uns zusammentäten,alles Allopathen, alles Homöopathen oder Naturärzte, je nachdemd Schließlich geht die Natur mit jedem einzelnen Organismus doch ihre eigenen Wege,und ich persönlich schätze, Irrtum vorbehalten, die Beihilfe aller ärztlichen Bemühungen an der Bekämpfung der Krankheiten nicht höher als etwa zehn Prozent, höchstens fünfzehn. Für den Fall, daß wir wirklich einmal so etwas wie ein Allerweltselixir erständen sagen wir äußerstes Maximum zwanzig; achtzigmal vom Hundert macht die Natur aber ganz gewiß, was sie will; es ist daher sehr töricht, uns immer so aufzuspielen, als führe der Arzt eine Zähmung der Widerspenstigen auf. Ich habe meinen ehemaligen Biereifer mir längst abgewöhnt, und wenn 15 Bernounlli, Zum Gesundgarten [193] ich sehe, wie irgend ein jüngerer Zunftfuchs sich mächtig an den Laden legt, so denk' ich: Wo brennt's? Wo brennt's? Zu erzwingen gibt es da nichts“

„Also könnte man's ja am Ende überhaupt bleiben lassen“, warf Zwinger ein.

„Das nicht“, erwiderte der Homöopath lebhaft, „wir sollen den Beruf ernst nehmen und unsere Pflicht tun.Aber wir sollen nicht in unserer Pflicht aufgehen, nicht in ihr ertrinken. Man soll noch seine Freuden daneben haben.“Damit wandte er sich auf die linke Seite der Straße,wo dem Gasthof gegenüber, eine sanfte Halde hinunter, sich einige Wirtschaftsgebäude befanden. Zwischen der Scheune und dem Schweinestall war ein stattlicher Hühnerhof angelegt. Aber während dessen größere Hälfte offen stand, hielt sich in einem mit Drahtgeflecht ringsumstellten Gehege eine Schar schwarzer, völlig gleichgearteter Rassenhühner mit dem Hahne auf. Diese meinte er.

„Das Werk meiner Muße! Eine echte Minorkabrut!Wie ich die weißen Ohrlappen herausgebracht habe!Bäßlich soll das seind Sie können es von hier mit bloßem Auge sehen. Wie ein Schmuckbehang sieht es aus.Und dieser einfache, hochrote, tiefausgezackte Kamm!Und Eier, sag' ich Ihnen so!“ Er bildete mit beiden Händen einen gewölbten Hohlraum, als der Ochsenwirt aus der Scheune trat und grüßte.

„Ah, Ochsenwirt, die Enten könnt Ihr holen lassen,wenn es ist“, rief der Arzt und wandte sich erläuternd an Zwinger:194 []„Echt Ailesbury! Eine schöne Sportente! So ähnlich wie die Duclair oder Rouen. Aber schneeweiß,mit fleischfarbigem Schnabel ohne Fleck! Bis zu zwölf Pfund schwer! Die Jungen in sechs bis sieben Wochen marktfähig! Sie wissen, ich bin Liebhaber und der Ochsenwirt kriegt sie halb geschenkt. Adieu, Kollega!“

Er war ein Berner und sagte „Gcholäga“ und hatte noch mit dem Ochsenwirt zu reden.

Zwinger war noch keine fünfzig Schritt weit das Dorf hinunter gegangen, da vertrat ihm aus einer Hütte heraus ein alter, weißhaariger Mann den Weg.Er nahm die Mütze ab und hielt ihm eine schwielige Hand hin, die von Schrunden aufgerissen war.

„Ah, Mathis, Ihr seid'sd Nun, wie geht's, wie steht's alleweildꝰ Ich höre, Ihr seid zu Eurer Cochter gezogen.Das ist recht von Euch. Ihr habt nun lang genug gefischt. Aber könnt Ihr des Rheines mangelnd Fehlt er Cuch nichtd“

Die mächtige und unbeholfene Gestalt war ein alter Rheinfischer, der, seit Melchior sich entsinnen konnte,jeden Freitag am Fischmarktsbrunnen im selben Stande Hechte, Karpfen, Achsen und manchmal auch einen Salmen feilgeboten hatte. Uberdies war er ein kleiner,von der Großtante Cleophäa her im Erbe mit übernommener Zinsbauer der Zwingerschen, der Familie wegen mannigfach erfahrener Nachsicht treu ergeben.

„Es sind drei von meinen Enkelknaben dabei gewesen“, sagte Mathis dumpf, und sein Auge schwamm.195 []Er meinte: „dabei gewesen unter jenen sechs von der Diphtherie hinweggerafften Kindern.“

Nun wußte Zwinger wirklich einen Augenblick nicht,ob es hinterher noch Vorwürfe für ihn absetzen sollte.Aber Mathis fuhr ohne zu jammern fort:

„Wenn mir der Herr Dokter für mein Gliedergesücht ein Säftlein verordnen wollen, so ist mir das gleich; ich will es beim Herrn Papa unten anmachen lassen und es zahlen und schlucken, auch wenn es nichts nutzt. Weder wegen dessen bin ich nicht beim Herrn Doktor. Der Herr Doktor weiß: ich bin ein alter Mann, und ein alter Mann hält nicht mehr viel auf der Welt und auch nicht viel exakt auf den Herrn Doktern. Bevor ein Dokter seinen Kilchhof voll Patienten hat, trau' ich ihm nicht über den Weg. Ich weiß es von den Fischen her. Wem nicht schon ein ganzer Zuber voll Fische aufs Mal umgestanden ist,so daß sie ihm die weißen Bäuch' aufwärts zugestrecket haben, der versteht einen Dreck vom Fischen.Weder wegen dessen anfangen muß auch ein Herr Dokter, und da wollt' ich dem Herrn Dokter nur berichten, wenn ich dem Herrn Doktor recht bin für seinen Kilchhof, so kann mich der Herr Doktor auf seinen Kilchhof haben.“

Zwinger lachte nicht etwa, als der alte Mann so sprach.Und nun ereignete sich im Laufe dieser halben Stunde ein drittes. Als Melchior im Begriff stand,hinter der Kirche von der Straße abzuzweigen, den Fußweg, der nach dem „Gereut“ hinanführte, sah 196 []er von der Stadt her einen herrschaftlichen Reiter,gefolgt von seinem Reitknechte. Der Reiter mußte ihn erkannt haben; er winkte mit der Gerte und setzte sein Tier, das Schritt ging, in Bewegung.

„Herr Professor“, grüßte Zwinger erstaunt.

Zutreffer winkte seinen Reitknecht heran und bedeutete ihm abzusitzen. Der tat das und schnallte auch ein Paket von der Satteltasche los.

„Mein Diener hat eine Besorgung zu machen, wie wär's, wenn Sie mir unterdessen Gesellschaft leisteten.So ein Rittchen aus dem Stegreif wird Ihnen ganz gut tun. Es ist die Gerda Sie kennen sie ja. Seither ist sie noch sanfter geworden.“

„Aber, Herr Professor, ohne Sporenꝰ Ohne Sous-piedsꝰ Und vor allem ohne Ubung?“

„Ich sage Ihnen doch, die Gerda!“

Der Diener bot Radfahrerklammern an zum Notbehelf, und Melchior stieg wahrhaftig in den Sattel.Sie wollten noch ein viertel Stündchen die Landstraße trotten, dann den Holzfuhrweg unten am Stollen vorbei zurückbiegen und auf Stolleneck solle der Diener warten.

„Aberfeld!“ sagte Zutreffer, sobald sie zum Dorfe hinaus waren, „hören Sie mal; dagegen ist schlechterdings nichts einzuwenden. Er ist nun so gesund, als er es überhaupt noch verlangen kann. Ich bin doch Hhausarzt.“

„Ich bin unschuldig an dem Erfolge. Ich habe den alten Schwengel machen lassen. Sie sehen, ich hatte doch eine richtige Nase.“197 []Zutreffer saß prachtvoll zu Pferde. Wie in Erz gegossen. Seine Reithose spannte sich prall über den mächtigen Oberschenkel. Bei einer Wegbiegung nahm er sein Pferd herum und ließ Zwinger rechts von sich reiten. Er behandelte ihn mit unterstrichenem Feingefühl. Hatte er mit einem Kompliment begonnen,so fuhr er nun mit einem Lobpreise fort.

„Ja, ja, Sie Vorbild! Weiß Gott, wir haben Arzte in allen Preislagen. Meine Herrschaften, immer flott hereinspaziert in die Sprechstunde! Es geht ums liebe Brot. Als ob es damit getan wäre! Übrigens haftet das Übel nicht an unserem Stande. Es ist in allen Berufen ungefähr gleich. Mehr Kerle her! So lang es an Kerlen fehlt, klappt es nicht und darf es nicht klappen.Und da wollt' ich Ihnen nur sagen wenn man sich nicht damit begnügt, eine Nummer zu sein, sondern alles daran setzen will, um ein Charakter zu werden,so muß man es vielleicht so anstellen, wie Sie es getan haben. Vielleicht! Vielleicht aber auch nicht!“

Diese lange und schöne Rede nahm Zwinger doch etwas ernster als sie gemeint war. Um nicht merken zu lassen, wie sehr er sich geschmeichelt fühlte, sagte er nur:

„Herr Professor, wozu machen Sie mir das Herz schwer.“Sofort gab Zutreffer dem Gespräch eine Wendung.Er sprach von Klinger, von Sinding, von Meunier,von Rodin. Jetzt taute Melchior auf, sprach mit hinein,stellte Fragen; denn der Professor las die Kunstzeitschriften und war neulich wieder gereist.198 []Sie hatten schon die Grathöhe erreicht, da schlug Zutreffer mit einem Male auf die gestraffte gelbe Cederhose seines Schenkels, so daß sein Pferd muckte,und sagte:„Richtig, daß ich's nicht vergesse. Was ist denn mit Schlotten passiert bei euch obend Der arme Kerl tat mir leid. Ich bin nicht klug aus ihm gewordend“

Das kam unerwartet. Schlottend Zwingers erstes Gefühl war: ja, den hast du aus dem Felde geschlagen!Er wollte nicht antworten und sah jenen mit einem glänzenden Blick an.

Nad“ forschte Zutreffer.

Zwinger spürte, wie er verlegen wurde.

„Herzkrank wasd“

Er war verloren. Er errötete bis unter die Haarwurzel.

„Na na na! Sie haben ihn doch nicht etwa abgelöstdꝰ

Zwinger sah zur Seite und schwieg sich aus. Er wünschte sich vom Rücken der in der Tat lammfrommen und zu keinerlei Cinwand Anlaß gebenden Gerda hinunter, dorthin, wo der Pfeffer wächst.

Um über das Stillschweigen wegzukommen, ließ Zutreffer sein Tier etwas stolpern, damit er sich mit ihm zu beschäftigen hatte, und als diese Ausflucht geraten war, stand der Reitknecht auf Stolleneck bereit.„Machen Sie sich keine Gedanken“, sagte Zutreffer,als Zwinger abgesessen war und er ihm vom Pferde herab die Hand reichte.499 []„Keine Gedanken worüber?“ fragte Zwinger.

„Werden Sie sehen, werden Sie sehen.“

Auf dem Heimweg legte sich Zwinger schließlich aus Zutreffers feiner Beschaffenheit das Rätsel zurecht. Zutreffer hatte sich damals schwer über ihn geärgert, ja aber unbeschadet aller tieferen Sympathien für ihn. Die beträchtliche Besserung Aberfelds, die Zutreffer als dessen Hausarzt wahrzunehmen und festzustellen hatte, die stand nun gewiß in der Verrechnung seines Lehrers auf sein Guthaben gebucht, und er hatte nach ihm sehen wollen.

Krimhild meldete ihm auf der Schwelle, ein herrschaftlicher Diener habe ein Paket für ihn abgegeben,und begleitete ihn auf sein Zimmer. Hastig wurde es betastet, die Schnüre zerschnitten, nicht aufgeknotet und der Inhalt aus dem Umschlagpapier herausgeschält: drei stattliche Bände in prachtvolles Leder biegsam gebunden. Es war die deutsche Ausgabe des griechischen Arztes Hippokrates. Vorne hinein hatte der Lehrer geschrieben:ocoi oeuvexov. Dem Initianten in die Mysterien des Asklepios.“ Darunter seinen kräftigen Namenszug.Ein dünnes Elfenbeinbuchzeichen, den schlangenumwundenen Stab des griechischen Heilgottes zierlich nachahmend, zeichnete einen Abschnitt von vornherein aus.Melchior setzte sich hin und bekam da zu lesen:„Die ärztliche Uunst ist von allen Künsten die vornehmste; aber wegen der Unerfahrenheit derer, die 200 []sie ausüben, und wegen der Oberflächlichkeit derer,die solche Leute beurteilen, steht sie den andern Künsten noch nach. Arzte gibt es dem Namen nach zwar viele, der Tat nach recht wenige.“

„Der Tausend ja“, schoß es Melchior durch den Kopf, „du zum Beispiel hast damals dein Staatsexamen mit der höchsten Punktzahl bestanden, weil du für die dreizehn Spezialisten die dreizehn Handbücher am auswendigsten konntest.“ Er las weiter:

„Heilige Dinge aber werden nur geheiligten Männern offenbart.

„Daher muß man Philosophie in die Medizin und Medizin in die Philosophie hineintragen; denn ein Arzt, der zugleich Philosoph ist, steht den Göttern gleich.

„Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang, der rechte Augenblick ist rasch enteilt, der Versuch ist trügerisch,das Urteil schwierig. Da müssen wir eben tun, was in unseren Kräften steht.“

Melchior war hingerissen.

„Und das vor mehr als zweitausend Jahren“, sagte er zu sich selbst.

Aber während er es dachte, blieb ihm der Schlußgedanke am eindringlichsten im Gedächtnis zurück und endete mit einer Niedergeschlagenheit.

„Ars longa, vita brevis“, murmelte er, „ꝑjm! Ja,ja. Da haben wir's. Was in unseren Krãften steht schneller gesagt als getan.“

So war die Folge des Überschwangs, der ihm seine Lebenspläne adeln sollte, ein empfindlicher Rück201 []schlag. Mißmutig, überdrüssig schleppte ersich die nächsten Cage mit beschwichtigenden Vorsätzen, und ein Vorschlag zur Güte löste den andern ab. Er verlor die Geduld zusehends. Als ihm beim Mikroskopieren für seine Hundertstelmillimeterschnittchen die erforderliche Erhärtung eines Halmes mehrmals mißlang, erfaßte ihn blindlings Jähzorn; er ergriff das Pflanzenbüschel neben ihm und hieb unsinnig damit auf die Cischkante, daß Blätter und Blüten wie Spreun wegflogen.Erst als er einen Strang von Fasern zwischen den Fingern hielt, war in ihm ausgetobt.

„So kann das natürlich nicht weiter gehen“, sagte er sich ernüchtert. Vor ihm lag die Weisheit, so komplett wie möglich aufgeschichtet: auf dem Paracelsus Aberfeld, auf dem Aberfeld Hippokrates. Zuviel des Guten! Wer mochte eine solche Stopfkur überstehend

Dreierlei tollte in seinem Kopf herum in Hopsern und Purzelbäumen: was der Homöopath gesagt hatte,man dürfe nicht in seiner Pflicht aufgehen; aber nun zur HZühnerzuchtseine Zuflucht nehmend Zum andern:die Weisheit des alten Mathis: Der Arzt sei ein Totenlieferant, der den Bedarf der öffentlichen Friedhöfe zu decken habe. Zum dritten: aber warum mußte nun Zutreffer des langen und breiten gerade zu ihm von den Bildhauern reden; er wußte doch, wie schwer ihm das zu überwinden gab.

Und gar Hippokrates! Was fing er in dieser Verfassung mit einem Propheten an! Selbst diese heiligen Worte wirkten auf ihn wie eine Lektion! Auch dieses Erhabenste wurde ihm zur Schulbank. Weisheit in sich 202 []aufstapeln, das half ihm nicht. Kein lebender und kein toter Professor konnte ihn von der Stelle bringen.Allzuviel schleppte er schon mit sich herum, allzuschwer trug er an Gedanken und Sinnbildern. Nur ein Produktives vermochte ihn zu erretten; es galt eine Gestalt zu formen, einen Ausdruck zu prägen. Nicht in sich hinein, aus sich heraus, aus sich heraus! Das tat not, das allein.

Er strich geraume Zeit im Wiesengrase herum. Es war ihm ganz einerlei, wenn jetzt der Bauer kam und ihn büßte. Das Gras stand saftig und hoch und ging ihm bis über die Knie. Da bereitete es ihm nun eine grausame Freude, wenn unter jedem seiner Schritte eine fußbreite Garbe sich widerstandslos vornüberlegte und zwischen die noch aufrechten Halme hineinsank, so daß diese wie von einem Zittern befallen wurden, ehe der nächste Schritt auch sie niedertrat. Jedes Ausschreiten brachte ein stets gleich kurz bemessenes taktartiges Rauschen mit sich, wie beim Mähen der leispfeifende Schwung der Sense Schwade neben Schwade legt.Ein Blick zurück, und er sah die wirre Furche, die sein Gang in das sanfte Grasmeer gerissen hatte.

„Ja“, nickte er befriedigt, „so wird es wohl sein.Die andern müssen dran glauben, wenn man selber eine Spur hinterlassen will.“Als er wieder vor sich hinsah, gewahrte er eine ähnliche willkürliche Pfadlinie von der andern Seite des Feldes her auf ihn zulaufen und kurz vor ihm [203] in einer etwas breiteren Lücke enden. Er trat hinzu,da lag Krimhild im Grase und schlief. Mitten in der sommerlichen Morgenpracht des Feldes lag sie da und hatte die Augen zu und ein Lächeln um den Mund zum Zeichen eines friedlichen Craumes. Auf einem gewürfelten Schal lag sie und hatte das frischgewaschene kreideweiße Leinenkleid an mit der Chiffonbluse, unter deren zartestem Durchbruch er ihre Arme sich runden,ihre Brust sich heben sah.

Bienen und Käfer summten emsig; Mücken und Falter wiegten sich über der Schlafenden. Melchior fiel es bald auf und er beobachtete sie schließlich nur noch daraufhin, ob diese Wesen es denn unter sich abgemacht hätten, daß keines sie berühre. Endlich streifte ein Pfauenauge ihr Kleid und alsbald nicht weit davon ein prachtvoller Trauermantel. Als die beiden Schmetterlinge sich bemerkten, flogen sie zu gleicher Zeit auf und einander nach.

Die Schlummernde gab einen unverständlichen fragenden Laut; er antwortete sehr sanft. Da erwachte sie.

„Bist du dad“ wunderte sie sich, und das Traumlächeln auf ihren Lippen verklärte sie im Erstaunen vor der Wirklichkeit noch lieblicher.

„KRomm', sagte sie halb erschrocken, halb heuchelnd,„der Bannwart erwischt uns gewiß noch“ und sprang auf. Beide flohen sie geschwind und leichtfüßig wie spielende Kinder in der von Krimhild gepflügten Räsenfurche an den Waldrand und setzten sich da zuäußerst zwischen die ersten Bäume.204 []Sie fanden es offenbar unschicklich, schon zur Morgenstunde scherzende Zwecklosigkeiten zu betreiben,und so schoben sie es auf die Geräusche dieser Morgenstille, auf den Vogelsang, auf das Grillenzirpen,auf das Gesumme der Bienen: der Zerstreuung sei ja kein Ende.

„Wann sprechen wir uns wieder einmal gemütlich ꝰ“

„So wie damals abends?“

„Das war doch am herrlichsten.“

„Ja, warum bist du nimmer wieder gekommend“

Darum huschte Krimhild, als alles schlafen ging,durch die Wendeltreppe vor Melchiors Capetentür und fand sie nur angelehnt.

Er hielt die Photographie seines Rundreliefs von Gay Volckhardt in der Hand.

Nun erhob er seine Augen und richtete den Blick auf Krimhild.Sie ging auf den Zehen durchs Zimmer. So eine schlanke Gestalt! So geschmeidige Glieder!

Eine tief reichende Hängelampe warf von der rasch und unablässig sich Bewegenden harte, unstete, um den Fußpunkt kreisende Schatten in entstellenden Verkürzungen und übertriebenen Längen auf den Boden und an die Wand.Melchior störte es den Genuß; er wurde ärgerlich:

„Dieses ekelhafte Licht! Es ist keine Möglichkeit,zu einem ausgeglichenen, gerundeten Anblick zu gelangen.“205 []Er probierte an der Lampe herum, indem er den steifen Milchglastrichter umkehrte, die engere Offnung nach unten, und ihn ringsum mit einem dichten roten Papier noch zuklebte. Die ganze Strahlung wurde durch die Innenwand in die Höhe geworfen und verteilte sich gleichmäßig in genügender Helle. Schatten warf es nur in schwachen, vertuschten Flecken.

Krimhild stand vor ihm als plastische Figur, von einem gleichmäßigen, verschwiegenen Licht umflossen.

„Siehst du“, sagte er eifrig, „nun hab' ich es doch leidlich herausgebracht. So werden die Operationszimmer erleuchtet, und wenn ich nicht irre, auch die Aktsäle der Akademien.“Krimhild tanzte und federte aufs neue um ihn herum und jubelte flüsternd: „Nun wirst du mich abbilden. Auch ein Medaillon, sag'? Oder eine Statue?O ja, bitte, eine ganze Statue.“

„Erst zeichnen“, beschwichtigte er, „immer erst zeichnen. Eine Silhouette um die andere, so viel überhaupt herauszubekommen sind. So nur vermag ich mir deine Gestalt innerlich anzueignen.“

Er holte sich ein Blatt großen Formates und begann mit der Kohle seine Arbeit. An diesem Abend kam er noch mit drei Aufnahmen ins reine. Er war selbst überrascht und erfreut, daß er wider Erwarten noch so viel von sich fordern konnte mit so leidlichem Gelingen.

„Schließlich“, berechnete er, „zweierlei ist es ja wohl, Strich und Schnitt, Stift und Klinge; aber die Geschicklichkeit im einen kommt doch immer auch dem andern zugute. Ein guter Operateur kann kein ganz 206 []schlechter Plastiker sein. Ganz aus der Übung bin ich eigentlich nie gewesen.“

Als aber Melchior im Verlauf einiger weiteren Sitzungen etwa ein Dutzend Büstenumrisse von ihr angefertigt hatte, warf er nach einer vergleichenden Durchsicht die Blätter alle mißmutig auf einen Haufen.

„So geht es nicht weiter entweder oder. Ich muß Hals und Brust frei haben.

Krimhild erschien zu ihren nächtlichen Besuchen in letzter Zeit in einem einst kostbaren, bunt gemusterten, jetzt etwas verschossenen türkischen Schlafrock.Bis ans Kinn hoch geschlossen und die Füße eben bedeckend, umwallte er den elastischen Körper in leiser Andeutung seiner Rundungen.

„Er ist aus einem Stück“, versetzte sie bedächtig, „ich kann nichts einzelnes freilegen. Geht's denn so nicht auch oder dann tun wir vielleicht besser zu warten,bis wir verheiratet sind.“

Er drohte ihr mit dem erhobenen Finger: „Es handelt sich um den Künstler in mir. Ich werde hier sitzen bleiben und nur mit den Augen zu dir kommen.“

Krimhild holte daraufhin zu einer langen Rede aus,deren kurzer Sinn ihre Bereitschaft enthielt, sich ihm zu zeigen. „Vorausgesetzt, daß“

Und nun folgte eine höchst weise und so wohl durchdachte nähere Bestimmung, daß er unwillkürlich lachen mußte.207 []„Du mußt denken“, sagte sie und setzte dazu ihre ernsthafteste Miene auf, was bei mir alles auf dem Spiel steht! Wie kann ich mich deinen Blicken ausstellen und nicht zugleich alle selbständige Macht einbüßen.“

„Ja doch“, rief er, „werde nicht langweilig. Spiele doch nicht die alberne Miß.“

Sie verbat sich seine Ungeduld, und als er sie weiter zur Rede stellte und bitter werden wollte, vertröstete

„Du brauchst nicht zu glauben, ich fürchte mich vor dir oder vor mir selbst. Ich weiß, was ich dir sein kann und will es dir sein. Du hast es in dir, nur ist es noch nicht aufgeweckt. Jaja doch, ja! Aber es ist eine furchtbar ernste Sache. Du solltest es mir nicht noch schwieriger machen mit deinem Ungestüm.“

Da stand er wieder unter der Macht ihres Wesens.Er stürzte sich auf sie und erstickte sie fast im Uberschwang. Nach Luft ringend, konnte sie endlich den Kopf frei bekommen.

„Siehst du“, lächelte sie vorwurfsvoll, „wie gut,wenn ich wenigstens ein bißchen denke. Mit dir gäb'es gleich Scherben.“ Zugleich versetzte sie ihm mit ausgestreckten Armen einen tüchtigen Stoß, so daß er drei Schritte weit von ihr zurückprallte; dann ergriff sie ihr Kleid auf der Brust, machte es lose, knöpfte mit einem Ruck den ganzen Saum bis zum Fußende auf und zog es weit auseinander, so daß ihr junger,unberührter Leib in der mäßigen Helligkeit blendend aufschimmerte.208 []Es kümmerte sie nicht, wieviel davon zum Vorschein kam. Vom Glanz ihrer Blicke erstrahlte ihr Angesicht in Reinheit. Ihn sollten ihre Augen mit allem Feuer durchleuchten. In die hinterste Falte seines Herzens sollten sie spähen. Sah er nun, daß sie nicht feige ward Spürte er, was für eine furchtbar ernste Sache das für sie bedeutete, eine schöne, heilige Sache aufgetan zu sein vor seinem Auge! Er zum Künstler werden an ihr! Und daß sie keine andere Scham kannte, als die Scham vor ihm!

Hätte sie gesprochen, sie hätte gesagt: „Sprich! Sonst muß ich vergehen. O, ich könnte mich töten, ohne weiteres und auf der Stelle, wenn ich denke, du gingest jetzt nicht auf in Üereinstimmung mit mir, und auch ein kleinstes Ceilchen in dir wäre nicht von Gedanken an mich überkleidet und zugedeckt. O Geliebtester, so sag'es mir doch: nichts in dir ist übrig geblieben, das eine Miene verziehen, die Nase rümpfen, ein Gelächter aufschlagen wird über mich, weil ich jetzt vor dir stehe ohne Schutz und Hülle und mich in aller Welt nirgendwo besser bergen kann als bei dir. Aber ganz umwickeln muß mich deine Liebe, um und um, kein Luftzug darf an mich kommen von außen. Sonst muß ich mich auf den Cod erkälten. O, nicht dran denken darf ich, daß du am Ende noch mit dem winzigsten Gefühl hinten hältst, mit einem Restchen von Hingebung im Rückstand bleibst, miteinem blassestenhintergedankendichum mich herumdrückst. So ganz auf die Nagelprobe muß mich deine Seele auftrinken, wie dir die meinige entgegenfließt.“

14 Bernoulli, Zum Gesundgarten [209] Aber das sprach sie nicht. Das dachte sie hastig an ihn heran und stockte und lauschte und trachtete angstvoll nach seinem Munde.

Melchior war Arzt. Er kannte den toten und den in Urankheit verwelkten und den unförmlich fruchtbeschwerten Frauenleib, von Berufswegen ) Nein, nein, gottlob! jetzt in diesem Augenblick, da sie den Vorhang auseinanderzog von ihrem Geheimsten da gleich sofort: volle Gewißheit!In einer jähen Erglänzung wurde er schön von dem Anblick, wurde jetzt eben erst schön über der Entzündung an dem Widerschein ihres blühenden Fleisches über der Leuchtkraft ihres reinen, weißen Leibes.Ja so auf diese Weise mit diesem Zittern,mit diesem funkelnden Glanz in den Augen, so sprungbereit vorgebeugt, nur noch in kurzen, heißen Hauchstößen atmend so war er begehrenswert, so war er der herrlich Ein und Allerschönste

und er sank, unter der Wucht der Erfüllung, zusammen kniete vor ihr sah anbetend zu ihr auf

„Das Leben!“ stammelte er, „das Leben! So sieht das Leben aus?“

Sie seufzte einen langen sanften Hauch. Gewonnen Spiel!

„Dann ist es gut“, flüsterte sie, „steh' bitte auf. Ich kann dich nicht knien sehn.“

Rasch brachte sie sich ihr KNleid in Ordnung, daß es wieder hoch geschlossen war. Melchior ging auf im Gefühl des Dankes. Er wäre diesen Abend nicht unbescheiden geworden. Da warf sie ihm kurz hin: „Nein,210 []jetzt geh' ich nicht mehr hinauf. Ich werde hier übernachten.“

Geräuschlos schoben sie das leichte Ruhebett aus der Zimmerecke auf die kleine Brettertribüne, die den Turmerker ausfüllte. Sie wollten ausprobieren, ob auf diese Weise nicht der beste Sitz zu erstellen war für Krimhilds Posen; denn nun kamen sie allen Ernstes überein, von morgen ab in gemeinsamer Arbeit die Studie für ein plastisches Kunstwerk in Angriff zu nehmen.

Melchior setzte sich in die Tiefe des Zimmers, Krimhild auf das Postament; der Plan erwies sich als brauchbar, der Abstand als genügend, die Erhöhung als nicht zu groß, die Beleuchtung sehr verdeutlichend.

„Nun aber sind wir müde und wollen schlafen gehen“, sagte Krimhild und, denCon wechselnd, „komm,ich hab' etwas schönes ausgeheckt. Aber du mußt die Lampe löschen.“Sie streckte sich auf dem Sofa lang hin, drückte sich auf dessen eine Hälfte schmal zusammen und bat ihn,an Schals und Decken einiges mitzubringen und die Fenster des Erkers aufzuschließen.

„Die laue Nacht kommt uns zu Hilfe“, sagte sie und zog an der Kette, die ihr zu Häupten von der Erkerdecke herunterhing.

Alsbald erknarrten eingerostete Rollen, und langsam schob sich das kleine Kuppelgewölbe weg, so daß das Sternenzelt unmittelbar über ihr sichtbar wurde.

Die Vorrichtung verhalf den beiden Liebenden zum Genuß einer lauen, herrlichen Sommernacht.211 []Melchiorlöschte, brachte Tücher und Decken und schob sich auf die freigelassene Hälfte des Diwans neben sie.

Krimhild hüllte ihn und sich ein, ihre Arme verschränkten sich, ihre Häupter lagen auf der Schlummerrolle Mund gegen Mund, und wenn sie den Blick erhoben, so blinkte über ihnen aus unendlichen Fernen der schönste und größte Stern am ganzen Himmel in farbenfunkelndem UÜUberglanz zu ihnen herab. Durchs offene Fenster rauschte der nächtliche Wald, der kühle Wind koste ihnen die Wange. Doch erglühten ihre NRörper, unter den Bedeckungen eng aneinander geschmiegt, wiewohl durch die dünne Scheidewand der Kleider von unten bis oben streng voneinander getrennt.Der bleiche Glanz des Gestirns ließ ihnen nur den letzten Schatten eines Anblicks. Aber Mund und Hände berührten sich. Ihre zwanzig Finger faßten und streichelten sich sachte; heiß vermischte sich ihr Atem im Wechsel der Küsse.

Und da geschah das Unglaubliche, es begab sich diesmal wirklich, daß sie über dem bloßen Küssen und Liebkosen müde wurden und unversehens darüber einschliefen, fest schliefen, Mund an Mund, den ganzen Rest der Nacht!

Erst als sie nach Stunden wieder erwachten, löste sich das eine Lippenpaar vom andern los. Der große Stern war unterdessen weiter gewandert; die geringeren, die ihm nachrückten, funkelten blasser. Denn schon war der Morgen im Anzuge.

Hell flimmerte das Firmament. Die letzten Schleier 212 []der Dämmerung hoben sich hinweg. Frischer Vogelsang erwachte im Walde.

Heftig erschrocken fuhr Krimhild empor, schlug sich die Hände vors Gesicht und rief:

„O weh! o weh! o wehl Ich kann den Tag nicht leiden.“Rasch schlüpfte sie von dem beschienenen Lager,schlang noch einmal flüchtig die Arme um seinen Hals und eilte hinauf.

Noch wähnte er schlaftrunken an ihrer Seite zu ruhen,als er sie schon über sich in der Dachstube gehen hörte und hörte, wie sie das Fenster schloß.

Selbst wenn nun die beiden Verlobten mit ihrem innersten und ängstlich gehüteten Geheimnis nicht auf den schützenden Schleier stiller Nächte angewiesen gewesen wären, hätte der Lauf der Dinge im „Gesundgarten“ sie doch tagsüber allzusehr in Anspruch genommen, als daß sie nur sich selber hätten leben können.

Schwengel redete wieder einmal das Blaue vom Himmel herunter.

„Sagt' ich es nicht: Es kommen bessere Zeiten. Die gute und gerechte Sache feiert ihren vollen Triumph.“

Seitdem er in den Verhandlungen des Kurpfuscherprozesses als Zeuge vernommen und von den Richtern mit Achtung behandelt worden war, schoß es mit ihm oben hinaus; er konnte sich nicht genug tun mit Selbstlob und Entwürfen:

„Großartig hab' ich abgeschnitten. Vor Hunderten 213 []Zeugnis abgelegt, ohne zu erröten. Alle ihre Blicke hab' ich ausgehalten und den meinigen nicht ein einzigesmal zu Boden schlagen müssen. Wie einen Sachverständigen haben sie mich behandelt. Respekt vor der Gerichtsbarkeit! Respekt vor den Herren Richtern.“

Dabei zupfte er sich unaufhörlich an seinem chinesischen Knebelbart und fügte bei: „Geradezu Aufsehen erregt hab' ich.“

Selbst der Physikus Volckhardt hatte zugegeben, daß Schwengel zwar ein Narr auf eigene Faust, an seiner ehrlichen Uberzeugung von der Güte der betriebenen CTorheiten jedoch nicht zu zweifeln, ja er um seine ausgedehnte und individualisierte Bekanntschaft in der giftlosen Pflanzenwelt sogar zu beneiden sei.Wenn nun dieser unversöhnlichste Gegner einer frei wuchernden Heilweise in seinem vor Gericht abgegebenen und dann in der Presse verbreiteten Gutachten den alten Schwengel wörtlich als „ehrenvolle Ausnahme von einer gemeingefährlichen Regel“ bezeichnete, war es nicht verwunderlich, in den begleitenden Zeitungsglossen Ausdrücke zu finden, wie:„der populäre Gesundgärtner“, oder „eine nicht uninteressante, ja ich möchte sagen markante Erscheinung, wie sie auch ein kräftiges Volkstum nicht allzu häufig zeitigt“, oder gar: „eine wahre Prachtgestalt,der Wundermann vom Berge“.

Diese Ausschnitte in den Händen, geriet Schwengel vollends aus dem Häuschen und rief:

„So, Kinder, nun kann ich ruhig sterben. Jetzt bin ich glücklich, ganz glücklich bin ich nun. Da habt ihr's:214 []Volksstimme, Gottesstimme, schwarz auf weiß: ‚Eine wahre Prachtgestalt‘. Ich sage ja. Wer das gedacht hätte. Und, DerWundermann vom Berge.. Noch besser.Haha! Triumph! Haha! Nur so einfach fix und fertig:Der Wundermann!‘ Man weiß schon welchen. Und:Vom Berge“. Großartig! Ich bin euch noch ein Kerl,der das Sonnenlicht nicht zu scheuen braucht. Wenn's zum Sterben geht ich bin dabei. Mein unvergängliches Werk ist mir über den Kopf gewachsen. Das ist ein gutes Zeichen, ein sehr gutes Zeichen. Es braucht mich nicht. Es hilft sich ohne mich durch sich selber.“

Dieser Erguß erinnerte Krimhild nun aber doch daran, was sie sich als Braut Melchiors schuldig sei.

„Dein Verdienst außer Frage mein guter Papa;aber wodurch hast du in den Augen der sonst blasierten und kühlen Stadtleute nun so plötzlich an Wert gewonnend Etwa weil der Spitzbube da, der Lump und Betrüger, unter der gleichen Flagge segelte wie du,und er sich als ein Schurke erwiesen hat und du als ein braver Mannd Glaube das, wer will! Ich erlaube mir der Ansicht zu sein, man sei in der Stadt auf dich aufmerksam geworden, weil der Sohn einer angesehenen Familie der Wahrheit die Ehre gab und deine Sache zu der seinigen machte. Ist es nicht soꝰ“

Dieser Auffassung schloß sich Schwengel ohne Zögern an.„Aber selbstverständlich!“ rief er gutmütig, „das wäre noch schöner. Jetzt noch gar Rangstreitigkeiten.Ich bin eine Nummer, und er ist eine Nummer, und das kommt nun eben beides der Firma zugute. Hat 215 []es denn überhaupt einen Sinn, darüber noch groß zu rechten, was er getan und was ich getan. Mein Gott, es bleibt ja doch in der Familie; ob ich oder der Schwiegersohn, bleibt sich dann gleich. Die Sache hat Faden, das ist ja doch des Pudels Kern. Ihr könnt heiraten, wenn es beliebt. Wir haben Kredit wie noch nie. Da pumpt euch jeder darauf!“ Er zerdrückte sich eine Träne im linken Auge und machte Miene, Melchior zu umarmen.

Schwengels Denken und Entdecken lag ein bestimmtes, wenn auch nicht abgeklärtes Naturgefühl zugrunde, und dieses mußte, auf Begriffe und Formeln gebracht, in irgend eine Theosophie oder spiritistische Machenschaft auslaufen; denn gute und böse Geister trieben darin ihr Wesen, außermenschliche Mächte, groß und klein, vom doppelbeschwingten himmlischen Engel bis zur zarten, hauchartigen Blumenelfe, vom handfesten, höllischen Hörnerteufel bis zum nichtsnutzigen, schadenfrohen Koboldgesindel.

„Das wird alles mit Händen gefügt und gelenkt und geschoben“, pflegte er zu sagen, „die ganze Welt steckt voll davon, hinter den Kohlköpfen und Gräslein wie die Häslein, man sollt' es gar nicht denken. Und die pausbackigen Kinderköpfchen mit zwei Flügelchen statt der Ohren, die zwischen den Schäfchenwolken hervorgucken nun, gesehen hab' ich noch keines.Aber geben tut es derlei doch, so oder anders. Weshalb muß man diese feinen und zarten Dinger immer 216 []gleich begaffen wollend“ Sein ärztliches Heilvermögen war durch und durch mit Gläubigkeit getränkt, und er fühlte sich rechts und links abhängig.

Ganz anders Zwinger. Nicht daß es ihm an inneren Nöten gemangelt hätte. Aber er hatte eben den Künstler in sich, das gab den Ausschlag. Es drängte ihn nach der Form, nach dem Bilde. Sein erzwungener und lautlos durchgeführter Verzicht auf die Betätigung der in ihm drängenden Schöpferlust zog ihn so tüchtig in Mitleidenschaft, wie keine faustische Grübelarbeit über Gott und die Welt es jemals aufreibender besorgt hätte. Das auch hatte ihn zu Schwengels ketzerischer Heilkunst hingezogen der ihr eigene unmittelbare Nießbrauch der wildwachsenden Natur,frisch aus der Pfanne das gekochte Kraut gesalbt oder eingenommen, ohne viel Chemie, ohne langes Filtrieren und Destillieren: im Grunde war es sein künstlerischer Vereinfachungsinstinkt gewesen, der ihn aus dem Labyrinth allopathischer Pharmazeutik auf ein freies Feld hinaustrieb. Darauf gründete sich sein ehrliches Verhältnis zu Schwengel und nur darauf. Kamen dagegen nun noch Beigaben gedanklichen oder gar mystischen Kalibers hinzu, dann stand eine Verwirrung bevor, dann mußte Zwinger die Schwengelsche Erbschaft in Fetzen reißen, wenn er überhaupt etwas davon sich anzueignen gedachte.

Da enthüllte sich Faxon, jener scheinbar drollige,und doch einigermaßen unergründliche Jüngling aus Amerika, dem, wenn man auf ihn hätte hören wollen,Zwinger die Krimhild abspenstig gemacht haben sollte,217 []mit einem Male als eifrigster und ernsthaftester Mitbewerber um Schwengels naturärztliche Nachfolge.Wie er äußerlich ein Schlangenmensch war, so schillerte auch seine geistige Begabung in allen Farben.Und wie er dann wieder plötzlich steif dastehen konnte,als hätte er einen Stecken verschluckt, so besaß auch sein übersinnliches, weltenthobenes Getue der letzten Zeit doch gehörig geschäftliches Rückgrat, so daß seine metaphysischen Spekulationen handkehrum zu kaufmännischen Spekulationen wurden. Er hatte etwas weniges Chemie studiert und schon aus Amerika hübsche UKenntnisse mitgebracht.

Eines Tages machten Krimhild und Melchior dem alten Schwengel erregt Mitteilung, in dem Kochlaboratorium oben seien, als sie sich ans gewohnte Tagewerk begeben wollten, Faxon und Blötherlein bereits in voller Tätigkeit begriffen gewesen, ein altes Goldmacherrezept nach einem verstaubten Kodex anzureiben und zwar in den bis jetzt von keinem mineralischen Produkt berührten Gefäßen der Saftbereitung.

„Wo wir darin doch so peinlich sind mit dem Reinigen und uns gar nicht genug tun können mit Brühen und Waschen“, eiferte Krimhild, „einfach vom Brett heruntergenommen haben sie, was ihnen paßte. Ist das nicht stark.“

„Ich hab' euch wohl nicht recht verstanden, Kinder“,murmelte Schwengel und sträubte sich zu glauben,„was sagt ihr, Faxon hat “

„Ach, was“, versetzte Zwinger achselzuckend in bitterem Tone, „Faxon ist groß und Blötherlein ist 218 []sein Stiefelputzer. Über kurz oder lang mußte es ja zum Putsch kommen. Es war ja schon gar nicht mehr zum aushalten, wie hoch der Mensch seine Nase trug.“

Schwengel deutete mit einer fragenden Geste nach oben. Die beiden bestätigten:

„Gewiß in dieser Minute. Sie sind mitten im vollsten Werk. Es fiel ihnen nicht ein, uns Platz zu machen. In zwei Stunden sollten wir wieder nachsehen; dann seien sie wohl fertig. Sie sähen gar nicht ein, wieso sie nun schon wochenlang zahlende Gäste hier wären, daß sie da nicht einmal das Recht haben sollten, ihre eigenen Versuche zu machen.“

Schwengel wurde leichenblaß, winkte den beiden und polterte die CTreppe hinauf.

Richtig, Faxon war, die Hände zwischen einer Batterie kleiner Flaschen und Mörser hin und her bewegend, fleißig am Werk. Blötherlein las ihm aus dem Folianten lateinische Namen vor.

„Was fällt Ihnen eigentlich ein!“ schrie Schwengel,„wie kommen Sie mir vor, was habe ich von Ihnen zu halten?“

Faxon geruhte kaum, den Kopf ein bißchen zu ihm hinzudrehen. Er zog ein kritisches Gesicht, wulstete die Lippen und erwiderte mit eisiger Ruhe:

„J made some inventions.“

„Was?“ schrie Schwengel abermals.

Jetzt kehrte sich der Amerikaner nicht ohne Würde um und versetzte mit professorenhaftem Anstand:

„Lieber Herr. Ich kann Ihre Oberflächlichkeit nicht länger mit ansehen. Sie sind von Ihrem guten Geiste [219] verlassen. Da dürfen Sie sich nicht beklagen. Seien Sie froh.“

Schwengel wußte nicht, war er verrückt oder der andere. Er brachte kein Wort hervor und starrte mit stieren Augen auf die ausgestellten Fläschchen und Mörser:

„Was ist das?“

„Blausäure.“

„Und dasd?“

„Strychnin.

„Und dasd“

„Arsenik.“

Schwengel jappte nach Luft:

„Aber das ist ja eine unglaubliche, bodenlose Frechheit. Eine Vergewaltigung, eine Tempelschändung!Hier herrscht doch strengste Klausur für alle Gifte.Sind Sie denn von Sinnend“

Jetzt trat Blötherlein auf ihn zu mit beschwichtigend erhobener Hand und einem süßlichen Lächeln:

„Verzeihen Sie dem jungen Brausekopfseinen Ubermut. Ein bißchen toll hat er's wohl getrieben. Aber es handelt sich um Ihre und unsere Cxistenz. Sie leben,offen gestanden, allzu sorglos in den Tag hinein. Uns aber war es um die große Sache zu tun, bei der Sie doch einst unser Führer waren. Es schien Ihnen selbst nicht mehr allzuviel daran zu liegen. Da haben wir uns heimlich verschworen. Ja, ja eine förmliche kleine Palastrevolte. Sie müssen es ernster nehmen mit Ihrem Lebenswerk, hochverehrter, lieber Herr Schwengel. Sonst kommen Sie noch drum, Sie wissen nicht wie. UÜUbrigens, daß Sie nicht etwa meinen, es 220 []sei eine Taktlosigkeit von Unberufenen wir befinden uns im Einverständnis mit ihrer geehrten Frau und deren trefflicher Freundin, Jungfer Lisette.“

Schwengel stieß einen dumpfen, gurgelnden Schrei aus, als würge ihm eine unsichtbare Faust die Kehle.Sein Blick schweifte wie gebrochen ins Leere, und er trat schen einen Schritt rückwärts.

Blötherlein dentete mit der freien Hand auf den Folioband unter seinem andern Arme und fuhr fort:„Sie hatten doch Ihre helle Freude an dem alten Paracelsus! Manches sei Ihnen geradezu aus dem Herzen geschrieben, sagten Sie. Warum haben Sie aber es sich dann nicht hinter die Ohren geschriebend“

„Ja, aber was soll das denn heißen!“ ächzte Schwengel in tausend Angsten. „Ich bin ja verraten und verkauft.“

Jetzt regte sich Faxon wieder und höhnte mit unausstehlicher Gelassenheit:

„Heuchelei bei Ihnen, Meuchelei bei uns. Sie müssen wieder Farbe bekennen.“

Dann Blötherlein wieder, pedantisch und gemessen,wie wenn er ein Gutachten vortrüge:

„Das Heil kommt von der okkulten Wissenschaft,herr Schwengel, und Prügel verdienen Sie, Prügel mit dem Haselstock, daß Sie in Ihrer Frau ein so gottbegnadetes Medium besitzen und nicht einen Finger rühren, es für Ihre Mitmenschen nutzbar zu machen.Mit den Sälbchen und Säftchen ist es nicht getan. Gedankenlesen, Wahrsagen, Träumedeuten, Geisterbeschwören! Wie wollen Sie denn ein Naturarzt sein,221 []wenn Sie immer nur an der Oberfläche kleben und noch immer nicht sich entschließen können, die Natur in ihren Tiefen und Urgründen auszuschöpfen.“

Statt nun endlich aufzufahren und den zudringlichen Ratgebern Bescheid zu sagen, kroch Schwengel zu Kreuze. Molluskenhaft krümmte er sich in sich selbst zusammen und rief mit weinerlicher Stimme:

„Was mach' ich nund Was mach' ich nund“

Faxon war unterdessen an die offengebliebene Türe getreten und mit der Miene, sie unberufenen Zuhörern vor der Nase zuschlagen zu wollen, warf er einen unverschämten Blick auf den Flur, wo Melchior und Krimhild stehen geblieben waren.

Sie hatten kein Auge von der Szene verwandt.

„Schamlos!“ knirschte Zwinger und trat endlich ein.

„So, nun machen Sie, daß Sie hinauskommen“,sagte er, „auf der Stelle, ich wünsche zu arbeiten.“

„Muß ich auch hinaus?“ winselte Schwengel.

„Ich denke, Sie zu allererst. Schämen Sie sich, sich so ins Bockshorn jagen zu lassen.“

Faxon wollte den Mutigen spielen: „Sie sollten sich schämen. Sie sind der Sünder. Sie haben den Frieden hier gestört . Sie sind ein Wolf im Schafspelz überhaupt.“

Zwinger würdigte ihn keiner Antwort, sondern stellte sich am Fenster hinter Blötherlein auf und trieb nun, ohne noch ein Wort zu verlieren, die drei hinaus,wobei Blötherlein sich willenlos schieben ließ, Schwen222 []gel dazwischen stolperte und auf diese Weise auch Faxon ins Gedränge kam und sich nicht weiter zur Wehre setzen konnte.

Krimhild schlüpfte zu ihm hinein, ehe er den Schlüssel innen umdrehte, und fing bitterlich an zu weinen.Nun ist es aus“, schluchzte sie.

„Aber zwischen uns doch nicht“, sagte er und legte seinen Arm um ihre Schulter.

Doch wollte sie sich nicht trösten lassen.

„Ich weiß es genau, so wird eskommen. Mein Vater ist kein Mann.“

„Ja“, erklärte Melchior entschlossen, „mit ihm bin ich fertig. Er kommt doch von dieser Sippschaft nicht los.“

„Gehst dud?“ bebte Krimhild.

„Bewahre, hier von der Sache weg? Wohin gehn?“

„Ich dachte, es zöge dich wieder von dannen, hinunter, mir ist es immer, du gehörest eigentlich dort in jenen Herrengarten, unter jene alten schönen Bäume,wo das Marmorbild am Felsen hängt.“

Da wurde er eifersüchtig.

„Marmorbild? Das machen wir ja jetzt viel schöner.

Und er riß sie heftig an sich und flüsterte ihr leidenschaftlich zu:

„Davon kann mich kein noch so platter und widerwärtiger Uram abbringen. Wir halten es durch. Wir bleiben oben. Wir schaffen's. Wir mögen's.“

„O“, rief sie nun aus ihren Cränen heraus, „so ist es schön. So wird mir gut.“

Von seinen Armen halb getragen, ihren Kopf ihm 223 []an die Brust legend, hörte sie den stillen und ruhigen Schlägen seines Herzens zu.

„Ja“, hauchte sie, „hier ist der Friede.“

Er ließ sie gewähren, dann sah er nach den Faxonschen Eindringlingen auf dem Rezeptiertisch.

Sie hatten noch keinen Unfug angerichtet. Das den Kork sichernde Siegel war noch nicht erbrochen, und von den Etikette grinsten warnend Totenköpfe. „CLaß einmal sehen!“ stieg es in ihm auf. Auf den Zetteln stand: Zwingersche Apotheke (Ratsapotheke). Herrn Doktor Faxon. Ad usum proprium.

„Und von der Hand meines Vaters. Ich erkenne sie.Ist es zu glaubend?“

Urimhild wollte sich nicht dabei lange aufhalten.

„Er ist ein Scharlatan. Was geht das uns an. Ich bin glückselig, daß du mich lieb hast. Und daß du nun beides bist, ein Arzt und ein Künstler, und ich dir bei beidem helfen kann, beim Kräuterkochen und bei der Schönheit.“

Sie schmiegte sich an ihn; er küßte sie.

„Aber nur einen und nur zwischendurch. Wir dürfen keine Zeit verlieren“, raunte er, und sie unterstützten sich gegenseitig, das Laboratorium wieder instand zu stellen. Alle Gefäße wurden peinlich ausgesotten, zwei Gläser als verdächtig zerbrochen und der ganze Tisch gewischt und gefegt.

Krimhild wollte bei ihrem Vater die unverzügliche Abreise der beiden Spießgesellen Blötherlein und Faxon durchsetzen. Zwinger bat sie, jeden Aufwand an Mühe und Beredsamkeit zu unterlassen.224 []„Wozud“ sagte er, „der Pajaß ist es nicht und der Bücherwurm ist es auch nicht. Die hab' ich immer als Cuft behandelt. Ihre Abreise könnte sie mir nicht ferner rücken, als sie mir immer gewesen sind. Hingegen mit deinem Vater bin ich nun im klaren. Sein Verhalten in den paar Minuten hat mir ein erschöpfendes, abschließendes Urteil über ihn ermöglicht. Er ist der schlimmste Feind seines eigenen Werkes. Er hätte es mit seinen Fingern geschändet und beschmutzt, wenn ich nun nicht die Hand darüber hielte.“

Krimhild nickte langsam ihre Zustimmung.

Aber da es doch mein Vater istd“ fragte sie zögernd.

„Das darf nichts daran ändern, liebes Kind. Oder wäre es wirklich nach deinem Sinne, daß ich von der Liebe zu dir mir mein Urteil bestechen ließeꝰ

Sie verneinte kopfschüttelnd, sah ihn aber traurig und verlegen an. Er kümmerte sich nicht um ihre Befangenheit, machte sich keine Gedanken, ob der kleine,verwundende Riß nicht in ihr nachund nachzum schmerzlichen am Ende unerträglichen Zwiespalt aufklaffen mußte; er sah nur, wie nah er selbst am Abhange vorbeigegangen, wie wenig gefehlt hätte, daß er aus Unachtsamkeit mit einem Fehltritt sich gegen Stand und Namen vergangen hätte. Er tat sich sogar noch etwas auf seine Nachsicht zugute:

Du bist natürlich vollkommen frei im Umgang mit deinen Leuten wie mit mir. Ich bin ja so felsenfest überzeugt, daß es mit uns bald einmal zum guten Ende kommt und nehme auch dergleichen Verwickelungen gern mit in Kauf deinetwegen.“15 Bernoulli, Zum Gesundgarten [225] Sie verzog unmerklich den Mund in einem schmerzhaften Zucken wie über einen unsichtbaren Nadelstich.

„Bei dir heißt es immer gleich felsenfest und auf ewig“, sagte sie vorwurfsvoll.

Er begriff ihren Zweifel nicht und versetzte treuherzig:

„Aber Kind, was hast du nurd Soll ich dich denn auslachen?“

Da kam sie ihm zuvor und lachte selber aus vollem Hherzen. Bei dieser Aereinstimmung blieb es zwischen ihnen beiden die ganze nächste Zeit.

In einem Schreiben an Schwengel, das Krimhild überreichte, stellte Zwinger die veränderte Sachlage unmißverständlich fest. Er beanspruchte für sich vier Zimmer, wovon das eine eine kleine Küchenvorrichtung enthielt, und erklärte sich selbständig einzurichten.Er schrieb auch gleich an seine Mutter, so und so stehe die Sache, sie möchte ihm doch sofort einen dienstbaren Geist senden; auch sein Bruder Rudolf sei ihm stündlich willkommen. Er schrieb ferner an ein Geschäft, das bildenden Künstlern ihr Handwerkszeug besorgte, um einige Säcke feingeschlemmten, sandfreien Tones und die notwendigsten technischen Werkzeuge zur Herstellung des Modellentwurfes.

Urimhild weihte er in seine Pläne ein:

„Von nun an wohne ich da im kleinen Zimmer nebenan; die Turmstube wird meine Werkstätte. Da geht eine furchtbare Wirtschaft an. wenn erst geknetet und gebildnert wird. Ein ideales Atelier, kann ich dir sagen. So schönes Licht vom breiten Erkerfenster her 226 []reines Nordlicht. Es wird herrlich, Kind, herrlich wird's.“

„Ja, herrlich“, gab Krimhild zurück, tonlos, und staunte an ihm vorbei.

Melchior fuhr nichtsahnend fort, ihr klar zu machen,wie er sich alles weitere denke. Im anstoßenden Zimmer Rudolf, dann das Eckzimmer mit der kleinen Ersatzküche zum Wohnraum.

„Und ich?“ fragte sie schließlich.

Er merkte nichts.

„Ach, das ist dann Sache deines Caktes. Da mach'ich dir nicht die geringsten Vorschriften. Meine Frau bist du ja zurzeit noch nicht. Noch steckst du unter den Fittichen deiner Eltern. Sehr angenehm wird ja ein solches Doppelleben für dich nicht sein. Aber da läßt sich nun nichts ändern. Es will eben durchgemacht werden.“

Ihre Augen flehten ihn an: Nimm mich doch mit;laß mich nicht dahinten. Ich komme zu kurz dabei.“

Er aber besaß keinen Fühler für die bewegliche Stummheit ihrer aufsteigenden Angst.

5*8

[227]

Siebentes Kapitel

hatte den Anschein, der „Gesundgarten“ sollte nach den vielen Anfeindungen erst recht in die Mode kommen.

Alle irgendwie verfügbaren Räume waren besetzt und auf Wochen hinaus weiter vergeben. Schwengel sah seine kühnsten Träume überholt.

Mehr als dreißig Kurbeflissene bevölkerten das Haus über die Ferienzeit im Juli. Manche von ihnen waren noch in letzter Stunde angelockt worden durch den großartigen Prospekt der neuen Teilhaber Faxon und Blötherlein: Briefbogen und Umschläge mit pomphaften Kopfstücken. Obenan eine jammervolle lithographische Ansicht des Hauses von der Südfront, was nicht hinderte, daß dahinter, dementsprechend im Norden, eine imposante Alpenkette den Horizont abschloß.

Den meisten Patienten war die Wirksamkeit Zwingers der entscheidende Grund gewesen, es mit der Anstalt zu versuchen. Deshalb konnte es selbst dem Heißsporn Faxon nicht einfallen, das Zerwürfnis jetzt schon auf die Spitze zu treiben. Der Zwiespalt wurde vor den Gästen vertuscht und ihnen durchaus freigestellt,Zwingers Sprechstunde zu besuchen. Auf diese Weise 228 []sah sich dieser kaum irgendwie in seiner Arbeit verkürzt. Dabei kam er sogar in den Fällen, wo seine Vorschriften nicht befolgt oder von anderen durchkreuzt wurden, auf seine Rechnung. Denn da er an einen echten Kern dieser Vulgärmedizin nach innen glaubte und ihn sich zu erwerben entschlossen war, so wollte er diese nie wiederkehrende Gelegenheit sich nicht entgehen lassen und all den Humbug, der um die Sache herum getrieben wurde, aus dem Fundament kennen lernen. Kam nun einer oder der andere und meldete,er habe inzwischen seine Behandlung sich von Herrn „Direktor“ Faxon „ergänzen“ lassen und berichtete von irgendwelchen unsinnigen Maßnahmen, übertriebenem Elektrisieren, minutenlang vollstrahligen Wassergüssen, Einnehmen gefährlicher Drogen und dergleichen, so verlor Zwinger keineswegs gleich die Geduld: er machte auf die wahrscheinlich schlimmen Folgen aufmerksam und warnte ernsthaft, ließ aber den Leuten ihre Freiheit, selbst die, sich bis auf weiteres nach Belieben seinen Rat noch mit einzuholen.

Die ärgsten ÜUbergriffe trug er sogar sorgfältig in sein Buch ein. „Es gilt das Ganze“, dachte er. „Was ist mit der Kenntnis der wirklichen Krankheit getan,ohne die gründliche Pathologie der menschlichen Dummheit.“

Auch außerhalb seiner Sprechstunde spähte er mit offenen Augen und wachsamen Ohren.

Vor den Lufthütten, die den einen Waldrand entlang der Morgensonne errichtet waren, hatte nun jüngst der neue Eifer Faxons ein großes Viereck ab229 []stecken und einigermaßen ebnen lassen; es wurde rings mit Brettern umzäunt und zum Uberfluß noch in riesigen Plakatlettern mit der Aufschrift bemalt:„Sonnenbad“.

Von dem Erker seiner Turmstube herab vermochte Zwinger, selbst unbemerkt, hinter den Jalousien hervor das Treiben zu beobachten, das sich dort entfaltete. Selbst hierin hatte er auf strenge Teilung gedrungen; er betrat den Platz nicht, doch durften seine Patienten in keiner Weise behindert werden, in dieser ausgesetztesten Fangstelle des Sonnenlichtes sich seinen Weisungen entsprechend zu verhalten.

So schaute er denn eines Tages wieder von ungefähr der „Turnstunde“ zu; auch die Reden, die dabei geführt wurden, drangen aus dem tiefer gelegenen Luftübungsplatz vernehmlich zu ihm herauf.

Etwa ein Dutzend Patienten männlichen Geschlechtes, angetan mit dem patentierten Schwengelschen Luftbadekostüm, weiter, kurzer Uniehose und Hemd ohne Armel, mit weit offener Brust, versammelten sich auf einige schrille Signalpfiffe hin, die durch den Garten tönten, in der Arena: ziemlich winds chiefe Gestalten, verbrauchte Graubärte, denen die Zeit den Rücken gekrümmt hatte, aufgeschwemmte, fettgepolsterte Bierphilister und der und jener brand magere jugendliche Lungenpfeifer.

Zu diesen Gesundheitskameraden sagte Blötherlein:„Sehn Sie, meine Herren, ich wollte ursprünglich Gymnasiallehrer werden. Aber warum bin ich über 230 []den Kandidaten nicht hinausgediehend Bedenken Sie doch: Gymnos! Gymnastes! Gymnasion! Der Tummelplatz des nackten Uörpers. Also vorwärts, meine Herren, mens sana in corpore sanol Was zaudern Sie nochꝰ

Er entblödete sich nicht, gleichzeitig mit diesen Worten ein pfeffer und salzfarbenes Wollhemd sich über den Kopf zu ziehen und sein schlotterndes Beinkleid sich von den Schenkeln zu streifen. Faxon war ihm bereits zuvorgekommen.

Zwinger traute aus der Ferne seinen Augen nicht,als er abwechselnd diese dicken Körperklumpen und diese dürren Unochengestelle sich vollends aus ihren wenigen Hüllen herausschälen sah. Das edle Sonnenlicht glänzte geduldig auf den feisten Bäuchen,den kahlen Glatzen und den hautüberzogenen Gerippen.

„O Hermes! O Herakles!“ murmelte er, „puris na-turalibus! Welch ein Verbrechen an der heiligen Sonne! Hat sie wohl jemals schon auf einem so kleinen Raum soviel Häßlichkeit beisammen gesehen?“

Unwillkürlich erhob er den Blick dem Himmel zu und mit den gewaltsam zusammengepreßten Augen schaute er in die Sonne. Da, als wäre sein Stoßgebet von gnädigen Griechengöttern unverzüglich erhört worden, wälzte sich eine massiv geballte, schneeweiße Wolke vor das Licht, und alsbald lag auch unten der Bretterverschlag mit den entkleideten Sommerfrischlern im kühlen Schatten. Frohlockend überzeugte er sich von der Wirkung dieses lustigen Wunders: mit 231 []lebhaften Gebärden wurde da unten Protest erhoben,und einige suchten fröstelnd ihre Kleider auf.

Aber Blötherlein hielt sie davon ab und Faxon stieß die ungefüge knarrende Plankentür der Umfriedung auf und deutete in das Feld hinaus, das bereits wieder außerhalb des Wolkenschattens in voller Sonne lag.

„Vorwärts“, schrie er, „kein falsches Schamgefühl!“und stürmte, wie ihn Gott geschaffen hatte, splitternackt über das Stoppelfeld in den beschienenen Bereich. Einige abgehärtete Barfüßer taten desgleichen:Zwinger sah mehrere das noch einigermaßen bergende Gehege verlassen und einen höchst polizeiwidrigen Spaziergang über das Feld hinunter antreten.

Nun erschien aber von unten her ein Wanderer, der,sobald er dieser merkwürdigen Freiheiten ansichtig geworden war, die emporführende Fahrstraße verließ und querfeldein auf Faxon zuschritt, ihn aber auch,wie seinen energischen Gebärden zu entnehmen war,allen Ernstes veranlaßte, von seiner sonderbaren Exkursion gefälligst abzustehen. Der Fremde, den Zwinger nicht erkannte, dessen elastischer kraftdurchspielter Gang ihm aber doch bekannt vorkam, deutete überdies auf das Abziehen der Wolke und die zum Teil schon wieder dem Sonnenbrande zugängliche Luftbadhürde.Faron und die übrigen paar Ausflügler fügten sich ihm und kehrten gehorsam zu den übrigen zurück.

Der Fremde warf ein kleines Bündel in die Ecke;von weitem schien es Zwinger, als ob er einen sehr zerrissenen Rock oder dann geradezu einen Frack auszöge. [232] Er sah, wie der Fremde gleich das Kommando übernahm, mit guter Richtung und großen Abständen die Anwesenden in Reih' und Glied aufstellte und dann mit seinem schlanken, ebenmäßigen und sehr elastischen KRörper eine Bewegung um die andere vormachte.Mit sichtlich sich entfaltendem Eifer wurden seine Befehle befolgt und seine Vorübungen nachgeahmt; es kam Takt und Bestimmtheit auch in die traurigsten Gestalten; zusehends besserte sich der Eindruck dieser Turnübung, und der Anblick wäre wohl bald imstande gewesen, Zwinger ein bißchen auszusöhnen, wenn nicht die Abneigung gegen die schwindelhaften Machenschaften, die dem allem ja doch zugrunde lagen,die Oberhand behalten hätte. Angeekelt, in tiefer Verstimmung, trat er vom Eckfenster zurück und setzte sich zur Arbeit an den Schreibtisch.

Jener plötzlich hinzugetretene Wandersmann war Albert Hartmann, der nun seine Strafe verbüßt hatte,und schnurstracks aus dem „Cohnhof“ wieder nach dem „Gesundgarten“ gegangen kam. Als die Turnstunde vorüber war und er wirklich in seinem abgetragenen Frack, dem einzigen Kleidungsstück, das er zurzeit sein eigen nannte, das Haus betrat, zog ihn gleich seine Tante beiseite und beschwor ihn, doch ja kein Aufsehen zu erregen.

Albert bat sich nur etwas zu essen aus.

„Ich muß mit Urimhild sprechen“, verlangte er und verharrte dabei. Krimhild fand das natürlich und kam.

In der Plättestube des KRellergeschosses wurden die [233] Taglöcher zugezogen. Ein Talglicht erleuchtete den feuchten, gefängnisähnlichen Raum.

Unwillkürlich stieg bei beiden schon beim Gruße gewissermaßen etwas Unterirdisches auf, etwa so, als sprächen in der Unterwelt zwei Totenschatten miteinander ohne Schamgefühl, in der selbstverständlichen Voraussetzung, daß die einzig erwähnenswerten Eigenschaften des Menschenlebens in seinen animalischen Trieben beruhe.

„Gelt, ich bin jetzt halt ein Schelm“, sagte Albert und machte ein paar lauernde Augen an sie heran.

Sein Blick bohrte sie durch und durch, das spürte sie.Niemals zuvor hatte sie empfunden was jetzt. Es war ihr, als stände sie entkleidet da und werde auf ihr Eingeweide geprüft. O was hätte sie darum getan, wenn sie einfach hätte rufen können: „Ja, schau nur; es ist so, wie du fürchtest. Ich habe mich ihm preisgegeben. Ich habe dein Andenken in mir ausgetilgt und alle deine Hoffnungen mit Füßen getreten, in den KNot hinein.“

Statt dessen sah sie finster und unzufrieden mit zusammengezogenen schwarzen Brauen zu ihm hin und von ihren Lippen kamen ein paar Worte, unerhört im Munde eines unbescholtenen Mädchens, die höchstens möglich waren, einmal, keinmal, in einer bösen Stunde, zur Unzeit, in einem Verließ, beim Qualm einer stinkenden Unschlittkerze.

„Ja schau du nur!“ sagte sie, „ich bin noch sauber übers Nierenstück.“Er quittierte mit einem teuflischen Lächeln: „Freut [234] mich ungemein! Desto besser! Du nimmst wenigstens kein Blatt vor den Mund!“

Seine Aberlegenheit wurde ihr unerträglich. Sie knirschte mit den Zähnen und schwieg.

„Ei! Ei! mein Mädchen!“ fuhr er fort, „glaube mir,so ist es in der Ordnung. Alle die anderen, die sind Stellvertreter, nur Lückenbüßer. Ich bin es. Wer denn sonst mir gehörst du. Für mich bist du da.“

„O nie, nie!“ rief sie entsetzt, „lieber jeder Tod!lieber jede Schande! Ich hasse dich, daß du's weißt,wie man nur hassen kann. Es gibt nichts Böses, das ich dir nicht wünsche.“

Es klopfte hinter ihrem Rücken leise an die Türe.Sie schrak zusammen und sah nach. Die Tante stand draußen mit einem Teller dicker Erbsensuppe für Albert und einem Viertel Laib Brot. Sie nahm es ihr ab und setzte es ihm hin, auf den Plättetisch.

Er mußte furchtbar ausgehungert sein; denn er machte sich gleich dahinter, brockte sich fast alles Brot zu einem Berg in den Teller und schlang es in sich hinein.Urimhild rührte sich nicht, sah ihm aber zu, und ihr Gefühl teilte sich. Wohl saß da ihr bitterster Feind;aber er hatte Hunger, und sie hätte es nicht übers Herz gebracht, zu bereuen, daß sie ihm zu essen gegeben habe.

Albert wischte sich mit einem unsauberen Taschentuch den Mund, als er fertig war, faßte sie mit einem festen, brennenden Blick ins Auge und machte sich in derber, eckiger Kameradenart an sie heran. Er sprach ruhig und fast gar väterlich: [235] „Es ist Verblendung von dir, dich so über mich zu erheben. Mein Schicksal ist doch auch das deine, du gehörst zu uns, und nur wenn du das einsiehst und dich gutwillig danach richtest, wirst du zu Glück und Ruhe kommen. Mag sein, daß du überhaupt besser dran bist als wir und ein Recht hast, auf uns herunter zu sehen. Einstweilen wenigstens noch. Aber wie lange und du kommst zu Fall, und wer soll dich dann aufheben, wenn nicht wird“

Krimhild sah ihn forschend an; sie wußte nicht, was er von ihr wollte.

„Was soll ich?“ fragte sie, ‚was prophezeist du mird“

Albert blieb unerbittlich: „Wenn du nicht auf deiner Hut bist und Vorsorge triffst und dich zu uns hältst, so prophezeie ich dir die “

Er hielt ein, lächelte wieder verschmitzt, und ließ die Fingerspitzen seiner erhobenen Hand Revue passieren.

Nun, dann prophezeie ich dir eben die blaue Stunde, wenn du weißt, was das ist.“

Sie stutzte.

„Die blaue Stunde? Nein, ich weiß nicht, was das ist.“ ,Dann kann ich es dir ja sagen“, fuhr er gelassen fort. „Die blaue Stunde, die tritt eben ein, wenn einmal das geschieht, worauf du dir soviel zugute tust,daß es bis jetzt noch nicht geschehen ist. Ein erstes Mal!Dann das zweite Mal mit dem Zweiten. Das dritte Mal mit dem Dritten! Liebst alle! Liebst Keinen!“

Sobald erst'nur diese Worte an ihr Ohr und in ihren Sinn gelangt waren! Blaß wie ein Leichentuch! Der [236] Löffel in dem leeren Teller geriet ins Klirren. Das Beben ihres Körpers teilte sich dem Boden und den Gegenständen im Zimmer mit, trotzdem es halb in der Erde steckte.

Mit einem unterdrückten, tierischen Gurgelschrei stürzte sie sich auf Albert, und so sehr war sie imWurfe,daß sie den großen und starken Menschen vom Stuhle stieß. In unaussprechlicherWut warf sie, die Schmächtige, Zierliche, sich abermals auf ihn, packte ihn am Kopf und preßte ihm stöhnend die gingernägel in beide Wangen. Er übte keine Gegenwehr; langsom entwand er sich ihr.

Zu Tod erschrocken und. von ihrem Fluche gepeitscht, griff er nach seinem Hute und bot alle Vorsicht auf, nicht einmal von seiner Tante bemerkt zu werden.Als diese kam und nachsah, lag Krimhild mit offenen Augen, aber sonst wie leblos am Boden ausgestreckt.

Niemals hat Melchior Zwinger von dieser Unterredung oder auch nur von dem Aufenthalte des Kellners etwas erfahren. Am selben Nachmittage verschwand dieser wieder unbemerkt, und Zwinger selbst unterließ es, sich nach der Person des Wanderers bei Krimhild zu erkundigen, zumal diese gleich auffallend angelegentlich ihm von Blötherlein zu erzählen anfing, wie unausstehlich gerade er ihr geworden sei,fast noch mehr als Faxon, seit sie hinter seine geheime Liebhaberei gekommen sei. [237] Im Zimmer des Kandidaten blieb eine Kiste immerwährend verschlossen, bis Krimhild vor kurzem beim Aufräumen den Deckel des Koffers nur lose aufgelegt fand und ihn öffnete. In dem Kasten lagen etwa ein Dutzend angekleidete Puppen. Wenn nun Urimhild auch keineswegs gleich klar wurde, was Blötherlein mit diesem märchenhaften Zeitvertreib anfange, vermutete sie einen geheimnisvollen Mummenschanz,und um der verstohlenen Narretei auf die Spur zu kommen, war sie abends, als Blötherlein in seinem Zimmer Licht brennen hatte, ihm vors Fenster geschlichen und konnte in der Tat auf der Gardine ein merkwürdiges Schattenspiel beobachten: seine Hände schwangen die Puppen im Bogen durch die Luft, als wären es Bälle; dann drückte er sie sich ans Herz und küßte sie, als wären es geliebte und lebendige Wesen,und endlich drehte er sich, beide Hände von sich streckend, im wirbelnden Tanze wie toll um sich selbst und schlug dabei die Puppen über seinem Kopfe zusammen, als wären es Camburine. Ohne um den tieferen und eigentlichen Grund zu wissen, spürte doch Krimhild aus diesem Possenwesen unwillkürlich die Unnatur heraus, und ihr gesundes Wesen empörte sich gegen dieses Zerrbild verkümmerter Männlichkeit.

Melchior geriet außer sich, als ihm von Krimhilds geliebtem Munde diese Dinge zu Ohren kamen.

„Um Gottes willen!“ rief er, „was erzählst du mir da. Geh, nimm ein Bad. Reinige dich. Es ist mir zu entsetzlich, dich mit solchen Leuten in Berührung zu wissen.“ [238] „Malpropre! Malpropre!“ wiederholte er sich immer wieder, „Gott wie malpropre!“

Es wäre ihm unerträglich gewesen, weiter geduldig im Verhältnissen zu leben, denen doch er und noch weniger Krimhild sich von heute auf morgen einfach entziehen konnten, hätte er nicht in solchen Stunden sich schadlos gehalten nur schon an Krimhilds Anblick, am Anblick ihrer schlanken, herrlichen Gestalt.

Da überfiel ihn aufs neue die Sehnsucht des Künstlers nach dem Akt, nach dem gewissenhaften Studium des schönen Körpers.

Rudolf Zwingers Ankunft verstärkte noch Melchiors Unempfindlichkeit gegen die zwischen ihm und Krimhild insgeheim anhebende Entfremdung. Mit Freuden vernahm Melchior von seinem Bruder, wieviel günstiger er bereits von den Eltern beurieilt werde; nicht nur nähmen sie seinen Abweg vom üblichen Entwicklungsgang nicht mehr so schwer wie anfangs; sie sähen sogar in dem an sich doch äußersten Wagnis seiner Verlobung eine Wendung zum Guten:

„Es liegt nun nur an dir, die Stunde nicht zu verpassen, und ich rate dir, so bald wie möglich dich mit den Eltern persönlich auseinander zu setzen. Du wirst es kaum bereuen.“

Dann stieg ihm wieder der Schalk in den Nacken:

„Eigentlich, weißt du, Brüderlein, hast du's mir zu verdanken, daß du so gut wegkommst. Die Sorte Emotion kannten sie bereits von mir her und dachten sich 239 []was Teufels du noch alles anstellen werdest. Da du nun aber nur quacksalbertest und sogar schon wieder auf dem Wege bist, vernünftig zu werden, da entrang sich ein Seufzer der Erleichterung ihrer Brust. Es fehlt nicht mehr viel, bis sie schmunzeln und sich vergnügt die Bände reiben.“

Frau Zwinger schickte auf Melchiors Anfrage nach einem für ihn geeigneten Dienstboten jenes junge Mädchen, das einer Kniegeschwulst wegen in der Zutrefferschen Klinik gelegen und damals durch die Weigerung Melchiors an einer Operation vorbeigekommen war. Frida hieß sie.

Frida also kam auf dem Bock des Wagens an, der Rudolfs Koffer, die Säcke mit dem CTonmehl und sonst Denn auf Melchiors Meldung, er habe sich mit dem alten Schwengel überworfen und werde nun seine eigene Haushaltung führen, packte die alte Dame allerlei ihr entbehrliche Habseligkeiten zusammen, namentlich Küchengeräte und nützliche Kleinigkeiten; außerdem hatte Melchior gebeten, ihm doch einige seiner Unterhaltungsbücher mitzuschicken.

Hor den Augen des Dienstmädchens ging diese umständliche Packerei vor sich, und nun mußte sie beim Auspacken genau wiederholen, was die Frau Mama zu jedem einzelnen Stück für einen guten Rat mitgegeben hatte. Melchior hatte an dem treuherzigen

Bauernmädchen mit seinen roten Backen und seinem festen Körperbau immer seine Freude gehabt. Sohald sie nun in ihrer schwäbelnden Mundart anhob. [240] mit großem Ernste Auftrag um Auftrag auszurichten,fühlte sich Melchior angeheimelt. Zusehends ergriff ihn Heimweh, wohlig und hoffnungsvoll wie die gute Botschaft baldiger Rückkehr an einen liebsten Ort.Frida redete sich in einen immer größeren Eifer hinein.Endlich nahm sie vom Boden einer bereits ausgeräumten Kiste noch ein letztes Buch auf und überreichte es ihm mit besonderer Wichtigkeit. Er erkannte schon am Einband seinen Homer in der deutschen Übersetzung.

„Was soll ich denn damitd“ fragte er, und der Bruder Rudolf, der schon die ganze Zeit witzelnd und spöttelnd, die „nikotinfreie“ Zigarette im Munde und die Hände in den Hosentaschen der Auskramerei zugesehen hatte, leistete sich nun den fürchterlichsten Kalauer, den er seit unvordenklicher Zeit je gewagt hatte: „Was du damit sollst? Dich endlich von deiner einseitigen Abneigung gegen Gifte freimachen und Voß vor‘ nehmen.“

„Au“, schrie Melchior und schlenkerte konvulsivisch seine Fußspitze., Das ist ja furchtbar. Nun mach daß du weiter kommst.“ Rudolf kehrte im Nu die weltschmerzliche Anwandlung heraus, die man in ihm gewohnt war:

„Wenn du wüßtest, was für eine Erleichterung mir solch ein harmloser Scherz bedeutet schon rein körperlich!“ Er vollendete den Satz nicht, sondern verließ das Zimmer gleich, scheinbar gekränkt und beleidigt, wie man ja bei seinem aufgeregten und wetterwendischen Wesen überhaupt nie recht wußte, woran man mit ihm war.

Da sah Melchior das Schwabenmädchen verdutzt i6 Bernoulli, Zum Gesundgarten [241] und mit hochrotem Gesicht dastehen, noch immer das Buch in der Hand. Den Witz, über den die beiden eben lachten, hielt sie, weil sie ihn nicht verstanden hatte, auf sich gemünzt und schnupfte bereits weinerlich an den nahe bevorstehenden Tränen herum. Melchior nahm ihr den Band ab und fragte nochmals freundlich nach ihrem Begehr.

Da beruhigte sich das Uind einigermaßen und sagte mit hastigem Atem: „Ha, sehe Se, Herr Melchior.J hab Ehne des Büchle mitgebracht, weil so arg scheene Geschichte drin stehe.“ Dann stockte sie.

Melchior merkte, daß irgend eine rührende kleine Beichte sich Bahn breche, und holte nun mit Fragen und Ermunterungen aus ihr heraus, was sie auf dem Herzen hatte. Als er sich schließlich einigermaßen ein Bild machen konnte, war es das folgende: seit jenem Vorfall in der Klinik war ihr einfaches Gemüt ihm in schwärmerischer Anhänglichkeit ergeben, da sie ihm ihr Leben danken zu müssen glaubte, und als er nun gar vom väterlichen Hause verschwunden blieb und sie aus dem Kummer der Eltern Schlimmes folgerte,trieb sie einen stillen Kult mit den Gegenständen, die sie früher am meisten in seinen Händen gesehen hatte.Zu diesen gehörte auch der unscheinbare, abgegriffene Homer, der schon gänzlich aus den Fugen ging und völlig lose zwischen den beiden Pappdeckeln lag. Er hatte ihn gewöhnlich auf dem Nachttischchen neben dem Bette liegen, als wäre es seine Bibel.

So las sie sich tatsächlich heimisch, und trotz des künstlichen Versmaßes und der hohen Ausdrucksweise ver242 []mochte sie ihm jetzt in naiver und volkstümlicher Wiedergabe die eine und andere Begebenheitder Odyssee so zu erzählen, daß er sie wieder erkannte. Das freute und rührte ihn; er nahm es als eine Probe der ewigen, unergründlich einfachen Wahrheit der homerischen Welt.Frida wurde über diesem eigentümlichen Geständnis ganz zutraulich, und als er sie fragte, welche ihr nun die liebste von diesen Geschichten geworden sei,schilderte sie ihm ohne Besinnen Odysseus' Abschied von der Nymphe Kalypso, so daß sich mit einem Male jene Szene lebendig vor seinem Auge aufbaute:der herrliche Dulder, seiner am Eingang der Grotte sehnsüchtig nach ihm rufenden Geliebten den Rücken drehend, den Blick vom ragenden Fels unverwandt über die Meerflut hin ausbreitend, ob er nicht irgendwo fern am Rande den Rauch Ithakas aufkräuseln sähe! Er ließ das Mädchen seine Freude an ihrer guten Seele fühlen, dankte ihr mit herzlichen Worten und hieß sie nun an die Arbeit gehen. Dann setzte er sich mit Homer in die Ecke und las den ganzen Gesang, und als er damit zu Ende war, blätterte er wieder zurück und prägte sich die Verse ein:Hhoch am Gestade des Meeres, da fand sie ihn sitzen, die Augen Niemals trocken von Tränen. Er ließ hinrinnen das süße Dasein, heimwehkrank; denn nimmer gefiel ihm die Nymphe.Freilich zu Nacht wohl schlief er bei ihr in der wölbigen Grotte,Ihrem Willen gehorsam mit Widerwillen, gezwungen;Aber den Cag lang saß er auf ragenden Klippen und Dünen,Gramvoll nagend das Herz, indem er mit Schluchzen und

Seufzen Uber die öde See hinstarrte, Tränen vergießend.6*243 []Das Herz voll von den Versen, rief er Krimhild und ging mit ihr den gemeinsamen Lieblingsweg imWalde.Er erzählte ihr den Zwischenfall mit Frida, und da sie hierin nicht Bescheid wußte, dieses Stück der homerischen Dichtung. Krimhild bezog nun sofort aus dem Mißtrauen ihrer Ahnungen heraus die Schilderung auf ihre eigene Lage und hörte bis zu Ende zu, ohne ein Wort. Dann sagte sie:

„Liebster, willst du nicht eine Kalypso aus mir schaffend So wird mein Bild für dich einen tieferen Sinn bekommen. Laß meinen Körper einen Inhalt gewinnen durch die Trauer und Sehnsucht und Ergebenheit, mit der bei Homer die Nymphe dem Scheidenden nachschaut.“Sie saßen in einer Waldlichtung, und einige übermooste Felsstücke lagen zwischen den Baumstämmen.

Krimhild deutete auf einen ruhebettförmigen Stein:„Der dort zum Beispiel.“

Und sie sprang auf und ging darauf zu und nahm in halb sitzender Lage Platz.

Auf dem roh angedeuteten Kopfstück des Steinbettes legte sie erst die Hände gefaltet auf und blickte darüber hin ins Weite, nicht theatralisch unwahr, sondern in der sich darlebenden Verkörperung der dichterischen Gestalt. Aber noch war sie nicht zu Ende.

Sie löste die Hände, erhob sie langsam, schob ihren Uörper vorwärts, raffte ihn zusammen, gab die mehr gestreckte Lage auf, setzte beide Füße fest an den Boden und erhob sich nun so hoch, daß sie der steinernen Ruhebank gar nicht mehr bedurfte und nur noch kaum mehr 244 []sitzend an jenes Felsstück lehnte, im Aufstehen zögernd oder irgendwie zurückgehalten. Die Hände dagegen griffen, mit aufwärts gewendeter Fläche weit ausholend, alle zehn Finger gespreizt, gen Himmel empor.

„Da!“ rief sie, und verharrte, ohne ein Glied zu rühren, marmorstill, bis sie nicht mehr konnte, die Arme ihr entfielen und der halb stehende, halb kauernde Körper auf den Felsenstuhl zurück knickte.

Melchior verschloß den Anblick unverlierbar in seine Brust. Auf dem Heimwege überhörte er die an ihn gerichteten Reden derselben Krimhild, über die Besessenheit von der hohen Intuition, die doch sie ihm eben vermittelt hatte, und zwischen den Stämmen und Gebüschen, an denen im Gehen sein Auge unstet vorbeihuschte, gaukelte das Luftgebilde einer weiblichen Gestalt, im Begriff aufzuspringen, die Füße zu einem ersten Schritt ausholend und doch noch sitzend:ja, das war Kalypso!

Der Griff war getan. Die Hand, die immer nur tastend ausholte, hatte nun eingehakt. Seine seit Jahren ihn umschwankenden, bei jeder Annäherung ausbiegenden und bei jedem Rückzug wieder auf ihn einstürmenden Schaffensgeister standen mit einem Zauberschlage still, gebannt, gestaltet, festgelegt, kein Gespenst mehr, ein klares Gebilde. Still stand es vor ihm da und wartete.

In der eifersüchtigen Sammlung aller seiner Kräfte,mit jeder Minute geizend, das nicht unbedingt zur Sache Gehörige links liegen lassend, teilte er seinen Tag ein und preßte ihm förmlich den letzten Tropfen 245 []ab, bis wieder ein neuer graute. War er mit den Angelegenheiten seiner Praxis im reinen, dann schlüpfte er in einen alten, ehemals beim Operieren getragenen Leinenkittel und eilte in die Curmstube. Dahin durfte ihm nur Krimhild folgen.

Rudolf sah ihn zwischendurch auf Augenblicke und beklagte sich immer aufs neue, daß dann so gar nichts vernünftiges mehr mit ihm anzufangen sei.

„Den Mörtel hättest du mich aber doch dürfen anmachen lassen, verstehst du. Zum Teigkneten bin ich,glaub ich, gerade noch gut genug.“

„So komm für diesmal noch mit“, versetzte Melchior, der eben einige Silhouetten der nun unerschütterlich vereinbarten Kalypsostellung durchstizziert hatte und sich in Verlegenheit befand, wie er nun der technischen Handwerkskniffe einer ersten plastischen Gestaltung Herr werden sollte.

Da wußte Rudolf wirklich einigen Rat; nicht umsonst waren von ihm schon zwei Büsten durch einen namhaften Bildhauer angefertigt worden, und er hatte damals mit zugegriffen und den Cöpferlehm mengen und backen helfen. So konnte er jetzt dem in diesem Stücke des äußeren Handwerks unsicheren Bruder helfend und unterweisend an die Hand gehen.

„Siehst du“, frohlockte er mit der ihm eigenen harmlosen Selbstgefälligkeit, „ju was so ein Komödiant nicht noch alles gut ist, freilich hinter den Kulissen.Soll ich dir denn nicht auch sonst ein bißchen handlangern? Das Werk wird nicht schlechter werden.“

Er blinzelte, als er das sagte; denn er merkte ja,246 []ohne doch genaues zu wissen, daß Krimhild auf irgend eine geheimnisvolle und reizende Weise mit im Spiele war. Melchior jedoch wollte sich auf seine Neugier nicht einlassen.

„Warte, bis es fertig ist, dann kannst du's sehen“,das blieb seine Antwort. Da war Rudolf nicht so unfein, noch weiter in ihn zu dringen.

Für Melchior reihte sich eine hohe Stunde an die andere. Weiß der Himmel, jetzt war er ein Schaffender! Rasch, mit fliegender Hand rückte und drückte,schabte und kratzte er sich in einer einzigen stundenlangen Sitzung die zaghafte Tonstizze zurecht.

Krimhild wollte sich ausschütten vor Lachen, als sie das kleine Figürchen in der häßlichen Farbe des feuchten Lehmes fertig auf dem Brettchen vor sich sah.

„Hu, das Ding hat wohl in Bratenbrühe gebadet“,rief sie, „soll erst gehn und sich waschen.“

Aber Melchior redete ihr den Spott aus.

„Da ist nichts zu lachen, Krimhild“, sagte er, „ich muß erst so kleines Dreckzeugs formen. Du möchtest wohl gleich in schimmerndem Marmor dastehen.“

Sie bejahte kleinlaut.

„Daraus wird schwerlich jemals was werden“, fuhr er fort, „so kostbares Material! Woher nehmen und nicht stehlend Und sogar gestohlen! Wie brächten wir den Block hier hinauf? Sechzehn Pferde zieh'n dir den Klumpen nicht bergan, wenn es in Lebensgröße oder gar noch etwas drüber sein soll, so wie es mir wenig247 []stens vorschwebt. Und dann ich wäre ja auf drei Jahre gebunden, wenn ich das alles meißeln wollte.“

Nun faßte sich Krimhild in Geduld und bemerkte nichts mehr, hielt auch ihre Arme oft mit ihrer allerletzten Kraft himmelan. Melchior versuchte, nachdem er die Gesamtgestalt so im Ungefähren festgelegt hatte,einzelne Teile im natürlichen Formate nachzubilden,den Ansatz zur Büste, die erhobenen Arme, den Nacken,die halbwegs ausschreitenden Unterschenkel, band dann, so oft er mit einem der Gliedmaßen fertig war,einen Bindfaden um Hals, Handgelenk oder die Fessel des Unöchels, und hing ein Stück ums andere zum Trocknen an die Wand, so daß es daran bald aussah wie an der Türwand einer katholischen Kirche vor lauter Votivbildern und Versatzstücken inbrünstiger Gelübde. Vor dem Haupt aber und dem Rumpfe hielt ihn eine große Scheu zurück.

Sie saß ihm in dem eng anliegenden Trikotkleid, in dem sie früher die weibliche Abteilung der Kurgäste bei Freiluftausflügen in die Wälder anzuführen pflegte; sie war seitdem etwas stärker geworden und nun voll in die gestrickte und sich straffende Maschenhülle hineingewachsen.

„Ach ja“, sagte er, „wenn wir erst soweit sind“ und betrachtete sich in wechselnden Abständen und von allen Seiten die hundertflächige, gewölbhafte Rückenkurve des vorgebeugten Körpers, wie sie da an dem stolz demütigen Nacken entspringend und zu den glattbreiten Schulterblättern ausladend sich nach unten verlor. [248] Er trat vor sie hin und heftete einen dringenden,forschenden Blick auf sie. Sie erwiderte ihn mit einem ergebenen und bittenden Aufschlag ihrer schwarzen Augen, der ihm sagte: „Fordere; ich willfahre in allem.“

Da wagte er es wieder nicht recht und fertigte in einem mächtigen Willensanlauf erst noch nach dem verhüllten Rücken ein Separatmodell der schwierigen Partie an, nur um der allgemeinen Raumverteilung mit einem rohen Aberschlage erst etwas mächtig zu werden. Als der Versuch bei den übrigen Teilstücken zum Trocknen an der Wand hing, nahm er sich aus wie der Lederpanzer etwa eines Fechtmeisters.

Krimhild benutzte unterdessen diese halbkauernde Pose, die freien Arme auf die Knie gestützt, mit den Händen in einem Büchlein zu blättern.

Schon immer hatte sie Melchior bestimmen wollen,sich endlich einzuzeichnen, da er doch ihr Bräutigam sei und eigentlich an erster Stelle darin stehen sollte.Er wollte aber von diesem Vergißmeinnicht weiblicher Neugier nichts wissen.

Einmal hatte sie ihm das Duodezbändchen doch in die Hand genötigt und er die Rubriken und einige mit Antworten bedeckte Seiten durchgesehen: erbauliche Lieder, Bibelsprüche doch da Goethe Rückert Heine nochmals Heine. „Das ist so dein Vogelbauer“, hatte er damals zu Krimhild gesagt,„da müssen wir uns auf die Stänglein setzen und dir was vorzwitschern.“

Auf diese unverhohlene Außerung des Mißvergnügens hin war er wochenlang verschont geblieben.249 []Heute jedoch erkannte er es gleich von weitem, und da er voll Dankbarkeit für sie war, wäre er bereit gewesen, ihr den Willen zu tun, obschon es ihn heimlich ärgerte, sie über diese Dinge noch nicht hinaus zu wissen.

„Wieder dieses Fragebuch, diese Kinderei englischer Erfindungd“ sagte er mit einem Blick darauf.

„Ja, wieder dieses Fragebuch, diese Kinderei englischer Erfindung?“ wiederholte sie mechanisch, mit seinem Tonfall, so daß er stutzte: es klang nach einer Uberlegenheit, nach einem geheimen Zweck, nach einem nicht ganz harmlosen Hinterhalte, als ob sie freilich über diese Dinge hinaus wäre und sie zum Mittel verwenden wollte, um irgend etwas ganz Bestimmtes zu erreichen.

Nun, mein Kind“, lenkte er ein, um auf möglichst unbefangene Weise hinter ihre Absichten zu kommen,„ich laß dir ja dein Vergnügen herzlich gern.“mal hatte er den Cindruck einer plötzlich eintretenden unerklärlichen Verstimmung und Gereiztheit bei ihr.Was hat sie nur, dachte er ratlos.

Aber da hätte sie schon den Kopf schief zur Seite gesenkt und sah ihn schalkhaft von unten auf an, liebreizend, er spürte: ohne Verstellung; es war ernst gemeint. Und wie erlöst nickte er ihr zu, so herzlich wie ihm wirklich zu Mut war. Da klappte sie das Duodezbändchen zu, nahm es auf die Handfläche und zielte mit geschwungenem Arme. Der Wurf erreichte die Platte des ziemlich entfernt stehenden Tischchens:250 []platt und ohne zu rutschen fiel es auf deren Mitte nieder.

Eines Abends waren die letzten Vorstudien, die der verhüllte Körper ermöglichte, vollendet, und Melchior hatte auch bereits um einen auf dem Brett eingepfählten festen Stab herum eine neue Rumpfmasse aufgeschichtet. Er setzte Krimhild davon in Kenntnis.

Da streifte sie ohne ein Wort der Widerrede und ohne auch nur einen Augenblick sich zu besinnen, den Trikotüberzug von den Schultern den Leib entlang bis tief über die Hüften hinunter und rührte sich nicht,nachdem sie die vorgeschriebene vornübergebeugte Haltung erst wieder eingenommen hatte.

Die Hängelampe, mit einem Brenner von großer Leuchtkraft versehen und so hoch wie möglich gestoßen,gab all ihr Licht an die weiße, getünchte Decke hinauf und von dort sank es weich und verschwiegen in den Raum herunter. Aus dem unentschiedenen, aber erwartungsvollen Luftschimmer leuchtete der unberührte Mädchenleib mit verdämmernden Rändern in einem keuschen und unsäglich weichen Glanze.

Die völlige Ahnungslosigkeit des hingerissenen Liebhabers, dem jede Rechenschaft über die Größe einer spielend bewältigten Schwierigkeit abhanden kommt,erfüllte Melchior mit dem Wagemut und dem Caumel,es dem herrlichen Anblick im eigenen Werke gleichzutun und ihn mit fiebernden Fingern auf den Ton zu drücken.

Die gierigen Blicke, mit denen er den schönen,jungen Leib verschlang, bebten und zitterten nicht 251 []vor dem Lustverlangen und der Liebeshabsucht des Mannes, der nach dem Besitz und dem Genuß der einzig Geliebten begehrt. So oft seine Augen von einem neuen Raubzug mit Schönheit über und über beladen wieder zum Bildwerk gelangten, um sich dort auszuschütten und zu erleichtern, sagte er nichts als:„So jetzt.“ War er aber mit dem Bilden des betreffenden Ausschnittes im reinen, dann sagte er wieder nichts als dieses selbe: „So jetzt.“

Nur daß Krimhild auf diese kommandohaften Zurufe den Schal, der sie in den Pausen wärmen und vor dem Erkälten schützen sollte, das eine Mal niedergleiten ließ und das andere Mal wieder emporzog.Es war eine purpurne Seidendecke, die beim Auspacken im Koffer seines Bruders Rudolf zum Vorschein gekommen war, und die Melchior ihm in der heimlichen Absicht, sie so zu verwenden, abgebettelt hatte.Hätte Melchior, von einem heißen Schuß wallenden Blutes gejagt, sie gepackt, übermannt und auf der Stelle vergewaltigt, sie hätte zwischen den Lücken eines tödlichen Schreckens hindurch aus tiefster Lust mit einem Dankschrei sich frei gejubelt; auf dem Grunde ihrer Seele lechzte alles in ihr nach seiner erdrückenden Umarmung und nach seinem brennenden Uusse. Keine schlimmere Schande, als wie irgend ein Schaustück aus einem Museum Ceil um Teil in kühl erwogener Reihenfolge besichtigt zu werden. Es schauderte sie, auch wenn sie dicht in den Schal gehüllt am Körper warm hatte, von innen heraus. Sie fühlte

25

2 2 []wie es an ihr zehrte, wie sie vor Unehre dahinschwand und jede Kraft verlor.

Aber diese Kraft verlor sie, weil sie ihn liebte, weil sie nicht imstande war, aufzuspringen und mit einem wuchtigen Stoß ihm sein letztes und schönstes Machwerk einfach über den Haufen zu werfen. Sie haßte dieses ihr sogenanntes Abbild in dem nassen, schmutzigen Lehm und fand es häßlich. Doch genoß sie die Wollust, unter den Mörderhänden eines Heißgeliebten langsam zu verbluten, und ließ ihn gewähren, wie er ihre Seele stückweis abtrug von ihrem lebendigen,zuckenden Fleisch auf den kalten, toten Stoff hinüber.

„Wenn er seine Freude dran hatꝰ? Wenn er es brauchen kann“, dachte sie. Und dabei saß sie, die hände ineinander gelegt und die Ellbogen auf den Unien aufgestützt, indes ihr Leib in der purpurnen hülle wieder auf zwei Minuten geborgen war. Den Kopf hielt sie seitwärts nach der linken Schulter geneigt und sah, nach rechts spähend, Melchior bei seinen emsigen Handgriffen zu. Als wollte sie sagen: „Sage mir doch, wann hast du mich ausgequetscht, wann stößest du mich von dird?“

Noch war sie in seiner Nähe, noch durfte sie ihm dienen. Ihre Gedanken beruhigten sich in diesem Gefühl.

Und plötzlich, sie wußte nicht, wie sie mit einem Schlage darauf kam, fiel ihr Eberhard von Schlotten wieder ein, ihr Verehrer das erste Mal, daß sie überhaupt an ihn dachte.

Aber nur mit dem alten, grausamen Tyrannensinn!

Das war eine Idee! Den wollte sie sich wieder her [253] anholen. Der mußte ihr einen Riesenblock zur Stelle schaffen aus weißem, fremden Marmor. Zwanzig Pferde mußte er zum Gespann stellen und hundert Knechte, um die Atlaslast die Treppe hinauf in die Erkerstube zu tragen. Und dann hatte Schlotten hier nichts mehr zu suchen, dann konnte er wieder gehen.

Sie aber hielte einen Meißel und einen Hammer aus dem härtesten, edelsten Stahle bereit und würde zu ihm sagen: „Jetzt, Geliebter, ans Werk! In diesem großen Steine sehnt sich Kalypso nach Odysseus.“

So verträumte sie ihren Kummer ins Grenzenlose.Sie sah keine Wände mehr um sich herum,; sie fühlte keine Härte mehr. Sie tanzte. Sie schwebte.

Wenn, wenn!

Und, und!

Dann, dann!

In der nächsten Abendsitzung erblickte Melchior zwischen ihren Händen wieder das lächerliche Vergißmeinnicht. Sie blätterte recht geräuschvoll und herausfordernd, und ihr Benehmen hatte wieder den unverkennbar lauernden, irgend eine kleine Liebestücke vorbereitenden Beigeschmack: die Blicke, die ihm,halb ermunternd, halb strafend, seitwärts unter der Braue her zuflogen, warnten ihn schalkhaft: „Paß auf, jetzt geht's los.“ Er dachte nur immer: „Was zum Uuckuck kann sie denn vorhaben“ und beschloß,unschlüssig, sich abwartend zu verhalten und die Sache an sich herankommen zu lassen.254 []Als sie nun übertrieben unterwürfig anfragte, ob er nicht doch ein Auge zudrücken und ihr gern eine kleine Freude machen wollte, fiel er sogleich darauf herein: „Weißt du, mein Kind, ich will dir ja weiter dein kleines Buchorakel nicht vergällen,so albern ich an und für sich dieses Fragevergnügen finde. Oder wenigstens nichtssagend. Doch habe ich mir kürzlich etwas für dich überlegt und will es dir auch hineinschreiben, wenn es dir Spaß macht.Steht da nicht gleich Fach eins: Ihre Lieblingseigenschaftd“„Ja“, sagte Krimhild, „genau das steht da. Und mit Recht an erster Stelle. Denn eigentlich ist das die hauptsache an jeder Gesinnung. Wahrhaftig, es ist mir sehr Ernst.“

Melchior konnte sich nicht enthalten zu lachen, fuhr aber fort:

„Dann paß mal auf, ob dir die Antwort zusagt, die ich im stillen für dich ausgeheckt habe. Meine Lieblingseigenschaft am Manne heißt: Herz. Meine Lieblingseigenschaft am Weibe heißt: Seele.“

Er klebte und pflasterte unverdrossen weiter.

„Bitte, deine liebste Jahreszeit?“

„Hochsommer.“

Urimhild erleichterte sich mit einem schmachtenden Seufzer: „Endlich einmal einer, der nicht säuselt:Der Frühling. Weiter: Lieblingsblumend“

„Kommt darauf an! Mohnm oder Veilchen! Im Notfalle Rosen, je nachdem es mit Essig und Ol einen guten Salat gibt.“ [255] „Abscheulich! Weiter: Wie alt muß sie sein, wenn sie heiratetd“„Du hast noch ein Jahr Zeit. Aber zum Donnerwetter, bin ich nun aus dem Verhör entlassend“

„Warum so ungeduldig. Sei gut! Es kommt nun so etwas Ernsthaftes. Wo stand ich doch gleich. Ach ja, hier!hier heißt es weiter: Was braucht es zum Genied“

Erst gab Melchior keine Antwort; erst als sie darauf bestand, holte er Atem:

„Ja, warte mal. Zum Genied Du bist kostbar.Zum Genie ja was braucht es da doch gleich?Doch wohl vor allem Geduld, sollt' ich meinen. Und zwanzig Köpfe mit vierzig Augen. Und hundert Hhände, und Siebenmeilenstiefel an beiden Beinen!Und die Welt liebhaben muß einer, die Welt, so wie sie vor ihm liegt mit allem was darinnen ist.“

„Melchior, ist das schon genugꝰ“

Jetzt warf er wütend eine Handvoll nassen Cones auf den Fußboden, daß es klatschte.

„Nun aber Schluß mit dem Blödsinn. Das wird mir wirklich zu einfältig.“

„Einfältig oder nicht, ich habe nun endlich einen Blick in deinen Geist getan.“

„In meinen Geist?“ rief er aus, noch ärgerlicher;„das wird ja immer schöner. Ich soll mich wohl auslachen lassen.“„Ja, in deinen Geist“, sagte sie, indem sie die Kleidungsstücke, die sie sich schon im Sitzen über ihren entblößten Oberleib wieder angestreift hatte, noch völlig ordnete. Dann trat sie an ihn heran: [256] „So!“ sagte sie und stand, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, schulmeisterlich vor ihm, „wenn mir mein gestrenger Herr Liebster eine Viertelstunde lang ohne aufzumucksen zuhören will, so will ich ihm gehörig die Leviten lesen. Wohl bekomm's im voraus!Man nennt also das wohl zu Modell sitzen, was ich dir da getan habe, Melch! Ich habe nichts dagegen; ich habe es gern getan. Es hat mich dabei gefröstelt, gefroren, bitter kalt hab ich gehabt, und es würde mir im Notfall auf eine Lungenentzündung nicht ankommen das darfst du mir glauben. Der Frost kam von innen her, der Schüttelfrost, kann ich dir sagen. All die Abende hast du nun schon dadrüben gesessen neben mir ich will es nicht leugnen. Ich hatte dich in der Nähe, konnte dich ansehen, ich will mich nicht beklagen. Aber dann dachte ich, es gehe in einem zu, noch so nebenher mit dir zu plaudern,und ich lasse dir alle Gerechtigkeit widerfahren, du hast mit mir geplaudert, öfter als es für deine Arbeit gut war; denn während des Redens ertapptest du dich dann auf Nachlässigkeiten, die mit unterlaufen waren und jedesmal hast du ärgerlich mit der Zunge geschnalzt. Daß ich es hören sollte! Und ich hab' es gehört. Dann hast du mich eine Zeitlang nur noch angeschaut und dann den Anblick auf die Fingerspitzen genommen und ihn hingeknetet an den großen Klumpen heran. Von Zeit zu Zeit ein kurzer, befehlshaberischer Ruf sonst bekam ich nichts zu hören. Und so saß ich da neben dir dumpf,stumm, grübelnd und brütend und fror, fror von

17 Bernoulli, Zum Gesundgarten [257] innen heraus. Und du fandest es in der Ordnung, daß ich regungslos sitzen blieb und kanntestkeine andere Sorge,als dasWerk deiner Hände fein säuberlich zu vollenden.

„So und nun laß dir sagen: warum das mit dem Vergißmeinnicht sein mußte, warum ich es haben wollte um jeden Preis. Weil ich ein Recht darauf hatte und weil ich nur auf diese Weise, nämlich durch diese Hinterlist, zu meinem Rechte kam.Wie oft bin ich schon in dich gedrungen, mit mir zu sprechen über das Große und Wichtige und Notwendige am menschlichen Leben. Aber jedes geschlagene Mal hast du gleich abgewunken und mich um die Taille genommen und mich geküßt und Unsinn mit mir getrieben. Was soll man da machen! Ich dachte,das kommt, wenn wir erst verheiratet sind. Aber vom andern dacht ich eben auch, das kommt, wenn wir erst verheiratet sind. Nun hast du es aber schon vorher gewollt und es half mir nichts, daß ich mich schämte und ich tat es gern und ich habe mich dir gezeigt und mich vor dir zur Schau gestellt, gerade wie du es haben wolltest. Aber was dir recht war, ist mir billig. Ich wollte es auch jetzt gleich haben und einen Blick in dich hineintun, du solltest nicht länger so zugeknöpft sein, du solltest dich auftun vor mir, wie ich es vor dir getan habe: es sollte nichts mehr zwischen uns sein, rein gar nichts, kein Zwirnfaden, kein Stäubchen von einem Stäubchen, mein Herz sollte in dir aufgehen dürfen. Und als das nun immerzu nichts wurde und du nichts merken wolltest, da dachte ich: Ce n'est pas béête, les fsemmes! und holte mein Vergißmeinnicht, [258] und ich sagte mir, ich muß mir Einlaß verschaffen und mich in ihn hineinschleichen. Und da bist du mir ins Garn gegangen.

„Ja Melch! Für dich ist das Blödsinn und eine Eselsleiter und was du willst! Aber für mich? Diese Fragen, so trivial und blöde sie lauteten, sie betreffen nun einmal die Hauptpunkte im Empfindungskreis eines naiven Weibes, und wenn geistreich beantwortet, erfüllten und erschöpften sie meine Wißbegier. Was für eine Fülle von Geist und innerem Leben ist aus diesen paar Antworten, die du mir so über die Achsel hingeworfen hast, auf mich übergeströmt! Wie zum Hohne, um mich noch so recht fühlen zu lassen, was ich nicht besitzel Das Buch ließ ich empfindungslos zu Boden gleiten. Der Kopf blieb über die Hände gebeugt. Da fielen von ungefähr in langsamen, geizig gezählten Tropfen, als wäre jede einzelne eine unverantwortliche, leichtsinnige Verschwendung, heiße, schwere Tränen mir auf die weiße handfläche, so schwer, daß ich hörte, wie sie aufschlugen. Ja, mein hoher Herr! Aber mit keinem Seufzer, mit keinem einzigen aufschluchzenden Sterbenslaut verriet ich mich. Ich weinte bitterlich, aber stumm. So steht es und nicht anders, Melch. Dort liegt das Buch noch auf dem nämlichen Fleck, und der Boden wird noch feucht sein, wenn du ihn befühlen willst, und wenn du's nicht glaubst, so kann ich gleich wieder anfangen und dir etwas vorheulen, schöner nützte nichts. Denn es ist greulich von dir, greulich greulich greulich daß du's nur weißt.“1768 259 []Während der ersten Hälfte dieser Standrede hatte Melchior in der einen oder anderen Atempause, um der Sprecherin zwischen das Wort zu fallen, in schüchternen Versuchen den Mund geöffnet. Dann aber stand er wehrlos dem Strahl ausgesetzt, und auch als sie schwieg, war er noch wie vor den Kopf geschlagen,nicht einmal zu dem einen oder andern Zwischenruf reichte es mehr bei ihm, so daß sie noch folgendes sagte mit Zwischenräumen, um ihm die Widerrede nicht abzuschneiden, zu der es doch dann nicht kam:

„Melch Schatz gelt jetzt aber dann wieder ein bißchen was anderes das wird ja langweilig, es ist ja schade um die schönen Abendstündchen,jammerschade so eine Abwechslung, wo ich nicht so frieren muß so ein Austausch, daß ich auch etwas davon habe so ein weißt du, so ein “

Und nun hatte sie gerade noch Zeit zum Sprung an die Capetentüre, diese aufzustoßen, hinein zu schlüpfen, von innen den Riegel zu schieben. Er wirbelte mit beiden Fäusten an die Wand.

„Komm'“, flüsterte er siedeheiß, „ich töte mich,wenn du nicht kommst.“

Sie kam nicht. Er hörte sie oben den Schlüssel im Schlosse drehen.

Der Lauf der Dinge überhob ihn, durch einen Aufwand von Willenskraft der dem Vorgang entspringenden verwegenen Zuspitzung ihre Gefährlichkeit zu benehmen. In seinen Schöpferenthusiasmus prallte 260 []den andern Morgen eine harmlose Nüchternheit hinein, eine Bagatelle. Die kurierte ihn fürs erste von dem Anfall irgendwelcher Überschwenglichkeit.

Unter Kreuzband, an der Handschrift und den Initialchiffern erkennbar, kam ihm ein Ausschnitt zu, vorgekreuzelt, und im Text noch am Rande insbesondere folgendes dick angestrichen ja, das war schon vom Stadtarzte Volckhardt und niemandem sonst, was er da las:„Mit dem aufgedeckten Pfuscherunfug will man die Tätigkeit eines jungen Arztes in Zusammenhang bringen. Ich weiß mich von parteiischer Voreingenommenheit frei, wenn ich allerdings durch meine Freundschaft zu dem jungen Kollegen geleitet, die Beurteilung des Falles gänzlich einem individuellen Gesichtspunkt unterstellt wissen möchte. Der betreffende Kollege ist vielseitig veranlagt, er ist, kenn man wohl sagen mehr Künstler als Arzt. Liegt es im Interesse des ärztlichen Standes, sich solche Naturen ängstlich von den Rockschößen zu schüttelnd Ich denke, nein. Der ärztliche Stand macht ein besseres Geschäft, wenn er hierin seine Pfähle möglichst weit steckt, und ich weiß mich mit manchem besonnenen Berufskollegen einig, wenn ich gerne mit der Möglichkeit rechne, der betreffende junge Arzt werde zur gegebenen Zeit unser für seine eigentümliche Spielart erweitertes Vertrauen hinreichend rechtfertigen.“

Melchior fuhr auf:

„Mehr KRünstler als Arzt!“ bei Licht besehen eine kleine Gemeinheit! [261] Aber da griff er sich auch schon krauend mit der Hand hinters Ohr:

„Mehr Künfstler als Arzt!“ bei Licht besehen eine kleine Wahrheit!

Er blätterte in dem Hefte der Zeitschrift und las da in der Rubrik der Miszellen das Schicksal eines jungen Arztes, den er vom Börensagen gekannt hatte. Es stand da, er habe sich das Leben genommen, weil er bei einem nötig gewordenen Eingriff in die Luftröhre einen Fehlschnitt getan und dadurch den Tod eines Knaben herbeigeführt hatte. Che er Hand an sich legte,schrieb er an die Eltern: „Verzeihen Sie einem unerfahrenen Anfänger, dessen Mißgeschick Sie Ihres einzigen Kindes beraubt. Ich büße freiwillig mit meinem Leben.“

Diese äußerste Steigerung des ärztlichen Standesbewußtseins traf Melchior vollends mitten in sein beunruhigtes Gewissen.

Von Stund an wußte er bei sich selbst: ich bin Arzt,und mit dieser Liebeskneterei in kühlem Ton ist es nun aus und fertig.Pflichtversãumnis als Arzt, nette Entdeckung wahrhaftig! Das mußte anders werden, so wahr er Zwinger hieß!

Da nahm auch schon auf Gesundgarten alles ein neues Gesicht an.

Schwengel entließ, ein Quartalheld wie er nun einmal war, Unall und Fall seine beiden Verführer Faxon 262 []und Blötherlein. Sie hatten geglaubt, ihn völlig in der Hand zu haben und sträubten sich gegen den unfreiwilligen Urlaub. Da „wandte er Rechtsmittel an“,das heißt er kündete ihnen schmucklos den Aufenthalt.Sie seien ja doch Bummler, keine Patienten, jetzt sei strenge Zeit, Anfrage über Anfrage, er brauche die Zimmer und damit basta. Und wirklich, Ende Juli packten sie zusammen und reisten ab, der Amerikaner dreift wie immer mit einem unverfrorenen: „Auf Wiedersehen.“ Etwas über vierzehn Tage hatte ihre Herrschaft gedauert. Noch in der Stunde ihres Abschiedes stattete Schwengel den von Zwinger geforderten Entschuldigungsbesuch ab mit einem Überfluß von Selbstanklagen und dem Gelübde seiner Unterwerfung.Nun war Zwinger Herr und Meister im überfüllten Hause. Ein Bruchteil der Pensionäre waren übrigens weniger durch leibliche UÜbelstände, als vermöge einer geschäftlichen Konjunktur Schwengels Gäste. Das galt von einem unzertrennlichen Kleeblatt, drei biederen Bürgern aus der Stadt, die sich alsbald im Chalet einhausten, einem Drogisten, einem Glasschmelzer und dem Besitzer einer kleinen chemischen Fabrik für Arzneimittel. Ihre kaufmännische Witterung hatte sie schon vor Jahren, jeden für sich, zu dem damals auf der Höhe seines Kredits stehenden Schwengel geführt;bei ihm waren sie bekannt geworden und fehlten nun keinen Sommer in diesen heißestenWochen. Der Glasbrenner brachte ein neues Muster mit für die Versandgläser von Schwengels Kräutersäften: die waren aus einem noch braungelberen, noch undurchlässigeren Ma263 []terial gegossen, das die Abkochungen lichtfest auf zwei Jahre hinaus verwahrte. Der Drogist legte den aktenmäßigen Nachweis von der Überlegenheit Schwengelscher Erfahrungen vor: die „Maikur“, die er nach dem Gesundgartenrezept dörrte, mischte und anrichtete,fand eine weitaus größere Nachfrage als die gleichnamigen Angebote anderer Firmen, Apotheken inbegriffen. Der Arzneichemiker endlich rühmte, sein Umwandlungsprozeß sei abgeschlossen; denn das letzte mineralische Präparat habe er kürzlich aus seiner Fabrikation verabschiedet und versehe seinen Betrieb ausschließlich mit der Verarbeitung pflanzlicher Extrakte,vorwiegend des Buchenholzteers und der Gerberlohe.

Diese dreifache Freundschaft hatte Schwengel den Anstoß gegeben, so stellte sich nun hinterher heraus,den feigen Verrat einer Sache an die stürmische und anmaßliche Unklarheit seiner Verführer Faxon und Blötherlein wieder halbwegs wettzumachen und seine früheren, löblichen Erkenntnisse mit einigem guten Willen neu vorzuschuhen. In seiner ganzen Vergangenheit hätte sich kaum eine Periode aufgreifen lassen, da er bewußter, entschiedener und mit ebensoviel Witz und Geschick die Pflanzenwelt als den ausschließlichen,einzig zuverlässigen Freund der erkrankten, dem Siechtum verfallenen Menschheit ausgeboten hätte.

[264]

Achtes Kapitel

rimhild räumte die Curmstube aus, das

Klavier sollte da hinaufbefördert werden, und nunschaffte sie vorher die Conmodelle durch die Wendeltreppe in eine unbenutzte Dachkammer. Lehmstizzen,wußte sie, seien dem Verfalle ausgesetzt, wenn sie nicht von Zeit zu Zeit angefeuchtet werden. Sie setzte eine kleine Kindergießkanne instand, damit wollte sie die

Dinger spritzen wie Blumenbeete, alle oder all andern

Tag. Die Stube warijetzt besenrein; die Putzfrau konnte kommen und scheuern. Wie hatte sie nun drauflos geschafftl Hundemüde war sie. Gleich ging sie zu Bett.Im Stehen konnte sie einschlafen.

Als sie die Tapetentüre zuzog, daß die Feder einschnappte, und sie in ihr Kämmerchen emporschlüpfte,dachte sie:

„Aber höchste Eisenbahn letzthin; es wäre mir schlecht ergangen.“

Schlechtꝰ Sie mußte lachen. Und nun freute sie sich,sofern sie sich zwischen dem Gähnen und der bleiernen Müdigkeit hindurch überhaupt noch freuen konnte, auf die nächste Morgenfrühe. Es sollte ihr Lohn werden.

Melchior war jetzt auf einmal so furchtbar lieb zu [265] ihr. Er hatte sich's hinter die Ohren geschrieben und war, wo er nur konnte, bedacht, ihr neues zu zeigen,besonders in der Natur. Gestern hatte sie sich, hinter dem Stolleneck, den ganzen Abhang bis hinunter einprägen müssen. Bis hinunter hatte der Hang geleuchtet in der Unordnung seiner Farbenfülle. Wie ein Schulmädchen hatte Melchior sie examiniert! Aber eetsch! beetsch! sie hatte alles gewußt. Und was das nun wohl war, was er ihr zeigen wollte eine der großen Heimlichkeiten, um die sich kein Mensch kümmered Vom Pflanzenschlaf hatte er gesprochen, von einer Blumenuhrd

Jetzt war kaum erst acht vorbei und noch halbwegs Tag. Sie schloß die Augen mit dem festen Vorsatz, um halb vier Uhr aufzuwachen. Das geschah auch auf die Minute, und als sie unten hin vors Haus kam, wartete er auf sie in dieser Wendestunde der Nacht zum Morgengrauen.

Es war Krimhild, als sähe sie nicht die ihr wohl vertraute Landschaft selbst, sondern nur deren Haut, ohne den Körper dahinter. Eine feuchte, blaugrüne bläuliche Feierlichkeit umstellte sie ringsum wie aufgerichgeisterhaft. Es flimmerte nicht und stand doch nicht fest auf Füßen. Es rührte sich nicht und war doch ein Gewebe aus Luft und Hauch, ein angehaltener Atemzug, die blasse und kalte Entseelung des Todes, und wirkte doch wie ein ungeheures Lebensversprechen.Die schmale Waldstraße, die sie einschlugen, nahm sich aus wie eine unentwickelte Vorstufe des ihnen von

2

G.[]ihren täglichen Gängen vertrauten Spazierweges. Es überkam sie wie eine Furcht, ob er auch schon wanderfertig und schrittfest sei und nicht unter ihnen in Stücke gehe. Noch sang kein Vogel. Sie traten aus dem Walde, kamen an wohlbekannten Stellen vorüber,Bäumen, Kreuzwegen, Feldstücken, und standen nun an der gestern im Lichte funkelnden blumenübersäten Stätte. Von Blumen war nichts zu sehen. Wo waren sie hingeratend Krimhild stutzte und sah sich fragend um.

„So bücke dich“, mahnte er. Sie tat es und sah nach.

„Wahrhaftig, sie schlafen“, rief sie aus.

Alle die weißen und blauen und gelben und roten Blumen und Nelken und Rosen und Wicken und Winden und Gräserblüten befanden sich im Zustand ihrer Nachtwende, hatten sich kauernd aufgerollt und sich in sich selbst versponnen, um vor Erkältung und Taufrost auf der Hut zu sein. Melchior erklärte lange und anschaulich, bis sie aus dem unwillkürlichen Antrieb, nicht sorgloser zu sein als Pflanzen und sich selber nicht übermäßig der Kühle auszusetzen, die Wanderung durch den sachte dämmernden Frühmorgen wieder aufnahmen, ohne daß die Belehrung über die Erregbarkeit der Flora und die zweckmäßige Abwehr und Fürsorge ihrer winzigen Nerven und Sinneswerkzeuge eine Unterbrechung erfuhren.

Für Krimhild fiel auf das Feld ihrer nicht unerheblichen Bekanntschaft mit Pflanzen in ähnlichem Maße ein wachsendes und zusehends sich näherndes Licht, wie die Sonne hinter dem Rücken des Berges erst weit 267 []unten die Niederung bestrahlte und allmählich, aber unaufhaltsam bergauf heranrückte. Wunder um Wunder bekam sie zu hören.

„Wied“ rief sie erstaunt, „so gescheit sind die Pflanzend Tiere erschrecken sie, die ihre Blätter fressen wollen durch eine unerwartete Bewegungꝰ Etwa wie wir in die Hände klatschen, wenn der Spatz zu frech wird? .... Aber heiß muß es sein, sagst du, bis Pflanzen sich regend Ach, da glaub ich, ich bin auch eine Pflanze. Mich friert so leicht ich kanns gar nicht warm genug haben mir ist, ich blühe erst auf in diesen heißen Cagen .... Wasd Nur die jungen Keime bewegen sichd Nur die jungen Triebe geraten in Aufregung? O, wenn ich denken müßte, daß auch wir später einmal unempfindlich werden, verholzen .. ẽ

Sie schritten an einem Felde vorüber, in dem die Garbenkegel standen; vorn am Eingange stand ein ausgespannter Leiterwagen, ebenfalls mit einigen Garben darauf.

Unwillkürlich wuchs in ihr ein Widerwille gegen zweckmäßige Anwendung:

„Kochbar, nutzbar, anwendbar. sonst weiß ich von diesen armen, zarten Wesen weder gix noch gax. Sie haben doch das Recht, sich der Sonne zu freuen so gut wie wir, und sind gar nicht nur auf der Welt uns zum Futter. Meinst du wohl, daß sich so ein Pflänzchen von Herzensgrund freuen kannd Oder weinen kann,vor einem Schmerz, den es fühltꝰ Sind die Tröpfchen Cau, von denen sie voll hängen, am Ende so etwas wie Tränend Und der süße Duft, den sie aushauchen, [268] so etwas wie eine Sprache, in der sie sich verständigend Ist der Halm eitel auf die Blume, die er gezeitigt hat da er sie so wiegend zur Schau trägtd Erinnert sich die Blüte ihrer Knospenjugend, und die Frucht ihrer Blumenglückseligkeitd Wenn man das wüßte? Oder weiß man'sd O sag mir's, wenn man's weiß.“

Ordentlich aufregen konnte sie sich an der in ihr geweckten Neugier. Melchior strich ihr sehr sanft ums Kinn und sagte:

„Sie sind wie wir; aber viel, viel einfacher, viel, viel mehr im Trieb und traumhafter Regung. Sie haben es sehr viel leichter als wir, sie können sich viel mehr Zeit lassen zu allem, was sie für ihr Leben brauchen.Schmerz ist ihnen so wenig erspart als irgend einem lebenden Geschöpfe. Aber ob sie sich dessen bewußt sindꝰ UKaum. Jedoch sind sie mit einem unfehlbaren Gefühl für alles versehen, was ihnen zusagt und förderlich ist. Die Hochstämme streben nach dem Lichte;der Waldmeister zieht das Halbdunkel vor; das grüne Moos gedeiht in der Tiefe der Waldesnacht; die kleine Erdbeere reckt und rankt sich in den ihr zugänglichen Sonnenfleck hinein, um langsam darin zu erröten. So ist es und nicht anders, alles hat seine feste Ordnung.Aber warum gerade so und nicht anders? Warum diese grenzenlose, ungeheure Willkür dann wieder mitten in all dieser Gesetzmäßigkeit? Warum verhält sich an ein und derselben Pflanze der grüne Blattstiel zum Lichte ablehnend, die Blattscheibe dagegen lichtempfänglich. Du siehst, mein Kind, auch bei diesen unscheinbaren Lebewesen geht es keineswegs so selbst269 []verständlich zu; in aller ihrer Einfalt sind sie doch recht kompliziert und eigenwillig. Sie sind Egoisten, wie wir alle; aber in der Feinheit ihrer Berechnung, in der Hinterlist ihrer Maßregeln kann sich die brutale menschliche Plumpheit ein Beispiel nehmen. Sie leisten unter Umständen auf einen naheliegenden Vorteil Verzicht um einer höheren Nützlichkeit willen.“

Dergleichen aus Melchiors Munde wirkte auf Krimhild predigtartig erbaulich, indem ihr Gemüt sich mehr Anteil daran verschaffte als ihr Verstand. Die Halde mit schlafenden Blumen lag jetzt in der vollen strahlenden Sonne, als ihr Rundgang sie wieder dahin zurückführte.

„Halt là“, sagte Melchior, „nun wollen wir ihnen doch guten Morgen sagen.“

Sie schwangen sich auf ein überhängendes Felsbord.In der Wiese verlor sich die grüne Eintönigkeit bereits in einigen zarten unbestimmten Anhauchen von Weiß und Blau und Rot, und es dauerte nicht lange, so traten die Farbflecke kräftiger hervor, so daß Krimhild bald ausrufen konnte:

„Guten Tag, ihr Weißen, Augentrost, Mäusedarm,Sternkraut, Gänseblümchen, Jungferngras guten Tag, blaue Skabiose, guten Cag, rote Lichtnelke und gelbes Fingerkraut, wünsche wohl geruht zu haben!“

und zu Melchior gewendet fuhr sie fort: „Wenn es so steht, dann sind das doch unsere kleinen Vettern und Freunded Mitwesen von uns, zu denen man reden kann, nichtd“

Er nickte und schwieg, und als sie leise an ihn gelehnt [3270] sein Schweigen teilte, klang mit einem Male über den Berg hinüber jene erstekatholische Frühglocke, an deren Gruß sie sich sonst freuten. Jetzt empfanden sie es beide unwillkürlich als Störung; sie zuckten zusammen und sahen sich an. Sie atmeten in einer natürlichen Andacht; es hatte sich in ihnen ein Anschluß an das instinktive, gedankenlose Triebleben der Natur herausgebildet: dessen wurden sie inne. Sie nahmen plötzlich teil an einem Gesamtgefühle, das, in sich abgeschlossen und gerundet, wie der Dunstkreis den Erdball umgibt. Wozu dahinein nun noch ein künstlicher Laut,ein aufdringliches Menschengebetdꝰ Höchste Religion ist die Bescheidenheit, nicht mehr sein zu wollen als die samenentsproßte, sonnenerweckte, taufrische Pflanze!O Allgefühl und Eingefühl! O Kindschaft der Mutter Erde!

Krimhild und Melchior war es in dieser Morgenstunde geschenkt, aufgeschreckt vom fernen Klang einer Kirchenglocke jählings einem tieferen Gottesdienst beizuwohnen dank der in ihnen aufbrechenden Ahnung ihrer Zugehörigkeit zum Weltganzen.

Melchior wartete mit verhaltenem Atem bis die Glocke wieder verstummt war und sagte dann:

„Wer kommt den Pflanzen hinter das Geheimnis ihres Daseinsd Der, die grüne Blechtrommel am Lederriemen umgehängt, mit breiten Füßen über das Gelände stürmtd Linné so und so viel, fünf Griffel und zehn Staubfäden? Nein, der nicht. Oder der in den Kräutern das Allerweltsheilmittel gegen KUrankheiten erkannt hat und nun auf Cod und Leben Tränke und 271 []Sude braut für sich und seine Nebenmenschend Nein,auch der nicht. Es muß einem ungesucht geschenkt werden, wie jetzt uns beiden man muß den Mut besitzen, in diesen wolkenlosen glutstrahlenden Hunds-tagen nichts besseres zu tun, als sich in den feuchten Waldgrund zu setzen, sich in den Röhricht am Cümpel zu legen oder auch, wie wir jetzt, noch bei Nacht aus den Federn zu schlüpfen, um dem Erwachen der Blumen zuvorzukommen. Ich weiß nicht, mich stört nun sogar der fröhliche Vogelgesang, seit ich dahinter gekommen bin, was für feine Frühaufsteher die Blumen sind. Leise, leise Fromme Weise! Was meinst du,Kindꝰ“

Statt einer Antwort zog Krimhild mit sanfter Hand seinen Kopf an ihren Mund und küßte die Stirn. Unversehens spürte sie sich von einer sanften Betrübnis beschlichen; denn sie fühlte richtig heraus, mit diesem Geständnis spreche ihr Geliebter seinem Tagewerk eines naturheilkundigen Arztes das Urteil und stempele seinen hingebenden, nächstenliebenden Berufzum groben Handwerk. Dies sich zu denken, kam ihr wie eine Bedrohung ihres Liebesglückes vor; denn wie wãären sie je zusammengeführt worden ohne eben durch dieses sein redliches Suchen nach der besten ärztlichen Kunst, über die er nun aber im Begriffe stand, sich erhaben zu fühlend

Doch blieb ihr zum Grübeln keine Zeit. Melchior zog die Uhr aus derWestentasche, ließ den Deckel springen und nahm einen Satz von ihrem Felsensitz in die Wiese hinunter.272 []„Haben Sie schon Ischias gehabtꝰ“ sagte er und zog dazu eine urkomische Grimasse, worauf sie sich rasch ermunterten und sich auf den Weg machten, um rechtzeitig auf ihren Posten zu sein.

Unter den Kurgästen war ein hochgradiger Hypochonder; er bildete sich alle Tage etwas anderes ein.Junge Damen zu fragen: „Haben Sie schon Nesselfieber gehabtd“ kam ihm durchaus nicht darauf an,und wenn sie so glücklich waren, verneinen zu müssen,war er imstande, den Armel bis gegen die Schulter aufzustreifen und ihnen seinen entblößten und geröteten Arm unter die Nase zu halten: „Rote Flecke ungefähr so das ist Nesselfieber“ und wenn die also Belehrten unwillkürlich zurückwichen, lächelte er überlegen und sagte verbindlich:

„Es lag nicht in meiner Absicht, Ihrer Unschnuld zu nahe zu treten.“ Er sagte wirklich „Unschnuld“.

Für Krimhild hatte er sich etwas ausnahmsweise horribles aufgespart. Sein Gesicht lag in sehr ernsten Falten und seine Stimme hatte einen wehleidigen Con,als er endlich zu der Frage kam:

„Haben Sie schon Genickstarre gehabtꝰ“ Sie kannte den Ausdruck nicht.

„Gewiß. Schon oft.“

„Schon oftꝰ

„Einen steifen Hals warum denn nicht.“

„Genickstarre!“ schrie er mit fürchterlich aufgerissenen Augen. „Starrkrampf.“

8ß Bernonlli, Zum Gesundgarten [273] „Allmächtiger Gott“, prallte sie zurück, „dann ständ ich doch nicht vor Ihnen.“

„Ist gar nicht gesagt“, dozierte er gelassen, „jwar eine fürchterliche Krankheit, aber keineswegs unfehlbar tödlich. Bloß neunundachtzig vom Hundert.“

„Bloß! Ich danke. Seh ich denn aus wie solch ein fabelhafter Glückspilzd“

„Ja, genau so sehen Sie aus, mein schönes Fräulein.Was sonst hätte mich auf die Vermutung gebrachtd Schade! Mir fehlt immer noch in meinen sonst reichen CLebenserfahrungen die Bekanntschaft mit jemand,der einmal die Genickstarre gehabt hat. Und nun hören Sie zu, mein schönes Kind! Krankheiten verhüten, damit man sie nicht zu heilen braucht das ist keineswegs eine Binsenwahrheit, sondern in der Tat die Hauptsache. Und das beste Vorbeugungsmittel ist noch immer: richtiges Unterzeug “

worauf er sie ohne Umschweife einlud, mit ihm auf sein Zimmer zu kommen und sich seinen geradezu vorbildlichen Vorrat an Leibwäsche des näheren anzusehen.

Uber diese Zumutung gaudierte sich Krimhild dermaßen, daß sie ohne Aufschub mitging und während einer vollen Viertelstunde sich allerdings einen wahren Staat noch ungebrauchten leinenen Herrenweißzeuges vorlegen ließ, mit dem Erfolge, daß er sie nun auch als die vernünftigste aller ihm bekannten Personen weiblichen Geschlechts pries, indem mit ihr ein sachliches Gespräch über Gesundheit möglich sei, ohne daß ihre, Unschnuld“ leide. Wieder sagte er laut und deutlich „Unschnuld“.274 []Diesem Zwischenfall folgte ein kleines Nachspiel, insofern die auf Gesundgarten nie ausgehende Gattung derschwarzgekleideten, nervösen, alten Damen sich einmütig hinter Herrn Schwengel steckte und ihn des bestimmtesten bat, die Würde des Hauses zu wahren; da fragte ihn jener ganz einfach:

„Sie, Schwengel, haben Sie schon Gehirnschwund gehabtꝰ“

Um ähnlichen Vorkommnissen zu steuern, verbreiteten Frau Schwengel und Jungfer Lisette unter den Kurgästen in gelegentlichen Anspielungen die Tatsache von Krimhilds Brautstande, streng vertraulich, aber „halbamtlich“, wie Schwengel sich ausdrückte.

In der umgestalteten Turmstube fanden abends Veranstaltungen statt, außer dem üblichen gesellschaftlichen Zeitvertreib auch solche, die dem Zweck und den Bedürfnissen der Kuranstalt entsprangen. Es waren die meisten Schattierungen der sogenannt natürlichen Heilkunst durch geeignete Bekenner vertreten. Da wuchs sich denn leicht eine Unterhaltung etwazwischen einem wolleumhüllten Geruchsapostel und einem Propheten der geheimnisvollen Od-Cehre unter der Teilnahme anderer Gäste zu einem kleinen Kongresse heraus; Rede und Gegenrede steigerten sich und stifteten Verwirrung; Schwengel, dessen Kunst versagte, und Zwinger mußten sich ins Mittel legen, einen schlichtenden Vorsitz führen, Versöhnbares auf den goldenen Mittelweg leiten und Überzwerches auf den toten Strang abstoßen. So kam Klärung und Verständigung in das eifernde Häuflein der gesundheitlichen Frei275 []schärler, und da diese geistige Harmonie zugleich als körperliche Aufmunterung wirkte, bildete sich auf „Gesundgarten“ in der Tat nahezu ein Idealzustand heraus: die angewünschten „Guten Besserungen“ nahmen überhand und diejenigen Kranken, die so krank blieben, als sie waren, fühlten sich erleichtert oder hoffnungsvoll gehoben.

Seine eigenenWege abseits ging eigentlich nur einer unter ihnen allen: Melchiors Bruder Rudolf, der Schauspieler. Er klopfte täglich mehrmals das Barometer ab.

„Immer auf BeauFixe! Er will nicht herunter. Soll das nun wirklich der beständigste Sommer werden von den mehr als dreißig meines Lebens,“

und sagte dann zu Melchior:

„Apropos beständig! Du bist weit mehr Schauspieler als ich dachte und vielleicht sogar als ich selbst es bin.Es ist ja kostbar. Ich habe das Gefühl, du mokierst dich nicht schlecht über uns.“

„Wiesod“ fragte Melchior erstaunt, „es soll mir nicht heiliger Ernst seind Ich soll euch etwas vormachen an das ich selber nicht glaubed Kannst du mir meine Erfolge abstreitend?“

„Fällt mir gar nicht ein. Aber so lange du dies alles nur hier oben treibst, halte ich es deinerseits für Spiel.Der Gesundgarten ist eine famose Külisse, das Gereut eine vorzügliche Rampe, und Schwengel ein Statist und Chorführer, ich wüßte keinen besseren. Und nun gar mit einer JugendlichNaiven wie Arimhild zur Part276 []nerin mein Lieber, da mußt du das Gegenteil erst beweisen, mußt beweisen: es ist keine Schminke dabei und kein Bühneneffekt. Wahrhaftig, in diesen Dingen kenn ich mich aus, das magst du mir glauben. Ich habe nun einmal in diese Welt des Scheins hineingewollt;nun bin ich verdammt dazu, in ihr zu leben. Nicht daß ich zurück will, das nicht.“

„Aberd“ forschte Melchior.

„Ich teile den Neid aller Künstler beim Gedanken an die bürgerliche Existenz. Mußt du denn auch ausreißen wollend“Melchior begriff allmählich: sein Bruder warf die Frage auf, ob es eine echte Handlung sei, was er da treibe oder bloß eine Cheatergeste. Er prüfte mißtrauisch Rudolfs Gesicht. Die Falten lagen noch tiefer unter dem kurzen Stoppelferienbart; die sonst mit einiger Eitelkeit neugierig promenierenden Augen blieben nachdenklich auf den Boden geheftet und verrieten aufrichtige Besorgnis.

Also Rudolf machte sich wirklich Gedanken über ihn.Eigentlich recht nett von ihm! Wenn man ja doch bisher immer nur so nebeneinander vorbeigelebt hatte!

„Du bist eine Seele von Bruder, wie ich sehe“, wollte er scherzen. Aber die Antwort lautete gleich sarkastisch.

„mehr als das: unter Larven die einzig fühlende Brust, fürcht' ich.“

„Wie dasd“„Daß du hier oben nicht zu Hause bist, nie zu Hause sein wirst und deshalb bei Zeiten an den Heimweg denken sollst so mein ich das. Schnüre dein Bündel,277 []mache dich eilends auf, steige hinab in die Stadt deiner Väter, etabliere dich als praktischer Arzt, Wundarzt und Geburishelfer, heirate Urimhild, mache deine Eltern zu Großeltern, behandle ein Krankenbett nach dem andern und halte eine Sprechstunde nach der andern,so wird sich's zeigen, was du wert bist und was deine Methode wert ist aber hier oben den Halbgott spielen vor ein paar Dutzend schiefgewickelter Kreaturen,die wer weiß bei welcher Gelegenheit dem Teufel vom Karren gefallen sind, das taugt nicht, Brüderlein;das mußt du dir möglichst schleunigst abgewöhnen.Wenn nicht, so wird eines Tages an sämtlichen Litfaßsäulen im Städtchen unten mit Flammenschrift zu lesen sein: Melchior, kehre zurück zu deinem tiefbetrübten Bruder Rudolf. Alles vergeben und vergessen.“

Melchior machte aus seinem Unbehagen kein Hehl:

„Das alsod Gut gemeint, gut gemeint, muß ich sagen.Aber mir so Uhr in der Hand mit dem Amtseifer eines Bahnhofportiers zuzurufen: Einsteigen, höchste Zeit!Kann ich denn hier zum Zeug herausd“

Sie stritten sich noch eine Weile herum, gelangten zu keinem Cinvernehmen und gingen ärgerlich auseinander.

Von da ab beschränkte Melchior seinen Umgang auf das Notwendigste und brachte möglichst viele Zeit mit Urimhild auf Spaziergängen und kleinen Ausflügen zu.

„Braucht denn jederzu meinen, er müsse seinen Senf dazu geben“, brummte er verdrossen, als Krimhild ihn 273 []fragte, was ihm denn nur plötzlich über die Leber gekrochen sei.

An einem heißen Erntetage führte sie eine tüchtige Fußwanderung durch kühle und stille Wälder stets aufs neue an den bäuerlichen Kulturen vorbei, bald noch wogenden Kornfeldern, bald schon abgemähten Stoppeläckern, die einen wie die andern von emsigen und fröhlichen Schnittern bevölkert. Dann stiegen sie in ein Dorf hinunter. Ein weißes Haus mit grünen Läden stand an der Straße. In seinem gepflegten Vorgarten wucherte ein wahrer Wald von Sonnenblumen, Stengel in Mannshöhe, die breiten, goldgelben Flammenscheibenhäupter alle suchend der Sonne zugedreht. Sie blieben stehen. Angesichts der Pracht überließ sich Krimhild andachtsvoll und gläubig der Betrachtung;Melchior sollte sehen, wie wenig sein Unterricht in den Wind gesprochen war.

„O dieser Lichthunger!“ flüsterte sie, „o diese Abhängigkeit vom Antlitz der Sonne! So guck doch nur,Schatz, so sieh doch nur! Genau so wie du es mir erklärt hast: senkrecht kommen die Blütenblätter zum Lichtstrahl zu stehen! Wie sich alles an ihnen streckt und reckt und die Hände ausbreitet! Wie heißen doch schon die griechischen Statuen auf den schönen Abbildungend“

„Adoranten!“ erwiderte er, erfreut über die sprechende Sicherheit dieses Vergleiches.

„Hab ich nicht Rechtd“ rief sie leise, „sind sie nicht allzumal, wie sie da sind, Sonnenanbeterd“

Die Haustüre, den beiden durch den hohen Wall der Taxushecke verdeckt, ging mit lautem Klingel279 []schlage auf, und zwei gesunde Frauenstimmen, eine erregte, lautschallende und eine träge, gleichgültige führten ein vernehmliches Gespräch:

„Eben ja“, sagte die träge, apathische in scheinheilig gedehntem Cone, „es ist ja weiter nicht zu verwundern bei meiner guten Pflege. Und dann die Orangen,die haben ihm gar wohl getan.“

„Jetzt hört, Frau“, erwiderte die erregte, lautschallende entschlossen, „zuerst, sollt' ich meinen, der Herr Doktor und seine hingebende Behandlung, und dann Eure Pflege und dann meinetwegen auch noch die Orangen.“

„Es ist mir gleich“, rief die träge, „aber das Doktern kostet Geld; hingegen das Pflegen geht in einem zu und die Orangen sind heutzutage wohlfeil. Ich tausche sie mit dem Krämer, ein Hühnerei gegen eine Orange.“

Nun ging die erregte erst recht ins Zeug: „Schämen sollt Ihr Euch, tupfengleich seid Ihr, eines wie das andere. Bald zwanzig Jahr plagt sich mein Mann bei Euch ab, ist die Gewissenhaftigkeit selber, hat noch immer gleich einspannen lassen, und wenn's zwei und drei Uhr in der Nacht war. Und bei Eurem Kind,wie ist es ihm da ernst gewesend Längst hätte er sich selber schonen sollen mit seiner Influenza! Und ich leg' mich nicht zu Bett, sagte er, bis das Kind kritisiert hat und jetzt liegt er selber auf der Nase und hat des Guggers Dank von Euch.“

„He so nun, so lebet wohl“, sagte die träge gleichmütig, „gute Besserung und zürnet nichts und nichts 280 []für ungut, und wenn Ihr einmal frische Eier braucht,Frau Doktor, jetzt wo ich sie nicht mehr gegen Grangen einzutauschen brauche.“

Damit trat eine stramme Bäuerin hinter der Hecke über die hellen Zugangsstufen des Doktorshauses auf die Straße und die Doktorsfrau wurde ebenfalls sichtbar, prachtvoll in ihrer ländlichen Prästanz und mit ihren vor Arger noch röteren Backen. Sie erkannte KUrimhild von einem Besuch auf Gesundgarten her und wußte auch von ihrer Brautschaft. Die beiden mußten durchaus eintreten und bewunderten willig den stattlichen Garten. Die Beete waren durch Reihen von Muscheln und Ammonshörnern abgegrenzt, und in den wohlgepflegten Rasen lagen allerlei bunte Configuren verteilt, langbärtige Gnomen, hüpfende Hasen und übergroße Pilze, die auch als Fußschemel oder Kindersitze zu gebrauchen waren.

Schmunzelnd, die Arme in die Hüften gestemmt,nahm sie das Lob der aufmerksamen Beschauer in Empfang.„Ja freilich, das ist eine Juniperus Sabina die viel mißbrauchte! und gleich dahinter einträchtig nebeneinander Thuja occidentalis und orientalis die asiatische und amerikanische Gattung, Wurzel an Wurzel. Den Helianthus da vorn haben Sie also schon bewundert; es ist natürlich der annuus und an sich keine Seltenheit. Hingegen der tuberosus, den hat nicht jeder seh'n Sie, hier; jetzt kommt er noch nicht zur Geltung, denn er blüht erst im Oktober und November und stellt auch nicht so viel vor; er blüht viel kleiner.“281 []Krimhild erstaunte über diese großartigen Kenntnisse; da nahm sie jene vertraulich um die Büfte:

„Ja, Fräuly, gäll he, wir Doktersfrauen! Ihnen geht's einmal ganz gleich; da muß man bald den lateinischen Schnabel parat haben und bald den deutschen Schnabel wie's gerade kommt.“

So wurde sachte den geschlungenen Gartenwegen entlang botanisiert, als von einer Laube her eine heisere und hustende Männerstimme „Emmy“ rief, was zur Folge hatte, daß schon wenige Minuten später Melchior und Krimhild neben dem Liegestuhl Platz nahmen, auf dem der Landdoktor sichtlich bleich und abgezehrt lagerte, indessen seine Frau sich anschickte,unter dem Beistand des Dienstmädchens den Tisch mit Kaffeegeschirr zu bedecken.

Der Landarzt gab sich gleich recht umgänglich und offenherzig, und es ging kein langes Gespräch seinem eigentlichen Geständnis voraus:

„Naturärzte sind wir Landärzte doch eigentlich alle;ich unterstütze die Natur in ihrer Heilkraft das ist meine ganze Kunst. Aber ich werde doch nicht so töricht sein und auf den Apparat verzichten; da würden meine Bauern mich schön nach Hause schicken.Für Licht und Luft und grünes Kraut gehen die doch nicht zum Doktor; was Geld kostet, muß aus der Apotheke sein oder geschnitten und verbunden werden.“Ein Hustenanfall hinderte ihn am Weitersprechen,der Mann hatte sich im Dienst an seinen Nächsten zuschanden gearbeitet; es war wahrhaftig an der Zeit, [282] nun an sich selber zu denken. Das sagte ihm Zwinger eindringlich. Da flog aber ein beinahe pfiffiges Lächeln über die bleichen Züge, und dieser sagte, sich zu Ende räuspernd:

„Ich begebe mich ja in eine Kur, schon jetzt manches Jahr. Wissen Sie, woꝰ“ und er nannte zu Zwingers Verwunderung ein großes, im mittleren Deutschland gelegenes Naturheiletablissement von Weltruf und fügte bei, er und seine Frau unternähmen nächster CTage wieder die so weite Reise drei Wochen dort und er sei wieder erholt.

„Ich sage gern ein bißchen Ja und Nein im selben Atemzuge: die gute Hälfte am Ja und die gute hälfte am Nein das ist doch bei Leibe nicht charakterlos, sobald es mit dem Herzen gemeint ist.In meiner Bauernpraxis halte ich mich so im groben an den Stiefel, den ich auf der Universität gelernt habe: es hätte ja keinen Sinn, jetzt da noch lange umzulernen. Dafür finde ich mich dann in den Ferien mit dem Gegenteil ab. Was da zusammengeschimpft wird über uns Arzte in diesem Harzer Ketzersanatorium! Da heißt es, die Ohren gespitzt und aufgefangen, was da schwirrt und schimpfiert und wütet! Merschenddeels purer Blödsinn: wir Dökter sind eben die Sündenböcke für die gesamte Dummheit der Welt, und damit Schluß! Aber zwischenhinaus kann man sich das eine und andere hinter die Ohren schreiben und unterläßt es dann das Jahr über oder macht es anders und besser. Im großen und ganzen bin ich heilfroh über mein Winkelchen Land283 []praxis; meine Bauern parieren mir noch ganz annehmbar, das muß ich ihnen lassen, seit ich weiß, wie da draußen die Rebellion überhand nimmt und epidemisch um sich greift. Die Zahl der Unzufriedenen ist Legion, und die Verwirrung kennt keine Grenzen mehr. Es hat mich seinerzeit nicht im geringsten gewundert, als ich hörte, sie seien unter den Überläufern und es freut mich, jetzt ihre Bekanntschaft zu machen. Und der Herr Schwiegerpapa ist gerade auch nicht der Böseste.“

Beim duftig dampfenden Kaffee, zu dem sich der Doktor von seinem Lager erhob, und seine nun von ihrer Geschäftigkeit ausruhende Frau ihre sprudelnde Unterhaltung spendete, entfaltete sich die der ländlichen Beschränkung eingepaßte Lebensklugheit dieses dorfherrlichen Ehepaares zusehends in einer erquicklichen Biederkeit:

„Morgen bin ich wieder auf den Beinen, Herr Kollega“, beteuerte er, „und besuche Sie. Auf Cerevis!Nichts da! Nichts dal Sie freuen mich nun einmal und ich komme bestimmt.“

In der abgegrenzten Gedanken und Begriffswelt der Leutchen war alles so ordentlich abgestaubt und säuberlich aufgeräumt, wie in den freundlichen, wenn auch niederwandigen Stuben ihres Häuschens, durch dessen Erdgeschoß die Gäste noch geleitet wurden. An den Ausgang wurden sie von Frau Doktor hinten ums Haus herumgebracht und die Fuchsien und Geranien der üppig wuchernden Simsbepflanzungen mußten noch zum Abschied ein wahres Spießruten284 []laufen von lateinischen Namen aus dem Munde der munteren Frau über sich ergehen lassen.

„Hu!“ machte Krimhild, als sie hinter dem Dorfe das Sträßchen hinanstiegen, „sind mir das zwei Gescheite! Muß ich nun auch so kauderwelsches Zeugs am Schnürchen herunterschnabbelndꝰ“

Er blieb stehen und sah sie mit großer Liebe an.

„Gelt, nein!“ sagte sie froh und legte ihren Arm in den seinen, ihrer beider Schritte, trotzdem es bergauf ging, durch eine regere Gangart ermunternd, träumen und duseln und von all dem Kram behalten, so viel mir paßt, darf ich das? Und doch schäm'ich mich, immer so dumm zu bleiben. Vorwärts, wir müssen unsere Zeit benutzen, jetzt gleich auf dem heutigen Heimweg. Dort “, sie wies lebhaft auf eine Gruppe hochaufgeschossener stachlichter Kardendisteln am Wegrande, „ist zum Beispiel da nichts Interessantes dahinter, irgend wieder so ein verstecktes Lebensgeheimnisd“

Sie traten an das Gestrüpp heran. Melchior bückte sich spähend, nickte befriedigt und machte nun Krimhild in der Cat aufmerksam auf die merkwürdigen Verwachsungen je zweier querständiger Blattstiele um ihren mittleren Stengel herum. So bildete sich ein Behälter für die Regentropfen, Wasserbecher, aus denen die Pflanze jederzeit ihren Durst stillt.

„Das ist aber schmutzig und unreinlich“, bemerkte Urimhild, die sich dicht darüber hinbeugte und genauen Augenschein nahm, „was da alles drin herumschwimmtd“ [285] Nicht von ungefähr; vom Standpunkt der Pflanze aus ist es sogar eine ganz appetitliche Fleischbrühe.Einige Mücken und Ameisen sind am Rande ausgerutscht und in dem Tümpelchen ertrunken und machen die Wassersuppe schmackhaft.“

Wohl über eine Stunde lang war zwischen ihnen von diesen seltsamen Dingen die Rede, von der Fleischkost der Pflanzen, von ihren feinen, winzigen Saugfäden und Fangarmen, von der ganzen unerbittlichen treffsicheren Zweckmäßigkeit, die diese stumme, gefesselte Welt durchwaltet. Krimhild hatte sich einige Stiele gebrochen und sich die stachlichten dicken Kardenköpfe mit den blassen Lilablüten in den Gürtel gesteckt. Der nahende Abend machte sich mit erfrischenden Lüften geltend, die Wasserscheide des Höhenzuges war erklommen, der Weg führte talwärts und heimzu.

Melchior warf erst verstohlene und dann keckere Blicke auf seine neben ihm dahinschreitende Braut und ließ sie wohl auch vor ihm hergehen, so daß sie schließlich ganz befangen fragte:

„Was soll das? Warum siehst du mich so and“

„Krimhild“, sagte er und faßte sie im Weitergehen bei den Fingerspitzen, „in uns beide ist ein neuer Rhythmus gefahren, spürst du das? Uns steht etwas bevor, wir schreiten auf einen Gipfel zu da ist es dann höher, als überall, wo wir schon waren. Neue,einstweilen kaum berührte Dinge müssen erst erfahren und ausgekostet hinter uns liegen, damit wieder unser Blut auf jene tolle Weise in Wallung gerate und dann brauchst du mir die Tapetentüre nicht vor der [286] Nase zuzuschlagen, wie damals abends nach unserer Gipstöpferei seligen Angedenkens. Fürchte dich nicht vor der Tücke der rückfälligen Erinnerung! Zwischen uns hat es ganz frisch angefangen; wir sind dabei,als wären wir zwei Fremde, von einer völlig anderen Ecke her Bekanntschaft zu schließen.“

Das waren wieder von jenen Worten einer ihre Begriffe übersteigenden und desto geliebteren Weisheit, wie sie Krimhild von Melchiors Lippen gleich süßen Küssen trank. Verstanden hatte sie seinen Gedanken höchstens zur Hälfte, aber die verjüngende Wirkung strömte voll und ungeschwächt durch ihren ganzen Leib. Verschämt, ohne nach ihm hinzuäugeln,fürbaß die Blicke den Schritten voraufschickend, warf sie ihm hin:

„Findest du, ich sei schöner gewordend?“

„Das finde ich nicht, das bist du, positiv und objektiv und außer allem Zweifel schöner!“

„Seit wannd“

„Und warum und wiesod Seit du im Geistigen lebst und das Geistige bei dir sich den Ausdruck schafft im körperlich Sinnenfälligen, weil es dir an jedem Organ gebricht für ein fälschliches Blaustrumpfgebaren. Deine Stimme, deren voller Klang früher leicht von einem scharfen Faden durchzogen wurde,verliert jetzt auch in der Erregung nimmer den schmiegsamen Schmelz. Die weiße, sogar südländisch ins Bläuliche scimmernde Gesichtsfarbe büßte auf einmal ihre interessante Ausnahmseigenschaft, diese schwermütig kränkliche Blässe ein und ist nur noch elfenbeinhaft fein 287 []geädert und von schimmernder Glätte. Die kohlschwarze Glut deines Blickes hat sich zu inniger Sanftmut, zu einer unwiderstehlich stumm flehenden Güte gemildert, wie sie aus dem Auge der Gazelle uns entgegenschwimmt, um dessentwillen mir der ganze übrige zoologische Garten gestohlen werden kann. Dein kastanienbraunes Haar quillt voller, welliger hinter die durchsichtigen Schläfen zurück; die schmalen Lippen schimmern röter, die Reihe der Zähne blendender.Und zu diesem deinem herrlichen Frauenhaupte baut sich als zu seiner Urönung dein schlanker, niemals gänzlich stille zu stellender, immer in irgend einer geheimen Bewegung erzitternder Mädchenleib hinan,bei allem Ebenmaß noch knospenhaft, die volle Entfaltung zur Reife erst noch verheißend. Deine Gestalt hatte früher etwas eckig Unausgeglichenes, auch etwas abweisend Unnabbares an sich gehabt. Jetzt bewegst du dich in runden, eingepaßten Gebärden. Deine ausgestreckte Hand ist eine Hilfereichung, dein ausschreitender Fuß ein Entgegenkommen. Ich, dein Bräutigam, nehm' es keinem übel, der dich sieht und glaubt, du seiest auf der Welt, um ihm Freude zu machen...“

Dadurch, daß sie immer zugingen, während er diesen romanhaften Liebeskatalog vor sich hersagte,nahm sich die fortlaufende Reihe seiner Beteuerungen im einförmigen Schrittempo noch unwahrscheinlicher und verdächtiger aus, so daß Krimhild die Geduld verlor, mit einem kurzen Aufstampfen stehen blieb und, aber sehr sanft und herzlich, fragte, indem sie ihm voll in die Augen sah:288 []„Nun sei gut, Melchior, und sag' mir: treibst du nur deinen Spott mit mir oder ist es auch ein ganz klein wenig dein Ernst.“

Er war auch stehen geblieben, und hingerissen von ihrem Anblick, der ihm sagte, „du hast sie so schön zum Blühen gebracht und dir soll sie reifen“, warf er erst einen geizig spähenden Blick rings in die Runde, und als er sah, daß auf der Wegstrecke, soweit sie sichtbar war, niemand kam und ging, vielmehr die kleine Lichtung überall vom dunkeln und schweigenden Wald umschlossen war, und auch ein nahes Steinklopferhäuschen leer stand, umarmte er sie mitten auf der Straße; die Küsse, die sie ihn willig rauben ließ, ermunterten ihn, und vorUbermut preßte er sie jählings mit ganzer Kraft an sich, ohne zu beachten, daß ihre eine Hand gerade gegen den Distelstrauß in ihrem Gürtel zu liegen kam. So drangen ihr über seiner Gewalt mehrere spitze Stacheldorne in der Gegend des Pulses durch die zarte Haut. Schnell überbot sie den heftigen Schmerz mit einem lachenden Aufschrei und hielt Melchior rasch die wunde, alsbald durch quellende Blutstropfen bezeichnete Stelle an den Mund. Er beleckte die Spuren und heftete gleich hinterher einen heißen, nicht endenwollenden Kuß darauf.Nun waren sie aber trotz alledem beobachtet gewesen. UÜber der Wand des Steinbruchs hinter ihnen,aus dem ihn übersäumenden Tannenwalde erscholl es von einem unsichtbaren Zuschauer:

„Guten Abend und wohl bekomm's.“

149 Bernoulli, Zum Gesundgarten [289] Krimhild erkannte die Stimme und erbleichte. Melchior erkannte sie nicht und nahm es für den Scherz eines unbeteiligten und nur zufällig anwesenden Zeugen und führte auch Krimhilds auffallend gestörte Caune nur auf den Schrecken des durch seine Unvorsichtigkeit ihr bereiteten körperlichen Schmerzes zurück. Von ungefähr kam nun auch sein Bruder Rudolf des Weges, der aber jener Rufer nicht gewesen sein konnte, denn er nahte sich von der ganz entgegengesetzten Seite. Dennoch sah es nach seinem Winken und den auf die Entfernung schon lebhaften Gebärden aus, als sei er auf der Suche nach den beiden und nun froh, ihrer ansichtig geworden zu sein.

Wo steckt ihr nur den ganzen Nachmittag“, rief er bereits auf eine Distanz von zehn Schritten, „ein andermal habt ihr auf dem Posten zu sein, merkt euch das, wenn man kommt und euch Luckuckseier ins Nest legt.“

Er erzählte hastig, was auf dem „Gesundgarten“vorgefallen war. So um die Zeit, da er männiglich sich mit Fug vom Somnus domesticus, genannt Mittags-schlaf, erhoben habe, sei Jungfer Lisette Hartmann und auch Schwengel und Frau feierlich von Gast zu Gast gegangen und hätten mitgeteilt, ein fremder Gesundheitskünstler habe sich bereit erklärt, auf der Durchreise einen kurzen Vortrag über zweckmäßiges Freihandturnen mit Vorführung aller Beispiele zu halten:„Jedermann begab sich also in die Curmstube, wo alsbald hinter einem Bettschirm ein prächtig gebauter 200 []Mann in abzüglich einer Badehose völlig adamitischem Kostüm hervortrat und mit viel Beredsamkeit die tägliche methodisch kombinierte gymnastische Cuftübung als die Grundlage alles körperlichen Wohlbefindens hinstellte. Er war selbst das beste Beispiel vom Erfolge seiner CTheorie; denn er entfaltete die einzelnen Gliedmaßen und Bestandteile seines Körpers, besonders aber einen herrlich ausgebildeten Brustkasten, in der reichen Schaustellung sich ablösender Bewegungen, und schließlich, als er auf den Begriff des Rhythmus als der Vollendung alles Cbenmaßes zu sprechen kam, setzte er sich, in einer plötzlichen Anwandlung von Humor, selber ans KUlavier und spielte so virtuos, besonders mit so präzisen Akzenten im Basse einen Walzer um den andern, daß einem der Tanztakt förmlich in die Beine fuhr. Dann vollendete er seine Konferenz durch die eindringliche Anempfehlung einiger wichtiger elementarer Freiübungen, die er einläßlich und unter zuvorkommender Beantwortung ihm eingeworfener Fragen vormachte und verschwand, offenbar durch eine Capetentüre,ebenso unvermutet als er vor uns trat. Wer er war,sagte er nicht und es wäre ja auch gleichgültig gewesen. Das auffallende war hingegen die Geheimniskrämerei, mit der die Schwengelschen, selbst ohne darum gefragt zu sein, nach rechts und links unter Beteuerungen baten, man möge ihnen die Nennung des Namens erlassen. Der Alte vor allem ist wieder halbwegs hinüber: das sei die einzig richtige Ergänzung zu seinem System von morgen an müsse sie offiziell

9*8 [291] im Kurplan eingeführt sein. Wo nur der Zwinger bleibe und Krimhild; das sei nun schon zu arg, bei einem solchem Anlasse zu fehlen. Uberhaupt gedenke er jetzt andere Seiten aufzuziehen.“

Krimhild hatte dem Berichte atemlos zugehört und sagte mit einer künstlichen, erzwungenen Gleichgültigkeit, sie gehe eben schon vor; aber an der Hast, mit der sie enteilte, erkannte Melchior ihre Unruhe deutlich. Als er selber in Begleitung seines Bruders zurückkam, sah er schon von weitem einige Kurgäste in der Umzäunung des Sonnenbades Gymnastik treiben und wurde auch alsbald umringt und bestürmt. Er hielt sich die Anzapfungen unauffällig vom Leibe, vermied es insbesondere, Schwengel zur Rechenschaft zu ziehen; alles, was er unternahm, bestand darin, daß er Jungfer Lisette beiseite zog. Sie war sehr verlegen und wollte nicht mit der Sprache herausrücken; er verstand es aber sie zu beruhigen und zum Reden zu bringen.„Ja“, sagte sie endlich, indem sie ihre feuchten Augen zu einem festen und ehrlichen Blick erhob, „es ist mein Neffe Albert gewesen.“

„Sie haben mit ihm im Komplott gestanden, er hat sich in der Nähe herumgetrieben und unsere Abwesenheit ausgenutzt.“Sie leugnete es nicht: Denken Sie von mir, was Sie wollen, Herr Doktor, ich konnte es dem Jungen nicht ausreden. Er dauert mich so namenlos. Ich wußte,es war ein Unrecht gegen Sie und doch mußte ich ihm seinen Willen tun.“292 []„Das mit der Zimmergymnastik ist natürlich Vorwand. Er will sich mit Glimpf an Krimhild heranmachen, wasd“

„Er will und kann nicht von ihr lassen das ist ja das Unglück. Aber denken Sie nicht niedrig von ihm,Albert hat seinen Stolz. Tante, sagte er zu mir, als ich im Keller unten mit ihm Kaffee trank, ich rühre keinen Finger. Ich weiß genau, ich bekomme sie wieder.Du sollst sehen, sie wird doch noch mein. Laß nur alles seinen normalen Lauf nehmen.“

Bis jetzt war es Zwinger leicht gefallen, seine Ruhe zu wahren. Aber dieser Bescheid ging ihm übers Maß;nur gewaltsam vermochte erseine Fassung zu bewahren.Er verzog die Mundwinkel zu einem sauren Lächeln und zuckte die Achseln.

„Seine Sache! Ich bin natürlich der letzte, der ihm dabei dienen kann. Oder meinen Sie, ich soll mich einmal mit ihm auseinandersetzen und ihn unter vier Augen fragen, ob er eigentlich bei Trost ist. Natürlich geschähe das nur mit Rücksicht auf Sie; denn Sie tun mir aufrichtig leid, beste Jungfer Hartmann, da ich Ihre herzlichen Gefühle für Krimhild und mich kenne.“

Die alte Haushälterin machte sich nun länger mit dem Taschentuche zu schaffen und schüttelte unter Schneuzen und Räuspern und Schluchzen fortwährend den Kopf, ehe sie reden konnte:

„Ich? Was liegt an mird Aber Glück und Unglück von euch drei Lieben, Guten und Jungen das reißt mir freilich nochs Herz aus dem Leibe. Er ist so unsäglich stolz, Albert. Ich soll Ihnen sagen: er hätte äl293 []tere Ansprüche und, wenn Sie das äußerste verhüten wollten, so möchten Sie doch ja keine Zeit verlieren und sich rechtzeitig bei ihm melden.“

Das war zu viel. Zwinger wandte der nun heftig weinenden Alten unwillkürlich halb den Rücken und warf ihr über die Schulter noch eben zu:

„Er soll sich in acht nehmen, und doch ja bei allen seinen hohen Plänen nicht vergessen, wo er die letzten paar Monate zugebracht hat.“

Damit ging er von ihr und ließ sie stehen. Er sprach niemanden mehr, auch Krimhild nicht und zwang sich,den vorliegendenAufgaben seiner Praxis nachzudenken.

Nun brachten gleich die folgenden Tage einen schweren Fall, der alle Nebengedanken zurückdrängte.Ein Handlungsreisender, das Eisenbahnbillett nach Paris in der Tasche, kam mit Warenmustern eines Hotelausstattungsgeschäftes und wurde, kaum angelangt,von den heftigsten Ohrenschmerzen befallen, so daß er halb ohnmächtig nach dem Arzt schrie. Zwinger brachte eben noch in Erfahrung, der Patient habe eine Influenza halbwegs noch im Leibe; dann wurde der Kranke von hohem Fieber um den Verstand gebracht und verfiel in unsinnige Delirien. Zufällig war Zwinger in seinem Rat nicht einmal auf sich selbst angewiesen;denn er erhielt gerade den Gegenbesuch so drückte der sich aus des leidlich genesenen Landarztes im hause mit den Sonnenblumen und nahm den Kollegen mit vor das Krankenbett. [294] „Das wollen Sie übernehmen“, sagte der langsam und bedenklich,„das ist ja die schönste Mittelohreiterung mit Hirnsymptomen. Schnell eine Droschke oder einen Operateur und aufgemeißelt! Processus mastoideus!“

Nein“, sagte Zwinger, „ich wag es. Hiersind meine Kräuter am rechten Platze “ und er nahm den Kollegen mit ins Laboratorium, zeigte ihm das Bilsenkrautpräparat, das er für einen solchen Fall besonders geeignet fand, und das er sich soeben von Krimhild hatte auspressen und aufkochen lassen.

Der vorsichtige und behäbige Landdoktor sagte während der Vorbereitungen meistens nichts und wenn doch, so entweder: „Es kann sein!“ oder dann: „Wir wollen sehen.“ Er blieb, bis die ersten Einträufelungen erst ins eine, dann ins andere Ohr vorgenommen waren,schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln, schnalzte mit der Zunge, dann griff er nach seinem Stocke und empfahl sich.

„Wenn es gerät, so schreiben Sie mir's gleich; es kann sein, ich versuch's dann auch; aber wir wollen sehen.Ich sage ja selber, es kann sein.“

Melchior und Krimhild, teilweise unter dem Beistand der Jungfer Lisette, wichen nicht von dem Urankenbett und wurden nicht müde in dieser selben gleichförmigen Handreichung, unaufhörlich mit diesen heilsamen Säften die beiden Gehörgänge durchzuspülen. Drei Tage lang währte die große Sorge und Aufregung. Zwinger wollte schon verzweifeln und sagte zu Krimhild:

„Wenn es diese Nacht nicht durchbricht, so ist es sein Tod.“295 []Dann verließ er das Zimmer. Kurz darauf hörte Krimhild mit einem Mal den Kranken, der lauter unartikulierte oder undeutbare Dinge die Zeit über gesprochen hatte, vernehmlich sagen:

„Au, was ein Kanonenschuß!“ Und, als sie eben ans Bett geeilt war, noch hinterher:

„Was fließt mir denn da aus dem Ohre.“

Als Melchior wieder eintrat und sich berichten ließ,fuhr seine Hand nach der des Kranken ein Blick zu Krimhild und:

„Gerettet!“ stieß er aus.

Aber dem Kollegen vom Lande würde er es doch besser nicht schreiben nein! So knapp wie das nun eben noch gewonnen war. Er brachte es nicht übers Herz, dies als die Behandlungsweise schlechthin hinzustellen. Jetzt, so nachher, wenn er's überlegte, war es doch beinahe ein Leichtsinn gewesen? Ob wirklich Bilsenkraut die Phlogose wirksam unterstützte? Ob nicht der Entzündungsprozeß sich ohne jedes Zutun selbst geholfen hätte? Was ließ sich da bestimmtes sagend Ein günstiger Ausgang aber kein Beweis und kein Verdienst.

Zu Urimhild sagte er:

„Hör' mal. So treib ich's nicht weiter. Wir stehen zwischen viel zu viel mittendrin. Wir müssen für Sammlung und Ruhe sorgen, sonst halt ich's nicht aus.“

Einige der Kurgäste brachen in überschwengliche Glückwünsche aus, wogegen Schwengel sich wieder einmal als unverbesserlicher alter Fuchs betrug, als er sagte:296 []„Ja, hätte er beizeiten Luftturnen getrieben Tag für Cag, wie sich's gehört, es wäre gar nicht so weit gekommen. Nur mit den Pflanzen allein ist es eben ein unsicheres Kantonement. Man muß rechtzeitig nach der Ergänzung trachten und sich einen Rücken suchen.Hätte ich das getan, als es noch nicht zu spät war,so würde es mit mir jetzt nicht hinten hinunter gehn.Narr ich, zu glauben, Kraut allein mache das Kraut fett.“

Rudolf Zwinger war zwei Tage in der Stadt unten gewesen.

„Weißt du das neuested“ rief er, als er bei Melchior ins Zimmer trat, schon auf der Schwelle. „Der, Gesundgarten? soll verstaatlicht werden; die Sozialdemokraten wollen eine öffentliche GratisGesundheitsstation für die Armen und Armsten hier oben errichten.Seit einer Woche steht in den Käsblättchen von nichts anderem zu lesen. Was mich am meisten wundert, ist die allgemeine Voraussetzung, es stehe sehr wackelig mit den Moneten hier oben und schicke sich unser Hausherr schluckzessive an, in aller Form die Beine zu strecken.Beim Friseur hab ich den, Vorwärts‘ gelesen. Da war ein Artikel unterschrieben: Albert Hartmann; ich kann dir sagen, der Artikel hatte Hand und Fuß.“

Er brach ab, weil Melchior, der nur mit halbem Ohr zugehört hatte, bei dem Namen Hartmann wie von einem Stachel gestochen auffuhr.

„Still“, schrie er, „nichts mehr von all diesem Zeug.Natur oder Staat oder Heil oder Unheil das ist mir [2907] nachgerade vollständig gleich, verstehst du mich. Ich habe vollauf mit mir selbst zu tun bekommen, daß es um mich herum stehen und gehen mag, wie's will, ist mir alles vollkommen einerlei, wenn ich nur mit mir selber zu Schlage komme. Das Grundwasser steht mir bis an den Hals, kann ich dir sagen, und da ich einstweilen keine Lust verspüre, mich davon ersäufen zu lassen, so heißt es, die Backen aufblasen, mit den Armen rudern und Wasserstampfen. Aber Haufen genug davon! Ist nichts für dich. Sag du mir lieber, was sie zu Hause machen.“

„Endlich!“ atmete Rudolf theatralisch auf, „endlich ein Menschenlaut aus deinem Rabenherzen. Was sie machend Nun was wohl du bist an der Reihe:sie grämen sich über dich und tragen dich auf betendem Herzen wie weiland mich. Ubrigens ihr könnt heiraten, wann es ist. Die obere Etage wird leer.“

„Leer!“ rief Melchior voll Anteiles, „warum ziehn denn die aus.“„Papa will es so, weil Mama mit ihrem unaufhörlichen Hüsten und Hotten ihn schließlich noch bei lebendigem Leibe hinterfür mache.“

Und die Mama habe gerade in den letzten Wochen so nebenhin verlauten lassen: „Wenn es mit der Schwengelin etwas wird, dann werden die beiden eben wohl oder übel da unterschlupfen, wo sie am billigsten fahren. Lange Umstände kann man dann nicht mehr machen, weder sie noch wir.“

Während Rudolf diesen neuesten Stand der Dinge mitteilte, wurde Melchior merkwürdig kraus und schum298 []merig zu Mute. Er zwang die Anwandlung nieder und ließ nichts merken.

„Mensch!“ sagte er, „urteile selbst: ist denn bei einigem Verstande für mich an eine Rückkehr zu denkend Das gäbe mir eine geflickte Jacke! Ein neuer Lappen auf ein altes Cuch und werde der Riß ärger denn zuvor.“

Aber Rudolf wollte sich nicht imponieren lassen. Er sah das „Brüderchen“ von der Seite an:

„Tu doch nicht so! Als ob du der erste wärest und allermindestens silberne Löffel gestohlen hättest! Bat sich was! Wo ist denn in deiner Affaire der unerläßliche Gestankd Ich rieche nichts. So ehrbar wie nur möglich und brav und rührselig! Jugendbibliothek jeder Konfirmandin in die Hand zu geben der Sohn aus gutem Hause und das Mädchen aus dem Volke ein tragischer Schluß wäre so stil als geschmacklos.Jdyll bleibt Idyll!“

Melchior fing an aufgeregt auf und nieder zu gehen,indes Rudolf fortfuhr:

„Laß dir doch das nicht entgehen. Für mich ist es wohl das stärkste Gefühl meines Lebens geworden: erst ein bißchen verlorener Sohn und dann die Heimkehr!Auf mich hat es unheimlich gewirkt. Hör mal zu, hör mal zu, ein Cag aus dem Leben Rudolf Zwingers, als er wieder bei Muttern war. Ein Viertel nach sieben beim Kaffee! Nachher setzt sich der Vater auf den Flur auf einen Holzhocker und läßt sich, weil er zu Blutandrang im Kopf neigt und sich nicht bücken darf, von dem Dienstmädchen die Schnürstiefel anziehen. Dann 299 []bürstet ihm Mama noch einmal die Kleider über, ehe er in die Apotheke hinunter geht. Um zehn Uhr, zwischen den erledigten Morgen und noch nicht begonnenen Mittagsgeschäften ruft Mama die Mägde ins Zimmer und liest ihnen die Losung nebst Liedervers und dann noch eine Seite aus den ‚, Täglichen Weckstimmen‘ vor. Der Briefträger, der auf seine besondere Weise die Klingel zieht, der Bäckerjunge, der im Hof immer denselben Gassenhauer pfeift, der alte Provisor, der in regelmäßigen Zwischenräumen das stille haus durch einen schallenden Niesausbruch zu alarmieren pflegte alles genau wie zu Olims Zeiten.Je länger und einläßlicher ich mir von der Unumstößlichkeit dieser banalen Wahrnehmung Rechenschaft gab,desto unheimlicher wurde mir zu Mute. Manchmal aber steigerte sich diese ssumme Machthaberschaft bis an die Grenze des Erträglichen. Dann war mir, als grinse und höhne es von Decke und Wänden auf mich herein: Söhnchen, draußen magst du aus dem Häuschen geraten sein. Jetzt ist man wieder zu Hause. Verstandend Doch lösten sich diese Augenblicke jäher Beängstigung, wo ich mich kaum mehr zu retten wußte, wieder gegen Ruhestunden aus, Stunden auch der inneren heimkehr, der Genesung und des Sichzurechtfindens.Wenn ich dann durch versunkene Räume schritt, deren alte, dicke Mauern im Sommer kühl und im Winter warm halten, wenn eben noch durch die gesenkten Jalousien von draußen her strichweise der Sonnenschein durchflinzte, dann kam doch wieder die verstohlene Süßigkeit des Daheim über mich. Es beruhigte und be [300] glückte mich im Innersten, meine Schritte auf den Steinfliesen des Flures lang hinhallen zu hören oder,bei einem schrägen Blick durch die Flucht der geöffneten Türen, im Eckzimmer am Auslugfenster unsere gute alte Mutter vor dem Nähtisch sitzen zu sehen, wie sie da mit Schere und Nadel hantierte und ab und zu einen Blick über den Fischmarkt warf. Ich sage dir geh! gehl und tue desgleichen!“

Immer schneller war Melchior auf und nieder gegangen, immer krampfhafter hatte er seine Finger an den gestreckten Händen erst ausgespreizt, dann zur Faust zusammengeballt und diese nervöse Zuckung immer rascher hintereinander wiederholt. Jetzt gewahrte Rudolf den Uampf auf Melchiors Gesicht und vernahm ein unterdrücktes Schluchzen. Das hatte er nicht beabsichtigt. Zu nahe treten wollte er Melchior nicht. Um die Situation nicht noch peinlicher werden zu lassen,sagte er nichts mehr und schlich sich aus der Stube.

Am gleichen Tage wurde jener Sonderling, der für leinenes Unterzeug Propaganda machte und mit Vorliebe „Unschnuld“ sagte, von dem sittlich entrüsteten Schwengel in Person an die Luft gesetzt auf die Klage einer der schwarzgekleideten alten Damen hin, der Unverschämte habe sich nicht entblödet, ihr zu sagen: wenn sie noch keine Ziege in gesegneten Umständen gesehen habe hinter der Hecke weide eine und fresse an den Haselstauden. Aber auf den Teufel folgte Belzebub:die Karikatur eines Gesundheitsknaben, ein Affe von einem Naturburschen. Er hieß August Tunte, war völlig grün gekleidet in bayrisch Loden und trug einen 301 []grünen, weichen Zeughut mit drei Nähten. Dazu Triumphstiefel mit Klapphaken und einer Schnürvorrichtung kombiniert. Diesen Stiefel konnte er auf dem andern Beine stehend sich mit großer Fertigkeit von der Sohle streifen, und pflegte ihn gleich frohlockend der Umgebung unter die Nase zu halten. Jedes Gespräch mit ihm artete schon nach wenigen Minuten in den leidenschaftlichen Lobpreis irgend eines Warenhauses oder Schleuderbazars aus, wobei er sich als wandelnde Beispielsammlung aufspielte:

„Hier, dieser Knotenstock, naturecht, mit eiserner Steigspitze nur achtundneunzig Rappen. Dito der grüne Zeughut mit drei Nähten nur achtundneunzig Rappen hier, dieser Lodenmantel, wie er da ist, fußfrei, regendicht und doch durchlässig für Luft und Ausdunstung sechs Franken vierundfünfzig “

Dergleichen trug August Tunte, der zu seiner grünen Tracht mit einem leicht geröteten Milchgesicht und einem kammscheuen, semmelblonden Kranzbart ausgestattet war, mit einer dünnen, blechernen Stimme in dummdreister Weise vor, so daß Rudolf Zwinger,der Schauspieler, sich vor Lachen nicht halten konnte;denn Tunte erinnerte ihn tout craché an seinen famosen Mitmimen Jungmann, der den Baron im Nachtasyl und den Junker Schmächtig in Shakespeares Windsorschwank genau mit demselben Organ, derselben Figur und demselben Gebärdenapparat zur durchschlagenden Wirkung brachte.

Herrn Tuntes Auftreten hätte zur Not noch auf das Konto einer freilich weitgetriebenen Harmlosigkeit [302] gehen können, wenn er nicht ziemlich bald sich als Sendboten des verwichenen Kandidaten Blötherlein zu erkennen gegeben hätte. Dieses Amtes waltete er recht geschickt, indem er den hierfür wehrlosen Schwengel mit faustdicken Schmeicheleien zu ködern und eine allgemeine Parteinahme der Nurgäste gegen Zwinger ins Werk zu setzen suchte. Vier Tage lang trieb er dieses Spiel ungestraft; dann floß die Schale des Zornes über.Als er, mit Zwinger vor versammelter Zuhörerschaft in einen Wortwechsel geraten, erst hinwarf:

„Ach was! Wer ein Mann ist, dem ist das Kräutersystem zu süßlich“ und bald darauf persönlich wurde in dem Ausfall:

„Ach Sie! Sie sind auch nur so ein Wolf im Schafspelz“ wohlgemerkt, Faxons Lieblingswendung da besann sich Zwinger, satt wie er ohnehin schon all dieses öde Gewäsche war, nicht lange auf eine korrekte Wahrung seiner bubenhaft angetasteten Ehre, sondern nahm ohne Umschweife seine Zuflucht zu einer saftigen Realinjurie, sprang auf und ohrfeigte Herrn Tunte mit ungewöhnlicher Treffsicherheit rechts und links, wo es hinfiel.

Die Mehrzahl der Patienten vermochte Zwingers Selbsthilfe keineswegs für gerechtfertigt zu halten,so daß, bei der vorgerückten Saison weiter auch kein Wunder, eine panikartige Abreise folgte und das zu Anfang der Woche noch ordentlich gefüllte Haus an ihrem Ende auf ein spärliches Häuflein zusammensank,das rettungslos, nach den bestellten Rechnungen zu schließen, dernahengänzlichenAuflösung verfallen war. [303] Nun hatte Schwengel das Heft in Händen, sprach von Unverschämtheit und Kreditschädigung, gab bei der Abreise des Herrn Cunte diesem ausdrückliche Grüße an den Kandidaten Blötherlein und auch an Faxon mit, und sie möchten sich ruhig wieder bei ihm sehen lassen, sobald sie Lust verspürten er werde sich freuen.

Am allermeisten angewidert von der Gewaltsamkeit, zu der er sich hatte hinreißen lassen, war Zwinger selbst. Aber wahrhaftig nicht aus irgend einer Angstlichkeit oder Reue, sondern aus beleidigtem Stolze,aus dem Gefühl schmachvoller Selbsterniedrigung.Jetzt, hinterher, gingen ihm die Augen auf, wie weit er sich hatte treiben lassen, wie gemein er sich gemacht selbst schamrot, so sehr glaubte er sich auf einer ehrenrührigen Schimpflichkeit ertappt zu haben. Er floh vor sich selber, floh hinaus in den Wald, wo er am tiefsten war. Da, hinter einem dichten Verhau von Brombeergesträuchen warf er sich auf den dicküberwachsenen Moosteppich des Waldbodens und wälzte sich vor Unmoglichkeit und fassungslosem Entsetzen wie ein Coller,bis ihn die Berührung seiner Hände und Wangen mit den feuchten und kühlen Gräsern und Kräutern allgemach zur Besinnung brachte.

Nun lag er lange Zeit regungslos auf dem Rücken und starrte in die hohen Bäume und den vergitterten Himmel hinauf. Uber demleisen Waldesrauschen hörte er sein eigenes Herz deutlich schlagen. [304] „Krimhild“, rief sein Mund von selber, ehe er noch an sie gedacht hatte.

Da wurde ihm klar, wie sehr dieser sein Zerfall mit der Umgebung nur das Geleite abgab zu dem stillen Wahnsinn seiner Liebe. Dazu war es nachgerade gekommen, sah er nun ein; die beständigen Vorbehalte und Täuschungsversuche rächten sich nun endlich. Er hatte ein frevles Spiel gespielt mit seiner Sinnlichkeit;er hatte ihr bald ein künstlerisches, bald ein gelehrtes Mäntelchen umgehängt. Er hatte aus seinem elementaren Herzenstrieb einen Mummenschanz gemacht.War das ehrlich? Gebrach es ihm an Mutd Oder gebrach es ihm gar an Liebe?

Am andern Morgen sagte er zu Krimhild:

Mun ist endlich dieser Druck von uns genommen,dieser falsche Schein. Nur mußt du mein tapferes Mädchen bleiben. Gelt?“

Sie fiel ihm in großer Erregung um den Hals und bat ihn nur um eines: noch einmal so mit ihm durch Wald und Flur zu gehen, daß er ihr die stillen Mysterien des keimenden und erblühenden Lebens zeige und zu ihr spreche und rede:

„Dann will ich alles, alles ertragen, was auch über mich kommen mag.“

„Aber gewiß, mein Herz. Nichts lieber als das. Morgenꝰ“

„Warum nicht gleich jetzt: es ist der herrlichste Sommertag.“

„Aber heiß heiß, jetzt schon, um halb acht Uhr früh.“

20 Bernonulli, Zum Gesundgarten [305] „Caß uns dennoch gehen; ich kann's nicht erwarten.“

„Gut, dann mach dich fertig.“

Als sie sich am verabredeten Waldplätzchen trafen,erkannte Melchior die im groben Ackerkleid mit aufgelösten Haaren am Fuße des bezeichneten ECichbaumes kauernde Hirtin nicht gleich. Krimhild hatte ihr luftigstes Kleid angelegt: einen Blusenrock aus ungefärbtem,nur gebleichtem Zwilch, den sie sich einst, nach den Angaben des Naturapostels, ihres Vaters, als Modell für gesundheitsmäßige Frauentracht auf den Leib arbeiten lassen mußte.

Wie siehst du aus?“ rief er aus, als ihr Lachen und ihre Anrufe ihn auf die rechte Fährte gebracht hatten.

„Verzeih“, erwiderte sie mit verschämtem Augenaufschlag, „es ist nicht viel daran eben nur so unter den Armen herunter halbwegs bis auf die Füße.“

„Ah, verstehe: Ein decolleté für einen bal cham-pẽêtre“ und dabei runzelte er die Stirne und drohte mit dem erhobenen Finger und hatte doch das Gefühl,er sei es gewesen, der etwas Frivoles gesagt habe.

„Bei der Bärenhitze?“ bat sie errötend. „Und einmal solltest du mich doch darin sehen. Man hat so herrlich kühl dadrin. Es ist eine Wonne zu wandern.“

Auch Melchior steckte in einem steifleinenen weißen Zwilchanzug. Krimhild musterte ihn, nachdem sie gelten gelassen war, und meinte, wenn auch seine Jacke schon Armel habe und ihr Miederchen keine, so habe er ihr doch im übrigen nichts vorzuwerfen: er habe es sich wahrhaftig auch bequem gemacht.

Ehe sie die Wanderung antraten, die sie ins Auge [205] faßten, nämlich die prächtige Tour durch das wildromantische Siebenbrunnental, griff Krimhild, noch unter der Eiche sitzend, auf Geratewohl neben sich ins Moos und zog mit dem einen Fang zwei Pflänzchen aus der lockeren und feuchten Erde, ein zartes, grünes Kräutlein und einengekrümmtenfleischigenstengel mit lauter kleinen Blättchen gepanzert und reichte sie ihm.

„Ist da auch wieder ein Geheimnis dabei irgend so eine schlaue Berechnung oder Verschlagenheit von der wir andern keine Ahnung haben.“

„O ja“, bestätigte Melchior schon nach einem flüchtigen Blick, „Sauerklee und Schuppenwurz. Der Klee ist ein intimes und feinfühliges Wesen, hebt und senkt O lung, wie sich's gehört auch hier im Waldesdunkel;aber der andere da, der krumme, fette, das ist ein rüder,rücksichtsloser Bursche, ein Rauhbein, ein Freßsack was sag ich, ein ganz ausgepichter und abgefeimter Zuchthäusler. Hier unter jedem seiner unscheinbaren Deckblätter birgt er winzige Höhlen, in denen die kleinen Läuse und Spinnen und Milben und Springschwänze sorglos Nachtruhe zu halten gedenken aber jawohl gute Nacht für immer. Uleine Fangarme fassen und würgen und töten sie und nähren die Zellen.Man sieht, es geht ihm nicht schlecht; er nagt nicht am Hungertuch. Daß man es jedoch mit einem solchen Schmarotzer und Vielfraß zu tun hat, der so viel Braten verschluckt als er Blätter hat wer wäre darauf verfallen. Aber man hat ihn in flagranti ertappt, er läßt sich erwischen, er macht kein Hehl daraus.“ [307] Nun machten sie sich auf den Weg und waren bald an den Eingang des abgeschiedenen Hochtals angelangt. Eine märchenhafte Cinsamkeit umfing sie schon nach den ersten Schritten. Wohl stießen sie noch ab und zu auf ein entlegenes Gehöft, aus dem ihnen ein Hund entgegenbellte, Tauben aufflogen oder eine Stimme von der Haus oder Stalltür her guten Tag wünschte.Aber auch diese menschlichen Siedelungen lagen so versonnen und angewachsen in der Landschaft, daß sie keinen Gegensatz, sondern einen Bestandteil bildeten: lauter Natur, kunstferne, triebsichere Natur. Die Anblicke,die sich ihnen im Steigen auftaten, waren nie alpenartig überwältigend: meistens war eine Felsenkuppe von Wald überwachsen und aus einer lauschigen, verschatteten Wiese aufragend in eine rundliche Mulde des aufwärts strebenden Bergzuges eingemuschelt; die hundert Schritte, die es höchstens bedurfte, um sie zu durchwandern, führten an einem schmalen, von seinen blühenden Rändern bis zur Unsichtbarkeit überwucherten, aber mit munterem Plätschern sich verratenden Bache entlang; dann ging's über ein Brett oder eine aus Asten gefügte kleine Brücke auf dessen andere Seite hinüber. Wald dickicht und steiler Anstieg machten dann sofort den eben genossenen Eindruck zu einem abgeschlossen zurückliegenden, und es war eine völlig neue, aus den gleichen Reizen sich doch ganz anders aufbauende Aussicht, zu der nach höchstens einer Viertelstunde das Baumdunkel sich lichtete, der steile Pfad sich ebnete.Wohl an die zehn solcher lauschigen Ruhewinkel schichteten sich, Staffel um Staffel, als grüne Creppenstufen 308 []nacheinander auf, und die einzige Veränderung, die mit der wachsenden Höhe wahrzunehmen war, bestand in dem Abnehmen des großen Baumschlages, während die Sträucher sich voller buschten, und in dem häufigeren Hervortreten kahler, unbewachsener Steinwände, über die vielleicht noch eine höchste Gipfelfluh aus einiger Ferne hereinragte.

Krimhild erbat sich noch Auskunft über die eine und andere Pflanze, die sie aus der Überfülle der Vegetation im Vorübergehen herausspähte. Im ganzen aber lähmte sie der unabläßliche Gedanke an die bestialische Grausamkeit der Schuppenwurz für weitere Beobachtungen. Ihre Protestrufe und lebhaften Schimpfworte gegen den abscheulichen Meuchelmörder erheiterten Melchior und veranlaßten ihn, ihr des langen und breiten, über volle fünf der kleinen Talruhepunkte hin,von dem gesetzmäßig die Natur durchwaltenden Kampf ums Dasein mit Beispielen und philosophischen Einflechtungen zu erzählen. Dann meldeten sich nach einem ansehnlichen Marsche stets bergauf bei ihnen Hunger und Müdigkeit, und sie beschlossen Rast zu machen und zu frühstücken. Melchior griff in beide Seitentaschen und förderte seine paar Vorräte zutage. Sie setzten sich an einer Halde hin, ließen sich's wohl sein und sich's schmecken.

Aber Krimhild wurde die Ubermacht der Gedanken nicht los.„Ein gutes hat es aber“, sagte sie noch kauend, „alles dies zu wissen, wie entsetzlich furchtbar, wie unerbittlich grausam es zugeht man lernt dann die Liebe 309 []schätzen. Wie undankbar wäre es, zu vergessen, daß es im Leben Liebe gibt. Die macht es doch längst wieder wett alle Schrecken und Verluste und Schicksalsschläge. Oder nicht, Schatzd“

Er legte ihr die Hand ins Haar und flüsterte: „Wenigstens von uns wäre es undankbar, die wir einander in heimliche Seligkeiten begleiten.“

„Wie kommt es aber nur, daß wir jetzt so viel seliger sind als noch vor wenig Wochen, wo es ja auch schon so herrlich war.“

„Siehst du“, nickte Melchior, „das ist der Segen davon, daß wir an uns gehalten haben, das ist die zweite Bräutlichkeit. Wir haben nicht von vorne anfangen brauchen; wir konnten fortfahren und schmecken nun mit geschulten Sinnen, mit einem verschwiegenen BescheidWissen, mit einer zartnervigen Genießerschaft.“

Dergleichen schwere, schwelende Worte waren nicht dazu angetan, die Schwüle des steigenden Mittages abzuschwächen. Sie trugen den beiden ins wache Bewußtsein hinein, was bis jetzt unter der Schwelle ihrer Einbildungskraft geschlummert hatte; etwa folgendes:„Ei wir Tugendhaften, bis zur Stunde haben wir unser Verlöbnis intakt erhalten; es gibt für uns noch ein ungekostet zukünftiges. Es steht bei uns, es uns zu verschaffen, wann wir wollen. Es ist dicht vor uns, nur ein Schritt und wir befänden uns mitten drin, wir Starken und Tugendhaften!“

„Melchior“, unterbrach Krimhild das Schweigen,das sie trotz seiner kurzen Dauer zu ängstigen begann,„manchmal sagst du Sachen, ob denen ich ganz betrunken 310 []werde, als tränke ich über den Durst. Ist das in der Ordnung oder müssen wir auf unserer Hut sein?“

Melchior benutzte diesen Anlaß zu einer sanftmoralisierenden Beschwichtigung:

„Kind, wahre Liebe macht weise, das haben wir erfahren. Man wird geizig gegen sich selber, man erhebt die Hand nicht, um die Decke zurückzustreifen. Man will sich nicht leichten Kaufes um das Vor-Haben bringen.Ein SeelSein, Ein LeibSein, wie im Volksliede, das ist so sehr das Allerhöchste man fürchtet sich vor dem Anbruch; man hat die Dämmerung noch nicht ausgekostet; es ist gut sein in den vorausgeworfenen kühlen Schatten.“

Nun hielt er inne; er spürte, je schöner es herauskam, desto unehrlicher war's. Warum nicht schweigen und seines Schicksals harren und geschehen lassen, was ja doch geschahꝰ Aber indem er schwieg und zuwartete,wurde es nur schlimmer. Die Sonnenglut und die große Stille beschworen in ihm einen panischen Schrecken herauf, eine wahre Angst vor dem Aberfall der Naturgewalt. Es war ihm unmöglich, länger im Grase zu liegen; er mußte froh sein, wenn es zu einem geordneten Aufbruch kam und er nicht wie ein Verfolgter Reißaus nahm und feldein floh. Er spürte, wie Krimhild neben ihm atmete und dachte sich, sie werde zurückgelehnt dasitzen und die Augen geschlossen haben, aber er brachte es nicht über sich, sie anzusehen, so unheimlich und unentrinnbar hätte es ihn gepackt.

Endlich regte sie sich ohne sein Zutun und sagte mit einer ihn förmlich erlösenden Gleichgültigkeit:311 []„Wenn wir weiter wollen, dann tschälähüpp!“ Sie knäuelte das Butterbrotpapier und warf es ihm an den Kopf, gähnte hörbar und als er es nun fertig brachte,sich nach ihr umzuschauen, sah sie träge und gelangweilt aus. Darüber beinahe erfreut, erhob er sich ebenfalls, und es schien ihm bis auf weiteres überstaänden zu sein.

Die noch übrigen Talstufen erstiegen sie gemächlich,in der vorigen Weise. Ein Lüftchen brachte zeitweise Linderung; das eine und andere ausgleichende Gespräch stellte sich unerzwungen ein; heiter, nicht übermüde, aber stolz, eine solche Fußleistung hinter sich zu haben, betraten sie das Ziel des Ausflugs, die letzte Staffel, aus deren hintersten Wand die sieben Brunnen sprangen, und in diesem Augenblick, da sie die sagenhaften Quellen ferne aufrauschen hörten, ward ihm leicht und frei ums Herz.

„Komm'“, sagte Urimhild, indem sie ihm mit seinen Lederbecherchen vorauseilte und an allen sieben Offnungen der Reihe nach probierte, um herauszubekommen, welcher Strahl der kühlste sei.

„Dieser da, ganz gewiß dieser eiskalt, wie Gletscherwasser,“ rief sie und gab ihm davon zu trinken.

Es war zauberhaft auf der kleinen Bergwiese. Blumen nach Herzenslust und erst die Schmetterlinge!Ein völliger Cumult, ein Aufruhr, ein Taumeltanz sich mischender Farben, sich kreuzender Bewegungen. Und alles ohne einen Laut, wenn nicht manchmal eine brummende Hummel plump zwischendurchfuhr, ein Reigen nur für das Auge, eine Leidenschaft ohne 312 []Geräusch, wirbelnde Tollheit mit dem Anschein harmloser Grazie.

„Was treiben die eigentlichꝰ“ fragte schließlich Krimhild ahnungslos, nachdem sie lange in das Gewimmel hineingestaunt hatte.

„Unschuld vom Lande“, lachte sie Melchior aus, „sie heiraten voilà tout.“

Urimhild schaute gleichermaßen weiter in das Gewimmel hin, aber mit dem beträchtlichen Unterschied,daß sie nun plötzlich Bescheid wußte: Hochzeit machten die Dingerchen da, Hochzeit! So verschwiegen konnte das vor sich gehn, so heimlich und traulich und kein dritter Mensch kümmerte sich darum.

AmWalde wölbte sich, in eine Wildnis wuchernder Farren gebettet, eine breite, glatte Kalksteinplatte,goldrot geglüht in der Sonne wie ein eherner Götterschild.

„UNomm“, sagte Krimhild, „jum Mittagsschläfchen“,und warf sich mit ausgestreckten Armen auf den Rücken „komm, man erkältet sich nicht. Herrschaft, wie der Stein brennt.“

Aber Melchior rührte sich nicht von der Stelle und warf sich dann kopfüber in die Farnen. Er starrte in die Kräuter, die durch seinen Reinfall mächtig geschaukelt langsam sich beruhigend wieder der Ruhe zuschwankten.

Aber siehe da: eine seltsame Bewegung wurde er mit einem Mal gewahr: eine Ranke des Felsen erkletternden braunstieligen Streifenfarnes Asplenium trichomanes vollzog dicht unter seinen Augen das seltsame Wunder, auf das der Botaniker einen 313 []ganzen Sommer lang vergeblich Jagd machenkann :die Wedel schwangen, sie schwangen wirklich, drehten sich unaufhörlich im Kreise, schlugen stumm sausend ihre Rädchen vor Hitze, als ständen sie unter dem Antrieb einer Maschine.

„Melchior!“

Ihm war, ihn riefe das Waldweib, die Zauberfee des Märchens.

„Melchior!“

Unwiderstehliche Lockung! Sinnlos, nur aus Trieb,sprang er auf, stand zu Füßen seiner rücklings auf das blanke Steinbett hingelagerten Verlobten.

„Was willst du?“

„Sind wir ärmer als Blumen und Schmetterlinged“

„Was du willstꝰ“

Ihre Augen wurden ganz groß, ihre Lippen verlangend, ihre Stimme sehr zärtlich:

„Gib mir mein Recht, Melchior; bitte, tu's.“

Es flinzte und glimmerte und glutete in der Luft.Nun war er der Verführerin verfallen. Sie sah sein leises Zittern und wie blaß er war und doch lächelte.Gönnt euch noch die Minute der Besonnenheit, ihr beiden, eh' ihr im Uberschwang untergeht: kein Priesterwort hätte euch jemals mit einem so reinen, so festlichen Segen zusammengeführt!

Da, da, nackt und läppisch erhob sich die grinsende Widersache aus dem Hinterhalt und war schon Ereignis! Krimhild zu HBäupten raschelte es; ihr Hals wurde wie von einem kühlen Finger betastet. Eine Viper war aus den Farnen auf den Fels ihr unter den 314 []Nacken gehüpft, ihr über die Schulter geschlüpft, ringelte sich ihr auf die Brust, grub den dreieckigen Plattkopf in die Senkung der Mitte, zuckte auf, guckte und war enitglitten.

„Was ist gewesen, um Himmels willen?“

Im Lehrbuch der Coxikologie hatte es vor Jahr und Tag geheißen: Schlangengift wirkt auf warmes Blut viel heftiger als auf kaltes Blut; in Hochsommerhitze oder bei seelischer Erregung ist die Gefahr am größten.

Melchior, nach dem abgrundtiefen Umsprung in der nächsten Sekunde nur noch Arzt, warf sich über sie,riß auf, spähte, entdeckte auf der zarten Haut die feine,schwachgerötete Ritze, dicht beugte er sich auf sie, preßte die Lippen auf ihr blühendes Fleisch und sog ihr die Wunde aus. Er mußte UKraft aufbieten, anstemmen,kämpfen, bis ihr Leib ihm zu willen war, ihr Blut sich das tödliche Gift entziehen ließ. Wie wild wand und bäumte sie sich über dieser Vergewaltigung, schlug sie um sich mit Fäusten und Füßen. Mit einem Schreisetzte sie sich aufrecht, mit einem Schrei stieß sie ihn von sich denfremden Menschen kannte sie nicht, wollte nichts von ihm wissen, haßte, ja haßte, haßte ihn, der sich um ihr Leben kümmerte statt um ihre Seligkeit, der ihr nützlich war, statt sie zu lieben. Mit den gespreizten Fingern an den steilen Handflächen wehrte sie ihn ab und schrie mit verzerrten Mundwinkeln, außer sich im Taumel des Schreckens, der den Taumel der Lust so jäh verjagt hatte:

„Geh, geh, geh 315 []als sie von dem Entsetzen übermannt halb ohnmächtig in seinen Armen erschlaffte, kam sie zu sich, fiel in ein natürliches Weinen, wurde seinen Tröstungen zugänglich und duldete seine Lippen an ihrem Munde.

Eine Stunde später hatte Melchior mit Müh' und Not einen windschiefen, lahmgefederten Charaban aufgebracht. Urimhild konnte sich, wenn sie die Unie umbog, auf der einen Sitzseite lang hinlegen. Sie war vom Alkohol, den ihr Melchior im Waldwirtshaus als sicherstes Gegengift gewaltsam eingeflößt hatte,schwer betäubt. So fuhren sie die hintere Bergstraße hinunter.„Das weiß euch doch jedes Kind, daß es dort Schlangen hat!“ warf der junge Bauer vom Bock über die Schulter und streifte dem geplagten Braunen mit der Peitschenspitze zwei dicke Schmeißbremsen vom Grasbauche ab.Zwischen zwei und drei, in der stumpfsten, leersten,nichtsnutzigsten Zeit des ganzen Cages knarrten die querständigen Räder des Schnappkarrens über den erhitzten Kies der Zufahrt zum „Gesundgarten“.

[316]

Neuntes Kapitel

er Rückschlag dieses unglücklich endenden Spazierganges äußerte sich an den Beiden in ganz verschiedener Weise. Bei KNrimhild war es so, als hätte der gewaltsame, elementare Schrecken am Tage selbst im Versausen auch zugleich alle widerwärtigen Nachgefühle mit sich fortgenommen. Auf ihr Befinden übte der jähe Vorfall hinterher die günstigste Wirkung aus. Nicht nur bewährte sich ihre liebenswürdige Art in der geschickten Munterkeit, mit der sie Melchior über die Verlegenheit mit Erfolg wegbrachte:„Aber mein Guter, Armer, Lieber, was ist denn da dabei. Du meinst doch nicht gar, ich sei abergläubisch.Unsinn die Kreuzotter oder was es war, kam eben ihres Weges geschlängelt und hielt mich für die Fortsetzung des Felsens, und als sie merkte, daß sie es doch mit etwas weicherem zu tun bekam, machte es ihr Spaß sich dessen zu vergebissern. O ja, so lach doch so lach doch! Das bißchen ich meine das Bißchen war wirklich nichts. Man sieht kaum die Narbe. Und wer weiß, wozu es gut war! Wer weiß, wo wir sonst dran wären mit uns selber!“Die Sicherheit ihrer Liebeshoffnungen hatte tatsäch317 []lich eine Steigerung erfahren und war nun bis an die Grenze des Vernünftigen gerückt.

„Was kann denn unserer Eintracht noch zustoßend Nun gilt es eben frischweg die dritte Bekanntschaft schließen und die wird wieder schönersein als die zweite und ebensoviel schöner, als die zweite schöner war als die erste. Meine Zuversicht ist grenzenlos. Ich glaube für uns gibt es überhaupt kein Ende mehr. Wir steigen und steigen und wenn die Füße nicht mehr wollen,dann wachsen uns Flügel und werden wir getragen.Du wirst schon sehen.“

Umgekehrt verfiel Melchior, trotzdem er Krimhild nichts merken und sich auch ihre wieder beginnenden Liebkosungen gerne gefallen ließ, einer wachsenden Bitterkeit. Ihm war der AÜberschwang fehlgeschlagen,der seinen Stolz und Trotz vollendet hätte. Von dem geliebten Leben Besitz ergreifen, als die Natur ihn in der Stunde ihrer eigenen bräutlichen Weihe einlud,hätte seinem Dasein ein unverwüstliches Frohlocken,einen Einschlag ewiger Poesie einverleibt, der, und wäre er achtzig Jahre geworden, sein Leben lang hätte vorhalten müssen. Jetzt war der Segen dahin, der himmlische Beitrag an sein irdisches Teil gestört: die herrliche Kristallschale, in deren Wölbung alle Sonnen,Monde und Sterne sich besahen, hatte einen Sprung bekommen. Das wäre, so sagte er sich, der Anfang gewesen zu dem Echten und Tüchtigen und da aus diesem Anfang nichts wurde, so schien es ihm eben auch gleich das Ende zu sein. Jedenfalls, was an Krimhild besonderes war, der unvergleichliche Uberschuß, um 348 []den sie alle andern Frauen für seinen Geschmack weit hinter sich zurückließ, das war nun ausgewischt und weggeblasen: er würde mit ihr nur noch glücklich werden, nicht mehr und nicht weniger, als mit einem an Leib und Seele wohlgestalteten andern Mädchen auch.Der unselige Mißton hatte ihn um das Unikum gebracht, um die nie wiederkehrende ersatzlose Seltenheit.„Gut“, nahm er sich zusammen, „dann legen wir eben fürs erste den Schwerpunkt wieder in die Arbeit.Das Kind hat ja vielleicht Recht; es kann irgendwo mit uns des weiteren wieder aufwärts gehen.“ Aber dieser Crost wirkte keineswegs so stark, daß es seine gereizte Stimmung ausglich. Er stellte sofort den früheren Modus wieder her, behandelte die Schwengelsche Sippe als Luft und verkehrte nur noch mit Urimhild und seinem Bruder, zumal es sich ja doch nur um wenige Cage handelte, die er vor seiner Rückkehr in die Stadt zu einer abschließenden Abersicht über seine Kurpraxis zu verwenden trachtete.Er rief den Bruder, holte sein Journal heran und examinierte ihn auf seinen jetzigen Befund.Normalverlaufen. Wie ich voraussagte erst spürtest du die Symptome viel stärkerꝰ Mit dem ersten Cage war alles in dir wie alarmiert und aufs Pikett gestellt? Wie hinauftelegraphiert kribbelte und kitzelte es dich unter der Hirnschale wahrhaftigꝰ So erzähl mir doch, wie dir zu Mute ist. Es ist dir also jetzt wohl in deiner Hautd Du fühlst dich gehobend?“„Brüderchen, ich bin dein Renommierpatient, den Commis Voyageur mit dem Ohrenübel inbegriffen.319 []Eine Klarheit tut sich in meinem Kopfe auf, wunderbhar! Mein Gedächtnis läßt mich kein einziges Mal im Stich. Ich kann meine ältesten Rollen mir zur Probe anreißen, wo ich will, es fehlt mir nichts. Und dem Organ ist es gut, die Säftewirtschaft von oben und unten! Hörst du mir's nicht an, nur schon beim gewöhnlichen Sprechen. Aber gestern im Wald oben, da war ich eben gut im Zuge mit meinem Richard dem Dritten. Keine Ahnung, daß noch ein lebendes Wesen auf Schallweite es überhaupt aushält und brülle nun eben densSchluß: Fünfschlug ichschonan seinersstelle tot.Ein Pferd, ein Pferd du weißtja. Da kommt wahrhaftig ein zerlumpter Strauchritter aus dem Busch heraus und faucht mich mit einemfürchterlichen Schnapserdunst an. Wasd du, fünf totschlagen? Großhans! Willst wohl gleich ein paar hinter die Ohren habend So wahr ich hier bin, Melchior!Wassagst duzu diesem Kurbelegd“Dann gab Rudolf dem Gespräch mit einem Mal eine Wendung:„Ja“, seufzte er, „nun heißt es: Lebt wohl ihr Berge,ihr geliebten Triften. Als guter Thibaut weiß ich nämlich auch die Monologe meiner Tochter Johanna auswendig. Ich wollte sagen: wie lange gedenkst denn du noch hier oben zu hausen?“

„Ach“, sagte Melchior gedehnt, „ich werde wohl die Bude auch für einige Tage schließen.“

„So ist's recht“, entgegnete Rudolf, „und nimmst das Mädchen unter den Arm und kommst mit.“

Melchior sah ihm mit einem ärgerlichen Anflug ins Gesicht: [320] „Gewiß soll Frida mit; sie kann so gut wie du die Kur zu Hause fortsetzen. Aber wozu dieser ironische Tond

Ob diesem Mißverständnis war Rudolf ehrlich entsetzt.

„Mann Gottes! Bräutigam! Was fällt dir ein: doch nicht Frida. Doch Krimhild.“

„KArimhildd? Jetzt schond Es ist ja noch nichts besprochen und vorbereitet. Mich zu überstürzen, wäre das schlimmste.“

Rudolf blieb fassungslos.

„Aber ums Himmels willen, was dennd Du willst sie doch nicht gar am Ende allein hier oben zurücklassen“

„Warum nicht? Für uns beide das beste. Sie behält hier oben alles im Auge. Wie nähme sich das aus, wenn ich gleich mit allen meinen Schwulitäten unseren guten alten Eltern ins Haus fiele. Ich muß ihnen doch anständiger Weise noch die Wahl lassen, mich je nachdem vor die Türe zu setzen.“

Rudolf Zwinger war aufgestanden und maß in großer Erregung die Stube mit seinen langen Schritten aus.

„Menschenskind! Jetzt ist gerade der Anlaß, korrekte Tanzstundenhöflichkeit zu üben; erst ein Viertelstündchen Hut in der Hand zu antichambrieren jawohl,gerade jetzt. Nur, weil du so sehr fein sein und den

Herren Eltern nicht zu nahetreten willst! Ist doch wahrhaftig keine Gefahr! Tritt ihnen überhaupt wieder einmal nahe, eine andere Sorge brauchst du fürs erste nicht zu haben, dünkt mich.“

Uber diesen Worten hatte sich Melchior ganz erstaunt

21 Bernoulli, Zum Gesundgarten [321] in seinem Stuhle umgedreht und schaute mit einem Blick dem Bruder nach, als fürchte er für dessen Verstand.

Nun sage mir nur, was hast du plötzlich? Was soll das heißen.“

Rudolf stürzte wie zum Angriff auf ihn zu:

„Hast du denn überhaupt noch dein richtiges Paar Augen im Kopf?“

Er schob ein dreibeiniges Stühlchen in Melchiors Nähe und suchte sich zu mäßigen, indem er sich setzte.

CLaß mich ruhig zu dir sprechen. Sieh, du hast nun Krimhild so weit! Nur jetzt nichts versäumen! Melde sie doch bei Gay Volckhardt an. Sie nimmt sie mit Rußhand als Gast, so wie wir von jung auf mit ihr gestanden haben. Oder dann steck sie in die erste beste Pension nur nicht hier lassen. Es steht einfach alles auf dem Spiel.“

Aber Melchior schüttelte den Kopf.

„Ich kenne Krimhild besser als du. Mein Gott, es ist doch nur für ein paar Tage, dann komme ich ja und hole sie.“So blieb es denn dabei, wie Melchior es sich in den Kopf gesetzt hatte. Er ließ Krimhild zurück.

An ein und demselben Tage ging in der Morgenfrühe erst Rudolf, dann um die Mittagsstunde auf dem Wagen mit den Koffern das Dienstmädchen Frida und gegen Abend Melchior selber.

Krimhild bestand darauf, noch mit ihm oben den Kaffee zu trinken und ihn dann ein Stück Weges zu begleiten.322 []Sie schob ihren Arm in den seinen, hüpfte und sprang neben ihm her, trällerte und sang dazu, küßte ihn auch mitunter, als sie auf der Straße talwärts stiegen: das stand, wenn man es nur so obenhin nahm, bräutlicher Verliebtheit wohl an, war aber keine besondere Heldentat. Bei Krimhilds wahrem und keusch verborgenem Seelenzustande war es aber wohl eine, jedes Wort in eigener Sache niederzubannen, nur um ihm das Herz nicht schwer zu machen.

So ganz wohl war es freilich Melchior nicht; etwas war von dem eindringlichen Zuspruch Rudolfs doch haften geblieben.

Um so eifriger nahm er diesen letzten gemeinsamen Gang vor der CTrennung wahr, um, wie er meinte, der Ahnungslosen einen Begriff von dem Ernst der Stunde beizubringen.

„Es ist ja nicht für lange, liebes Kind. Aber nicht wahr, du bist tapfer. Laß mich die volle Wahrheit sagen: Du weißt nicht, wie schlimm es um deinen Vater steht, er selber weiß es nicht. Ich aber habe noch kürzlich unzweideutige Beweise in die Hand bekommen von zuständiger Seite, und bis zu einem gewissen Maße steht es bei mir, das schlimmste von ihm abzuwenden.“

Bier unterbrach Krimhild Melchiors Mitteilungen,während deren sie den Blick scheu hatte am Boden hin gleiten lassen:

„Ist es wahr,“ fragte sie und sah ihm scharf unter die Augen, „daß mein Vater Schulden hatꝰ“

„Bis an den Hals steckt er darin“, eiferte Melchior,„er will es vor sich selbst eben nie wahr haben, wie weit

21*2 [323] außen am Rande er schon angelangt ist. Lieber ging er und deckte die Verlegenheiten des Augenblicks mit neuen, vielleicht noch viel unvorteilhafteren Verbindlichkeiten; und jetzt, kann ich nur sagen, steht er unmittelbar vor der Katastrophe. Sein Fluch ist eben dieses halsstarrige, sinnlose IndenTaghineinleben. Noch jetzt hätte sich bei der inneren Lebenskraft seines Werkes der erforderliche Gegendampf erzeugen lassen, um ihn aus dem Sumpf zu ziehen; aber du hast ja gesehen wie er sich handkehrum von so ein paar halbverrückten KUerlen um den Bart gehen und sich von ihnen am Narrenseil herumführen läßt.“

Sie waren jetzt am Saum des Gehölzes angekommen; Melchiors Straße verlief von da an flach bis in die Stadt. Er konnte eine elektrische Bahn besteigen.Man hörte sie aus der Ferne läuten und rasseln.

Da fiel ihm Krimhild mit heißen Cränen um den Hals und schluchzte: „Du bist gut und wirst es auch mit uns zum Guten wenden. Lebe wohl, du Bester, und vergiß mich nicht.“

„Was hast du denn, Kind“, sagte er erstaunt, als er sich aus ihren Armen frei löste. „Man könnte wirklich meinen, es gehe zwischen uns auf Leben und Cod. Es handelt sich ja doch um höchstens acht Tage, so bin ich wieder bei dir oben.“

Die Elektrische summte heran und kam um einen Waldvorsprung gebogen auf die Haltestelle zu. Sie reichten sich flüchtig die Hände, indem sie an das Gleis herantraten. Er grüßte mit dem Hut und sprang auf.

Als er vom Trittbrett aus im Davonfahren sie im [324] merwährend mit dem Taschentuche winken sah, mit dem sie sich eben um seinetwillen die nassen Augen getrocknet hatte, da füllte ihn die törichte Selbstgerechtigkeit vollkommen aus; ihn überrieselte nicht die Witterung von der Größe dieses Mädchens, dem er glaubte Mut gemacht zu haben und ein Freund gewesen zu sein, wie es keinen zweiten besäße.

Cangsam stieg Krimhild das Gereut hinan, erleichterten und bei allem Abschiedskummer frohen Herzens.Denn was er nicht wußte, wußte sie, welchen Unannehmlichkeiten er entgangen sei: Faxon und Blötherlein waren im Anzuge, Albert Hartmann ebenfalls,und so konnte denn der alte Schlendrian, um es nicht schlimmer zu heißen, wieder losgehen.

Unter der Türschwelle wurde sie von den Eltern und Jungfer Lisette in Empfang genommen.

„Nun, schenkt uns das Fräuleinchen die Ehre wieder“, wollte Schwengel anfangen zu hänseln; aber er verstummte über dem strengen Blick seiner Tochter.Sie winkte sie alle ins nächste Zimmer ebener Erde und sagte da mit Ernst und zwingender Hoheit:

„Freilich bin ich wieder bei euch. Aber ich denke, so ganz von selbst versteht sich das nicht. Es hätte eines Wortes bei ihm bedurft, so wäre ich mit ihm in die Stadt gegangen und versorgt und aufgehoben gewesen für mein Leben und hätte mich weiter um euch nicht zu kümmern brauchen. CEuch irgendwieverpflichtetfühle ich mich längst nicht mehr; ihr habt euch das Wohl eurer Tochter in sehr zweifelhafter Weise angelegen sein lassen. Jedenfalls du, Vater, hast es wahrlich nicht [325] um mich verdient, daß ich wieder zu dir zurückkehre.Es ist auch nur die natürliche Anhänglichkeit, aber leider nicht ein persönlicher Respekt vor dir, was mich bestimmte, zu bleiben. Ich glaube es mir und sonst niemandem schuldig zu sein, sozusagen nicht vor mir selber davonzulaufen. Also ich halte hier aus; ich werde sehen, wohin es mit uns allen kommen will. Laßt sie ruhig Einzug halten, eure lieben Schwindelkumpane.Auch meinen Verehrer Albert herein mit ihm! Ich bin stark geworden und halte mir vom Leibe, wer es immer sein mag, ich allein, ohne jeden Beistand da haben wir's ja, nun wirst du gleich wieder weich. Als ob damit was geholfen wäre! Du stehst immer unter der Herrschaft des Wortes, das du gerade im Ohre hast. u „Was dennd Was denn?“ winselte Schwengel weinerlich mit tränenden Augen. „Wahrhaftig, es ist keine Kleinigkeit, das Becken eben zu tragen; eh man sich's versieht, hat man wieder was verschüttet. Mir bist du lange recht bei uns; es hat eben jeder sein Päckchen zu tragen. Aber das ist eure Sache. Macht ihr Frauensleute das untereinander aus; nicht, daß es dann wieder heißt, ich mische mich in alles, was mich nichts angeht. Ich will die neuen Prospekte vom Hektographen abziehen, sonst kleben sie mir fest.“

Seine Frau und Jungfer Lisette folgten ihm nicht,als er das Zimmer verließ, und blieben ziemlich gottergeben auf ihren Stühlen sitzen, da Krimhild vor sie hintrat und sie fragte:

„Vor allem andern was will eigentlich Albert 326 []hierd Bildet er sich denn wirklich ein, er habe in meiner Nähe noch das geringste zu suchenꝰ Mich berührt das so gar nicht, wo er sich herumtreibt, meinetwegen kann er unter einem Dache mit mir wohnen, ich werde mich über seine Anwesenheit nicht aufregen und noch weniger mich vor ihm fürchten. Er soll nur Lommen mir ist das nicht recht und nicht unrecht: es ist mir ganz einfach furchtbar gleichgültig.“

„Krimhild“, hob Jungfer Lisette an, „das mit Albert wird dir nicht erspart bleiben. Es sitzt zu tief bei ihm.Ohne schweren Kampf wird es nicht abgehn.“

„Kampf her und hin“, sagte sie unbekümmert, „er bekommt von mir nicht den Finger in den Mund.“

Jungfer Lisette versuchte sich noch in einigen beweglichen Worten zur Rechtfertigung ihres Neffen, dann kam Frau Schwengel mit Krimhild überein, ein wenig durch den nahen Wald zu gehen.

Die Mutter schob der Tochter die Hand in ihren Arm.Sie ging langsam und schwerfällig. Auch ihr Gesicht,von dem angegrauten Haar umrahmt, sah abgespannt aus; aber mit dieser Ermattung kam an den regelmäßig schönen elfenbeinstarren Zügen eine glänzende Glasur zum Vorschein; auch im Blick leuchtete etwas unbelebt Mechanisches, so strahlend er auch das Auge verließ. Die Stimme klang ebenfalls, leise, wie sie immer sprach, nicht unedel, aber eher nach einem schwingenden Metall, als nach einem beseelten Caute.

„Wie kannst du dich nur sträuben, mein Kind, deinen ehemaligen Bräutigam wiederzusehen“, sagte sie still und gütig. „Damit tust du deinem jetzigen Verlobten 327 []nicht den geringsten Abbruch. Ich denke fast, du stehst deiner bräutlichen Seligkeit im Lichte, wenn du es damit zu streng nimmst und deine Gewissenhaftigkeit übertreibst. Wenn die Liebe im Regimente sitzt, die richtige, hohe, bräutliche Liebe, da beginnt ein Unbegrenztes; Flügel wachsen dir, um Unendlichkeiten zu durchmessen. Da heißt es aufpassen und nicht zu weit gehen mit der Treue, auf daß man nicht eines Besseren verlustig geht.“

„Mutter“, rief Krimhild erschrocken, „was sagst du mir da für verworrene Dinge. Ist dir nicht wohl,Mutter ꝰ

Frau Schwengel lächelte ihr poliertes Lächeln, ihre Mienen waren wie geglättetes Email:

„Der TCiefsinn meiner Rede erscheint dir verwirrt,weil du dich noch an der Oberfläche befindest. Der seligste Zustand des Menschenherzens, die Liebe, ist eine Schaukel, ein beständiges vom einen zum andern Fliegen, eine Wonne aus Unruhe und nicht gewährter Befriedigung. Meinst du, meine Tochter, ich wäre mit deinem Vater so glücklich gewesen als ich es war ohne die Ergänzung durch eine Sehnsucht, ohne die Erinnerung an ein herrliches Männerbild, das mir den Besitz meines wirklichen Gatten überschimmert hätted Wir waren doch alle zusammen im, CLohengrin“, weißt du,in der Balkonloge, Herr von Schlotten hatte uns eingeladen, du zerflossest vor Wonne und das war recht von dir. Nun zieh dir die Lehre daraus: Eine Frau, die an einem ihr gegenwärtigen Manne ihr Genüge findet,deren eigentlicher Traum und Schwarm nicht ein 328 []Schwanenritter ist, die ist für die höchste Liebe verloren.Das glaube mir mein Kind.“

„Mutter“, rief Krimhild in einem heimlichen Grausen, „verschone mich; das kann doch dein Ernst nicht sein.“

Jetzt faßte Frau Schwengel mit ihrer weißen kühlen Hand Urimhildens Rechte, und ihre eigene erhob sie bedeutungsvoll wie eine Wahrsagerin:

„Diese Stunde ist es, auf die ich lange, lange gewartet habe, meine Cochter; denn erfahren solltest du es eines Tages, und jetzt ist der Augenblick gekommen.Denke dir, der Vater unseres Herrn von Schlotten, er ist das Traumbild meines Lebens gewesen, sein Gedächtnis hat mir meine Ehe verklärt; in dem Jahre vor deiner Geburt insbesondere habe ich eigentlich nur ihn geliebt, nur ihn in meinen Armen gehalten.“

„Aber Mutter“, rief Krimhild zum dritten Male und starrte sie mit entsetzten Augen an. Doch die Frau wurde feierlich schön wie ein Marmorbild und mit der begütigenden, vergebenden Unschuld einer Madonna sprach sie weiter:

„Du zweifelst an meiner Reinheit. Mit Unrecht,mein Kind. So wahr ich lebe nie hat mich ein anderer Mann geküßt als dein Vater. Und doch ist meine Liebe zu dem alten Schlotten die einzige Leidenschaft gewesen, die mich je beseelt hat. Es war nach dem Kriege. Der Professor Zutreffer hatte ihn operiert und ihm das Leben gerettet. Aber er lag schwer darnieder;ich pflegte ihn im Sanatorium, und er sagte immer zu mir, ich sei für ihn der Engel gewesen, der ihn von den 329 []Teufeln der Finsternis wieder ins Leben zurückgerufen habe. Schlotten war Witwer; er bot mir, als er uns gesund verließ, stürmisch seine Hand an. Er wollte seine Caufbahn, seine Kinder, alles alles im Stiche lassen. Ich hab ihn lieb genug gehabt, um ihmn abzuweisen, hart und grausam, bis er ging. Er hat wieder geheiratet eine Gräfin und ist jetzt General und immer um den deutschen Kaiser herum. Aber daß er mich nicht vergessen hat, bewies mir der Besuch seines Sohnes. Der brachte einen Gruß aber, wart, du sollst sie sehen ich trage sie immer auf mir.“

Sie zog sie aus einer Brusttasche ihres Kleides, eine herrenvisitenkarte großen Formates:

„von Schlotten Generalleutnant, Generaladjutant Seiner Majestät des Königs“ auf der Rückseite: „sendet seiner ehemaligen treuen Pflegerin Schwester Adelheid freundlichen Gruß durch seinen Sohn Eberhard.“

Krimhild gab ihr die Karte zurück. Ihr Blick fiel zu Boden und streifte an ihrer Hand den Goldreif mit der schwarzen Perle. Sie trug den Ring seit er ihr geschenkt war gedankenlos, ohne eigentlich jemals bei seinem Anblick des Spenders gedacht zu haben. Jetzt hingegen,als sich dieser Zusammenhang vor ihr auftat, wurde ihr das Kleinod plötzlich zu einem dunkelglänzenden Symbole. Während sie in Gedanken versank, fuhr die Mutter gesprächig weiter:

„Du kannst dir denken, mit was für heimlichen Nebengefühlen ich seiner Zeit die heißen und erfolglosen Werbungen des jungen Schlotten um deine Hand mit 330 []erlebte. Ich deine Mutter zugleich die Anbeterin seines Vaters! Ich zerwühlte mich vor inneren qualvollen Freuden und dachte, es muß und muß werden. Und doch freute ich mich unsäglich über deine schroffe Abweisung, weil du ohne es zu wissen genau so handeltest,wie ich an seinem Vater gehandelt habe. Daran erkannte ich meine Tochter. Deine Grausamkeit tat mir wohl.“

Krimhild erachtete es für geboten, die Mutter von der Versenkung in dergleichen abgetane Dinge wegzuziehen.„Aber meine gute Mumn, das ist ja nun längst vorbei. Schlotten Vater und Sohn sind erledigt für dich und mich. Wozu uns hinterher noch den Kopf zerbrechen!“Aber Frau Schwengel kam nun erst dazu, ihre eigentliche Weisheit anzubringen, um deretwillen sie Krimhild beiseite genommen hatte:

„Wozud Bedenke die Hauptsache, auf die es ankommt! Ich sagte dir doch, um glücklich zu sein bedarf es der himmlischen und der irdischen Liebe. Wie du dich einrichtest, ist deine Sache: hätte dir der junge Schlotten den Kopf verdreht, wie es mir einst der alte antat, dann könntest du von mir aus ruhig mit deinem Doktor Hochzeit halten. Man darf nie sein Ideal heiraten, Kind, das hieße Gott versuchen. Ich kann es dir wahrlich nicht verdenken, daß der Zwinger dein Ein und Alles ist so schön und gerade ist er an Leib und Seele. Aber da sei doch gescheit und heirate Albert, so hast du einen Rückhalt in deiner Liebe zu einem Seelen [331] bräutigam und so für das tägliche ist Albert, sollt' ich meinen, ein strammer KNerl, an dem kannst du dich wohl schadlos halten, dann sind die Entbehrungen des Fernen und Einziggeliebten desto süßer zu genießen.“

Aber diesen seltsamen Schamlosigkeiten, die Frau Schwengel mit weicher Stimme gelassen ihrer Cochter zum besten gab, erstarrte diese im ersten Augenblick völlig und faßte sich kaum eben zu den Maßnahmen einer Gegenwehr, als das Hündchen Joli, das den beiden Frauen auf ihrem Spaziergange gefolgt war, nach kurzem Knurren hell und kräftig anschlug.

Die Ruhebank, auf der sie saßen, Frau Schwengels Lieblingsplätzchen und ihr zu Chren Adelheidslust genannt, stand an einer Straßenbiegung, in die von unten durch den Wald her ein abkürzender Fußweg einmündete. Diesen Fußweg hinauf kamen, schon von weitem rufend und grüßend und Hüte schwenkend, ein junger Mann und an seiner Hand ein Knabe. Es war Albert Hartmann, der einen jüngst verwaisten dreizehnjährigen Neffen mit Namen Cyrill nach „Gesundgarten“ hinaufbrachte; Tante Lisette wollte sich des Uindes annehmen.

Bei der Begrüßung fiel Krimhild die verlegene,scheue, beinahe unterwürfige Art auf, mit der sich ihr Albert unbedeckten Hauptes, mit einer höflichen, respektvollen Verbeugung, jedoch ohne ihr seine Hand aufzudrängen, näherte. Auch als alle vier den Heimweg antraten, versuchte er nicht, sie an seine Seite zu bringen und ins Gespräch zu ziehen. Vielmehr reichte er Frau Schwengel, deren Gebrechlichkeit er kannte, [332] zuvorkommend den Arm und führte sie gemächlich plaudernd die Straße entlang, Krimhild mit dem Knaben hinter sich lassend.

KUrimhild und Cyrill befreundeten sich rasch mit Lachen und Plaudern während der ersten Schritte.Zwischen hinein spähte sie verstohlen nach vorn, ob auch jetzt Albert sich nicht nach ihr umsehe, und als nach dem Spaziergange den ganzen Abend und am folgenden Tage bis in den Nachmittag hinein keinerlei Versuche in dieser Richtung erfolgten, Albert sich vielmehr sehr aufmerksam, aber geflissentlich bescheiden gegen sie benahm, gab ihr das, sie mochte wollen oder nicht, zu denken.

Dann trat er bei guter Gelegenheit unbefangen auf sie zu und sprach sie an:

„Ich wäre dir dankbar, Krimhild, wenn du mir eine kurze Unterredung gewähren wolltest.“

Unterredungꝰ Gewähren wolltest? Neues Befremden! Sie drehte sich halb ab und antwortete nicht.

„Wenn ich mich früher ungebührlich gegen dich betrug, verzeih es mir! Es war stärker als ich. Ich war meiner Sinne nicht mächtig. Seitdem habe ich es mir manche schlaflose Nacht kosten lassen. Ich habe mich zur klaren Erkenntnis durchgerungen, wie es um dich steht und wie es um mich steht. Erlaubst du, daß ich mir's vom Herzen reded“

„Albert, du weißt, zwischen uns ist es aus und fertig“, versetzte sie schroff.

„Wäre dem so,“ erwiderte er, „so hätte ich mir es selbst in die Schuhe zu schieben. Aber noch bitte ich um [333] Gehör. Ich denke, es wird dir die Augen öffnen über manches, was auch dich nahe angeht. Darf ich redend“

„Meinetwegen rede!“ gab sie zurück und schloß,immer zu halb abgewendet, die Augen.

Albert sah sie dankbar an.

„Dein Ton vermöchte mich fast unsicher zu machen,wenn ich nicht so unfehlbar sicher wäre. Herr Doktor Zwinger ist nicht der Mann für dich. Er liebt dich, weil du ihm gefällst, weil er sich mit dir verwandt fühlt,weil er von dir bezaubert ist. In neunund neunzig Fällen find das alle Bedingungen für ein lückenloses Eheglück.Aber du Krimhild du bist nun eben die Ausnahme, du bist der seltene Fall Hundert. Dich lieben heißt dir dienen, dein Sklave sein, für nichts anderes existieren als für dich, die Liebesfron im Sinne der Sage, der Frauendienst der alten Croubadours und Minnesinger. Hättest du dich ohne das halten lassen,ich bilde mir ein, du wärest mir nicht entwischt oder ich hätte dich stets wieder eingefangen. Aber wer ein Mann ist, der einem Beruf nachtrachtet, der ein Werk wirken,eine Arbeit vollenden will, und das wollen wir doch meistens wohl oder übel müssen es wollen dem hältst du nicht still. Du willst die Sache sein, für die derijenige leben muß, dem du erlaubst, dich zu lieben.“

Urimhild schlug während dieser Rede unauffällig den Blick auf, richtete ihn, still vor sich hin lächelnd, in die Ferne und dachte an ihr Geheimnis.

Indessen ließ Albert nicht locker:

„Mir scheint, Ihr laßt euch von holden Cräumen umgaukeln, Herr Zwinger und du! Dennoch und noch

33 [4] mals täuscht euch nicht! Glaubt mir und nicht den Träumen. Ich meine es immer noch besser mit euch als euere eigenen Hirngespinste. Ich weiß, Zwinger ist Künstler, und du Krimhild wirst, da du alles in dir trägst, den Gestaltungstrieb in ihm wohl geweckt und befriedigt haben.“

Er spähte ihr näher unter die Augen und gewahrte,wie sie von seinem Blick bedrängt, errötete und sich einer aufsteigenden Verlegenheit nicht zu erwehren vermochte.

„Pardon, aber ich weiß wirklich um rein nichts. Ich folgere nur“, bemerkte Albert, unverschämt höflich. „Da du einmal so über die Maßen schön bist du machst dir keinen Begriff, wie schön du sein kannst in Augenblicken der Erleuchtung aber sei doch nicht gleich so argwöhnisch ich darf doch annehmen: du habest den Künstler in ihm entzündet, ihn zum Schaffen aufgerufen. Mißtraue dennoch deinem Glücke: du wirst dich nie damit zufrieden geben, daß du irgend einem Einfall eines andern zum Abbild gedient hast. Du selbst willst der Stoff sein, der geformt werden soll, willst selbst zum lebendigen Kunstwerk entstehen; wenn er nicht einzig und allein sein Augenmerk darauf richtet und auf alle andern Außerungen seines Kunstverstandes zu verzichten bereit ist “

Krimhild biß die Zähne aufeinander. Jetzt stieß sie,den Zorn mühsam niederkämpfend, hervor: „Spare dir doch ja jede weitere Mühe. Es ist alles nur höchstens halbwahr; es trifft zu einem Teile zu und zum andern daneben. Was ich noch nicht bin, werde ich durch ihn [335] werden, und zwar bald. Es steht dir wirklich nicht an,auf diese Weise den Propheten zu spielen. Ich bin in den besten Händen.“

Da merkte Albert an dem unzweideutig bitteren Tone, es gelte einem Ausbruch vorzubeugen und fuhr hastig fort:

„Herr von Schlotten, siehst du das wäre einer gewesen. Der käme ernstlich in Frage, wenn es gälte, dich in die ehelichen Paaren zu treiben. Er, der Kavalier,der nichts anderes mehr sehn und wollen und kennen wird, als der Frau beizustehen, die er einmal seiner würdig findet. Was meinst du, den an deiner Seite!Passe auf, der würde keinen Schritt von dir weichen,in jede Klavier oder Reitstunde würde er dich begleiten und dich keine Minute aus den Augen lassen. Wohl verstanden, ja nicht aus kleinlicher Haustyrannei, nicht aus irgendwelcher nörgelnden Eifersucht. Nein, einfach um sich selbst die Wonne dieses Besitzes nicht mehr zu verkürzen, und um immer mit dir zu sein, nachdem er so lange ohne dich war. Und diese Bewunderung,diese restlose Hingabe, dieser Ausschluß jeder Nebenliebe die sind es, was du bedarfft, wenn du glücklich werden sollst. So ein Weib bist du! Probiere du eine Beirat, wie sie sonst üblich und nützlich sind: die Frau der Beistand des Mannes, er geht seiner Arbeit nach und sie folgt ihm niemals! Und wenn es gar noch ein Tastender, ein seiner selbst Ungewisser ist das wirst du bald heraushaben, und dann wird dein Bescheid vorwurfsvoll lauten: „was hast du denn noch zu suchen auf der Welt, nachdem du mich gefunden hast? [336] Verlasse dich drauf, problematische Naturen wie Herr Zwinger und ich die haben bei dir von vornherein verspielt! Ist gar nicht dran zu denken, daß das jemals gerät. Wenn er sich durchaus verstockt, meinetwegen,ist seine Sache. Ich bin wenigstens durch Schaden klug geworden. Ich mache mir keine Hoffnungen, aber nicht etwa, weil ich glaubte, Herr Zwinger sei mir im Wege.Er kann lange warten, er kriegt dich nie auch wenn ich ebenso leer ausgehe. Ich brauche keinen Finger zu rühren. Es liegt tief in deiner Natur begründet, daß es ihm schließlich doch mißlingt.“

Die Wirkung dieser Enthüllung auf Krimhild war unerwartet. Kein Protest, keinerlei Entrüstung brachen bei ihr aus, sie fing an zu weinen, hilflos, wehrlos,widerstandslos, wie ein Rind. Alberts Worte, sachlich,wie sie klangen und zum Teil auch waren, gaben ihr keinen Anlaß, persönlich sich dagegen aufzulehnen. Sie wurde von einem Tatbestand in Kenntnis gesetzt, einem Tatbeftand, der, hatte es auch nur zum hundertsten Teil seine Richtigkeit damit, ihr in die Quere kam, und sich hart und tödlich in ihre schönsten Cräume dazwischen keilte. Wie der Regen auf das Feld niederrauscht, sobald der Wind die Wolke darüber schiebt und die Wolke dicht und dunkel genug ist zum Ergusse, so weinte Krimhild jetzt aus elementarer, ursprünglicher Not laut auf bei der Ahnung auch nur der entferntesten Möglichkeit,Melchior könne ihr noch verloren gehn. Deshalb war Albert Hartmann in seiner Erwartung einer heftigen Abwehr jäh getäuscht und vor den zwingendsten Beweis gestellt, Krimhilds Herz gehöre mit der letzten

22

Bernoulli, Zum Gesundgarten [337] Faser ihrem Verlobten. Erschüttert beugte er sich vor dem übermächtigen Ausbruch ihrer Liebe und fand nicht den Mut mehr, sich noch irgendwie an ihre Seele heranzudrängen.

Mit der Wiederkehr des edeln Paares Faxon und Blötherlein begann allerseits das Geschäft. Faxons abenteuerliche und schwindelhafteArtwirkte ansteckend,der überseeische Jüngling verkörperte den unsoliden gewissenlosen Unternehmungsgeist, für dessen Weizen auf dem Territorium des „Gesundgartens“ jetzt die beste Blütezeit gekommen war. Die beiden hatten ihre Zeit ausgenützt und alles vorbereitet zur Gründung eines okkultistischen und theosophischen Spezialitätenunternehmens, sogar ein Bewilligungsgesuch mit Ausweisen amerikanischer Konsulate belegt, lag bereits bei der Behörde der Stadt. Dem Zusammentritt der Gesellschaft stand weiter nichts im Wege. Schwengel kam an, beide Hände voll hektographierter Zettel und legte sie auf den Tisch der unteren Stube, wo die konstituierende Sitzung abgehalten werden sollte. Auch Hartmann sollte ihr beiwohnen oder vielmehr, es sollte sich weisen, ob er des rechten Geistes Kind und des Vertrauens würdig sei. Faxon stöberte erst oberflächlich in den Schwengelschen Papieren, wandte sich aber bald ab,spazierte durch die Stube und trug sichtbar die Nase hoch.

Auf seinen Wink entfaltete Blötherlein einen Bogen und bat mit winselnder Stimme, den Entwurf vorlegen zu dürfen. Mit seinem spitzen Windhundsgesicht [338] und ängstlich zurückgelegten Ohren inszenierte er eine eigentliche Vorlesung. Schwengel und Hartmann hörten ihn eine Zeitlang an. Es hieß in diesem neuen Prospekt:

„Die neu gegründete Gesellschaft bezweckt Demonstrationen menschlicher und außermenschlicher Geistesmacht zu veranstalten, unter streng wissenschaftlichen Gesichtspunkten, in einer noch nie dagewesenen Vielseitigkeit. Sie hat sich einstweilen die Mitarbeit folgender erstklassiger Kräfte gesichert: Direktor Harry Faxon,spiritistischer Equilibrist und artistischer Psychophysiker,Konrad Blötherlein, Kandidat dersieben freien Rünste,Theoretiker der Auguralwissenschaften, Emil Schwengel, ausübender Naturphilo und Cheosoph, vierzigjährige Erfahrung. Prima Referenzen. Lobende Preßstimmen. Cyrill, zehn Jahre alt, pneumatisches Wunderkind, Responsorien mit dem visionär veranlagten Schoßhund Joli. Frau Adelheid Schwengel, somnambules Medium, unerreichte Sensibilität, vierdimensionale Technik vom einfachsten (Tischrücken) zum schwierigsten (Materialisationen). Transzendentales Detektiv und Auskunftsbureau. Witterungen, Fernwirkungen. Katalepsen.“

Hier unterbrach Faxon die Lektüre und wandte sich mit einem satanischen Seitenblick auf Hartmann an Schwengel:

„Sehn Sie das ist nur das ständige Personal. Wir werden aber unser möglichstes tun, um gastspielsweise hervorragende Hilfskräfte beizuziehen. Wahrscheinlich wird es uns gelingen, auch aohl! Ihr Fräulein Tochter aoh! “ Er dehnte die Worte und hielt inne.

220 339 []Nun wurde es Hartmann, nach einem Augenblick bodenlosen Erstaunens, zu bunt. Er trat dicht an den Amerikaner heran. Faxon hielt seinen Blick aus, unsäglich frech.

„Hören Sie, Faxon, meinen Sie wirklich, Sie seien hier, um Schindluder mit uns zu treiben.“

„Aben Sie Kritik, so wollen wir Ihre Gründe prüfen“, replizierte Blötherlein für Faxon, der seinen Blick vollends hatte verglasen lassen und es unter seiner Würde hielt, Hartmann länger gegenüber zu stehen.„Kritik wird man doch an einem solchen Blödsinn nicht verschwenden“, wandte sich Hartmann an den Kandidaten, „Irrenhaus! Irrenhaus! Einen andern Ausdruck gibt es dafür nicht.“

„Es wird Ihnen nicht entgangen sein,“ entgegnete Blötherlein sauersüß mit gespitzten Lippen, „daß Sie an der Angelegenheit unbeteiligt sind und es dem Prospekt an einer Verwendung Ihrer Gaben mangelt.“

„Das wollt ich euch geraten haben, dann läge euer Wisch in Fetzen kurz und klein gerissen da herum. Nein aber den kleinen Cyrill habt ihr in euern Affenkasten eingepackt. Das ist schon der Gipfel der Frechheit!Einen armen halbwegs schwachsinnigen Minderjährigen wollt ihr mißbrauchen. Das werdet ihr bleiben lassen, so lang ich sein Vormund bin. Müssen denn wirklich die Rompetenzen der Tierschutzvereine auf solch ein unmündiges und geistig verkürztes Geschöpf ausgedehnt werden, bis euer einer die Hand davon läßtd

Mit Cyrill verhielt es sich so: Die Anwesenheit dieses 340 []Kindes, das bei seinen dreizehn Jahren so klein und schmächtig aussah, als wär es erst zehn, verlieh der naturheilsüchtigen Gesellschaft eine beinahe apokalyptische Note, insofern der körperlich zurückgebliebene,aber seelisch alle Grenzstreitigkeiten des halbwüchsigen Alters bereits in sich erlebende Unabe allen den Anzeichen und Vorboten der drohenden Katastrophe eine so erschütternde Bedeutung beimaß, als stünde man unmittelbar vor dem Weltuntergang. Durch Gott weiß welchen Zufall verfügte er über eine förmliche Bibliothek von Halbbatzentraktätchen, voll der entsetzlichsten Schilderungen von allen Schrecknissen der Hölle. Zahlreiche Holzschnitte zwischen dem Text hatten ihn vollends in einer Welt von geschwänzten, gehörnten und feuergabelbewaffneten Teufeln heimisch werden lassen, und in der Naturgeschichte derUngeheuervom jüngsten Tage, des Leviathan, des siebenköpfigen gekrönten Pantherbären und der großen HureBabylon wußte er Bescheid wie kein Erwachsener, weil ihn noch keinerlei Einwände der Vernunft hinderten, eine derartige Wirklichkeit für voll zu nehmen.

Auf seinem schwächlichen Leibe saß ein unförmlich großer Kopf und in dem bleichen Gesicht wiederum ein stieres Augenpaar. Auch teilte der Knabe, so ein gutes Kind er sonst war, mit dem Bündchen Joli die Reizbarkeit, sobald bei Frau Schwengel irgend eine hellseherische Steigerung im Anzuge war, sich sofort wie besessen zu gebärden, als wäre er gleichfalls von prophetischem Geiste erfüllt.

Während im Zimmer nebenan Krimhild und Jung341 []fer Lisette miteinander am Fenster standen, wetteiferten plötzlich Cyrill und Joli in der lebhaften Witterung eines neuen Anfalls. Eben hatte Frau Schwengel noch über Schmerzen in den Schläfen geklagt; nun sank sie in einen ohnmachtähnlichen Zustand.

Joli kuschte knurrend und drückte sich platt auf den Boden. Cyrill verwarf seine mageren Arme und schrie mit verzerrtem Gesicht:

„Halleluja! Hoffet, ihr Gerechten. Ihr werdet aufsteigen wie die Raninchen in die Höhlen der Erde und die Küfte der gFelsen.“

Erschreckt rannte Krimhild an das Ruhebett. Die Tante öffnete die Türe in das Nebenzimmer.

„So meine Herren Spiritisten und Psychopathen“,wandte sich Hartmann entschlossen an Blötherlein und Faxon, „nun lade ich Sie geziemend ein, an das Urankenbett einer hochgradig besessenen dämonischen Frau mit mir heranzutreten, und den Verlauf einer Ekstase zur Gewinnung des klinischen Bildes auf methodische Weise in Augenschein zu nehmen.“ Zugleich winkte er Schwengel.

Die vier ließen alles liegen und traten mit behutsamen Schritten über die Schwelle. Jolis Unurren wurde stärker und von verhaltenen Belltönen unterbrochen. Cyrill, durch das sich mehrende Publikum noch erregter, schrie abermals:

„Verflucht seien die falschen Engel, Rakabael und Kumjal und Basasael und Simapisael und Iseseel.“

Krimhild faßte ihn bei der Hand und zog ihn sachte beiseite, auf einen Schemel in die Fensternische. Dort [3432] wies sie ihn sanft wegen seines vorlauten Betragens zurecht, daß er wie aus den Wolken fiel und in ein wimmerndes Weinen ausbrach.

Dann stellte sie sich in einiger Entfernung des Ruhebettes auf, das die andern wißbegierig umdrängten.Albert leitete die „Besichtigung“. Er sprach von der hysterischen Kugel in Hals und Gurgel, von den häßlichen Tiervisionen und den andern Beschwerden, unter denen eine solche Kranke leide. Dann stellte er das herabgesetzte Wahrnehmungsvermögen der Sinne fest,indem er erst ihre Unempfindlichkeit gegen Druck und Stoß in steigenden Proben dartat und schließlich sogar der Daliegenden an Händen und Gesicht behutsam einige leichte Nadelstiche beibrachte, auf die sie nicht mit dem geringsten Mienenzucken erwiderte.

Krimhild hatte viel unter der launischen Verletzlichkeit und Rechthaberei ihrer Mutter zu leiden gehabt, von jung auf. Doch war sie nicht weniger rücksichtslos gewesen und hatte selbst vor Zeugen unangenehme Auftritte nicht vermieden. Ihre herzlichen Tochtergefühle äußerten sich früher in einer einseitigen Anhanglichkeit an den Vater. Darin hatten nun die letzten Wochen Wandel geschaffen. Der unstete Sinn und die Wankelmütigkeit Schwengels hatten sich ihr zu unabweisbar peinlich aufgedrängt, und da, seit Krimhild Braut war,ihre Mutter auffallend gütig und milde gegen sie geworden war, fand auf natürliche Weise in ihrer Pietät gegen die Eltern eine Verschiebung statt. Endlich jene mehr als seltsame Belehrung über das Vikariat des angebeteten Ideals in dem Manne, dem man sich zu 343 []eigen gab! Nun packte sie der grenzen und namenlose Jammer dieses Anblicks mit anklagendem Mitleid und bitterer Reue.

Heißer Zorn wallte in ihr auf. Albert, dieser Unglücksmensch für sich und andere, trieb ein Gespött mit ihrer Mutter! Anders verstand sie die Sachlichkeit nicht mit der er den „Fall“ erklärte. Und gar dessen lüsterne Zuhörerschaft! Sie beobachtete mit Entsetzen Faxons Gesicht, das er angelegentlichst zum Zwecke eines möglichst genauen Augenscheins vorbeugte. Was sah sie da in den an und für sich langweiligen und nun durch die Spannung widerlich verzerrten Zügen des Amerikaners? Eine Spur herzlicher Teilnahme? Nur die nackte Neugier, nur das lüsterne Interesse am Versuchsobjekt, nur die kalte Berechnung der vorteilhaften Ausbeute. Und an Faxons Gesicht schob sich schnüffelnd und spürend mit zitternden Nasenflügeln das gedrückte, platte Hunnenprofil Blötherleins vorbei.

Als die Besichtigung erfolgt war, ließ man den Knaben Cyrill und das Hündchen Joli bei ihr zur Wache zurück und begab sich nebenan ins große Zimmer.Urimhild musterte mit einer in ihr aufsteigenden Verwunderung Albert, während er mit allen andern zusammen stand und sie sich für unbemerkt hielt. Es war doch ein ganz anderer Mensch aus ihm geworden!Auch, trotz alledem, dieserklare, fließende Vortrag, wie ein geborener Dozent. Ob er wirklich ihre Mutter verhöhnt ob er nicht einfach den Sachverhalt expliziert hatte! Eigentlich war es erstaunlich, daß er noch so viel Art besaß und sich aus seinem völlig abgerissenen Zu344 []stand gar nichts machte. Sein schäbiger, völlig aufgetragener Kellnerfrack war tatsächlich das einzige Kleidungsstück, in dem er sich zur Not außer dem Hause zeigen konnte, und das zerlumpte braune Jackett, das er im Hause und auch jetzt anhatte, wußte er wahrhaftig noch mit einigem Anstande zu tragen. Er sah und sah nicht aus wie ein Vagant und Landstreicher, das mußte sie sich wohl oder übel eingestehen.

Noch widmete sie sich unverwandtseinem heimlichen Anblick, als er sich plötzlich umschaute und sein Blick mitten auf den ihrigen traf. Sie fühlte sich gewissermaßen auf der Tat ertappt und überlegte mit Blitzesschnelle, wie sie sich am unauffallendsten wegwenden könnte.

Da kam ihr Albert zuvor. Er traf alle Anstalten zu einer Ansprache:

„Ja ja, ihr guten Leute, wollen wir uns nicht an die Stirn greifen und uns fragen, wie es mit uns bestellt ist. Habt ihr euch eigentlich schon einmal ernsthaft Gedanken gemacht, aus was für Cxristenzen wir Bewohner des sogenannten, Gesundgartens“ uns rekrutierend Es lohnt sich bei Gott, einmal der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Enterbte sind wir, Verkümmerte, Zurückgesetzte, seiss da, sei's dort, samt und sonders dem Teufel verfallen. Laßt mich einmal Appell halten. Da ist Vater Schwengel! Was hat er durchgemacht in seinem Leben und wohin ist er damit gekommend Dahin, daß er bald als Schwindler verfolgt, bald als Blödsinniger verlacht wird. Daß er keine Stunde sicher ist, ob ihm nicht in der nächsten der Hhut vom Kopfe gepfändet 545 []wird. Und meine gute Tante, ist sie jemals ihres Lebens froh gewordend? Das Opfer falscher Schwüre hat sie die Menschen geflohen, weil sie es nicht ertrug, daß man mit Fingern auf sie zeigte. Nebenan liegt in den rämpfen des Wahnsinns eine arme Frau, mit dem unfaßlichsten, verkehrtesten Leiden behaftet, das ein Gehirn aushecken kann: was dem Gesunden widerwärtig ist, das bringt ihr Genuß, und was dem Gesunden angenehm ist, davor ekelt ihr. Rosenduft erregt ihr Brechreiz, aber den unerträglichsten Gestank atmet sie ein als wär's der beste Wohlgeruch. Und dann bin ich da an allen Fähigkeiten Leibes und der Seele steh ich keinem nach; aber mir ist ein Kainszeichen auf die Stirn gedrückt, ich bin gebrandmarkt, geächtet, ausgestoßen ein „vorbestrafter“ Mann. An mir hab'ich's nicht fehlen lassen. Ich ließ es mir sauer werden.Erst als es nicht gehen wollte, mit keiner Engels noch Teufelsgewalt, da hab' ich mir auf meine Weise geholfen und kann nun betteln oder stehlen gehn. Und drinnen der kleine Cyrill: ein armes, zurückgebliebenes, mondsüchtiges Kind ohne Vater. Sehen Sie es denn ein, Herr Kandidat Blötherlein, warum Sie sich gerade bei uns wohl und zu Hause fühlen, Sie armer drolliger Enterbter mit Puppen spielen Sie, halten sich einen Harem von Dämchen, die Spreuer, Hächsel und Sägespäne im Leibe haben und lieben mit verbogenen, irre geleiteten Trieben tote Fetische statt des Fleisches und Blutes. Erröten Sie nicht! Schämen Sie sich nicht! Sie haben sich selbst nicht gemacht. Das kommt eins ums andere, gehauen wie gestochen ins [346] große Beschwerdebuch, in das wir uns alle eintragen,alle wie wir da sind, sechs, sieben Mißgünstige, Deklassierte auf einen engen Fleck.“

Krimhild blieb ohne Anzeichen von Mitleid. Vielmehr nahm sie eine stolze Haltung ein und fragte in hartem Tone:

„Und ich, wenn ich bitten darf, was ist denn meine Krätze und Seuche, daß ich Ursache hätte, mich von der Welt abzusondernd“

Die Betroffenen waren gar nicht so flink mit ihrer Entrüstung bei der Hand, da hatte auch schon Albert Krimhild mit einem festen brennenden Blick ins Auge gefaßt.

„Sie hat Recht“, sagte er, einen Augenblick sich von ihr abwendend, zu den übrigen, „an ihr ist kein Makel,und auch wir dürfen immer noch nicht an uns verzweifeln, so lange sie unter uns weilt und uns nicht den Rücken kehrt.“

Dann nahm er sie wieder unter den zwingenden,unentrinnbaren Bann seiner Augen und erklärte sich ihr in schlichter Huldigung:

Es steht nur bei dir; räume die Schranke, die du zwischen dir und uns aufrichtest, anf die Seite: dann bist du für uns, was man wohl in überschwenglicher Dankbarkeit einen Engel nennt, dann bist du für uns die Verkörperung eines guten Geistes; dann bist du für uns in unserer ungläubigen Zeit eine Beilige und kannst Wunder tun. Nur verleugne deine Herkunft nicht, bekenne dich zu dem mit Füßen getretenen und verstoßenen Volke! Nimm uns an die Hand und nenn' [347] uns deine Brüder! Nein ich weiß nicht auf der Stelle bewahre! Laß dir alle Zeit löse dich mit Bedacht von den Schlingen und Lockungen der mastbürgerlichen Behaglichkeit, und wenn du dich frei gemacht hast, so komm! Wir drängen dich nicht; aber wir haben Vertrauen zu dir und hoffen auf dich.“

und dabei immerwährend die magnetische Anziehungskraft seiner auf sie unbeweglich gehefteten Blicke. Endlich gelang es den ihrigen, zu entgleiten.Sie unternahm zugleich eine Veränderung ihres Standortes, wäre aber beinahe über Faxon gestolpert, der mit lang ausgestreckten Beinen flegelhaft neben dem Tische saß. Ein derartiger Anstoß ihrerseits genügte, so wurde sie wieder von Zudringlichkeiten belästigt. Seit seiner Rückkehr hatte der Amerikaner unbeschadet seiner eigenen weiberverachtenden neuen Lebenskunst wieder einen kleinen Liebeskontokurrent zu Krimhild eröffnet.Er saß über einer großen viereckigen Blechkiste, die mit Brezeln und Kuchen gefüllt von einer anhänglichen ehemaligen Patientin an Schwengel geschickt worden war. Einen Teil des Inhaltes belegte Faxon mit Beschlag: kleines Honiggebäck mit weißem Zuckerguß; mit langen Fingern wühlte er sich nach der Ciefe durch, um dort noch des einen oder andern ihm genehmen Aberrestes habhaft zu werden, da in der obern Hälfte bereits gründlich aufgeräumt war.

Während er nun einen der gesuchten Lebkuchen zwischen die Zähne schob und davon abbiß, blinzelte er kauend zu Krimhild hinüber: [348] „Am I Soelfish Krimhild, Am Iꝰ“

Sie würdigte ihn keiner Antwort und verließ das Zimmer. Ihr Vater schoß ein paar scheue Blicke nach rechts und links und stahl sich seiner Tochter nach zur Stube hinaus.

Als sie zusammen an die frische und helle Luft traten,erschrak Krimhild über das fahle, verängstigte Gesicht des Alten. Seine müden Augen irrten hilfesuchend hin und her, und der dünne graue Kinnbart hing von dem schlaffen, offenen Mundes gegen die Brust gesunkenen Kiefer herab. Er seufzte fortwährend und wehrte jede Ermutigung kopfschüttelnd ab.

„Hilde, mein Kind, mit mir ist es aus und vorbei.Furchtbar entsetzlich lastet es auf mir: Wir sind samt und sonders Ausgestoßene und Verworfene hier oben,Du auch. Du wirst es schon sehen.

„Aber mein lieber guter Vater“, versetzte Krimhild unbefangen, „zum besten mag es ja zur Zeit nicht mit uns stehen. Ich leide schon lange am längsten und meisten von euch allen. Auch wird es noch ärger kommen. Aber was können wir dabei verlieren?“

Schwengel räusperte sich und schlug einen schulmeisterlichen Ton an:

„Geh in dich, Hilde, mein Kind. Albert! Siehst du da steckt nun deine Sünde, meine Tochter. Du hast ihn von dir gestoßen, damit fing es an.“

Da lachte Krimhild grell auf.

„Ich soll wohl noch nachträglich Prügel haben da349 []für, daß ich früh genug das Höhere und Bessere in mir spürte und mir das naheliegende verdarb und den Rückzug verbaute. Ja, wenn ich nicht schon beizeiten angefangen hätte, widerspenstig zu sein und die Krallen zu zeigen, dann wär' ich allerdings jetzt rettungslos verkauft und verloren. Nun aber hab' ich einen eigenen Weg hinter mir, und der wird mich wohl auch an ein Ziel führen.“

Schwengel unterbrach sie hastig.

„Ich sage, man muß die Freunde nehmen, wo man sie findet. Die paar, die wir noch haben, sind mir gerade recht.“

Er stolperte kläglich weiter und ächzte nach einigen Schritten:

„Ich alter verbrauchter Mann! Ich armer, verlorener Sünder!“

Sie waren durch das Gehölz, das den „Gesundgarten“ im Rücken abgrenzte, hindurchgegangen und vor einer grünen Mulde angelangt. In der Sohle lag ein stattliches Bauerngut, der Grubenhof geheißen, nach einer Lehmgrube, die hier im Betriebe war. Zwischen Obstbäumen und Bohnenpflanzungen herauf grüßte er mit seinen sechs oder sieben klosterartig gegeneinander gestellten Firsten und gelben Ziegeln: Ein kleinerWagenschuppen hatte ein neues feuerrotes Ziegeldach; das leuchtete kräftig und froh empor. Der Anblick lenkte Schwengel ein wenig ab.

„Siehst du“, sagte er, „der Grubenhöfler, das ist noch einer, der es weiter bringt. Nagelneue Ziegel hat er sich jetzt wieder leisten können.“ [350] Von jeher befand sich Schwengel mit diesen Bauersleuten in bestem Einvernehmen. Zur Zeit, da der „Gesundgarten“ noch in Flor stand, waren sie seine hauptlieferanten gewesen. Nicht zum wenigsten durch den Milch und Obstverkauf und durch das massenweise Kräutersammeln gedieh ihnen die Wirtschaft so wohl.

Auch verband sie mit Schwengel aufrichtige Dankbarkeit, da sie alle schon seine Heilkunst erfolgreich an sich erfahren hatten und zum Teil auch, weil er ihre eigene Weisheit nicht gering geachtet, sondern ihnen eine Großvatersalbe abgekauft hatte, die er in ihrem Gebrauche vorfand. Dafür hatten sie ihm dann noch obendrein gratis verraten, um offene Wunden, namentlich am Bein sei eine Packung nassen Lehms das sicherste Mittel, und ihm auch für eine Massenkur unentgeltlich die ganze Grube zur Verfügung gestellt.

Während er nun mit Krimhild auf einem durch Wagengeleise angedeuteten Wege über die Matten niederstieg, erfolgte zunächst der Üerfall durch die Rinderschar, die vom Spiel unter dem Apfelbaum meuchlings mit gestreckten Händen und lautem Tagesgruß auf ihn zustürmten. Da erheiterten sich die Züge Schwengels ein wenig.

Er rief die ältesten auf, stellte auch ein Examen über den Stand ihrer Pflanzenkenntnisse mit ihnen an, indem er sie die gebräuchliche Rauke und die klebrige Salbei mit Namen nennen ließ; dann stiegen sie, eine ganze, fröhliche Karawane, in den Hof hinunter.

Die Bäuerin, die in der Scheuer mit einer Magd schalt, wurde durch das lebhafte Kindergerede aufmerk351 []sam und kam, ihren Werktagsstaat und ihre Stallschürze unter lauten Beteuerungen entschuldigend, sandte die Kinder nach dem Vater, der sich im entferntesten Gebäude zu schaffen machte, rief auch die Magd, für die Gäste kuhwarme Milch ins Glas zu melken und es dauerte nicht lange, so saß die Gesellschaft beschaulich zusammen.

DerAusblick warhier beschränkter, als oben vom, Gesundgarten“ aus. Wohl sah man in der Niederung den gewundenen und verästeten Rhein aufglänzen und am undeutlichen Häusermeere der Stadt den einen oder andern Giebel blinken; aber die weite und erst durch verblauende Höhenzüge beschlossene Fernsicht war hier auf den einen Durchblick beschränkt. Die dunkelgrünen Vordergründe dieses schmalen Taleinschnittes hielten bis weit hinaus vor und bildeten einen ernsten und breiten Rahmen um den desto lichteren Ausschnitt einer verschwimmenden, noch sonnenbeschienenen Abendferne.Es gehörte zu Schwengels Gewohnheiten im Umgang mit diesem rechtschaffenen Bauernpaare, daß er ihnen, aufgefordert oder nicht, in einer geruhsamen Ansprache etwas fürs Herz gab. Aus den treuen Gesichtern trat ihm lebhafte Erwartung entgegen; er wurde munter, wie in seinen guten Cagen, und ließ zwischen dem Anblick der ihm lauschenden Zuhörer und der altvertrauten friedlichen Landschaft seine müden Augen abwechselnd hin und her wandern. Dazusagte er:

„Wenn es nach mir ginge, so möchte ich immerzu nichts anderes als Verse hersagen, wie die Schulkinder [352] in der Religion. Nun Bäbeli, Anneli, Mareili, Jakob, wie heißt es doch: Wenn ich, o “

Das älteste der Mädchen fiel ein: „Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht “

Ein jüngeres Mädchen sagte eine weitere Strophe und beiden strich Schwengel zufrieden mit der Hand ums Kinn.

Nun wollte die Bäuerin auch den Jungen, dem eben „Himmel, Erde, Luft und Meer“ vom Schullehrer mit Ach und Krach beigebracht worden war, zum Vortrag ermuntern. Aber der Junge sträubte sich hartnäckig.

Das ehrliche Entsetzen der beschämten Mutter über diesen Kindestrotz reizte Schwengel zum Lachen, so daß seine Andacht jede Salbung verlor:

„Mich durchströmt eitel Seligkeit, ja, so ein würziger Heugeruch durchströmt mich im Gedanken, Zeit meines Lebens nichts anderes gewesen zu sein als ein Kind von Gottes schöner Natur, eins geworden zu sein mit der Natur, ihr gedient zu haben, sie verstanden zu haben und ihre Pracht und Kraft auch andern offenbart zu haben. Mein Weg hat mich abseits geführt von der Straße der Menschen. Ich habe nichts zu schaffen mit dem Wahne der Sterblichen! Einfältige sind sie,ganz Einfältige ! Erbärmliche, ganz Erbärmliche ! Knicker sind sie!l Zänker! Seildreher! Diese Doppelköpfe, diese Stummen und Blinden! Diese urteilslose Sippschaft!Sie sollen mir über den Kopf kommen, sollen mir das Dach abdecken, sollen mich ausplündern bis aufs Hemd und mir auch das noch nehmen und keinen Faden an mir lassen. Ich bin deswegen doch der ich bin, der Wun

23 Bernoulli, Zum Gesundgarten [353] dermann vom Berge, wie es sogar in der Zeitung zu lesen war. Ich sage euch, mein bißchen Haar auf dem Kopf, so dünn gesät es ist, weiß besser Bescheid als alle die Bücherschreiber, und meine Hosenknöpfe sind gelehrter als der Herr Professor X und der Herr Physikus 3,und mein kleiner Finger hat mehr Erfahrung als alle Kliniker aller Universitäten zusammen. Warum? Weil ich mit der Natur auf du und du bin, ihre Geheimnisse weiß und ihre guten Kräfte. Darum mir nach, mir nach, ihr Herren Doktoren medicinae und Arzte, mir nach und ich nicht euch nach.“

Es war schließlich nur noch ein Nachhall seiner Lektüre; seit Blötherlein ihm die Bekanntschaft des Paracelsus vermittelt hatte, saß er, sofern bei ihm von Seßhaftigkeit in irgend einer Sache die Rede sein konnte,hinter dem Paragranum wie hinter einer Bibel, und besonders die kräftigen Injurien gegen die ärztliche Zunft prägte er sich mit wütendem Eifer ein.

Fassungslos hörten ihm die Bauersleute zu; die Frau nahm sich den eindringlichen Ton zu Herzen, daß ihr die Augen feucht wurden und sie mit dem Rücken der Hand daran herum wischte. Der Bauer jedoch hatte aus Verlegenheit seine Cabakspfeife wieder in den Mund gesteckt, die er mit Rücksicht auf Schwengels Nikotinhaß bei dessen Erscheinen immer gleich zu löschen und in die Tasche zu schieben pflegte.

Schwengel trank sein Glas Milch aus und bat, wie immer, noch das Vieh des Grubenhofes nachsehen zu dürfen. Der Rundgang von Stall zu Stall schloß mit der Besichtigung des Verschlages, wo die Kinder ihre 354 []Kaninchen zogen. Er lobte die Sauberkeit und empfahl den Kindern die Liebe zu den Tieren als die schönste menschliche Tugend.

„Und was man von ihnen lernen kann! O die sind viel weiter als wir. Bei uns überall Grenzen und Zollverschläge! Aber die Tierlein! Ein Ameisenhaufen kann mitten auf der Landesscheide liegen, ein Bienenkorb hüben oder drüben stehen. Werden sie sich befehden oder totstechen: du bist ein Franzos, ich bin ein Deutscher, du bist ein Quacksalber, ich ein Zünftler. Fällt ihnen nicht im Traume ein! Lustig kriechen und fliegen sie durcheinander, denn sie sind doch alles nur Ameisen und alles nur Bienen, und da müßten sie ja dumm sein, wenn sie da noch lange Federlesens machen wollten.“Das leuchtete den Kindern gewaltig ein; die Bäuerin wurde aufs neue weich und beteuerte: „Das ist jo wie eine schöne Sonntagspredigt.“

Einzig Krimhild hatte in der allgemeinen Gemütlichkeit nicht mitgetan und war immer einsilbiger geworden. Jetzt drängte sie nach Hause.

Aber Schwengels Präzeptorgelüste wurden noch eimal herausgefordert durch den Anblick des Bienenhäufchens, das in der Wiese draußen eben noch in der Sonne stand. Man sah in der überklaren Luft selbst auf die Entfernung die vor den Stülpkörben kreisenden Punkte des heimkehrenden Schwarmes. Schwengel erkundigte sich, mit fachmännischen Allüren, ob das Ende der Honigtracht noch nicht eingetreten und die Drohnenschlacht noch nicht geschlagen sei. Dann erging er 355 []sich in seichter Sentimentalität weitschweifig über den Hochzeitsflug der jungen Küönigin und scheute sich nicht ausführlich von Samen und Samentasche zu reden.

Endlich setzte Krimhild den Aufbruch durch. Auf dem Hheimweg kam sie ungeachtet der noch andauernden und erst über ihrem hartnäckigen Stillschweigen verebbenden Redeseligkeit des Alten mit sich selbst ins Reine: .... Ihr Vater, ein gebrochener Mann,halbwegs vom Verstande und mit der Resthälfte allen feindlichen Einflüssen widerstandslos ausgesetzt; er brauchte ja doch diese wichtigen, großsprecherischen Worte immer nur für seine eigenen Kümmernisse und Leiden. Hatte er schon ihretwegen gelitten, sich auch nur in einem Punkte nach ihr gerichtet? Was war ihr mit seinen langweiligen Parabeln von den Bienen und Ameisen geholfen. Für dieses aufdringliche und plumpe Eintrichtern von Binsenwahrheiten war sie längst verdorben. Der Unterricht, den sie genossen hatte! ..... Ihre Mutter, eine bejammernswerte kranke Frau.Die Armste hatte nie das sonnige, naturwarme Glück einer gesunden Liebe erleben dürfen! Die Seligkeit,der sie teilhaftig geworden war! ..... Albert, der Unglücksmensch, anders wußte sie ihn nicht zu nennen.Alles schlug ihm fehl, so ehrlich sein Streben sein mochte.Er tat ihr eigentlich leid. Aber wer konnte da helfen?Sie zu allerletzt!

Richtig fand sie, vom Spaziergang zurück, einen Brief Melchiors vor den längst ersehnten, ausführlichen. Bis jetzt hatte er sie nur mit Vertröstungen auf mehr Muße und erst noch zu gewinnende klare Uber [356] sicht hingehalten: nun fünf Bogen eng geschrieben.Der Inhalt verbreitete sich zwar gerade deshalb in so ungewohnter Ausdehnung, weil es so viele Schwierigkeiten aufzudecken, so viele Hindernisse zu bestätigen galt.

Um den Besitz des „Gesundgartens“ stand es höchst bedenklich. Die Pfändung des Vaters war eine Frage der allernächsten Zeit. Ihre eigene Herzenssache, durch alle die Fährlichkeiten heftig in Mitleidenschaft gezogen, sah sich ausschließlich auf die Festigkeit und Dauerkraft ihrer Gefühle angewiesen; irgend eine Hoffnung als die in ihren beiden Herzen begründete gab es nicht.

Aber: „wir lieben uns ja“, schrieb er da, „tapfer wie du bist.“ ... „Gut, wie du bist.“ Und er würde bald,bald ihr ein Wiedersehen ansagen, im Gereutwald oben.Aber falls es auch noch ein Weilchen dauern sollte „Hörst du den Mut nicht verlieren!“

Wie ihr das alles im Ohre klang, wenn sie es sich mit seinen Worten auf leisbewegten Lippen vorsagte.

So früh es sich einrichten ließ, stieg sie in ihr Dachstübchen hinauf. Sie wollte sich unters Fenster legen;aber die Nacht war so lau und wunderbar schön, daß einen altanförmigen Vorsprung der Dachbildung hinaus.Auf diesem geländerlosen Postament saß sie eine ganze Zeit, als es ihr einfiel, die Kuppel des Erkerdachs etwas zu verschieben. Ohne große Anstrengung ließ sie sich verrücken. Krimhild spähte in die Stube, vermochte [357] aber nichts zu sehen; sie wußte nur, dort, dort ist es gewesen! Dann kletterte sie wieder in ihr Zimmer zurück und lehnte unterm Fenster.

Da kam unten zur Haustür heraus Albert, sie erkannte ihn am Schritt, ehe sie ihn sah. Er setzte sich auf eine Bank vor dem Hause, angestrahlt durch das Lampenlicht aus dem gegenüberliegenden Zimmer, so daß sie ihn beobachten konnte. Er reckte und streckte sich unruhig hin und her; auch hörte sie ihn seufzen. Dann langte er in die Tasche und zog etwas heraus.

Sie sah ein poliertes Metallstück stumpf aufleuchten und erinnerte sich, daß er einen Revolver besaß. Er drehte die Kurbel, daß es von Mal zu Mal knackste,dann drückte er den Hahn ungeladen ab.

Kurz darauf trat die Tante Lisette hinzu; sie rief den Neffen, er antwortete, sie setzte sich neben ihn.

Die beiden glaubten sich unbelauscht und dämpften ihr leise geführtes Gespräch nicht noch absichtlich.

Albert knirschte.

„Ich kann es ohne das Mädchen nicht machen. Mit ihr was ihr wollt. Ohne sie nichts. Sie treibt mich zum äußersten. Ich will noch jetzt ein tüchtiger und ordentlicher Kerl werden, wenn sie Vernunft annimmt und es endlich einsieht, daß wir füreinander geschaffen sind.Ist es nicht der reine Wahnsinn, wie sie's treibt. Sie läuft ja mitten in ihr Verderben hinein. Ihr dürft sie nicht so schalten lassen.“

Krimhild wurde es satt, länger hinzuhorchen. Das war ihr so gleichgültig, was der da unten schwatzte und drohte. Nur eine Regung befriedigter Grausamkeit [358] kräuselte ihr angenehm die Seele: über den hatte sie die Gewalt nicht eingebüßt, er litt ihretwegen Qual,doppelte Qual, je länger es anhielt; es summte sich auf.Jetzt spürte sie es: frei war sie, unabhängig war sie;mit keinem Faden klebte sie mehr an ihrer Umgebung.

Sie ließ ihr Auge hinausschweifen in die Nacht. Am himmel waren keine Sterne sichtbar. Dafür erblickte sie dort unten, ferne, in der Niederung der Rheinebene,die vielen Lichter von Melchiors Vaterstadt wo er wohnte, woher sie seinen Gruß in Händen hielt.

Da jubilierte es in ihr auf. Ihre Seele hüpfte und gefiel sich in phantastischen Sprüngen. Die väterliche Kindermahnung von den Ameisen und den Bienen fiel ihr ein.

Warum sollen die Sterne am Himmel nicht auch einmal Flügel und Füße bekommen haben so dachte sie in ihrem Ubermut. Und nun krabbeln sie dort unten durch das Lichtergewirre der Stadt; ja dort sind jetzt alle Sterne an einem glitzernden Haufen, in einem funkelnden Schwarme beisammen und schaffen und bauen, bis sie wieder ans Firmament hinauffliegen und leuchten über aller Welt.

[259]

Zehntes Kapitel

elchiors Vaterhaus, die Ratsapotheke,war ein zweistöckiges, hochgefirstetes

Gebäude von sehr weitläufigem Grundriß und auffallender Platzverschwendung. Weite, saalartige Vorräume dienten keinem andern Zweck, als daß vier oder fünf Stubentüren darauf mündeten. Zwischen den Zimmern enthielten die Wände Kasten in Rammergröße, und die vielen eingebauten Alkoven erhoben sich durch selboder weniger unabhängigen Gemächern.

Trotzdem nun der Ratsapotheker und seine Frau in einer gewissen Einschränkung lebten, standen doch beide Stockwerke voller Hausrat; einige der oberen Zimmer blieben jahraus, jahrein verschlossen, die Möbel waren verhängt, die Sessel in weiße Überzüge eingebunden.Der Herkunft alles einzelnen wurde gewissenhaft Rechnung getragen; besonders in die Augen springende Stücke hießen der Schrank der Ahne, die Teekanne der Tante Cleophäa, die Truhe des Onkels Jeremias; andere, nach irgend welchen ihnen beigelegten Deutungen ihrer Gestalt oder nach Ereignissen aus ihrem Dasein, trugen Bezeichnungen wie die 360 []„Hungerkommode“, das, Spanferkelsofa“, die, Neuchhustenuhr“.

Als nun Melchior vom „Gesundgarten“ wieder in die Ratsapotheke zurückgekehrt war, gingen ihm mit einem Mal die Augen auf für diesen Wohlstand „mal-grö lui“ der Eltern, wie sein in diesen Dingen merkfähigerer Bruder Rudolf längst zu witzeln pflegte. Diese ihm von Kindesbeinen an bekannten stummen Dinge!Von denen jedes, seit er sich entsinnen konnte, am selben Platze stand! Wie redeten die nun plötzlich mit einer lebendigen Sprache auf ihn ein. Er spürte sich in ihren Bann gezogen, als heischten sie: „Du gehörst zu uns, wir sind vor dir dagewesen, und wir haben hier zu befehlen, nicht du.“ Er trat in einen Herrschaftsbereich ein, wo es für ihn keinen Widerstand gab; er mußte gehorsam sein, Gefolgschaft leisten.

Diese Empfindung überfiel ihn um so gewaltsamer,als von außen her nicht der leiseste Druck, nicht eine Spur von Zwang bestimmend auf ihn einwirkte. Er hatte sich auf die Rolle des verlorenen Sohnes gefaßt gemacht! Aber von dem ersten Schritt über die väterliche Schwelle bis zur gegenwärtigen Stunde nicht ein Ton, nicht ein Wort, als gälte es Brücken zu schlagen,anzuknüpfen, einzufädeln. Kein einziges Stillschweigen, das das Geschehene ignorierte, kein gelegentliches diskretes Hüsteln, das über Unannehmlichkeiten hinwegsetzte alles die barste, hausbackenste Selbstverständlichkeit.

Es ging einfach mit ihm weiter, wie es ohne ihn offenbar auch gegangen war. Man erkundigte sich sogar 361 []nach Krimhild, ließ sich dasHerwürfnis mit den Schwengels erzählen, fragte nach Fridas und Rudolfs Kräuterkur, aber ohne jeden Anflug von Sensation, so am Mittagstisch zwischen der Brotsuppe und dem Rindfleisch. So war, was er sich als persönlichen, ihn von den andern unterscheidenden Zuschuß mit seinem Gesundgartenerlebnis hinzuerworben zu haben glaubte, seit seiner Rückkehr in Gefahr, vergessen zu werden natürlich nicht, wohl aber außer Beziehung mit seiner Person zu geraten. Wenn es ihm Spaß machte, mochte er das Andenken daran als eine von einem Ausflug mit heimgebrachte Rarität, als eine an der Uhr zur Schau getragene Berlocke ruhig weiter mit sich herumführen: deswegen war weder er ein Anderer geworden, noch hatte er damit irgend etwas umgewandelt oder anders gemacht.

In dumpfer Verwunderung lebte er dahin. In ihm den ungestümen Wechsel, dieses immerwährende Anfluten und Verebben; um ihn herum der automatische Pendelschlag der Gewohnheit im unabänderlichen Regulatortempo.

Rudolf, dessen Anwesenheit vermittelt hätte, war gleich mit dem Nachtzuge wieder verreist, um Unterhandlungen wegen eines Engagements für den Winter anzuknüpfen.

So am zweiten oder dritten Tage, Melchior hatte seinen alten Platz zwischen Vater und Mutter beim Mittagessen inne fiel ihm eine Feierlichkeit auf, die eintrat, als das Mädchen das letzte Gericht aufgetragen hatte und in der Küche verschwunden war. Die [362] beiden alten Leute räusperten sich, rückten an den Messerbänkchen herum und tranken die Neigen ihrer Gläser aus.

„Wir müssen nun aber doch einmal davon reden,was eigentlich wird“, begann Herr Zwinger.

Es war eine feine, fast rührende Eigenheit ihrer Gemütsart, bei aller Autorität, die sie für sich als Eltern in Anspruch nahmen, Bestimmungen von nicht abzusehender Tragweite, letzte Entscheidungen, bindende Entschlüsse glimpflich von der Hand zu weisen. Melchior erinnerte sich aus seiner frühesten Jugend dieses Zuges. Selbst in lleinen Dingen, wenn er zu ihm ging und um Erlaubnis für irgend eine Geringfügigkeit bat,hieß es: „Frag die Mama!“ und wenn er dann zu ihr ging, desgleichen: „Frag den Papa!“ Man wollte es ja nicht gewesen sein, wenn es etwas Dummes gab, so war man denn lieber vorsichtig und verzichtete darauf,seinen Willen geltend zu machen.

Und so bestand der eigentliche Zweck, weshalb die LEltern den Sohn übers Kreuz ins Gebet nahmen, auch jetzt in dem Bestreben, ihn für die Ratschläge und Ermahnungen des Stadtarztes Volckhardt zugänglich zu machen.

„Ja“, rief Frau Zwinger, „wenn er allein sich selbst überlassen gewesen wäre, da möchtest du vielleicht schlecht aufgehoben sein bei ihm oben. Er versteht keinen Spaß und setzt gleich seinen Kopf auf. Auch ich, so lang wir uns kennen, und so gut wir miteinander auskommen, habe mich öfters mit ihm gezankt als mich mit ihm vertragen. Und wenn der Klaus, dein Vater,363 []nicht so über die Maßen gut und verträglich wäre, so hätte zwischen ihnen beiden der Frieden ganz gewiß nicht bis heute vorgehalten. Also, wenn du es mit ihm allein zu tun hättest, so möchte ich zu nichts raten. Aber du mußt wissen, was für einen Fürsprecher du da oben all die Zeit über gehabt hast.“

„Der, Er' ist nämlich eine Sie“, warf der alte Zwinger ein.

„Ach“, beteuerte Frau Zwinger aufs neue, „ich darf gar nicht daran denken, wie ich diesen Sommer überstanden hätte ohne die gute Gabriele. Sie ist immer noch dieselbe, die sie schon als kleines Mädchen war;alles für die andern, nichts für sich. Das kann ich dir sagen: wenn dein Herzenswunsch je in Erfüllung geht,und es kommt zur Hochzeit, dann könnt ihr euch bei ihr bedanken, du und deine Frau Liebste. Da hast du wahrhaftig eine gute Nase gehabt, als du dich damals in deiner Not an sie gewandt hast.“

Während dieser Rede seiner Frau nickte Herr Zwinger mehrmals mit dem Kopfe:

„Und ihren Herrn Papa“, fügte er jetzt bei, „hat sie zu deinen Gunsten bearbeitet, daß es eine Art hatte.Er sagte mir selbst einmal ganz ärgerlich: Was hat der Fratz nur!“

Als die Drei sich endlich vom längst leer geräumten Mittagstisch erhoben, war die ganzeletzte halbe Stunde nur noch von Gabriele die Rede gewesen.

Der Gedanke an sie war für Melchior in jenen halb beglückenden, halb beängstigenden Heimatgefühlen der ersten Cage mit inbegriffen gewesen. Nicht nur stan [364] den im Eckstübchen auf Nähtisch und Sekretär der Mutter mehrere Bilder von ihr, auch hingen allerlei Stickereien und weibliche KNunstübungen an Wänden und Möbeln herum, deren er sich gleich wieder als Arbeiten von ihrer Hand erinnerte.

Er überlegte eben, ob er gleich gehen oderlieber noch bis morgen warten sollte, als Frida drei Herren meldete, die ihn zu sprechen wünschen.

„Mich?“

„Ja, den jungen Herrn Doktor. Es sind die Drei,die auch auf dem Gereut obe g'wesa sind.“

Wahrhaftig, als er eintrat, stand das TrioNonsortium, der Glasschmelzer, der Drogist und der Heilmittelfabrikant vor ihm, und füllte, auf sein Geheiß,Platz zu nehmen, die drei altväterischen Lehnstühle der guten Stube gravitätisch aus.

„Nun, was verschafft mir die Ehred“

„Herr Doktor“, begann der Fläschleingießer, „die Ehre ist ganz auf unserer Seite. Wir rechnen es uns zur aufrichtigen Freude an, Ihre Bekanntschaft bereits gemacht zu haben und nicht nur Ihre Bekanntschaft,nein, mehr als das, Ihre ärztliche Tüchtigkeit am eigenen Leibe erfahren zu haben; obschon uns allen drei Gott Lob und Dank eigentlich nichts gefehlt hat, so verstehen wir uns darauf, herauszufühlen, auf was es ankommt. Unser ehemaliger Schutzbefohlener Schwengel es ist seine Schuld,daß er es nicht mehr ist pfeift nun also auf dem letzten Loch. Seit er jene Schwindelhuber wieder zu sich hereingelassen hat, haben wir unsere Hand 365 []von ihm zurückgezogen, und nun steckt er natürlich in der Tinte.“

„Herr Doktor“, spann der Drogist den Faden weiter,„um den Schwengel ist es am Ende nicht schad, aber um seine Sache ist es schad. Ist am Schwengel nichts zu halten, so vielleicht doch an seiner Sache. Und eben deswegen sind wir hier. Sie wissen auf dem „Gesundgarten“ Bescheid, Sie wissen auch in den Kräutern und Salben Bescheid. Ich zur Not auch. Aber das ist nicht das nämliche. Wir müssen einen diplomierten Mediziner oben hinstellen können, und da denken wir, Sie sind unter allen, die etwa in Frage kommen,obenan.“„Herr Doktor“, schloß der Gerblohendestillator die Mission ab, „wir sind vorerst nur die Abgesandten, um Sie in dieser Angelegenheit, wie sich's gehört, schicklich zu begrüßen. Sollte Ihnen unsere Anregung sympathisch sein, so läßt der Herr Stadtarzt und Physikus Volckhardt freundlich um Ihren werten Besuch bitten.Er steht an der Spitze und ist wie sich nach dem Gewicht seines Ansehens und seines Amtes und seines “

Der Sprecher suchte nach dem dritten und letzten Trumpf seiner Begriffsreihe, bis Melchior ihm lächelnd drüber weghalf:

„Und seines Steuerzettels, das darf man schon laut sagen, so lang's niemand hört“, worauf unter beifällig nickendem Gelächter seiner selbst und der beiden andern jener fortfuhr:„Der Konkurs ist heute über den Gesundgarten verhängt worden. Morgen wird gepfändet“ 366 []„Ja wasd?“ rief Melchior und erbleichte, „also doch schon so plötzlich.“

Der Rest der Unterhaltung bestand im wesentlichen aus dem wiederholten Versprechen der drei, die Zwangsvollstreckung werde in den mildesten Formen vorgenommen und besonders auf die weiblichen Angehörigen die weitgehendste Rücksicht genommen werden. Dafür stellte sich ihnen Melchior für alle von ihm gewünschten Dienste gerne zur Verfügung und sagte ihnen unter der Türe seinen Besuch bei Volckhardt noch in dieser Stunde an.

Freilich schrieb er dann erst noch mit fliegender Feder einige Zeilen an Krimhild und vertraute sie einem rotkappigen Dienstmann zur Bestellung an, der seit Jahren, wenn er nichts zu tun hatte, vor der Ratsapotheke Gang an Ort machte.

„Hier haben Sie noch einen Franken extra. Aber nun los, wie's Bisewetter mit dem Tram so weit's reicht.“

Er sah nach, wie der behäbige und die Mützenaufschrift „Expreß“ durch seinen Anblick nicht eben rechtfertigende Packträger immerhin sein äußerstes Tempo entfaltete, einer Straßenbahn nachsetzte und sich im Laufe auf die hintere Plattform schwang.

Langsam und nachdenklich machte er sich auf den Weg, die Creppen des Stadtberges hinanzusteigen, damit er vor Volckhardts Wohnung kam; denn der Aufstieg durch das Hintergebäude zu Volckhardts Garten setzte immerhin eine Vertrautheit des Umgangs vor367 []aus, die Melchior denn doch nicht mehr als selbstverständlich einfach vorwegnehmen zu dürfen glaubte.

Wieder begrüßte ihn, als er die Klingel gezogen hatte die Dienerin Kathrine mit ihrer würdigen Begrüßung.Er ließ sich melden, wurde auch gleich angenommen und ins erste Stockwerk nach dem herrlichen, auf den Garten hinaus gelegenen Herrenzimmer geführt.

Statt der Zurückhaltung im Benehmen, auf die er sich von seiten des Stadtarztes gefaßt hielt, traf er umgekehrt auf einen auffallend angelegentlichen Empfang.

Mit großer Unruhe nahm er in dem ihm angebotenen Ledersessel Platz; er versank beinahe zwischen den Lehnen in der bequemen Höhlung.

„Es ist auch für dich besser, du kommst aus dem unnützen Werweißen heraus“, sagte der Stadtarzt. „Wir haben Schluß gemacht. Kennst du übrigens einen Herrn Faxon und einen Herrn Blötherlein. Ich denke, ja.Das sind mir noch ein paar Kerle! Sie haben uns ein Bewilligungsgesuch für irgend einen Jahrmarktsschwindel eingereicht; ich hatte das Zeugs zu begutachten. So ein hirnverbrannter Blödsinn ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Du hast mir leid getan, und ich denke, du bist nun ein für allemal kuriert. So kläglich wie du auf die Bagage hereingefallen bist Reinfall bei Schaffhausen in der dritten Potenz! Aber seien wir gerecht es gibt Pfuscher und Pfuscher. Da der Hartmann, weiland Lohnhöfler,der denkt wenigstens und hat Standpunkt, und wir wollen gern etwas dran wenden, wenn wir den dem Rachen der Sozialdemokratie entreißen könnten. Sein [368] Artikel im, Vorwärts“ höchst gemeingefährlich, aber gescheit, sogar mordsgescheit.“

Man hatte die Hausglocke läuten hören.

Es klopfte. Die alte Kathrine kam und überreichte einen zerknitterten Zettel, den Volckhardt entfaltete und las:

Nicht schlecht!“ lachte er, „Dupus in fabulal Man soll den Teufel nicht an die Wand malen. Aber ja ich will ihn mir ansehn. Du gehst vielleicht so lange zu Gay hinüber. Sie bat es sich aus, auch etwas von dir zu haben.“

Als Melchior in das anstoßende Zimmer, einen langen, saalartigen Wohnraum trat, saß sie in der erkerhaften Ausbuchtung, an dem mehreckigen Fenster.

Sie stand auf, als er auf sie zutrat, und dabei griff ihre Hand wie in einer notwendigen Reflexbewegung nach einem goldbeschnittenen Klassikerbändchen, das in Greifweite vor ihr lag. Während sie sich gegenüber saßen und ins Gespräch kamen, blätterte sie von ungefähr darin.

Aus dem Herrenzimmer nebenan ertönte eine Unterhaltung zwischen Männerstimmen. Albert Hartmann hatte durch die Dienstmagd das auf ein abgerissenes Briefbogenblatt niedergeschriebene Bittgesuch überreichen lassen, empfangen zu werden. Volckhardt ließ ihn heraufkommen.

Albert hatte einen abgetragenen braunen Filzhut in der Hand und steckte in seinem Kellnerfrack; dazu trug er ein hellgraues, kariertes Beinkleid, ein Jägerhemd und einen bunten Schlips. Der Frack war soweit ganz,20 Bernonlli, Zum Gesundgarten [369] aber so ausgenutzt, daß die wenigen schwarzen Unspfe ihren Überzug eingebüßt hatten und die schlechte metallene Unterlage stumpf glänzend sichtbar war. Er kümmerte sich nicht um Volckhardts Erstaunen.

Doch faßte sich dieser und fragte freundlich, womit er dienen könne.

Albert besann sich nicht lange und fiel mit der Cüre ins Haus herein.

„Ich glaube, ich hätte das Zeug zum Nervenarzt in mir gehabt. Ich konnte aber mein Studium nicht zu Ende führen und habe mich, so gut es ging, rein praktisch weitergebildet an der Beobachtung von Uranken und wessen ich so an Lehrbüchern und Monographien gelegentlich habhaft wurde.“

Nun wenn Sie wirklich positive Kenntnisse besitzen“,versetzte Volckhardt und ergriff mit seiner Rechten ein Falzbein, das vor ihm lag, „und zu sehen verstehen und zu lernen verstehn, Sie wären nicht der erste,den wir herausgeholt haben. Aber Sie begreifen Ihr Vorleben, Ihr jetziger Zustand so lange Sie mir nicht das Gegenteil beweisen heutzutage, wo man niemand mehr trauen soll, und hier in dieser Stadt, wo jeder sich lächerlich macht, der Kredit gibt, ohne eine genügende Sicherheit in Händen zu haben “

Während dieser Worte drehte Volckhardt das an beiden Enden gefaßte Falzbein und besah bald dessen eine, bald dessen andere Seite.

Albert nahm einen Anlauf:

„Herr Stadtrat, ich bin der Sohn eines Schusters,der zugleich ein so leidenschaftlicher Mystiker und Gott370 []sucher war, daß es seinen Schuhen auf die Sohlen schlug und seine Kunden immer schon halbe Barfüßler waren.“„So daß er mit dem Besohlen der Seelen schließlich ein besseres Geschäft machte, also so ein zweiter Scheffler, hieß er doch wohl “

„Sie meinen Jakob Böhme, Herr Stadtrat.“

„Sie sind mir ein wenig durcheinander gekommen,es waren doch beides Sachsen.“

„Sachsend Herr Stadtrat, Schlesier!“

„Lassen wir die alten Knaben“, meinte Volckhardt nun und gab seinem Besuch, den er immer noch hatte stehen lassen, anheim, sich einen Stuhl zu nehmen.

„Erzählen Sie mir. Eigentlich interessiert es mich.“

So ließ ihn denn der seltsame Kellner einen Blick in sein Inneres tun. Als halbwüchsiges KNind übertat er sich in Schwärmerei und trieb einen förmlichen Kult mit zwei Halbbatzenbildchen: „Auf dem einen war die heilige Dreieinigkeit, der Criangel, das Auge darin und die Taube darüber, auf dem andern ein blutendes Herz Jesu, die hab ich neben meinem Bett an die Wand genagelt und mit Seufzen und Gelübden davor gekniet.“ Es blieben ihm die Inbrunst für geistige Erregungen, und als er längst aufgehört hatte, darunter zu leiden, bestimmte sie seinen Erkenntnistrieb:er ergab sich leidenschaftlich der Musik, diesem kräftigsten Narkotikum, und als er Medizin studierte, sagte er sich immer: Irrenarzt sollst du werden, Irrenarzt!

„Das letzte psychische Rätsel, dem ich nachtrachtete, war die Krankheit der Frau Schwengel.“

242 371 []„Hysterischd“ fragte Volckhardt.

„Wie mir scheint, ein recht schwerer Fall. Was etwa noch von spiritistischem Glauben in mir spukte, verflüchtigte sich auf Nimmerwiedersehen. Ich habe einmal fünf gerade sein lassen, weil ich Hunger hatte und zu Geld kommen wollte. Wer weiß, ich werde esvielleicht wieder tun, wenn ich eines Tages nichts zu beißen und zu krachen habe. Aber gegen mein Gehirn sündigen,meine bessere Erkenntnis betrügen, niemals! Für Wunder und Geisterspuk habe ich fortan nur noch einen Namen der heißt: Hysterie! Dem Faxon habe ich Bescheid gesagt und nannte es schamlos und verbrecherisch, eine arme gequälte Frau noch ausbeuten zu wolsen“ „Genug, genug“, unterbrach Volckhardt, „aber der alte Schwengel, wie stellte sich der dazud“

Albert lachte: „Ich gab ihm noch den letzten Anlaß,sich in seine Herrscherbrust zu werfen. Er rasierte sich gerade seine Wange, als Faxon mich bei ihm anschwärzte. Da hätten Sie ihn sehen sollen: nicht einen Augenblick besann ersich, seine Standesehre zu wahren.Er kam halb eingeseift, halb kahlgeschabt, und fuchtelte, das offene Bartmesser in der Hand, mir entgegen: Albert, nun ist meine Geduld erschöpft. An dir ist Hopfen und Malz verloren. Fort! Mir aus den Augen! Ich verbiete dir mein Haus!‘ Sein Haus! Sie haben ihm ja heute morgen das Dach überm Kopf weggepfändet.“

Volckhardt wurde nachdenklich und legte, als Albert schwieg, das Falzbein wieder auf den Tisch zurück.372 []„Sie trauen sich also wirklich den Ernst und die Willenskraft zu, das Studium wieder aufzunehmen Bedenken Sie, was werden Sie nicht alles vergessen haben.“

„Bedenken Sie aber auch, Herr Stadtrat“, entgegnete Albert unbeirrt, „was ich voraus habe. Wer durch das mit lebendigem Leib durch ist, wer so alles mit angesehen hat!“

Volckhardt nickte. Dann stand er auf.

„Haben Sie denn bei der Rückkehr Zwinger nicht mehr vorgefundend“

Kaum hatte Volckhardt den Namen ausgesprochen, so wich die erlangte Zuversicht aus Alberts Benehmen und war wie ausgewischt.

„Und wenn auch!“ machte er unwirsch. „Er pocht auf seinen Schulsack, und übrigens kommt er von der Chirurgie her. Nervendiagnostik scheint hingegen weniger sein Fall zu sein.“

Volckhardt wollte seinen Besuch nun entlassen: Zwinger war ja nebenan, der stand ihm näher. Er bat Albert um seine Adresse:

„Meine Adressed“ höhnte der nun wie ein rechter Sozialdemokrat, „ich bin nämlich bis auf weiteres Bettler und Vagabund wie auch schon, bleibe im Lande und nähre mich so redlich es eben gehen will. Allzu genau darf man mir auch nicht auf die Finger sehn. Und wenn's nur wäre, um wieder so meine paar Wochen es auf dem Lohnhof gut zu haben. Ich versichere Sie,Herr Stadtrat, es hat mir nicht schlecht gefallen. Verpflegung, Unterkunft was man unter diesen Um373 []ständen überhaupt nur verlangen kann, ich aß und

lag schon viel schlechter alle Achtung, wahrhaftig!“

Und, sich bescheidend, ohne den spitzen und scharfen on:„Herr Stadtrat, ich las an Ihrer Türe das Mitgliedschild gegen Hausbettel. Dürfte ich Sie ganz ergebenst um einen Gutschein bitten für ein Nachtlager ja gewiß in der Herberge zur Heimat. Nehmen Sie's nicht als Unbescheidenheit; aber, es würde mir wirklich Erleichterung gewähren.“

Volckhardt konnte etwas Gewalttätiges haben. Es entlud sich manchmal jählings gegen Menschen, die sich dessen gar nicht versahen. Manchmal aber entlud es sich bei ihm auch nach innen zu und warf ihm mit einem Schlage seine eigene Zuversicht über den Baufen.

Einen solchen inneren Stoß an die Herzwand versetzten ihm Alberts letzte Worte. Er brauchte sich wahrhaftig keine Vorwürfe zu machen; er tat das Seine an Nächstenliebe. Aber das heimliche Gruseln des Millionärs vor dem Proletarier überlief ihn nun doch. Um so mehr, als er den Eindruck einer nur niedergehaltenen, nicht gänzlich verkümmerten Tüchtigkeit bei Albert nach dem eben erfolgten Gespräch nicht mehr abweisen konnte.

„Sie bleiben da und werden bei mir zu Abend essen“,entschied er mehr im Tone eines Befehls, als einer Einladung, „mit Zwinger zusammen. Beißen werdet ihr euch wohl nicht. Ich kann Sie so nicht einfach aus dem Bause lassen.“374 []Damit ließ er Albert einfach stehen und eilte ins Nebenzimmer zu Gabriele und Melchior.

In eben dieser Zeit hatte Melchior der Freundin sein herz ausgeschüttet. Nun trat der Vater ein und meldete Alberts Gegenwart, verfügte dessen Anwesenheit beim Abendtisch.

„Stoßt euch nicht an seinem Außern, seine Coilette ist etwas sehr geflickt, aber ganz und sauber.“

Damit nahm er Zwinger beim Arme und verschwand mit ihm in das Studierzimmer zurück.

Sich ihrer Pflichten im Haushalt erinnernd, stieg Gabriele eine Treppe tiefer. Als sie mit den Anordnungen so weit war, daß sie durch die alte Rathrine zu Tisch bitten lassen konnte, und die drei Herren kamen,ihr auch „Herr Hartmann“ vorgestellt wurde, empfand sie die unerträgliche Spannung. Verstört und kleinlaut suchte sie den Schein allseitiger Unbefangenheit durch Anbieten des ersten Gerichtes zu retten.

Hartmann war keineswegs so heruntergekommen,daß er unter andern Umständen den durch die Gegenwart einer vornehmen Dame gebotenen Ton nicht zu treffen gewußt hätte. Aber wie die beiden Klammern eines Schraubstocks saß ihm der eherne Griff des Schicksals im Nacken, so daß er weder nach rechts noch links mehr sah. Der Nebenbuhler ihm gegenüber aber er, Albert, wußte, was er wußte.

CTäuschen Sie sich nicht, Herr Zwinger“, redete er auf jenen ein, als wären sie unter vier Augen, „es ist nicht Eifersucht, nicht Haß, nicht Schadenfreude, weshalb ich Ihnen zur Vorsicht rate. Sie sind ein Neuling 375 []in der Materie; ich dagegen habe jahrelang nichts als daran herumgelernt und meine mich nachgerade auszukennen. Ja, glauben Sie mir: Krimhild Schwengel ist ein Studium für sich und bei ihr ist es leichter durchzufallen als das Examen zu bestehen. Die Sphinx,wie sie im Buche steht, kann ich Ihnen sagen. Und als mir meine Tante erzählte, wie leicht und selbstverständlich Sie in meiner Abwesenheit Ihre Verlobung mit diesem Wesen genommen verzeihen Sie ich meine es nicht schlecht mit Ihnen; sehen Sie sich vor das ist alles, was ich Ihnen raten kann. So einfach geht es bei der denn doch nicht.“

„Ich vermag mit Ihrer Warnung nichts anzufangen“, versetzte Zwinger trocken, „Sie haben aber jede Mitteilung frei. Es ist heute so etwas wie eine Sonnwendnacht, wo alle Türen offen stehen und die Gräber sich auftun.“

Albert spürte aus dieser Antwort einen Verweis heraus an seine Adresse und geriet nun vollends in Verlegenheit und Aufregung. Er fuhr mit seinem Besteck in der Luft herum, legte sich über seinen Teller,auf dem die gehäuften Speisen längst kalt geworden waren, schlang einiges herunter und stürzte eine beträchtliche Neige Weines hintennach. Dann verfiel er zunehmend in einen verworrenen Redeschwall. Dieser Sturz in eine rechthaberische Dumpfheit hatte eine rein körperliche Ursache. Seit langem schlecht genährt und neuerdings überhungert, geriet er über die plötzliche Zufuhr reichlicher und kräftiger Nahrung in einen Taumel. [376] Nun verstummte er völlig und kam immer mehr ins Essen, als hätte er es als Dummheit erkannt, sich noch bietender Gelegenheit satten Leibes war.

Als die alte Uathrine das letzte warme Gericht abgetragen hatte und ihm einen Silberkorb mit köstlichem fremden Obste darhielt, ergriff er nach einigem Zögern auf Volckhardts ermunterndes Zunicken eine prachtvolle Malagatraube von kanaanitischem Format und verzehrte von den samtblauen, nußkerngroßen Beeren eine nach der andern. Dann führte er die Glasschale,die das lauwarme Spülwasser enthielt, an den Mund und trank daraus.

Alsbald fiel ihm, dem Uellner, in dessen ausgedientem Frack er ja dasaß, der Verstoß auf. Entsetzt stellte er das Gefäß nieder und sprang vom Stuhl. Vor Scham füllten sich seine Augen mit Wasser.

„Verzeihen Sie mir!“ preßte er hervor. „Sie sehen nun, mit wie wenig Recht ich hierher gehöre.“

Er verbeugte sich linkisch vor Gabriele. Sie sah ihn erstaunt an und reichte ihm sitzend die Hand.

Volckhardt wurde durch diese letzte bizarre Unbeholfenheit endgültig von Hartmanns Redlichkeit überzeugt. Der gemischte Aufzug konnte zur Not eine Finte sein: aber den Spülnapf austrinken, weil er, in blauem Email und mit dem Goldrande, doch nichts minderes enthalten konnte, das war Natur und der Nase nach gehandelt!

Die Handwerksburschenplumpheit vollendete somit die bereits im Werden begriffene Gönnerschaft rasch. [377] „Kommen Siel!“ sagte er freundlich. „Wir haben miteinander unter vier Augen zu reden.“

Gabriele und Melchior, allein gelassen, begaben sich in das Wohnzimmer des ersten Stockwerks zurück. Der große Raum lag in tiefer Dämmerung, in der Fensterecke brannte eine große Majolikalampe mit olivseidenem Schirm auf dem Damenschreibtisch. Sie stellte sie auf das Cischchen am Sims, auf dem noch das Klassikerbändchen mit dem Goldschnitt lag.

Sie setzten sich einander gegenüber, wie sie vor dem Abendessen gesessen hatten, und Gabriele griff wieder nach dem Diamantbüchlein.

„Was hast du dad“ fragte Melchior, um etwas zu sagen.„Die Iphigenie. Ich nehme an einem Literaturkurs für Damen teil unter feiner Leitung. Da ist mir die Schönheit gerade dieser Dichtung aufgegangen zum ersten Mal. Ich sehe, daß ich früher nichts davon gehabt habe. Das Wunderbare dieser Schwesterseele “Sie blickte an der Lampe vorbei zu Melchior hinüber; denn sie war im Begriff, aus sich herauszugehen,sich frei zu reden. Da stieß sie auf seinen Blick und sah seinen schmerzlich lächelnden Mund:

„Schwesterseele!“ kam es von da zurück wie ein Echo.

Nun erhoben sie sich wie auf Verabredung und doch wußten sie nicht, weshalb sie mit einem Male einander schweigend gegenüberstanden. Gabriele wollte sich [378] ein Herz fassen; es mußte sein. Aber einen Mutbrauchte das, wie zum Sprung ins Wasser.

„Hat dieser arme, schreckliche Mensch heut Abend dich nicht beleidigtd Ich verstehe ja davon nichts. Aber war das nicht etwas, was nach euern Begriffen Rechenschaft heischt unter Männernd Mir ist deshalb so D

Melchior wunderte sich, daß sie es von dieser Seite anfaßte.

„Die Umstände sind so wunderlich gewesen heut abend; ich darf ihm nichts nachtragen. Und soll ich offen sein, Gabriele, ganz offen ?“

„Sei es!“ sagte sie.

„Ich hätte nicht den Mut, ihm seine Rede zu verweisen. Mir ist, er habe Recht und würde Recht behalten.“

Gabrielens Züge füllten sich mit Staunen:

„Du findest also, er kenne Krimhildꝰ“

„Er kennt sie besser als ich.“

Gabriele setzte abermals an; sie bezwang ein aufsteigendes Zittern: „Meinst du, er liebe Rrimhild ?“ Da entgegnete Melchior heiser: „Er liebt sie mehr als ich.“

Der Weibinstinkt, der nach dem geliebten Manne drängt, spürte in Gabrielens Innerem unversehens die Bahn sich auftun, die Hindernisse auseinander rücken;eine Hand erhob sich in ihr, alle fünf Finger geöffnet,griffbereit, um zuzulangen, sobald der Augenblick da war.

Tränen entstürzten ihren Augen.

„Melchior!“ rief sie, „ich kann dir nichts nütze sein.“3790 []„Doch, du! Gabriele! Gerade du! Wer soll mir denn helfen, wenn nicht du?“

So redeten sie einiges im Tausche, sie ihn vor ihr warnend, er, ihre Unentbehrlichkeit beteuernd, bis sie ihm ergriffen beide Hände hinhielt.

Er faßte sie, zog sie sachte gegen sich und hauchte der Freundin einen Kuß auf die Stirn, sie erstattete ihn desgleichen, auf die Wange. Sie hatten sich immer geküßt, so alle Schaltjahr einmal, bei ganz besonderen Sonn und Feieranlässen, seit der Jugend, zum letzten Mal allerdings vor drei Jahren in der Sylpvesternacht.Melchior traf nun Anstalten zum Aufbruch, sie hinderte ihn nicht, schlug es ihm aber auch nicht ab, als er fie bat, ihn noch durch den Garten bis an die Falltür zu begleiten und ging ihm ohne But vorauf in den Garten.Wirklich fiel das milde Licht des vollen Mondes durch die schwarzen Wipfelflecken und die Lücken der Laubmassen. Der Kies knirschte unter den wenigen Schritten bei der sonst vollkommenen Stille.

Sie schlug den Seitenweg ein, ihren liebsten.

Unversehens standen sie vor dem Felsenstück mit dem Marmorrelief. Es lag im Mondschein.

Gabriele blieb stehen. Eine Sekunde lang war große Erwartung zwischen beiden. Dann fühlte sie, wie er ihr seinen Arm sanft um den Nacken legte und sie wieder sachte an sich zog.

Er küßte sie aufs neue, mehrmals und verweilend.

Sie gab ihm alles zurück.

386t []Und sie flüsterten sich ins Ohr: „Du Gute!“ Und „Du Lieber!“

Erst als sie sich auseinander lösten, wurden sie inne,ein übriges getan zu haben.

Es war jetzt etwas hinzugekommen, ein Mehreres,ein Zuvieles.

Sie trennten sich rasch.

Gabriele blieb auf der Terrasse stehen und begleitete ihn nicht noch die letzten Schritte bis an das Dach des Schuppens.

Aber sie sah ihm nach. Er zog rasch den Türdeckel auf und schlüpfte hinein.

Als er nur noch eben mit dem Kopf drüber weg sehen konnte, stand Gabriele unbeweglich, vom Mondlicht zur Bildsäule eingeschmolzen, auf der Creppe, am Eingang des Gartens.

Als er das Fallbrett sich zu Häupten zuschlagen ließ,rasselte die Kette unheimlich durch die Totenstille. Er sah sich um.

Die nur ganz ungefähre Dämmerung eines filtrierten, gebrochenen Mondlichtes drang durch einige Dachluken. Dazwischen war es stockfinster. Er kannte sich jedoch tastend zur Genüge aus und hätte blindlings die Treppenlehnen zu greifen und die Fehlstellen zu vermeiden vermocht.

Die eben in ihm aufgebrochene ungeheure Erregung trug ihn über die Gefahren der Finsternis hinweg. Fast im Sprunge stieg er durch die vier Stockwerke des gänzlich unbewohnten gespenstischen Speichers in die Tiefe und kam wohlbehalten im Hofe an.381 []Da war er auf allen vier Seiten von hohen Mauern eingeschlossen, und nur als er steil über sich empor sah,an der leise flüsternden Krone der Hoflinde vorbei,flimmerte hoch oben milchweißlich das Firmament.

Im Erdgeschoß stand das Nachtlicht für ihn bereit.

Er nahm die Ampel, noch eine richtige napfförmige und gehenkelte Olampel mit dem zitternden, herzförmigen Flämmchen am Schnabelende und stieg die Treppe empor.

Das schmiedeeiserne Geländer warf fratzenhafte, geringelte, sich hakende Schatten an die Gipswand. Leise schloß er die Glastüre auf und betrat auf den Zehen die Fliesen der großen Flurhalle.

Da kam ihm gegenüber ein Mann entgegen, von 0Hand trug. Das Gesicht entsetzte ihn. Er schritt aber mutig auf ihn los.

Er war es selbst. Er hatte nicht mehr an den großen Spiegel gedacht.

Er stellte die Ampel auf die Konsole vor das Spiegelglas. Dann warf er verwundert einen Blick rückwärts hinter sich in die Halle; wo jedes Stück an seinem Platze stand und ihm bekannt war von Kind auf. So oft er sich aber umdrehte und genau denselben Anblick im Spiegel wiedergegeben sah, war es ein ganz anderer, geheimnisvoller Raum.

Und es war auch nicht mehr er selbst, der vor ihm stand: der bleiche, überwachte, hohläugige.

Er schüttelte sich. Er hustete mit Absicht. Nein zum Geistersehen hatte er niemals Anlagen gezeigt. Damit 382 []war er nicht zu überrumpeln. Er wollte aber rasch in sein Zimmer hinauf und den Riegel hinter sich zustoßen.

Ihm war nichts. Nur spürte er einen eisernen Ring um seine Stirn und schmerzhafte Nadelstiche unter der Wölbung der Hirnschale.

Ohne Kerze oder Ampel betrat er seine große Mansarde. Die beiden Fenster standen weit offen. Das ganze Gemach war vom blauen Mondlichte fast wie von einem feinen, kräuselnden Rauchdampf erfüllt. Er legte sich an die Brüstung des Simses und beruhigte sich in der Nachtluft.Er befand sich hier wieder in ziemlicher Höhe, so daß er die Dachfirsten silbern blinken sah. Und da sammelten sich über dem freieren Ausblick und in der köstlichen feierlichen Stille seine aufgescheuchten Gedanken. Er grub sich den Kopf in beide Hände: „Mein Gott, wie es einem doch gehen kann!“

Doch nicht lange trieb es ihn im Kreise herum. Als er den Kopf wieder erhob, war er ein braver, ehrlicherBursche und weiter nichts. Wie hatte er nur einen Augenblick zweifelnd überlegen können, was er zu tun habe.

Der Gedanke an Krimhild fiel ihm mit Zentnerlast aufs Gewissen: er stürzte ihr zu Füßen, bedeckte ihren Schuh mit Küssen, leistete ihr tausendfach Abbitte.

Wie gut, daß er ihr auf morgen Nachmittag Stelldichein im Gereutwalde gegeben hatte. Dann ließ er sie nicht mehr von der Seite, er brachte sie gleich hierher zu seiner Mutter, zu Gabriele. Er sollte doch Verwalter werden auf Gesundgarten! Wie schön sich das nun alles fügte! [383] Er kam ans Ruder, konnte Ord nung in die verfahrenen Zustände bringen. Und das Vertrauen der Herren Stadtväter wollte er rechtfertigen, wollte sie schon dahin bringen, daß sie ihm alles überließen, ihm ganze Vollmacht gaben. Und für den armen mißleiteten Schwengel fände sich dann schon irgendwo ein bescheidenes Altenteil, wo er sorglos und unschädlich seine Tage verbringen könnte. Bei den Bauersleuten im Grubenhof ließe es sich wohl anständig für ihn einrichten.Aber die Hauptsache: Urimhild würde sein, droben,wo sie hingehörte, auf dem „Gesundgarten“.

Leise und harmlos gewann die Eitelkeit in ihm die Oberhand, wie er morgen vor sie treten werde als der Kitter und Retter in der Not. Jawohl, wer sonst, wenn nicht er! Die Stürme des heutigen Abends glätteten sich nun vollends in dem überhandnehmenden Rechtschaffenheitsgefühl.

Es fing ihn an zu frösteln. Eilends streifte er sich die Kleider vom Leibe und schlüpfte unter die Decke.

Beim offenen Fenster schlief er rasch und traumlos ꝛin.

[384]

Elftes Kapitel

ald nachdem Melchior eingeschlafen war,noch vor dem Anbruch des Tages verdüsterten plötzliche Ansammlungen von Wolken den bis jetzt ätherisch klaren Nachthimmel. Erst trieben sie scharenweise in eilendem Fluge am vollen Monde vorüber,ihn auf Augenblicke verfinsternd; er streifte sich die Hülle stets vom Gesicht, aus der schwärzlichen Verdunkelung durch dünnere Schleier zu ungetrübtem Glanze heraustretend. Allmählich baute sich am Horizont eine feste Mauer an, türmte sich ein Wall empor; mit dem blieben die schwebenden und fliegenden Gebilde in einem wachsenden Zusammenhang, wie ausgreifende Arme, die von einem Körper aus zulangten. Ihre Bewegungen nach dem Monde hin wurden feindseligen und drohenden Gebärden ähnlich; er war manchmal ringsum wie von Fingern und Händen umkrallt, die ihn würgen wollten. Er wurde tiefer und tiefer hinter das aufstarrende Bollwerk heruntergeschleift. Nur durch einzelne Ritzen drangen fadendünne Streifen durch; bald war jede Nachwirkung seines Lichtes ausgelöscht.Die letzte Stunde benutzte die nächtliche Finsternis,

25 Bernonlli, Zum Gesundgarten [385] um das ganze Himmelsgewölbe mit einem Netz dichter Wolken zu überziehen, und als das erste Morgengrauen sich durch keine Bewölkung länger zurückdrängen ließ, erwachte ein griesgrämiger, eintöniger Tag und bedrohte die ganze Gegend mit einem jämmerlichen Landregen.

Die Stadt selbst wurde vom Regengusse verschont;dagegen ging er eine Stunde südöstlich über dem Gereut mit doppelter Gewalt nieder.

Krimhild schrak aus dem Schlafe auf, da der schwere Tropfenhagel dicht zu ihren Häupten auf das Schieferdach niederprasselte. Blitzähnlich durchfuhr es sie:heute!

Rasch zog sie sich an und eilte in der Morgenfrühe nach unten.

Jungfer Lisette rief sie zu sich ins Zimmer, eben wand sich der Unabe Cyrill unter lebhaften Träumen in seinem Bretterverschlag und führte im Schlafe laute und vernehmliche Reden. Sie horchten hin und da ergab sich, daß er, träumend, in einer Unterhaltung mit Krimhild begriffen war und sie zu trösten suchte.

„Du mußt nicht weinen“, hauchte seine Kinderstimme, „nein Krimhild, weine nicht! Du wirst in einer Höhle voll Ottern schlafen, ohne daß dir ein Leid geschieht, und eine Natter wird sich dir um die Brust ringeln.“Mit Verwunderung hörten sie das krause Orakel über die Lippen des schlafenden Knaben treten.

Als er unter ihrer Beobachtung bald darauf von selbst erwachte, verängstigte sich sein Gesicht, kaum daß [386] er die Augen aufschlug. Er verlangte nach dem Bündchen Joli und pfiff es sich, aus hervorbrechenden Tränen heraus, aufs Bett. Joli ließ sich jedoch weder halten noch streicheln, er arbeitete sich kläffend und um DD Tüchern empor, in denen Cyrill ihn einmummen wollte, und entkam mit einem Satz in die Stube hinaus. Dort lauschte er in sprungbereiter Haltung, die Ohrchen gespitzt, das Schnäuzchen schnuppernd erhoben durch die offenstehende Tür nach dem Flur hin, und nicht lange, so schlug er an und verführte ein durchdringendes Gebell.

Cyrill sprang jählings aus seinem Bett und eilte im bloßen Hemd hinaus. Auf seinem Nachttis chchen pflegte eine Art biblischer Fibel zu liegen. Die enthielt in grobem Schülerdruck die schreckhaften und drohenden Stellen der Bibel, mit unbeholfenen Holzschnitten um so eindringlicher gemacht. Danach griff er und las im Flur draußen, schreiend vor Erregung, aber langsam im stümperhaften Buchstabieren:

„Und der siebente Engel goß aus in die Luft die Schale des Zornes. Und es ging aus eine Stimme vom Himmel aus dem Stuhl, die sprach: „Es ist geschehen!“

Eine Sekunde lang sahen sich Jungfer Lisette und Krimhild fragend an. Dann packte sie beide dieselbe Ahnung.

Beide rannten sie ins Erdgeschoß, erstarrten aber auf den untersten Treppenstufen vor Schrecken. Mit aufgelösten Haaren, im leichtesten Gewand, das Gesicht eine schreckhaft verzerrte Grimasse, kam Frau Schwengel aus der Tür ihres Schlafzimmers gerannt 25* [387] im Anfall rasender Besessenheit. Ihre Hände schlugen über sich in die leere Luft. Dann griff sie sich mit gekrallten Fingern den eigenen Leib an, riß sich das Hemd auf und stürzte so durch die offenstehende Haustür in den Platzregen hinaus. Die beiden ihr nach.

Drinnen, im Schlafzimmer, lag Schwengel in seinem Blute, entseelt. Er hatte sich bei Tagesanbruch mit seinem Rasiermesser die Pulsader geöffnet.

Auf dem Tische lag ein Zettel, auf den hatte er geschrieben:„Ich elender Mensch habe mehr Sünden begangen,als mir Gott jemals vergeben könnte. So lege ich denn an meine Nichtswürdigkeit selber Hand an, und vollziehe das Gericht. Emil Schwengel, Naturpfuscher.“

Auf dem Boden des Zimmers ausgestreckt endete er sein Leben, mit dem leisen Stöhnen, mit dem er nachts einzuschlafen pflegte. Der fürchterliche Anblick bot sich seiner Frau beim Erwachen, und über diesem Seelenstoß brach ihr eigenes Unheil mit gräßlicher Wucht auf sie herein.

Das Wetter besserte sich bald. Es regnete nicht mehr,und zwischen den sich äffnenden Wolken kam hie und da der blaue Himmel zum Vorschein. Die Leute vom Grubenhof leisteten Hilfe, und im Laufe einiger Stunden war die Leiche dorthin geschafft, auch die arme Frau, die nach einer regelrechten Verfolgung förmlich eingefangen worden war, fand ihre erste Unterkunft bei der mildherzigen Bauernfamilie. [388] Als Krimhild einen letzten Gang vom Gesundgarten nach dem Grubenhof tat, vertrat ihr bei der Biegung des Sträßchens ein städtisch gekleideter Herr den Weg.Erst als er sie ansprach, erkannte sie Albert.

Der Stadtarzt hatte sich gestern Nacht noch überzeugt,wie notwendig und wohlangebracht eine Unterstützung bei dem ehemaligen Sträfling sei und versah ihn gleich mit einer höchst ansehnlichen Summe, indem er ihm bedeutete, damit auch im „Gesundgarten“ oben über das Schlimmste wegzuhelfen. Nun hatte sich Albert gleich am frühen Morgen in einem Maßgeschäft von Kopf bis Fuß neu und sauber kleiden lassen, so daß nun er, den sie sich überhaupt nur in seinem abgetragenen Frack denken konnte, kaum mehr wieder zu erkennen vor ihr stand. Etwas weiter unten war er dem Grubenhöfler begegnet und von dem hatte er bereits erfahren, was sich schreckliches zugetragen hatte.

Er nahm ihr die zwei Bündel ab, mit denen sie sich schleppte. Im Grubenhof unten legte er, um dem Rat gleich die Tat folgen zu lassen, mehrere hundert Franken auf den Tisch. Die bäurischen Wirtsleute verdoppelten ihre Einladung, sich zu Tisch zu setzen, und trugen reichlich zu essen auf.

Krimhild war gefaßt und gleichmäßig geblieben, nur gesprochen hatte sie kein Wort. Erst als sie, mit Albert allein, draußen im Wagenschuppen auf einer Deichsel saß, zeigte sie sich ihm zugänglicher.

Er redete auf sie ein:

„Krimhild, ich weiß, was zwischen uns steht. Ich bin so fassungslos eifersüchtig auf dich gewesen, daß mir [389] schließlich alles in die Brüche ging, was ich an Achtung vor dir besaß. Ich bin roh zu dir geworden, roh und gemein. Das magst du mir ruhig glauben: es hat für mich nichts in der Welt Wert besessen, das nicht irgend einen geheimen Zweck auf dich nährte und großzog.“

Er griff in seine Casche und legte den Revolver auf seine Knie, die Mündung ungefährlich abgewendet.

„Dies ist das einzige Besitzstück, von dem ich mich nie getrennt habe, seit es mir gehört. Wie oft habe ich mir geschworen, davon Gebrauch zu machen gegen dich, gegen meine Nebenbuhler und nicht zuletzt gegen mich selbst. Und nun habe ich meine vielfachen Gelübde Lügen gestraft. Ich bin stets nur zu einem Viertel ein jähzorniger Wildling gewesen. Das Zeug zum ordentlichen Kerl hatte ich eigentlich immer in mir.Jetzt in den letzten Cagen ist mir der rechte Verstand gekommen. Nun kann ich auch diese Mordwaffe da zum alten Eisen werfen.“Krimhild hatte sich nicht gerührt; nun beugte sie sich neugierig betrachtend auf die Waffe hin, aber ohne sie anzurühren.

Albert fuhr fort:

Nicht irgend eine Furchtsamkeit war es, die mich vom äußersten zurückhielt, als ich sah, daß du mir verloren gingst. Eine unwillkürliche Andacht vor dem spürbaren allgewaltigen Schicksal hat mich entwaffnet. Mag alles seinen Lauf nehmen, ich kann es nicht hindern,und so will ich es auch nicht hindern.“

Er richtete, nachdem er so gesprochen, seinen Blick auf Krimhild. Da tat sie die Frage an ihn:390 []„Willst du so gut sein und meinem armen Vater für ein stilles, ehrliches Grab sorgen.“

Er versprach, das Begräbnis in Ordnung zu bringen.

Darauf atmete Krimhild auf.

„Dann dank' ich dir vorläufig“, sagte sie und schien shm plötzlich von einer Unruhe befallen zu werden.

„Eine Uhr hast du wohl nicht bei dir?“

Doch; Albert zog eine neue blinkende Nickeluhr aus der Weste mit kräftigem, hörbarem Schlage.

„Auch das“, sagte er, „ich bin gründlich ausgestattet worden. Jetzt ist zwei Uhr fünfundzwanzig.“

Um drei Uhr saß Krimhild am KalypsoStein.

Ihr einziger Gedanke war:

„Kommt erd Ist er da?“ Sie spannte ihr ganzes Vermögen an, zu spähen, zu horchen.

Im fernen Gebüsch raschelte es; ein Mann nahte sich schnellen Schrittes zwischen den Bäumen und stand vor ihr. Da enthuschte ihr ein Lächeln.

Sie vermochte zu sprechen. Ihre Worte brachen die Qualen der Ungewißheit und die schreckliche Bangigkeit der Entscheidungsstunde. Sie brachte ihm eine Kunde um die andere bei.

„Kind“, schrie er auf, „wie stürzt das nun alles zusammen. Und wie armselig siehst du mir aus“

Er wollte jetzt auf sie zutreten, sich neben sie setzen,mit ihr reden. Eine abweisende Bewegung ihrer Hand hielt ihn jedoch auf seinem Standorte fest, und er hörte nun, wie sie zu ihm sagte:391 []„Mir war immer, es müßte eines Tages zwischen uns zu Ende gehen, denn wie hätte es sonst je so schön sein können, wenn es nicht so kurz hätte dauern müssend“

Melchior war keines Wortes mächtig, als er sie so sprechen hörte; er starrte in ihre bittenden, traurig frazgenden Augen.

Sie konnte den Tränen nicht länger Einhalt tun und sagte weinend:

„Es muß nun gehen ohne dich. Nie mehr wirst du mich küssen; nicht einmal die Hand reichen sollst du mir mehr. Du gehörst in den schönen Herrengarten mit den großen alten Bäumen und in meines Vaters Garten standen nur erst die dünnen Steckstämmchen mit ihren paar Asten. Die trugen ja wohl auch ihr Laub so grün wie das euere; aber mit allem andern war's noch nicht weit her mit den Früchten nicht und mit dem Schatten nicht. Und siehst du, das ist mir im Ropf herum gegangen all die Zeit: du bist dort gewachsen und ich bin hier gewachsen. Und so hat es eben nicht sein dürfen.“Allmählich widerstandzwinger nicht längerderWirklichkeit, die ihn aus seinen Entschlüssen und Träumen zrausam herauswarf:

Krimhild, ich faß' es nicht. Denke doch, was sonst aus dir werden soll. Du wirst doch nicht glauben, ich sei so schlecht, dich einem so schrecklichen Geschick einfach preiszugeben. Es ist ja alles auf gutem Wege. Laß mich nur gewähren! Folge mir gleich nach der Stadt!Gabriele, meine Mutter, sie nehmen dich mit offenen 392 []Armen auf. Und ich wie denkst du nun von mir?Jetzt muß sich zeigen, was uns zusammenzwingt.“

Abgerissen, hastig, in offener Unsicherheit und Verwirrung sprach er so einiges an sie heran.

Da mußte er aber sehen, wie ein strenger, trotziger Ausdruck Krimhild ins Gesicht trat:

„Es zwingt uns jetzt auseinander und nicht zusammen!“

„Aber dud Aber dud“ schrie er außer sich.

„Das darf dich nicht kümmern. Für mich ist gesorgt.“

Wie sie ihm das hingab, bestimmt, unerbittlich, stolz,da rührte es ihm ans Gehirn wie der Schlag. Vor seinen Augen fing es an zu tanzen und zu flirren.

Sie stand auf.

„Du Lieber, behüt dich Gott!“ rief sie und wieder öffnete sie den Mund; aber da riß auch schon ihre Hand das Tuch aus der Casche und stieß es sich zwischen die xippen und die Zähne bissen hinein. Sie wandte D einem gescheuchten Wilde durch die Tannen davon;Melchior konnte ihr braunes Uleid nicht länger von den braunen Baumstämmen unterscheiden.

„Krimhild!“ stöhnte er und taumelte vorwärts und griff mit beiden Händen die Luft um sich herum. Dann rannte er ihr nach, erst aufs Geratewohl, dann unterschied er die Flüchtige wieder von den Stämmen, schrie nach ihr und brachte sie durch den Anruf zum Stehen.

Keuchend und außer Atem vom Laufe standen sie sich gegenüber, schon feindlich, kampfbereit und auf sich selbst bedacht.393 []„Krimhild, es ist dir zuviel geworden, komm, überlaß dich mir!“

„Es ist zu Ende zwischen uns.“

„Ja, es wär es wenn ich dir deinen unseligen Willen ließe.“

„An dem ist nicht zu rütteln: ich weg von dir! du weg von mir!“

„Krimhild, muß ich denn Gewalt brauchen, muß ich dich fangen d

„Ich will nicht mehr.“

„Muß ich denn Holla machend“

„Erst können.“

„Was d“„Du hast keine Gewalt mehr über mich.“

„Halt! Das wird sich weisen.“

Mit ausgebreiteten Armen trat er zwei Schritte auf sie zu.

„ch rate dir: rühr mich nicht an.“

„Zum Lachen!“

„Rühr mich nicht an sag ich.“

Jetzt kam Melchior ein wenig zu sich.

„Krimhild, wir müssen uns noch einmal sprechen.“

„Wozud“„Weil zu viel auf dem Spiele steht und wir jetzt nicht fähig sind, uns zu fassen.“

„Wann aberd“

„Ich werde dich im Bause vorn erwarten bis du kommst.“

Ihre ganze Antwort war, daß sie einfach von ihm wegging, von der Böschung den steilen Hang zwischen 394 []den Brombeeren in den Hohlweg hinuntersprang und langsam bergab stieg. Er sah ihr nach, folgte ihr aber nicht.

Krimhilds Erstes war es, im Grubenhof angelangt,nach Albert zu fragen. Er hatte eben die irdischen Reste ihres Vaters auf den Wagen des Bauers geborgen,und dieser war langsam im Schritt damit zu Tal gefahren, um sie bis zur Beerdigung in der Leichenhalle des halbwegs hierher der Stadt gelegenen Gottesackers unterzubringen. Während er ihr das erzählte, waren sie hinters Haus gegangen und wollten sich in das Gartenhütichen setzen: da überfiel Krimhild plötzlich ihren Begleiter, fuhr mit beiden Händen nach der einen tieferhängenden Seitentasche seines Rockes, machte sich kurz darin zu schaffen, entriß ihr mit einem Ruck den Revolver und rannte voraus. Sie wußte mit der Waffe nicht umzugehen: der Abzug versagte; die Sicherung war vorgeschoben. Das verhütete ein Unglück. Albert mußte sie aber zu Boden werfen, im Grase auf dem Boden mit ihr ringen, ehe es ihm gelang, die Pistole ihr zu entwinden. Es war die Enkelin des Scharfrichters, mit der er es da zu tun hatte.

Einmal überwältigt, lag das Mädchen vor ihm leblos da und rührte sich nicht. In einem neuen Schrecken lud er sie auf seine Arme, trug sie in die runde Laube und hielt sie lange Zeit wartend umschlungen. Endlich schlug sie die Augen zu ihm auf, wehrte sich aber nicht gegen ihr unfreiwilliges Lager. Sie ließ sich von ihm halten und tragen, als bedürfe sie, ins Leben zurückerwachend, nun vor allem der sicheren Umarmung eines 395 []sie liebenden starken Mannes, gleichviel welcher von beiden das nun sei.

Melchior war nach dem „Gesundgarten“ zurückgekehrt und konnte es immer weniger glauben, er habe das erlebt und nicht es nur geträumt. Vor dem Hause standen Wagen mit dem Schwengelschen Hausrat beladen; drinnen machte sich ein Gerichtsvollzieher zu schaffen. Auch ein Maurerpolier trieb sich herum, einen schweren Steinhammer in der Hand. Den werde er dalassen, sagte er zu Melchior, und morgen noch mehr Leute mitbringen. Allmählich vollzogen diese ihm ganz fremden Menschen den Auszug, händigten ihm, da er ihnen als Bevollmächtigter der Gläubiger galt, die Schlüssel ein und entfernten sich mit ihren Frachten,allein zurückblieb.

Stundenlang verharrte er so, ohne etwas zu vermissen, fast nur durch die unerschütterliche Erwartung bei Troste erhalten, Krimhild werde gleich da sein.

Und sie kam. In der ersten Dämmerung, lautlos, wie ein Schatten stand sie mit einem Male neben ihm. Sie war sehr bleich und still, aber bei volllommener Ruhe.

„Komm, laß uns noch einmal durchgehen“, sagte sie leise.Im Hausflur stand gleich die erste Tür rechter Hand weit offen. Schaudernd streckte sie ihren Arm nach der Klinke aus und zog sie ins Schloß. [396] „Und wenn es nichts anderes wäre, als was heute früh dadrinnen geschehen ist, so müßte es ja zwischen uns zu Ende sein. Bist du schon in der Turmstube gewesen. Nein? Dann wollen wir noch hineinsehen.“

Als sie eintraten, zeigte sie sogleich, beinahe mit einem Anflug von Befriedigung, nach der einen Wand. Dort hatte sie die Tonmodelle wieder aufgestellt, wie es früher gewesen war. Noch gestern hatte sie sie begossen. Das kleine Gießkännchen stand daneben.Kalypso, in dem unvollendeten Zustande, mit Armstümpfen und hauptlos, aber in dem Corso des Rumpfes schon das Emporgezogenwerden einer lebendigen Sehnsucht ausdrückend! Was waren diese einzelnen Studienstücke doch für eine peinliche Zusammensetzung von einzeln Erklügeltem! Ein bloßes Nebeneinander von vielem preziös getifteltem Kleinwerk aus der unzulänglichen Schülerhand des warmblütigen Dilettanten! Hätte erst die fertige Statue in schneeweißem Marmor schimmernd und unbeweglich dagestanden, dann hätte dieser Kalypso keine sehnende Seele die Brust von innen heraus atmend geschwellt, und selbst in der herrlichen Wölbung des Rückens hätte kein unaufhaltsam drängendes Leben das Netzgeflecht der Muskeln durchspielt.

Krimhild war über den Hammer des Steinmetzen gestolpert, jetzt ergriff sie den kurzen Stil mit ihren schmalen Händen, stürmte auf die Tonfiguren los, zog den Hammer in mächtigem Schwunge auf und führte 397 []einen ersten zerschmetternden Streich mitten auf die Brust in den Frauenrumpf hinein, dann einen zweiten und noch einen hinterher auf die eine und andere Schulter, so daß die Trümmer des Traumes stiller Nächte links und rechts zu Boden stürzten und ein klägliches Gerinnsel hintennach bröckelte.

„Glaubst du es jetzt“, fragte sie, ließ aber die richtende Hand mit dem Hammer erst vollends sinken, als auch die kleinen Votivstudien der Wand entlang mit harten Streichen kurz und klein geschlagen waren.

Der Anblick des Vandalismus, den ihre Liebe zu ihm unbarmherzig anrichtete, wirkte förmlich versteinernd auf ihn ein und umpanzerte ihn unwillkürlich mit der Fähigkeit, sich in jedes Schicksal zu ergeben. Noch war diese ganze Zeit kein Wort über seine Lippen gekommen; jetzt erstarrte alles an ihm. Willenlos folgte er ihr die Treppe hinunter, willenlos händigte er ihr die Schlüssel ein. Die nahm sie, schloß die Ausgänge von innen, die Haupttüre zum Flur von außen ab und schob ihm den Bund wieder in die Tasche. Dann umwandelte sie das Haus, rüttelte im Vorübergehen an den CLäden, versicherte sich über den Verschluß der Nebentüren, er folgte ihr überall auf dem Fuße und ließ sie stumm gewähren. Sie verließen zusammen die Umfriedigung; draußen griff sie durch die Gitterstäbe des Portals und stieß den Riegel.

Nun fand ihre Fürsorge nichts mehr zu tun. Sie stand ihm gegenüber, sah, daß er nicht sprechen konnte,ihr selber war die Kehle zugeschnürt und wankten die 398 []Knie. Da nahm sie seine rechte Hand in ihre beiden Hhände, führte sie an ihren Mund, hauchte einen Nuß darüber und wandte dann sachte den Kopf, so daß ihre weiche kühle Wange auf seinem Handrücken wie auf einem Kissen lag. Er spürte die stummen heißen Tränen ihm über die Haut rieseln.

Er blieb wie angewurzelt. Als er sich rührte, war sie nicht mehr da.

[399]

Zwölftes Kapitel

nes schönes Morgens prangte an der

Ratsapotheke, am Pfosten des privaten hauseinganges, ein Messingschild mit der Inschrift:

Dr. med. Melchior Zwinger,Praktischer Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer.

Also zu den hundert Arzten, die es in der Stadt bereits gab, noch der hundertundeinte!

Nun kam Volckhardt gleich am ersten Morgen um „Glück in den Laden“ zu wünschen und war sehr aufzgeräumt und munter.

„Ei was für ein Staat“, machte er, indem er sich rundum sah, „dich haben sie aber ausgesteuert. Das laß ich mir gefallen. Ihre besten Räume haben sie dir abgetreten. Beletage Vorderzimmer Eckzimmer Morgensonne Hut ab vor diesen Herren Eltern!Und eingerichtet hör mal, für heutige aseptische Forderungen fast des Guten zuviel! Zum Beispiel der pompöse Giebelaufsatz da auf dem Schrank eures seligen Onkels Jeremias Staubfänger, Melchior! Das Mädchen muß jeden Tag auf den Stuhl steigen und mit einem feuchten Lappen überwischen. Schadet vielleicht dem schönen alten Firnis; das darf dich aber nicht [100] kümmern. Ja ja, der Jeremias! Ich mag mich noch wohl an den alten Herrn erinnern. Er ging wie eine stattliche Ente und blies bei jedem Schritt gleich einem Blasebalg aber altes Schrot und Korn, Melchior!So sehr lange ist er übrigens noch gar nicht tot; nun dreißig, vierzig, fünfundvierzig Jährchen werden's doch sein. Sieh mal an! Aber er hat schön hinterlassen.Anderthalb, Melchior. Es gab aus. Man hatte ihn unterschätzt.“

Nun nahm der Stadtrat Platz.

„Weißt du, was mich an deinem blitzblanken Schild da unten am meisten gefreut hatꝰ Das was nicht darauf steht, hat mich am meisten gefreut. So sehr hätt'ich es dir gar nicht verübelt, wenn du aus deinem sogenannten naturärztlichen Vorleben Kapital geschlagen hättest! Wenn einer sein Steckenpferd heraushängt,da reißen sie ihm die Glocke von der Haustür. Der reine Unsinn, selbstverständlich. Aber die Leute wären gerannt gekommen, kann ich dir sagen. Du hast die Lockspeise verschmäht, Respekt vor dir!“

Da sah Melchior dem alten erfahrenen Arzte ehrlich in die Augen und sagte:

„Was so vom Heißsporn in mir war, das hat sich die Eisen abgelaufen. Dafür kann ich bürgen. Der anstößige Rest, der mir geblieben ist, beschränkt sich höchstens auf mein stilles Vorurteil gegen ein übertriebenes Spezialistenwesen. Schließlich fehlt dem Menschen etwas oder es fehlt ihm nichts. Eine Krankheit, die Krankheit, oder keine. Wo es nun gerade steckt und woher es wehtut das ist Nebensache, wirklich, Herr

26 Bernoulli, Zum Gesundgarten [1301] Stadtrat, meiner Ansicht nach sind Symptome Nebensache. Schönes, reines Blut, saubere, lautere Säfte das tut's allein. Rücken wir dem Übel von einem Kernpunkt aus zu Leibe! Und wenn es auch nur erst als Vermutung geschieht! Wahrhaftig, wenn einer, so bin ich nun fürs Rurpfuschen verdorben. Aber den Vereinfachungsinstinkt, aus dem heraus heute hunderttausende rebellisch werden gegen die ärztliche Schulkunst,diesen noch unbeholfenen und rohen Schrei möcht' ich doch nicht nur so überhören: da mag man sagen, was man will mir ist es die Stimme der Natur.“

Der Stadtarzt erhob warnend den Finger und zwang sich Falten ins Gesicht:

„Söhnchen, als gewissenhafter Physikus müßte ich dich eigentlich jetzt bereits aufschreiben. Auf dich muß man nach wie vor ein Auge haben, kleiner Gelbschnabel! Wie denkst du par exemple jetzt vom Impfen?“

Uber dieser Gewissensfrage geriet Melchior in gelinde Verlegenheit:

„Darüber sind die Akten noch keineswegs geschlossen.Aber das ist ja heutzutage so der Ton in diesen Dingen.Gleich muß immer eine Epidemie ins Land, eine Pest oder Cholera zu Versuchszwecken! Das wäre gerade so was: schnell eine Hekatombe Menschenfleisch, um zu zeigen wer recht hat, damit die Rabies medicorum ihr Mütchen kühle wahrhaftig noch schöner!“

Volckhardt mußte lachen.

„Halt! Halt! Ich bin sechzig und du siebenundzwanzig; ich mache zu und du machst auf. Aber das Serum,weißt du, das ist über allen Zweifel erhaben da [402] kannst du mir nur leid tun, wenn du darüber noch nicht im reinen sein solltest.“

So bedeutete für Melchior die Rückkehr in die von ihm einen Sommer lang gemiedenen altväterischen Herhältnisse keineswegs einen Akt der Reue oder eine Bitte um Vergebung. Im Elternhause und bei Volckhardts oben überschritt er die Schwelleerhobenen Hauptes, ohne Zoll und Abgabe zu entrichten; unverändert so wie er draußen unter Hinzunahme von Fremdem,Kontrastierendem, Widersetzlichem zu einem anderen und neuen Menschen geworden war, so nahmen sie ihn auf und ließen ihn gelten, als wäre er der Alte und weiter nichts geschehen. Aber nicht als ob sie durch Vogelstraußenfinten etwa sich über Melchiors erfolgte Umartung hinweggetäuscht und den Kopf im Wüstensande versteckt hätten. Seine Wiederaufnahme geschah mit derjenigen äußersten Ehrlichkeit, die sogar vor dem Mißtrauen gegen sich selbst nicht zurückscheut, und so wurde umgekehrt Melchiors Berechtigung, seinen Weg zu gehen, nicht angezweifelt, hingegen die Sicherheit der eigenen Anschauungen und Grundsätze in ihrer bisherigen Unumstößlichkeit erschüttert.

Volckhardt durchmaß mit langen Schritten das Zimmer und blieb wieder vor Melchior stehen:

„Also du arbeitest bis auf weiteres täglich bei Aberfeld. Aschenanalysend?“

„Ja und Experimente unter dem Mikroskop. In England ist man mit der medizinischen Verarbeitung von Kräutern weiter. Dort hat die Behandlung den Rang einer exakten Wissenschaft erreicht gar keine

26* [103] Frage. Wer weiß denn hierzuland etwas von den immunisierenden Eigenschaften gewisser Pflanzend Ich habe drei Fälle selbst erprobt: Das wilde Stiefmütterchen Viola tricolor erregt Ausschlag an Haut und Gesicht und kann ihn bis zum Ekzem steigern, genau wie die Kopfhauterkrankungen ungesunder Kinder. die Butterblume Ranunculus bulbosus rötet und entzün-det mit ihren gequetschten Blättern und ruft Blasen hervor, die durchaus den Symptomen der Gürtelrose entsprechen. Der Sonnentau Drosera rotundifolia er-regt Heiserkeit und heftigen Husten mit massiger gelber Schleimabsonderung, gerade wie zu Beginn einer Luftröhrentuberkulose. Nun habe ich die heilsame Einwirkung dieser drei Kräuter in den entsprechenden Erkrankungsfällen selber festgestellt. Das ist doch etwas.Das läßt sich doch hören. Ist das nicht Boden unter die Füßed“

„Paperlapapp“, machte Volckhardt gelangweilt,„das hört sich vielleicht ganz nett an. Aber daß man damit das Serum ersetzen will.“

„Herr Stadtrat, hab ich denn nicht sechs Kinder mit Serum gerettet und die andern starben mir. Meinen Sie denn, so etwas vergißt sich? Aber mit der ewigen Bazillenjägerei geht es entschieden zu weit. Ich bin nun einmal kein Prinzipienreiter.“

Volckhardt stellte sich unwirsch ans Fenster, kreuzte die Hände auf dem Rücken und pfiff verdrießlich in die CLuft.„Jetzt fehlt nur noch, daß du dich als Rassenhygieniker entpuppst, du Erzketzer!“104 []„Iu dienen natürlich!“ rief Melchior rasch, „ich bin für Züchtung im großen Stil. Selig sind die Starken!Den Schwachen ist doch nicht zu helfen, also lasse man sie auf menschliche Art zugrunde gehen.“

Jählings hörte Volckhardt zu pfeifen auf, riß seine hände vom Rücken und trommelte an die Scheiben,daß es eine Art hatte:

„Da haben wir's ja! Kaltlächelnd die gemeingefährlichsten Theorien!“

Melchior war unterdessen auch in Eifer geraten:

„Immer nur Lungenpfeifern und Genießlingen und Mümmelgreisen das Leben verlängern das ist Nachtmützenmedizin. Platz für die Auslese! Platz für das starke Leben! Und dahin führt nur ein Weg, der heißt:Arzte vor! Ich kenne nun die Quacksalber und Hypochonder und den ganzen Stapelplatz von halben und ViertelssMenschen zur Genüge; das Pfuschertum hat keinen gefährlicheren Feind als mich. Oft kann mich eine wahre rasende Leidenschaft befallen gegen alles verkrüppelte, verbogene, verkrümmte und verkürzte Pseudoleben, daß es mir glaub ich im gegebenen Fall auf eine Dosis von Null Komma fünf Morphin nicht ankommt.“

Damit war die Spannung gelöst. Volckhardt brach sofort in ein zwerchfellerschütterndes Lachen aus, so daß ihn Melchior ganz verdutzt anglotzte.

„Weißt du was, mein stolzer Heldenjüngling und Drachentöter, numeriere du erst einmal deine Patienten und wenn du bei der Zahl Hundertelf angelangt bist, so zahle ich die erforderlichen Schnäpse. Der Ver [405] ein beschäftigungsloser Arzte ist zwar noch nicht gegründet und zählt trotzdem nach Dutzenden von Mitgliedern. Und nun nochmals Glückauf! Morgen als an deines Herrn Erzeugers Geburtstage kommen Gay und ich um vier Uhr zu euch zum Kaffee.“

Nun Klaus“, fragte Volckhardt, als er des andern Nachmittags den alten Freund erst unten in der Apotheke aufsuchte nach übermitteltem Glückwunsche, „wie hast du dich in das Unvermeidliche gefundend Hast du deine Jode und Brome und Kaliümmer schon an Bohnenstroh und Nesselheu und Gerberlohe umgetauschtꝰ“

Der Ratsapotheker ließ sich nie auf Witze ein, wo nicht die Sachlage bereits bis aufs Würzelchen klargestellt war.

„Erlaube, Melchior behauptet nicht, Jodkali vertreibe eine innere Entzündung nicht. Nur meint er, so eins von seinen harmlosen und nicht übel schmeckenden Säftchen sauge sie ebensogut auf und habe das Gute, es liege nicht im Magen und schlage nicht auf die Nerven.Aber warum soll die Natur nicht am Ende eine Zeitlang zwei Sprachen reden? Warum neben Lymphe und Serum nicht jene uralten Volksinstinkte in die Kreise wissenschaftlicher Messung ziehen, warum nicht bewußt ausexperimentieren, was in früheren Zeiten die alten Hausmittel mehr erst naiv ertastet haben?Gegen Krankheit ist Kraut gewachsen und zwar nicht nur eins, sondern gar manches. Wenn er nun in seinem Bündel giftfreier Pflanzen, in der vegetabilischen Vermittelung heilkräftiger Stoffe, ein kleines Allerweltsmittelchen zu besitzen meint, den Verjüngungs [406] trank, die Panacee, so laß ihn doch. Er tut es ja mit jedem vernünftigen Vorbehalt, ich würde sagen, cum grano salis wenn nicht in diesem Zusammenhang die Erwähnung des Salzes einen Widerspruch in sich selbst bedeutete.“

„Aber, aber“, warnte Volckhardt, „wie kann man sich nur so seine eigene Nase abbeißen. Du weißt doch,Ulaus! Der alte Übername von euch Apothekern! Die Neunundneunziger heißt ihr im Land herum, weil eure Selbstkosten immer nur ein Prozent vom Ladenpreis betragen und der Rest ist euer Profit. Damit hat's dann geschellt, wenn ihr nur noch Heu und Bohnensäfte verkauft.“

„Dafür können wir dann desto besser schlafen; denn durch die letzten Jahre, auf den sogenannten Aufschwung der pharmazeutischen Industrie hin, war wenigstens mein Gewissen nicht immer das beste Ruhekissen. Mich dünkt schon lang, die Herren Arzneichemiker treiben ihr Zusammensetzspiel mit den Atomgruppen ein bißchen zu weit. Chloralhydrat, Antifebrin, Aspirin, Hedonal meinetwegen diese; aber dazwischen die Zahl der andern Fiebermittel Pülverchen wie Sand am Meer! Namen, einer kauderwelscher als der andere; mein alter Kopf kommt gar nicht mehr nach. Und manchmal, nimm mir's nicht übel, da meine ich, ich lese die „Fliegenden“,wenn ich rezeptiere: zum Beispiel behandelt da neulich einer eine Arteriostlerose als Alpentunnel und verschreibt Nitroglyzerin!“

„Klaus, Klaus, das ist ja der Jammer. Es ist eine [407] ganz ungesunde UÜberproduktion, man überfüttert uns mit unreifem Zeugs die Kontrolle kann ja gar nicht nachkommen. Aber laß mich machen! Mein Gesetzentwurf liegt längst beim Sanitätsdirektor: zwei Jahre Sperre für neupatentierte Medikamente und dann erst wird der Handverkauf in den Apotheken freigegeben.Was meinst du?“

Der Ratsapotheker überlegte nickend, und als sie eine Zeitlang dieser Erwägung gewidmet hatten, traten Mama Zwinger und Gabriele Volckhardt zu ihnen in das Privatkabinett.Der Stadtrat befriedigte erst seine üblichen Neckgelüste, indem er zu Frau Zwinger scherzte:

„Sie blühen ja zusehends auf, seit Sie wieder für einen mehr Hosenknöpfe anzunähen haben.“

Aber Frau Zwinger ging keineswegs auf die Späße ein und schüttelte bekümmert den Kopf:

Mein, so weit sind wir noch nicht.“

„Warum denn nichtd?“

„Ach, er hat sich noch nicht gefunden. Ich sagte just zu Gabrielchen: etwas, fürcht ich, hat er doch abbekommen und bleibt ein stiller Mann. Wenn ich ihn doch erst wieder ein einziges Mal lachen sähe!“

Nun begab man sich nach oben. Rudolf Zwinger,der seit zwei Tagen, die Ernennung zum Hofschauspieler in der Tasche, wieder zu Hause war, um seine Siebensachen und seine Garderobe zu holen, brachte beim Anblick der reizenden Empireteetassen die Rede auf alte Familienreliquien und man besprach und besah sich einiges davon, als plötzlich der alte Zwin408 []ger, vergilbte Bogen in der Hand, ankam und sie vorlegte:

„Es hat doch etwas für sich, wenn man nicht von gestern stammt und sich überzeugen kann, wie schon die Altvordern dieselben Dinge ernst genommen haben,an denen wir heute noch herum laborieren.“

„Ach ja, richtig die“, rief Volckhardt, der die Aufzeichnungen kannte und gleich danach griff, „das führ Er sich erft einmal zu Gemüte, der Herr Nachkomme! In diesen Blättern hat Sein Herr Urahne Rudolf Johannes Zwinger über die Impfung von dero Söhnlein,alias Seines Herren Großvater consciencieusement Buch geführt. Will Er abfallen vom Geiste seiner Altvordernd Will Er die Sitten und Konviktionen der Vorältern lästern? Sträußet sich das kleine Gockelei und will klüger sein als die breite Gluckhenne familiärer Traditiond“

Von der Heiterkeit, die über dieser Kostümrede Platz griff, blieb einzig Melchior unberührt. Mit auffallend ernster Miene erwiderte er:

„Sie vergessen, Herr Stadtarzt, was das damals bedeutete, seine Kinder impfen zu lassen, was für Vorurteile dagegen zu bekämpfen waren in den Tagen,da eben die letzte Hexe verbrannt worden war. Also ein Vorkämpfer war mein Ahnherr; er besaß die Morgenwitterung einer neuen Zeit. Genau wie jetzt ich. Das,wofür er damals Mut zu haben sich getraute, ist längst zu einer Trivialität geworden. Jetzt bedarf es wieder Mut, auch von dieser Befangenheit, falls es eine ist,loszukommen und das Gegenteil in Erwägung zu zie [409] hen. Stände er heute unter uns, er würde mir auf die Schulter klopfen und sagen: Mein Sohn, sei Er nach hippokratischer Gattung ein Arzt, der zugleich Philosoph ist; denn ein solcher stehet den Göttern gleich!“

Das Gewicht dieser Antwort lastete auf der harmlosen Fröhlichkeit, deretwegen man ja beieinandersaß;stand doch auf der Mitte des Tisches, zwischen einem Rosenstrauß und einer hellroten Azalie die bereits beträchtlich angekerbte Geburtstagstorte, auf deren mit glasierten Südfrüchten garnierter milchglasweißer Gußdecke mit geschnörkelter Zuckerschrift ein prächtiges „Vivat Hoch!“ die Mitte hielt.

Frau Zwinger stieß in ihrer Besorgnis Gabriele leise an und raunte ihr zu:

„Ich sag es ja; er lacht nicht mehr.“

Um die Stimmung ins Gleis zu bringen, forderte Habriele aufbegehrerisch die Lektüre des Dokumentes.

„Es geht für einen Toast auf das Geburtstagskind.“

Der alte Herr war von dieser Wendung gerührt.

„Rudolf, willst du so freundlich seind“

Er reichte dem Sohne das altertümliche Album hin,und der geschulte Rezitator trug mit derjenigen gewählten, nuancierten Aussprache vor, die dem edeln,breiten, mit sichtbaren Wasserzeichen durchtränkten Büttenpapier und der würdig und behäbig gekräuselten Schrift des Urgroßvaters gebührte:

Den 27t. Aprills 1786 Mitt. um 12 Uhr habe ich meinen Sohn Johannes Melchior, alt 28/, Jahr,durch den Herrn StadtPhysicum inoculieren lassen Deus benedicat !

4 [10] Es wurde einige Tage zuvor mit Panac. vrial.gr. und lap. caner gr. ii des Abends und mit einem Säftlein vid. die. ganze Composition, worin 3 gran resin. Jalap. des folgenden Morgens eingenommen,laxiert.Die Operation geschahe an beyden Aermen loco solito, durch eine Incisionem superficialem, etwan 2/, Foll lang; in die Einschnitte wurden Fäden gelegt,die erst gestern waren durch Blattern-Eiter gezogen worden.

Auf die Fäden wurde zu besserer Haltung derselbigen bloße Diachal Pflästerlein gelegt und diese noch zur Sicherheit mit einem Bäuschlein von einer Binde befestigt.

May 1. a die operationis d. s. Das Kind zur Aus-gelassenheit lustig. Die Röthe der Wunden nimmt zu.d. 8. Die Wunde fängt ein klein wenig an zu fließen. 115 Pulsschläge in einer Minute. Nach Mittag hat er sich 4 mal sehr stark gebrochen.d. 9. 125-130 Pulsschläge. Viel Hitze. Mitunter Schweiß. Die Wunden sehr schön und in dem breitroten Bord bereits mehrere Bläschen zu sehen. Kein Appetit.d. 10. Hitzen abgenommen. 116 Pulsschläge. Wird munter und mag spielen.d. 11. Ist munter und auf. Diesen Mittag begab es sich, daß es ein klein Fingerringlein in den Mund bekam und unglücklicherweise hinunterschluckte welche Fatalität uns nicht wenig Kummer und Sorge 311 []verursachte, insonderheit, da wir anfänglich nicht wußten, ob die Materie Zinn oder Bley war. Hat ein paar Kaffeelöffel voll von Ybschen Saft und süß Mandel Oel genossen.d. 12. Mitunter unlaunig, weil die Blattern es jucken und man ihm das Kratzen verbietet. Ueberdies ist es auch flöhig. Das Ringlein aber ist noch nicht fort.d. 13. Die Blattern wachsen und füllen sich und sind schon weißlicht. Zu unserem großen Vergnügen ist heute abend um 6 Uhr das zinnerne Ringlein ganz unversehrt und ohne die geringsten Schmerzen zu verursachen durch den Stuhlgang von ihm gegangen, nach einer Frist von 535 Stunden.

Zum Angedenken verwahre ich es in einem Schächlelein und habe es in des Kindes Sparhafen gethan.

„Sit nomen Domini benedictum!“

Frau Zwinger fuhr in aller ihrer Lebhaftigkeit auf.

„Halt doch!“ rief sie, „da wollen wir sehn! Das sollte mich doch Wunder nehmen!“

Sie kramte gleich aus dem Kastenfuß im Schranke des Onkels Jeremias eine alte buntbemalte Truhe hervor, in deren grüngoldenem Zierat die runden Mittelfelder mit kleinen Ritter und Schäferstücken ausgestattet waren. Ihr Inneres enthielt wieder einzelne Schubfächer und selbständige Schächtelchen, und eines davon, ein unscheinbares Holztrögchen, wurde von einer vergilbten Tinte als das gesuchte Sparkästlein des Johann Melchior bezeichnet.

Kaum war es auf das Tuch des Schreibtisches, den 112 []alle neugierig umstanden, sorgfältig umgestülpt, so rollte wahrhaftig ein winziges stahlgraues Ringlein geräuschlos, aber eilfertig von dannen.

Geschickt fing es Kudolf mit dem Daumen und dem Mittelfinger und sagte, indem er die rechte Hand Gabrielens erfaßte, mit der weichen Devotion eines Galans im Spitzenjabot, Samtfrack, Uniestrümpfen und Schnallenschuhen:

„Duldet, o schöne Dame, daß ich armes unscheinbares Ringlein mich an den kleinsten euerer Finger streife, so da weißer sind als Schnee und süßer denn eitel Marzipan. Gleichwie der Prophet Jonas drei Tage und dreiNächte im Bauch des Walfisches schmachtete, so habe ich drei Tage und drei Nächte im Leibe eines unschuldigen Knäbuleins zugebracht. Aber wie einst Jonä brünstiges Gebet seinem Seufzen die erflehte Befreiung brachte, so winkt mir nach erlittener Duldung der herrlichste Lohn.“

Das Gelächter Volckhardts, und, es übertönend, die abwehrenden Zwischenrufe der Frau Zwinger unterbrachen diesen stilvollen Erguß aus dem Stegreif, der die Gemüter heiter bewegte und dem Improvisator offenes Lob eintrug.

Mehr aber als alle übrigen wurde Melchior von dem artigen Spaß ergriffen. So oft er seinen Blick auf Gabrielens rechte Hand richtete, an deren kleinem Finger der altväterische Kinderring eben noch knapp Platz gefunden hatte, überwältigte ihn, den Arzt, eine übermäßige Lustigkeit.

Nachdem Rudolfs reizender Einfall den Austausch 13 []von Humor zwischen Enkeln und Ahnen vollzogen hatte, war er durch diese über hundertjährige Kinderstubenindiskretion wehrlos seinem erschütterten Zwerchfell ausgeliefert. Er sank in einen Lehnsessel,immer wieder von neuen Anfällen geschüttelt, und wischte sich mit seinem Taschentuche seine wider Willen rinnenden Tränen aus den Augen.

Seine Mutter konnte sich nicht erinnern, ihn in seinen vergnügtesten Stunden je so ausgelassen gesehen zu haben. Sie nickte aufatmend Gabrielen zu.

„Ich freue mich, unsern Melchior wieder so gut bei Laune zu wissen“, sagte ein paar Tage darauf Volckhardt zu seiner Tochter; „auch hat es den Anschein, die andern Gesundgärtner seien nun ebenfalls glücklich über ihr Mißgeschick weggekommen. Dieser ehemalige Kellner Hartmann hat das Vertrauen, das ich in ihn setzte, bis jetzt nicht getäuscht.“

„Ist es ihm wirklich ernst?“ warf Gabriele ein.

„Er schickte mir eine von ihm verfaßte Skizze, mit dem Titel, Fehlerquellen der seelischen Beobachtung“.Er hat entschieden Kritik und versteht zu beobachten.Unser Irrenkliniker teilt meinen günstigen Eindruck;ich soll ihm den Mann schicken, sagte er.“

„Und denk dir nur“, besann er sich gleich, „bei der Gelegenheit erfuhr ich denn auch etwas von dem Schicksal jenes fatalen Paares Faxon und Blötherlein. Der fixe Allerweltsamerikaner ist nun tatsächlich draußen versorgt und aufgehoben und zwar bei den Unheil

4 [4] baren. Er soll an der erhobenen Hand seinen Daumen,den er sich immer wieder blutig kratzt oder mit einem Messer verwundet, wie ein Panier vor sich hertragen und dazu mit vielsagenden Blicken bemerken, er sei jetzt also der liebe Gott; sein body habe sich in den Finger geschnitten, er werde jedoch demnächst mit Sympathie die Welt von ihren Sünden kurieren. Von dem Paracelsuskandidaten hingegen rühmten sie die Anhänglichkeit an den verrückt gewordenen Freund; er besorgt alles für ihn; selber versieht er fortan die Redaktion einer geheimbündlerischen Zeitschrift; er soll nun bescheiden auftreten und sich nicht mehr so schnüffelnd und windhündisch benehmen.“

„Und ich“, hob nun Gabriele an, „kann dir von Krimhild Gutes erzählen. Sie haben bis auf weiteres das vegetarische Restaurant in Vertretung übernommen.Auch einen Kochkurs hat sie bereits beisammen mit einer stattlichen Anzahl von Teilnehmerinnen. Sie spricht sogar davon, uns schon Zinsen zu zahlen.“

Nun, sie sollen sich Zeit lassen“, erwog Volckhardt,„wir werden ja auch abwarten müssen, ob nicht noch ihr erster und angestammter Bräutigam mit ihr ans Ziel gelangt. Ich hab' den Albert gerade heraus gefragt und Antwort erhalten: Herr Stadtarzt, sagte er mir, sein muß es nicht. Wenn sie mir nur kein anderer länger streitig macht!“

„Ein sonderbarer Mensch, Papa, findest du nicht;hat er nicht schon fast ein bißchen zu viel erlebtd? Es wäre ja vielleicht einmal das beste und ich möcht es ihm gönnen.“ [445] Volckhardt wurde zusehends guter Laune.

„Käme es dazu, es sollte mir Vergnügen machen.Nicht deswegen, auf das es euch Frauenzimmern vor allem ankommt: daß zweie mehr sich gekriegt haben und die sogenannte treue Liebe wieder einmal obgesiegt hat. Siehst du, Gay, das Leben so im ganzen genommen ist eine unappetitliche Brühe; trotzdem schwimmt eben noch manch gutes Bruchstück Tüchtigkeit und brauchbare Menschengüte in dem ekelhaften Geschlamp herum und da nun so doucement eins ums andere und Stück für Stück daraus heraus zu fischen! Hätte ich mir träumenlassen, daß ich sogar in so einem Kurpfuschertümpel noch einen respektablen Fang täte. Dem alten Kräuternarren war freilich nicht zu helfen. Aber wenn mir jetzt aus dem Kellnerjüngling ein brauchbarer Irrenassistent wird so hat es sich weiß Gott verlohnt, daß ich mich um seine Misere gekümmert habe, und dann lohnen sich auch jene tausend Franken, die ich ihm jenen Abend, als er bei uns aß,à fond perdu überwiesen habe. Immerhin, mein Kind auch wenn man's hat: Keine Erbschen, keine Böhnchen

Franken! Franken!“

„So recht klug bin ich aus diesem Hartmann nicht geworden“, wiederholte Gabriele, „und aus Krimhild auch nicht. Ich glaube, etwas wird dahinter stecken. Die haben ihren großen Stolz und werden kaum dauernd Wohltaten von uns annehmen. Deshalb halte ich es für möglich, daß sie uns bald einmal das Geld vor die Füße werfen und sagen: da habt ihr euern Bettel wieder.“ [446] „Ach woher! Glaube doch so etwas nicht. Stolz und großartig jawohl, so lange es nichts kostet. Aber Zurückzahlen nein, da irrst du dich wieder einmal. Wir haben sie wahrscheinlich ihrer Rasse nach doch etwas überschätzt. Der Hartmann kam mir, sobald er erst wieder einigermaßen bürgerlich angezogen war, gleich recht zahm und brävlich vor. Und gar bei der Krimhild scheint es mit der scharfrichterlichen Erbschaft nicht mehr weit her zu sein. Vegetarische Köchin das Blutloseste,was ich mir denken kann!“

Dieses Gespräch führten sie im Garten und traten eben wieder auf die Veranda zu, als sie zwischen der Stallung und dem Hause hinter dem halboffenen Gitter der Ausfahrt ein junges Paar auf der Straße stehen sahen und alsbald Albert Hartmann und Urimhild Schwengel erkannten.

„Wahrhaftig, sie sind's“, rief Volckhardt, ind essen Gabriele sich dem unmittelbaren Gefühle überließ und die beiden ohne weitere Umstände heranholte. Hartmann bat den Stadtarzt, Krimhild Gabriele um eine Unterredung. Vater und CTochter tauschten einen Blick;dann führte jedes seinen Besuch mit sich weg.

Die jungen Frauen suchten ein Wohnzimmer ebener Erde auf, und kaum waren sie eingetreten, so gelangte bei Urimhild die Aufregung zum Durchbruch, und es begab sich ganz von selbst, daß Gabriele ihre Arme um sie ausbreitete und das arme Mädchen dem vornehmen gräulein ans Herz sank.

„Ich stehe unter einem Fluche“, stieß sie zwischen den hervorstürzenden Tränen hervor.

27 Bernoulli, Zum Gesundgarten [17] Gabriele glaubte nichts anderes, als es sei die Nachwirkung des Verlustes, der Krimhild niederschlage, und versuchte, in dieser Richtung ihren Anteil kundzugeben;aber Krimhild hob die Augen zu ihr auf und wehrte traurig mit dem Kopfe ab:

„Das nicht. Eher das Gegenteil. Wäre ich doch unglücklich, ich wäre besser dran als ich jetzt bin. Aber daß ich den Widerstand eingebüßt habe, daß ich den Dingen ganz einfach ihren LCauf lasse, ja daß ich mich anschicke zu lieben, wo ich mit solcher Wucht gehaßt habe Schimpf und Schande über mich! Ich glaube,ich ertrag' es nicht, es bringt mich noch vom Verstande.

Da erriet Gabriele etwas von dem Zwiespalt in der wildpochenden, zarten Brust, die ihre Arme gütig umschlungen hielten.

„So schön wie es war, so über alle Maßen unbeschreiblich“, fuhr Krimhild in ihrer Selbstanklage fort,„und dem nun untreu zu werden! Einfach einen Causch zu tun, den einen Einzigen, gegen einen folgenden umzuwechseln.“

„Aber war dieser folgende nicht auch schon der frühere“, konnte sich Gabriele einzuwerfen nicht enthalten, „war er, unser, Er‘, nicht so etwas wie ein Störefried und Eindringling gewesend“

„Und wenn er's war“, rief Krimhild aus, „dann war er's eben so gründlich, daß er alles frühere in mir tilgte und ausrottete und nur noch sein Bild vor mir zu Recht bestand. Darum war und bleibt es ein Treubruch, den ich auf dem Gewissen habe.“

„Doch nicht ganz, liebes Kind“, tröstete Gabriele, [448] „manchmal stürmt es auf uns arme Menschen so übermächtig von allen Seiten ein, dann wird das Herz allein nicht mehr Meister, dann muß man die Vernunft ans Ruder lassen. Haben Sie den Verstand zum Reden gebracht und das Herz zum Schweigen, wohl Ihnen,das ist keine Untreue, das ist der weise Gehorsam gegen ein unbezwinglich Höheres, vor dem wir uns beugen müssen. Werden Sie ruhig, Krimhild, versuchen Sie's von der Seite zu nehmen. Ihre Handlungsweise entsprang der Notwendigkeit, da dürfen Sie schon dazu stehn. Hier handelt es sich nur noch um die Creue gegen Sie selbst. Sie haben sich lange genug gewehrt jetzt heißt es: sich ergeben!“

Krimhild drückte ihre Wange mit der ganzen Fläche ungestüm an Gabrielens Schulter, zu ihrer Zuflucht und Bergung:

„Ach“, hauchte sie, „das wäre alles schön und gut,wenn ich mit guten Treuen mir sagen könnte: es hat nicht sollen sein, also laß ich mich treiben, wohin es sei,meinetwegen auch in die EChe mit einem andern: ich hätte mich selbst zurückgelassen bei ihm, bei der Erinnerung an ihn, und lebte fortan nur noch als Schatten.Aber so ist es nicht, werde ich zu meinem Schrecken gewahr. Ich übe einen Verrat, anders kann ich es nicht nennen. Die große Liebe, die er in mir zu wecken verstand, er zuerst und er allein, er hat sie angefacht, für ihn nur glühte sie und, ging er von mir, so hatte sie zu erlöschen. Aber daß ihn ein anderer ablösen konnte,einfach da fortfuhr, wo er aufhörte, daß ich die Arme,die ich gegen ihn ausbreitete, über den andern zusam419 []menschlug, diesen mit derselben Inbrunst an mein Herz schloß, als wäre er jener und nicht etwa von Sinnen war und sie verwechselte, nein wußte, genau wußte,er ist es nicht, es ist der Neue, und mich nun doch hingeben, reuelos, mitWonne, mit Genuß, den lieben,den ich haßte und den vergessen, den ich liebte ich schäme mich, ich schäme mich!“

Ein Schauder fuhr ihr über den zarten Leib. Die schmalen Hände deckten das Gesicht zu, und, immer an Gabriele angeschmiegt, unterlag sie im Kampf der streitenden Gefühle:

„Ich schäme mich, ich schäme mich“, brach es wieder und wieder zwischen den schluchzenden und klagenden Cauten hervor.

Da ging bei Gabriele eine Anderung vor in ihrem Herzen. Sie hielt nicht länger ein Mädchen, jünger als sie, schützend im Arme, dagegen eine junge Frau, die den Mann kannte und vor ihr dessen Berührung voraus hatte. Sie fühlte etwas wie einen Mangel, eine Beschränkung und Fesselung ihrer selbst, und befangen, in der Verlegenheit ihrer Keuschheit, nahm sie sanft Krimhilds schönes Haupt zwischen ihre Handflächen und küßte sie auf die Stirn:

Ulagen Sie nicht“, flüsterte sie, ‚seien Sie nur ganz stille. Nichts von Fluch! Nichts von Ergebung! Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück!“

Und der Verwegenheit dieser Worte sich erst bewußt werdend, nachdem sie gesprochen hatte, war sie froh,daß Krimhild mit heißen Blicken und ungestümen Handküssen sich ihrer bemächtigte. Dabei griffen im Hände420 []druck die an weißer Zartheit sich ebenbürtigen Finger ineinander und legte sich der Goldreif mit der schwarzen Perle dicht neben den schlechten zinnernen Kinderring, beide, jeder in seiner Weise, eine auffallende, unpassende Zubehör des armenWeibes und derreichen Erbin.

Dann zogen sie sich auf das seidene Sofa nieder,lösten sich voneinander los und sprachen gleichgültiges.

Etwa zur selben Minute sagte Volckhardt zu Albert Hartmann im Herrenzimmer oben:

„Also versteh' ich Sie recht, so sind Sie gewissermaßen bereits am Ziele.“

Da brach ihm der Stolz strahlenweise aus den schwarzfunkelnden Augen:

„Ja, Herr Stadtrat, ich darf von Ziel reden; ich habe mein Ziel erreicht. Ich wollte das Mädchen, und ich weiß nicht, ob noch auf der Welt jemand so sehr am lebendigen Leibe erfahren hat, was Wollen heißt, als ich von Krimhild und hinterher nun Krimhild von mir.Aber bei denWeibern nennt man es wohl besser Laune.“

„Ich wundere mich aber doch“ bemerkte Volckhardt stirnrunzelnd.

„Daß wir nicht noch ein wenig gewartet haben,eine kleine Anstandspause. Nein, Herr Stadtrat, da noch lange höflich sein das können Sie wirklich nicht verlangen. Wer's Glück hat, führt die Braut heim ichhabe wahrhaftig genug um sie ausgestanden gehabt.“

„Ubrigens“, fuhr er fort und zog aus seiner Brust421 []tasche eine Ledermappe, „um zur Sache zu kommen.Ich will nicht länger in Ihrer Schuld stehen. Desto mehr als es eine Vertrauenssache war und Sie ja nicht einmal eine Quittung in Händen haben.“

Dabei entnahm er ihr zehn blaue Scheine und schichtete sie am Tischrande auf.

„Bitte. Wenn Sie gütigst nachprüfen wollend?“

Noch nie mochte Volckhardt Geld mißtrauischer betrachtet haben, als diese Banknoten.

„Sie müssen bei Kasse sein.“

Albert zeigte mit lachendem Mund seine schimmernden Zähne:„Aber nicht so wie Sie fürchten. Nein, nein, gemaust wird nicht wieder. Und ob ich gerade bei Kasse bin, ist wieder eine Frage für sich. Aber vor ihnen steht ein Kind des arbeitenden Volkes. Ich bin mir dieser Herkunft in Jahren der Not bewußt geworden und bin stolz auf diese Herkunft. Und diesem Stolz setzt ich am heutigen Tag die Krone auf, da ich Ihnen sagen kann:Hier haben Sie auf den Rappen Ihr Geld wieder. Wir sind Ihnen nichts mehr schuldig; wir helfen uns ohne Kapital.“„Wäre nicht mein Fall“, brummte Volckhardt und rieb mit Daumen und Zeigefinger prüfend an einem der Scheine herum. „Ein zweifelhaftes Vergnügen!Wobei ich zu Ihrer Ehre einstweilen annehme, daß Sie nicht etwa mit mir Spaß treiben.“

Das Unbehagen, sich durch die Großmut eines Bettlers müssen lumpen zu lassen, war ihm anzusehen.

„Mein Triumph tut meiner Dankbarkeit keinen Ein [422] trag, Herr Stadtrat“, versicherte Albert treuherzig;„aber merken können Sie sich es immerhin.“

„Ach was!“ rief Volckhardt ärgerlich, „bei uns hat man für das Volk gesorgt, vor der großen Revolution sogar schon. Die Gesellschaft zur Beförderung des Guten und Gemeinnützigen “

Nur mit dem großen Unterschiede“, unterbrach Albert lebhaft, „daß diese Art Fürsorge den unvermeidlichen Beigeschmack von Gnade und Mitleid an sich hat.Ich jedoch will es niemand mehr als mir selbst zu danken haben, wenn ich nicht ein Lump bin und etwas tüchtiges aus mir wird. Sie sollen noch von mir hören,herr Stadtrat. Die Sozialdemokraten haben mich zu ihrem Führer erkoren in der Gesundheitsinitiative.“

„Ah soo! Daher Ihre Reichtümer.“

„Daher meine Sicherheit! Für das Volk und das Volk hinter mir.“

„Gut. Doppelt genäht hält besser. Hygienisch zu Faden geschlagen ist das Volkswohl bereits, das werden Sie aus dem Entwurfe des neuen Sanitätsgesetzes sich demnächst zu Gemüte führen können. Die Temperenzler und Guttempler bilden sich wunders was ein und dabei machen sie doch höchstens Kaffeeschwestern und Teebrüder aus den Wein und Schnapstrinkern. Dafür werde ich nun die Unarten der Zunge und des Gaumens bekämpfen. Der Konsum der schädlichen Genußgifte muß besteuert werden. Im Notfall greifen wir Monopol und Sperre.“

„Dann schmeckt Ihnen das Kolumbusei desto besser, lindgesotten mit Pfeffer und Salz.“423 []„Ja was wollen Sie dennd Kann eine Behörde besser für das Volk sorgen als dadurch, daß es ihm buchsttäblich die Herzkraft wiedergibtꝰ“

„Ich weiß noch etwas besseres, Herr Stadtarzt!Verhütung des Irrsinns und Turnunterricht das sind die Türen, vor denen der Staat erst zu kehren hat. Jedes Kind muß auf der Schule eine Kombination täglicher Freihandübungen eingepaukt kriegen,die es sein ganzes Leben durchführt, immer vernünftig mit Atempausen und Wasseranwendung dazwischen dann gibt es wieder ein Volk von Hirten.

„Und was wollen Sie eigentlich mit dem Gesundgarten‘ anstellen. Ich höre, Sie streben eine Abstimmung an, daß er uns, seinen jetzigen Besitzern, staatlich enteignet werden soll.“

„Ah, BHerr Stadtrat. Das sind einstweilen noch Traumschlösser. Aber ein städtisches Erholungsheim fehlt noch. Dort will ich einmal Direktor werden Urimhild und ich gehören auf den, Gesundgarten? und werden nur auf dem, Gesundgarten ganz glücklich sein.Mit dem Doktor Zwinger zusammen hat sie ihn zugeschlossen für seine alte Bestimmung. Mit mir soll sie ihn aufschließen für eine neue.“

.Bm!“ räusperte sich Volckhardt, „einstweilen wird er ein bißchen umgebaut und kann den Winter über trocknen, und dann wird fürs erste eine prosaische Sommerwirtschaft draus mit hellem Bier undSchützenwürsften.“ [424] Unten waren Krimhild und Gabriele unterdessen in das große Treppenhaus getreten vor ein Bild, das diese eigenhändig kopiert hatte.

Gleich Melchior war sie keineswegs musikalisch, besaß dagegen ein angeborenes Verhältnis zur bildenden Kunst. Sie hatte es im Olmalen zur Fertigkeit gebracht, und wenn sie sich auch nicht mit eigenem Schaffen vor die Natur wagte, so stand sie im Kopieren von Meisterwerken den Leistungen eines Malers kaum nach.In den zum Empfangen von Besuchen bestimmten Räumen des Hauses waren ja die Wände mit echten Kunstwerken geschmückt; aber in den mehr häuslichen Gemächern hingen wunderschöne Nachbildungen von ihrer Hand. Doch lehnte sie alle ihr gespendeten Lobsprüche ab, indem sie zu scherzen pflegte, einen andern Zweck verfolge sie nicht, als mit ihren Pinseleien die Tapeten zu schonen. Noch niemals aber hatte sie einen größeren Fleiß mit besserem Gelingen aufgewendet als bei der Wiedergabe des schönsten Bildes in der Gemäldesammlung der Stadt: Odysseus bei Kalypso.

Die große Leinwand war dieser Cage erst in einem kostbaren Rahmen vom Vergolder zurückgekommen und hing in dem weiten Hausflur, gegenüber dem Aufgang der Treppe.

So stand denn Krimhild lautlos bewältigt vor dem großen, übermächtigen Kunstwerk und rührte sich erst, als Albert, den der Stadtarzt in seinem Zimmer oben entlassen hatte, ihr im Rücken die breiten Stufen hinunterstieg und neben sie trat. Er kannte und liebte 125 []das Original, machte der nachbildenden Künstlerin sein Uompliment und sagte dann:

„Wissen Sie, was für mich von jeher das Herz dieser herrlichen Erzählung ausmachte d Nun, es ist die Sehnsucht von der Göttin weg, dieser auf den ersten Blick unkluge Tausch des fremden Vollkommenen an das angestammt Liebe. So wie meine liebe Braut sich aus der hohen und fremden Umarmung weg wieder ihrer Jugendliebe zuwandte.“

Urimhild unterbrach mit einem dankbaren Blick Alberts Rede, ergriff Abschied nehmend noch einmal Gabrielens beide Hände und sagte vor ihrem Verlobten mit fester Stimme:

„Nun grüßen Sie Herrn Doktor Zwinger von mir.Führen Sie ihn vor dieses Bild und fragen Sie ihn, ob nicht auch er im Gereut oben, bei dem Blick hinunter auf seine Vaterstadt, so am Horizonte jenseits des Meeres den Rauch von Ithaka emporkräuseln sahd“

Auf dem Heimwege begegneten beide an einer Straßenecke, so daß man sich beinahe überrannte, einem hohen, breitschulterigen Herrn. Albert grüßte sofort.

„Potz Wetter, das ist ja der Hartmann“, sagte der Angeredete, der niemand anders war, als der ihm vom Lohnhof her bekannte Kriminalkommissar,, mich dünkt,Ihr habt Euch meine Lektion hinter die Ohren geschrieben. Alles in der Ordnung, wie ich sehe. Weiß wohl,weiß wohl, Fräulein Schwengel. Potz Wetter, Hartmann, alle Achtung, was für eine Euch noch genommen hat! Aber es überrascht mich nicht. Von meinen Geheimpolizisten weiß ich längst Bescheid und den Vor [426] wärts lese ich selber. In Arbeiterkreisen seid Ihr ja der held des Tages. Ubrigens unter uns ist es wahr,daß der Familie Schwengel der Pacht des neuen Genossenhauses vom Konsumverein zugesprochen wurde nebst einem beträchtlichen Vorschuß in bard“

Krimhild und Albert sahen sich an, starr vor Erstaunen:„Da hört doch verschiedenes auf! Gestern in geheimer Nachtsitzung beschlossen, uns heute früh im tiefsten Vertrauen vorläufig mitgeteilt!“

Ich sag's nicht weiter“, lachte der Kommissar, „wir dürfen uns doch von den Klatschtanten und Kaffeebasen nicht beschämen lassen. Es ist gut, daß was Rechtes dahin kommtd“

„Ja,“ sagte Albert und wies stolz auf Krimhild,„meine Braut stammt aus dem Volk und hat ein Herz für das Volk, sie wird, über die Familie hinaus, eine gute Mutter werden.“

„Schön so, schön so“, erwiderte der Kommissar, und schüttelte ihnen Glück wünschend die Hände, „da seid ihr ja aus dem gröbsten heraus. Lebt wohl und auf wiedersehen! Ab und zu kehre ich mit dem Detektiv auf unserer Rundschau bei Euch ein und freue mich auf einen gemütlichen Schoppen.“

Gabriele Volckhardt war zurückgeblieben und wußte nicht, wie Melchior gesonnen war. Mit großer innerer Unruhe sah sie seinem Besuche entgegen.

Melchior kam eines Morgens ungewöhnlich zeitig; sie 427 []führte ihn unverzüglich vor das Bild. Er rollte sich, nachdem er lange stumm gebannt dastand, einen alten Sessel von der Nebenwand davor und schwieg abermals lange.

Dann sagte er:

„Es ist dir wunderbar geraten, Gay! Ich sehe das Bild mit ganz neuen Augen. Das ist nicht mehr der Odysseus, der sich nach der edeln Penelopeia sehnt.Was kümmert es diesen da, daß überhaupt ein Weib seinetwegen Nacht für Nacht ihr Gewebe unter heißen Tränen immer wieder auftrenntd Das ist einfach namenlos und unpersönlich der Mann als solcher, der sich vom Weibe als solchem abwendet, weil er es in sich überwunden hat. Drei Farben, Gay! Der rote Mantel, der braune, harte, gleichgültige Strandfelsen;und auf der scharfen Kante steif und schroff der blaue Mantel, wie um einen Pfahl herum durch eine große Willenskraft von innen angestrafft. Er nimmt bei weitem am wenigsten Raum ein, aber wer wird zweifeln,wo die Gewalt sitzt, die alles verwandeln kannd Wie in sich abgekapselt steht er da. Es ist unerhört!“

Dann sprang er auf und sah sie mit einem tiefen Blicke an.„Nicht wahr, Gayd“

Sie begriff ihn vollkommen.

„Das schönste wäre, es würde zwischen uns wieder so wie es war“, sagte sie bescheiden, „und vielleicht darf ich hier und da mit dir ins Museum oder wir reden über Bücher, die wir beide gelesen haben.“

„Ja“, entgegnete er, „man hat so vollauf zu tun,wenn man es ernst nimmt.“428 []Seine wenigen Worte über das Bild reichten völlig aus, Gabriele ahnen zu lassen, wie schön und gut und frei es fürderhin um sein mens chliches Teil bestellt sein werde. Schon in seinem gewählten Außeren sprach sich eine Uberhöhung gegen früher aus. Es war ihm nicht mehr einerlei, wie er aussah: so wie ihn sich Gabriele im stillen immer schon gewünscht hatte, tadellos angezogen mit einem Stich ins Elegante, so stand er nun vor ihr: in einem hellen englischen Anzug, in gelben Schuhen, unter dem hohen blendendweißen Kragen eine sorgfältig gebundene, mürbe und weiche Kravatte J sanftoliv mit mattvioletten Vierecken gesternt, und die barocke Karneolnadel seines Großvaters mitten hinein versenkt!

Da sie sah, daß er jetzt darüber hinaus war, hätte sie es für eine Unterschlagung gehalten, und so erzählte sie ihm das mit Hartmann und Urimhild.

Er nickte.

„Ich werde sie grüßen, wenn ich sie auf der Straße antreffe; sonst aber “

Wieder wies er auf den Odysseus, der dem Weibe den Rücken kehrte und über das Meer dahin sah.

Gabriele schaute ihn unverwandt an, eins ums andere, seine schlanke Gestalt und sein Angesicht. Auf der steilen Wand seiner Stirne traten die Buckel und Wõölbungen hervor, aber keine Falte furchte die weiße Fläche der Haut. Die geschwungenen Brauenbogen trugen diesen Aufbau. Und dicht darunter waren seine Angen mit ihrem zugleich milden und durchsetzlichen Blick voll auf die Freundin gerichtet. Ja, auch er 429 []schaute sie an ein Augenblick, der zu einer ganzen großen Summe wurdel Da stand sie, schlicht, aber auserlesen gekleidet, vor ihm, ohne den Schimmer blühender Jugend, schier gar schon etwas welk und müde,aber wunderbar beruhigend in ihrer lächelnden Gefaßtheit, die verkörperte Ergebung, eine hehre Göttin der Resignation!

Und dann traten sie vollends aneinander heran, reichten sich die Hände und befestigten auf immerdar die treue Kameradschaft ihrer Jugendjahre.

In die Stille dieses Ubereinkommens klirrte der von außen ins Schloß geschobene Schlüssel und knarrte die aufgestoßene schwere Haustüre. Der Stadtrat kam von einem amtlichen Ausgang nach Hause und brachte Professor Zutreffer mit.

Pockenverdächtige Ausländer waren vom Stadtarzt abgefangen und in der Isolierbaracke vor der Stadt geimpft worden. Heute morgen früh. Volckhardt trug auf zehn Schritte von den Desinfektionsdämpfen,denen erselbst sich soeben im Spital drüben zur eigenen Reinigung unterzogen hatte. Er legte ab, setzte eine Zigarre in Brand und fragte vergnügt:

„Die will ich mir munden lassen. Wißt Ihr auf was Auf meinen Dienfteid als Stadtarzt von Pfalzmünster.“

Zutreffer klopfte ihm zustimmend auf die Schulter?„Ganz meine Meinung, Kollege Volckhardt. In öffentlichen Gesundheitsdingen geht es am besten [130] königlich preußisch zu: Gehorsam oder Zwang. Nur ja kein langes Bin und Her!“

Zwinger sah den Professor ungläubig an; war das sein Ernstd War es um dessen weitherziges Verständnis geschehen?

Zutreffer merkte ihm das Erstaunen an und meinte zu Melchior kühl und kritisch:

„Ich kann Ihnen nicht helfen, lieber Freund. Für mich sind Sie ein bißchen unten durch; mir ist das Experiment auf Ihr Exempel mißlungen. Mein Orakel ist mein Jagdglück. Was war aber sonst das Gereut für ein schönes Revier. Ich kenne mich dort aus, stehe mit der Wirklichkeit in Fühlung wie sonst nirgendwo.Hheuer ausgesuchtes Pech! Ich habe den Kopf voll von Ihren Geschichten gehabt und immerzu an Sie denken müssen. Scheußlich ich befand mich wie in einer Romanlandschaft, von jeder Realität verlassen.Drei herrliche Stückchen Wild hat mir Karo gestern aufgetan, eins ums andere. Ich habe alle drei glatt gefehlt. Ich war wütend, kann ich Ihnen sagen.Schreiben Sie sichs hinters Ohr; was uns unser Auge ablenkt, unsere Hand unsicher macht, taugt nichts. Es gibt eben auch ein verkehrtes Streben. In Wolken hausen, statt auf Erden, ist ein Fehler.“

Melchior war über diese unerwartete Abfertigung sichtlich bestürzt. Zutreffer lächelte einen Augenblick,gewann dann aber seinen Ernst wieder und fuhr fort:

„Im ganzen ist Ihnen ja der Sommeraufenthalt wohl bekommen. Aber mehr als eine Ferientour war es für Sie nicht. Halten Sie nur erst einmal einen Win136 []ter lang Sprechstunde dann werden Sie eben zum alten Chirurgenglauben zurückkehren, daß eine rechte Krankheit den Menschen ans Messer liefert. Giftigd Giftfreid Ihr armen Internen dauert mich; denn viel anstellen könnt ihr nicht. Ich bin ja auch hin und wieder eine Zeitlang von des Gedankens Blässe angekränkelt,zuletzt durch Sie, Melchior. Aber sogar vom alten hippokrates bin ich wieder abgekommen: Arzt und Philosophꝰ Zu viel aufs Mal! Behüt dich Gott! Kannst mich gern haben! Ein gewissenhafter Praktiker kann nie und nimmer Philosoph sein da hat Aberfeld Recht. Also Auge und Handgelenk und dann eingegriffen und operiert, so weit man's in der Hand haben kann, hat man's dann in der Hand! Aber außerhalb der Klinik will ich meine Ruhe haben und mein Vergnügen. Skat, Billard, Revierjagd, Reitpferd, Automobil das erhält uns munter, und für Leute, die sich durchaus versteigen müssen, ist der Alpenklub da.“

Als nachher Gabriele mit Melchior allein durch den Garten ging, fühlte sie sich noch ganz betroffen und erkältet von Zutreffers kurz angebundenem Tone. Aber er beschwichtigte sie:

„Ja, der gute Zutreffer ist eben auch nur ein Sonntagsgrieche. Als ob es sich um die Methoden handelte!Das ganze Bandwerk ist ja doch Aberzug und Epidermis. Schau! Der dort! Euer alter Zacharias! Das ist ein Handwerker mit goldenem Boden, der besieht sich sein Metier von innen.“432 []Zacharias war bei Volckhardt Obergärtner, schon seit fünfundvierzig Jahren. Er sah aus wie ein Quäker und hatte kürzlich auf einem lebenden Bilde mit seinem eigenen Zylinder, seiner Tabakspfeife und seinem langen Abendmahlsrock den Burenpräsidenten Krüger vorgestellt. Er war selber ein bibelfester Vereinshäusler und band prachtvolle Totenkränze in Kreuz-, Anker und Herzform.

Jetzt stand er mit der Rebschere an dem laubübersponnenen Gartenhäuschen und beschnitt den wilden japanischen Wein.

„Muß er schon dran glauben, Zacharias“, rief ihm Gabriele zu, „jetzt wo er so herrlich rot werden will.“

Der Alte rückte an seiner Schirmmütze.

„Ah, guten Tag wünsch ich. Ja, ich könnte es wohl noch acht bis vierzehn Tage lassen. Aber schauen Sie,gerade mit der Jungfernrebe geht es mir eigen. Am Anfang laß ich sie laufen mit ihren lustigen Laubfroschfüßen, Draht und Wand hinauf, wie sie will und rühre so wenig dran als möglich. Nur die paar großen Aste bind ich auf; dafür in die Nähe quer hinten und vorn ein paar Drähte und Schnüre, damit sie brav klettern kann. Im Frühjahr, wenn es losgeht, weiß ich Bescheid mit jeder Ranke am ganzen Stock ob die jetzt schon gefaßt hat und wie lange jene noch braucht, bis sie ans Aufwickeln denken kann. Sobald aber einmal alles aufgeringelt und festgeklammert ist, dann ist das mein erstes Geschäft mit der Schere; ich geh dahinter so früh als ich es verantworten kann. Dennje früher ich schneide,desto voller treibt nachher im Frühling der Saft wieder.“

28 Bernonlli, Zum Gesundgarten [3] Melchior war auch herangetreten:

„Guten Tag, Zacharias!“

„Ei guten Tag auch, ja so, der Herr Doktor! Auch wieder hiesigꝰ? Mit dem Schwengel hat es bös geendet.Hochmut kommt vor dem Fall. Der Hansnarr zu meinen, der liebe Gott lasse präzis die Pflanzen wegen dessen wachsen, damit der SuppenkrautEmil damit doktern kann!“Melchior bot dem Alten die Hand:

„Ihr freut mich, Zacharias, so denk ich auch; es ist töricht und überheblich, immer so zu tun, als hätte die ganze Schöpfung nur uns Menschen in den Kram zu passen. Die Pflanzen sind viel älter als wir und leben schon länger in aller Stille ein lebendiges Leben. Ist es nicht so, Zacharias ?

Zacharias bewegte sein Haupt in würdiger Zustimmung und sagte gegen Gabriele gewendet:

„Der Herr Doktor trifft den Nagel auf den Kopf.Bereits am dritten Schöpfungstage hat unser Herrgott die Pflanzen geschaffen und den Adam samt der Eva erst am sechsten. Wir Menschlein sollten bescheidener sein und ein bißchen mehr bei den Pflanzen in die Schule gehen. Ich kenne mich ja nun unter den Gräsern und Sträuchern und Bäumen seit bald fünfzig Jahren aus. Es gibt keinen schöneren Beruf als Gärtner sein. Das Leben ist ja ein Rampf gegen das Unkraut in jeder Form und nichts anderes. Wer darüber Meister werden will. der hat mit Hacke und Messer den ganzen Tag zu hantieren von früh bis spät. Ist einer zimpferlichen und furchtsamen Wesens, so soll er die 434 []Beine unter dem Leibe kreuzen und Schneider werden.Der Gärtner hat es mit lauter Wildfängen und Trotzköpfen zu tun, und wenn er nicht ganz genau weiß, was er will, und immer wieder bändigt oder dann radikal jätet und schneidet, so wächst ihm die Wildnis rechts und links über den Kopf. Da heißt es aufpassen, die guten Triebe auskundschaften, die schlechten wegmerzen; so hab ich's gehalten und entweder viel Geduld gehabt oder nicht lange Federlesens gemacht, je nachdem. Es ist eine besondere Freundlichkeit unseres Herrgotts gegen mich armen Mann, daß er mich das ganze Leben in ein und demselben Garten gelassen hat. So wurde ich mit dem Erdreich bekannt, was man von ihm fordern darf und was nicht, und da war es denn eine wahre Lust, Jahr für Jahr aufs neue zu pfropfen und zu züchten. Ich will mich nicht rühmen, aber ich glaube, ich habe der Herrschaft treu gedient. Ihr Garten ist mir ans Herz gewachsen; kein Stäudelein, um das ich mich nicht kümmerte. Ich kenne alle großen Liegenschaften weit und breit, kostbarere und größere mag es wohl geben, aber ich glaube nicht, daß eine besser im Stand gehalten ist als der Garten meines Herrn.“

Andächtig hatten Melchior und Gabriele dem Gärtner zugehört; nun sagte jener:

„Ja, bei Euch ist mehr Weisheit zu holen als bei manchem Professor.“

„Das ist nicht von ungefähr“, versetzte derAlte, „ein Gärtner muß fromm sein, sonst hat er seinen Lohn dahin. In der Bibel stehen schöne Sachen vom Gartenbau. Das hab ich erst heute wieder gelesen und nicht

T [435] etwa im Christlichen Hausfreunde nein auf einem Fetzen Makulatur, in den mir der Krämer mein Päc-lein Schnupftabak eingewickelt hat.“

Er zog das abgerissene und zerknitterte Blatt aus der Schürzentasche, glättete es noch ein wenig und hielt es ihnen hin.

Melchior erkannte gleich den Schluß eines von ihm geschätzten Artikels aus einer neuen frei gerichteten Wochenschrift und sah wieder die Worte vor sich, die ihm schon nach der eigenen Lektüre tief in seinem Sinne haften geblieben waren. Er reichte das Papier Gabriele und sie las:

„Das Reich Gottes ist einwendig in euch, hat Jesus den erstaunten Jüngern erklärt. Auch das Glück steckt in demeinenvon Vaterund Mutter her, indemandern nicht, und diesem werden es auch alle sozialen Glücseligkeiten nicht bringen. Licht und Luft dem Frischen,Heiteren und Produktiven, mitleidige Ausmerzung der Grämlichen und Verdrießlichen, das verlangt die allein wahre Nationalökonomie, die dann eine happyscience sein wird, die Nationalökonomie nicht des stinkenden Geldes, sondern frohen Lebensmutes.Wem das zu hart und modern ans Ohr schlagen sollte, der möge bedenken, daß schon vor zweitausend Jahren einer der Gütigsten seinen Vater im Himmel sehr herb und ernst den Rebmann genannt hat, der die unfruchtbare Rebe abschneidet, die andere aber ausputzt, damit sie mehr Frucht bringe.“

Unterdessen stellte der Alte seine Arbeit ein, schloß die Schere und las die schon gefallenen Schosse auf.436 []„Es ist wahr; es pressiert ja nicht. Wir wollen die Jungfernrebe noch lassen, und den Blätterfall abwarten. Sie trägt keine Trauben; aber wenn sie so glutig rot ist, ist sie schön.“

Gabriele bat sich den Zettel von Zacharias zum Geschenk aus und schritt mit Melchior tiefer in den Garten hinein. Sie streiften dem großen Rasenteppich entlang, auf dem einige besonders schönblätterige Solitärsträucher standen und erblickten vor sich den harmonischen Wechsel von Obergehölz und Untergehölz, kühn aufstrebende Hochstämme und breitausladende Buschkomplexe. Der sanftgeschlungene Bogen des gelbroten Kiesweges brachte sie bald vor die Blutbuche.

„Man kann wahrhaftig nicht genug lesen“, hob Gabriele an. „So ein Jubiläum lang sitz ich nun schon hier an meinem Plätzchen; ich weiß, es ist eine Blutbuche,sie hat rote Blätter und ist eine Seltenheit, damit hatte es für mich sein Bewenden. Und nun lese ich letzthin, weißt du, da in der braunen Zeitschrift, eine von diesen, feinen zarten Stimmungsnovellen, wie man sie jetzt gewohnt ist und nicht mehr missen kann. Zwischen ein paar Menschen ging ein bißchen etwas vor;aber die Hauptperson, daß ich so sage, war eigentlich eine Blutbuche. Und seit ich das gelesen habe, was der da schreibt, schlage ich an meine Brust und frage mich,wo ich denn meine Augen gehabt habe.“

„Für eine angehende Malerin allerdings schlimm.Aber vorwärts, leg los, was hieß es dad“

„So etwas Delikates werd ich wohl auswendig her437 []stümpern! Ich geb' es dir dann zu lesen. Aber komm her.“

Sie zog ihn dicht an den Stamm und deutete aufwäris in die Urone hinauf. Es war ein wolkenloser Herbsthimmel und schon hoher Sonnenstand, aber noch Vormittag, mit einem zartesten Dunstschleier.

„Doch soviel hab ich mir gemerkt: Purpurglut,verhalten, gedämpft, wie ein leuchtendes Kirchenfenster! Das ist ein Strich, ein Glanzlicht. Das ganze mußt du lesen. Wie der Baum da wirklich als eine stolze,selbstbewußte persönliche Schönheit dasteht. Daß man einem das erst noch sagen muß!“

„Gabriele“, rief Melchior, und seine Züge überspielte ein leiser Schmerz der Erinnerung an seine frühere Schülerin in diesen Dingen, „es gibt keine größere Weisheit, als die Pflanzen zu uns reden zu lassen und uns zu üben, ihre Sprache zu verstehen. Das Gehirn muß uns zu einer Wurzel werden, damit müssen wir uns unterirdisch durchtasten, ausgreifen, Wassernähe riechen, an Boden gewinnen, viel breiter und weiter als wir selber sind und dann erst kann eine Rede davon sein, daß wir unsern Stamm stolz in die Luft treiben, unbeugsam dastehen und Stand halten auch den Stürmen.“

„Wenn ich denke, Melchior, daß schon meine Urgroßeltern von ihm beschattet worden und auf seinen Wurzeln mit ihren Schnallen und Stöckelschuhen umhergewandelt sind, Ihro Weisheit der Herr Amtsbürgermeister Volckhardt und seine Frau Eheliebste! Achtzehntes Jahrhundert! Rokoko!“ [438] „Siehst du ein Denkzettel! Was ein rechter Baum ist, nimmt sich Zeit. Langsam, sparsam, geizig, immer den einzigen Zweck im Auge, schön Balance zu halten,keine unebene Figur zu machen und es zu einer hohen und vollen Krone zu bringen. Ich, kann ich dir sagen,fange jetzt erst an.“

Sie traten aus dem Garten auf die tiefer gelegene gepflasterte Terrasse hinaus, an die Grenze des Besitztums, dicht an den Speicherfirst der Ratsapotheke.

Eine frische, wonnige Herbstbrise kam ihnen vom Rheine her entgegen gekräuselt. Sie schlüpfte Melchior vorwitzig unter die Kleider und überspülte ihm den bloßen Leib mit dem Elemente klarer und kühler Luft.Jetzt spürte er, wie der entschwundene Sommer ihn gestählt hatte und ihm eine unsentimentale, herbe Güte mit ins künftige Leben gab.

Da ertönte rollendes Reden aus den Tiefen der Erde.Rudolf, der Schauspieler, hatte in dem Bodenraum des väterlichen Hinterhauses aus Jugendheimweh ein improvisiertes Quartier aufgeschlagen und probierte vor seiner Abreise in die deutsche Residenz Kostüme und einzelne Stellen. Eben nahm er den Hamlet durch und stieg, da sie ihn riefen, unter der zurückgeschlagenen Falltür als leibhaftiger Dänenprinz, im schwarzen Trauermantel mit den Silberspangen, ans Tageslicht.Er setzte sich auf die Kante der Lukenöffnung und nun standen die drei wie in der Kinderzeit an der ehemaligen Unabenrumpelkammer beieinander, als wären sie wieder Spielkameraden und eben dabei, mit einem Abzählreim auszumachen: spielen wir weiter?4139 []Rudolf wies über die Stadt und ihre tausend Giebel im Silberduft hinüber an den fernen Horizont, nach dem Höhensattel unter dem Stollen, wo das Gebäude mit dem bloßen Auge sehr wohl sichtbar war. Er sah erst Gabriele und dann Melchior an und sagte nur:

„Schade!“

Da reckte sich aber Melchior zu einer kerzengeraden haltung empor und fragte erstaunt:

„Wieso schaded Was ist mir nicht dort für ein Gewinn erwachsen! Hab ich nicht dort oben gelernt, was es bedeutet, an den Menschenzum Gärtner zu werden,zum Gesundgärtner?“

Während erso sprach, verfing sich die fteigende Sonne in den Fenstern am Gereut oben, und der mächtige Widerglanz bezeichnete übertrieben deutlich das Haus.Unausgesprochen machte sich in der stillen Sammlung der drei morgendlich Feiernden etwas Abschließendes und Allerletztes geltend, indem Rudolf dem Wunsche Gabrielens willfahrte und, nur so im Dasitzen, ohne Gesten und mit halber Stimme der Reihe nach Stücke aus Dramen vortrug. Zuletzt sprach er jene Szene aus KNönig Lear, da im Umlauf weniger Verse eine ungeheure Hoffnung erst aufsteigt, dann zusammenbricht und es zum sschlusse heißt:

Was d Wieder Schwermut? Dulden muß der Mensch Sein Scheiden aus der Welt, wie seine Ankunft:Reif sein ist alles. Kommt!


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TextGrid Repository (2023). Swiss German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-gsw). Zum Gesundgarten: ELTeC Ausgabe. Zum Gesundgarten: ELTeC Ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001D-46AF-E