Das Baselbieterdorf, in welchem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Personen dieser kleinen Erzählung mitspielen, war schon von altersher eine blühende, wohlhabende Ortschaft, dessen Einwohner nebst Landbau und verschiedenen Gewerben die Bandweberei für die Basler Fabrikanten betrieben; dadurch ergab sich ein lebhafter Verkehr mit der Hauptstadt. Markus Lutz berichtet: „Dieser Ort hat eine angenehme Gegend und gute Wirtshänser.“Beide Eigenschaften mögen zusammengewirkt haben, ihn zum beliebten Ausflugspunkte zu machen.

Rosenthal, so nennen wir das ansehnliche Dorf, hatte eine schöne lindenbeschattete Kirche, zu deren Füßen sich hochgegiebelte Häuser dicht aneinander drängten; weiterhin breitete es sich mit stattlichen Gebäuden und kleinen Güärten dabei in der Talmulde aus. Im Brachmonat, wenn die Rosen blühten, war trotz der landwirtschaftlichen Gerüche überall ein Duften von Haus zu Haus von den gewöhnlichen Buschrosen, welche auch strengen Winter über dauerten;aber jede Hausfrau pflegte in ihrem Blumengärtchen auch die damals berühmteste, die Centifolie. Ringsum lagen [2] die Gemüsegärten; die Hügel hinan wuchs Getreide; auf den ansteigenden Wiesen standen Obstbäume, und an günstig gelegenen Abhängen wuchsen Reben. In der Dorfstraße war es ordentlich und ruhig, doch aus allen Häusern tönte das Schwirren der Posamentstühle; die sehr verbreitete Bandweberei trug zum Wohlstande der Gemeinde bei.

„Hier war gut Hütten bauen“, hatte wohl mancher Städter in vergangenen Tagen gedacht; denn in der Umgebung und auf einigen Hügeln rings standen freundliche altmodische Landhäuser. Zur Winterszeit geschlossen, sahen sie während der schönen Jahreszeit nicht nur die Besitzer,sondern auch viele Gäste ein- und ausgehen. Auch in anderen Jahreszeiten lag Rosenthal nicht einsam; schon die Botenfahrten brachten Leben ins Dorf; dann erschien der Char à banoe oder ein sonstiges Gefährt des Stuhloder Bändelireiters, wie man die Aufsichtsdiener der Bandfabrikanten hieß, welche die in ihren Häusern arbeitenden Posamenter oder Bandweber zu inspizieren hatten.

Lag der Schnee fest, kamen an sonnigen Wintertagen die Schlitten der Basler Herrschaften gefahren, bisweilen ein ganzer Zug mit Vorreitern; dann sprangen die Kinder auf die Straße; die Weber verließen ihre Posamentstühle,um die in kostbare Pelze gehüllte Gesellschaft in den eleganten Schlitten, die prachtvollen Pferde, je zu vieren,mit den Silberglöckchen und farbigen Rosetten und Quasten zu bewundern; dann stieg aus den Schornsteinen der größern Gasthäuser, Ochs und Bär, der Rauch ununterbrochen in die klare Winterluft.

Im Sommer war natürlich der Verkehr viel größer;verging selten ein schöner Tag ohne einige Basler da [3] Kutschen, und Sonntags kamen alle Arten Gefährte, von der hochrädrigen Chaise an bis zum einfachsten Ryt- oder Sprengwägeli (damals sagte man im Baselbiet „ryte“ für fahren). Aber nicht weniger kamen auf Schusters Rappen;was gab es den Leuten damals zu tun, vier Stunden hin und vier Stunden her zu gehen und daneben womöglich noch einen Abstecher zu machen nach links oder rechts!

Auf einem der nächsten Hügel stand das uralte Herrenhaus „zum Mattenhof“. Das Erdgeschoß war mit Pfeilern festgemauert, darüber erhob sich ein schwerer Holzbau mit Giebel, auf welchem ein weit vorladendes Schindeldach ruhte. Die obern Fenster hatten bleigefaßte, halbblinde runde Scheibchen, sie waren niedrig und breit, und die Altane, die sich am Gibel hinzog, machte sie noch düsterer.Tiefgebräunt sah das Holzwerk aus; aber bei Schlagregen bekam es alle Farben, rot, gelb und violettgrau; das reparierte Schindeldach hingegen gab einen silbernen Schein zwischen den beiden hohen Tannen hindurch, welche gleichsam Wacht vor dem alten Bau hielten.

In diesem Hause standen alle Fenster weit geöffnet,um Luft einzulassen Der Heuet war in diesem Jahr früh beendet; Blitz und Donner eines starken Gewitters verzogen sich eben noch in der Ferne. In den Tannenzweigen rauschte noch der letzte Regenschauer, und Frau Lene, die stattliche Lehenfrau, deckte den Tisch im Wohnzimmer und stellte einen Strauß in die Mitte. Nun zog sie die Schürze über den Kopf und eilte durch das Sprühen zum Lehenhofe zurück.

Dieser stand weiter zurück und schien ganz der neuen Zeit anzugehören; die massiven Gebäulichkeiten waren mit

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Ziegeldächern gedeckt, und atmeten Wohlhabenheit und Ordnungssinn. Die Zörnlein hausten seit bald zwei Jahrhunderten hier oben als Gutspächter; es ging stets vom Vater auf den Sohn über. Meister David aber, der jetzige Lehenmann, übertraf alle seine Vorgänger an Verstand und Kenntnissen. Von Jugend an gut geschult, hatte er seine Ausbildung in einem landwirtschaftlichen Institut erhalten. Das genügte ihm aber nicht, er trat noch in ein Seminar, und wurde mit einem Gelehrten bekannt, der ihn als Sekretär auf seine Reisen mitnahm. Sieben Jahre hatte das gemächliche Wandern gedauert, da erreichte ihn die Botschaft, daß sein Bruder gestorben sei und er die Nachfolge anzutreten habe.

Auf diese Weise kehrte er in den angeborenen Bauernstand zurück und heiratete die kinderlose Witwe des Bruders.Den Ehegatten wurde ein Sohn geschenkt; Meister David gab ihm den Namen seines Ahnen: „Gottfried“. Dieser Stammyvater, ein Stadtbürger, war schon vor mehreren Generationen aus Liebe zum Bauernwesen hier Lehenmann geworden und hatte eine Tochter aus der Gegend zur Frau genommen.

Während des letzten Sprühregens schwankte der Wagen der Herrschaft ins Dorf; zu allen Türen hinaus sprangen Kinder durch die strömenden Dachtraufen auf die kotige Straße und jauchzten: „Die Substitutenkutsche“! Ein junger Bauer unter einem Scheunentor scherzte zum lachenden Nachbar hinüber: „Die Substitutenarche“. Es war auch ein ungefüges, gelbes Gebäude auf hohen Rädern; an Stelle der Kutschenfenster schlossen Lederklappen, die man des einströmenden Regens wegen überall fest eingeknöpft [5] hatte; drei Pferde zogen den triefenden, von Kot vollgespritzten Wagen langsam durchs Dorf, während es allmälig zu regnen aufhörte.

Endlich hielt er vor dem Gasthause „zum Bären“;der Besitzer schoß in die Tür, rief schallend in den Flur zurück: „Hans, Lieni!“ An der Schwelle stand der Besen,an dem die Eintretenden die Füße zu reinigen hatten;der Bärenwirt ergriff ihn und fuhr auf die Wagenräder los, das Gröbste herunterzukehren, putzte auch den aufgeklappten Fußtritt; die Knechte spannten aus; noch war nichts aus der Kutsche zum Vorschein gekommen, als eine rundliche weiße Hand, welche von innen heraus am Leder losknöpfte; der Wirt hätte gern geholfen, er war aber kurz von Gestalt. Endlich flog die Wagentür auf und das Trittbrett herunter; erst kam ein stattliches Bein mit Kniehose zum Vorschein, dann das zweite, während der Rücken noch verdeckt war. Zum Glück kletterte der Lohnkutscher,der zu Substituts Wagen die Pferde geliehen hatte, nochmals auf den Bock und half von oben herunter; und während der kleine runde Wirt hinter ihm fortwährend dienerte, stieg der Herr Substitut vorsichtig ab, um seine seidenen Strümpfe und die Schnallenschuhe nicht zu beschmutzen.

„Ghorsamschter Diener, Herr Grichtssubstitut!“ grüßte der Wirt beflissen. Der Basler streckte ihm zwei Finger entgegen und sagte: „E Guete, Heiri!“

Unierdessen kam ein dickes Mädchen förmlich vom Wagen heraus geflogen. „Elsi, gib acht!“ rief eine Stimme von innen; aber es war zu spät, schon spritzte das Wasser einer Lache rings um das lange Kleid. Das Kind kehrte [6] sich nicht daran, raffte das beschmutzte Gewand zusammen und flog dem lieben Mattenhofe zu.

Die beiden Mägde waren wie gesottene Krebse ausgestiegen; die Herrin reichte von innen heraus, was in den Seitentaschen und Köfferchen der alten Kutsche steckte,und nun erschien sie selbst mit der Haube in der Hand,und der Bärenwirt legte ihr schnell ein Brett, daß sie trockenen Fußes in das Haus gelangen konnte. Kühl und frisch trat sie ein, während sich ihr Gatte noch immer den Schweiß von der Stirne wischen mußte; sie sah aus wie ein junges Mädchen und war doch schon manches Jahr Großmutter.

Jetzt stand sie vor dem kleinen Spiegel, der schräg an der Wand hing, und setzte ihre sorgfältig behütete Haube auf; das war ein Meisterstück der damaligen Putzmacherkunst. Die Frauen trugen in früheren Zeiten statt Hüten kostbare Hauben; auch die war nur für Kirchgang und festliche Anlässe bestimmt; heute hatte sie das Kunstwerk ihren Verwandien zulieb aufgesetzt; man war nämlich im Pfarrhause zu Liestal über Mittag zu Gast gewesen.

Der Wirt schaute mit andächtigem Staunen zu, wie geschickt die schöne Frau die Schleife unter dem Kinne band und ihre rotblonden Löckchen an der schmalen Stirn hervorzupfte. Die Haube hatte über den Scheitel eine hochgebaute Krause, und einen ebenfalls hochragenden Boden;in der Vertiefung zwischen beiden Hälften saß wie ein großer, aus dem Neste aufgeflogener Vogel, eine kühn geraffte, violette Bandschleife. Die Substitutin zog noch ihr gelbes Seidenschälchen zurecht, daß die Ecke hinten genau in die Mitte kam, raffte ihr olivfarbenes Seidenkleid zu [7] sammen und sagte, zu ihrem Manne gerichtet: „Kommst du mit, Manuel?“ „Nein, liebe Sybilla“, erwiderte er,„ich bleibe noch.“ Sie hatte es nicht anders erwartet;flüchtig nickte sie dem Wirte zu und merkte nicht, daß er ihr trippelnd mit vielen Kratzfüßen und Schwenken der Zipfelkappe bis zum Ausgange folgte.

Obschon der Bärenheiri in früheren Jahren manchmal des Baslers Spiekamerad gewesen, hielt ihn doch sein Takt als Wirt von Vertraulichkeit ab und mit einem Gesichte voll unausgesprochener Komplimente kehrte er zum Substituten zurück, was diesen Herrn ebenso amüsierte als seine vorige Beflissenheit um Frau Sybilla. Er offerierte ihm auch freundlich eine Brise aus seiner goldenen Tabatiere, und forderte ihn auf, beim Glase Wein zu berichten,was seit dem letzten Herbst in Rosenthal vorgegangen war;waren ihm doch alle Familien Bekannte von seiner Jugend an.

Da geriet der redselige Wirt auf Meister Zörnli, den reichen Lehenmann; es sprach sich im Orte herum, daß er auf dem Punkte sei, den Mattenhof ganz in seine Tasche zu stecken und selber Gutsbesitzer zu werden. Ob der Herr Substitut wisse, daß er neuerdings wieder einen großen Wald dazu gekauft habe?

„Ja,“ sagte dieser, „und ich habe ihn selbst dazu bestimmt,“ mehr verriet er aber nicht, und Heiri biß sich auf die Zunge; er wollte es mit dem nobeln Kunden nicht verderben, der jeden Nachmittag sein Schöpplein vom besten im Bären nahm.

Während die Mägde mit ihren Kleiderbündeln auf dem Kopfe und Körben und Säcken an den Armen den Karren [8] weg nach dem Mattenhof hinanstiegen, hatte Elsit den Fußsteig zwischen Gürten und Aeckern genommen; der war aber so durchweicht, daß sie nicht vorwärts kam; da stieg sie einfach durch die abgemähten Wiesen hinan. So kam sie an den Hügelabsatz, wo es einen steilen Stutz zu überwinden gab; da hinauf kam sie nicht, es war zu schlüpfrig.Sie atmete tief, um die Brust mit Luft zu füllen, und stieß dann einen gellenden Ruf aus; sofort antwortete ihr von oben ein Juheschrei, und bald flog es wie ein Federball herunter: der Gottfried Zörnlin. Er kam barfüßig und in Hemdärmeln; dennoch sah er sehr akkurat aus in seiner reinen Wäsche. Der Knabe hatte etwas feines, auf einem schlanken Körper saß ein stolz getragener Kopf; der war kahl geschoren, aber der Mangel an Haar konnte der schönen Form nichts anhaben.

Elsi schaute erstaunt zu ihm auf: „Du bist aber groß geworden!“ und indem sie sein mit Sommersprossen ganz überdecktes Gesicht musterte, fügte sie bei: „aber häßlich mit allen den braunen Flecken“ Der Knabe nahm es gelassen auf: das komme vom Heuen. „Schöner bist du auch nicht geworden, Elsi! Du tust ja gar nicht wachsen und wirst so dick.“

„Ich weiß es, Friedli! Mama sagt, es komme daher,weil ich solch ein Vielfraß bin; denk, sie will mir den Brodkorb künftig höher hängen.“

„Bah!“ machte der Knabe geringschätzig, „da ist meine Mutter auch noch da; gerade heut haben wir gebacken,und da hat sie für dich eine Rahmwähe gemacht, komm nur! Aber was ist denn das mit deinem Haar? Das fliegt dir so wild um den Kopf herum!“

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„Herje!“ rief Elsi, „mein neues seidenes Zopfband ist weg, das hab ich wohl hier verloren. Geh doch, Friedli,such mirs schnell!“

Und der Junge trabte gehorsam die Wiese hinunter und fand es auch Unterdessen hatte Elsi den andern kurzen Zopf auch losgebunden, und steckte beide Schleifen in die Kleidertasche; da waren sie sicher.

Und nun gings Hand in Hand aufwärts. Elsi in den Schuhen fiel auf der durchtränkten Matte alle Augenblick über ihr langes Kleid, dann zog sie der Gefährte wieder in die Höhe; so war ihr Aussehn natürlich sehr verwildert,als sie durch die Küchentür zur Lehenfrau hinein sprangen.

„Aber Eisi,“ fragte diese nach dem ersten Willkomm,„wo hast du deinen Hut gelassen?“ Wo? Das wußte sie nicht, vielleicht lag er noch drunten in der Kuische;das war ihr einerlei, jetzt, wo sie sich den Rahmkuchen schmecken ließ.

„Aber KRind! wie siehst du aus! so darfst du nicht zur Mama!“ Und Mutter Lene, die Frau Zörnli, holte Bürste und Tuch und putzte an dem Mädchen herum; da entdeckte sie noch die nassen Schuhe und die Strümpfe,deren Weiß in ein schmutziges Braun verwandelt waren,und hieß das Mädchen daheim sofort wechseln.

Nun liefen die beiden wieder davon; Friedli mahnte beim Vorbeigehn am Herrschaftshause, was seine Mutter befohlen hatte; da setzte sich Elsi auf die Eingangsstufe,zog Schuhe und Strümpfe aus und warf beides hinter die offene Haustür. Daß das Barfußgehen ihren empfindlichen Sohlen weh tat, ließ sie sich nicht merken; sie trabte [140] tapfer neben dem Gefährten dem Tusculum zu; so bezeichnete nämlich Elsis Vater das Gartenhäuschen, dus ganz den Kindern angehörte

Ein Großvater des jetzigen Besitzers hatte es in der verkleinerten Form eines griechischen Tempels aufrichten lassen; ein paar Säulchen bildeten den Eingang; dahinter war ein kleines Gemach mit einem alten zerbröckelnden Tisch, mit Damenbrett und Neuntelstein und andern Spielfiguren eingesegt: die Stühle, deren zerrissene Strohsitze trichterförmig nach innen gehangen, hatte der Knabe fast alle entfernt und durch eine nette kleine Bank ersetzt, die er gezimmert und grün angestrichen; hier war der Spielplatz der Kinder an Regentagen, und hier befand sich auch die kleine Schatzkammer für Elsi. Wenn man ein Bodenbrett aufhob, sah man eine zwischen Kies und Schutt sauber herausgearbeitete viereckige Höhlung; darin lagen sonst auf grünen Blättern die schönsten Früchte des Lehenhofes.Diesmal war Elst enttäuscht, sie hatte auf Kirschen gerechnet; in der Stadt wurden ja solche schon feil geboten.Die Frühkirschen waren aber hier im Blust erfroren und die nachfolgenden noch nicht reif. Schließlich gab sie sich zufrieden und stopfte die Taschen voll mit den getrockneten Zwetschgen und Hutzelbirnen, welche die schönsten Exremplare ihrer Art waren

Es war ein stilles Abendessen im Herrenhause; trotz der guten Dinge, die Frau Lene aufgestellt, wohnte die Langeweile an diesem so großen und doch so leeren Familientische. Obenan saß der Substitut, zu seiner Rechten Frau Sybilla. Elsi durfte ohne Erlauhnis nicht sprechen;dafür stieß sie dann und wann etwas um, ließ Löffel oder

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Gabel fallen, und kippte wohl auch zur Abwechslung mit ihrem Tabouret.

Die Ehegatten bedienten sich gegenseitig mit beflissener Höflichkeit, und wenn der Hausherr etwas fragte, antwortete die Frau: „Ja, lieber Manuel! nein, lieber Manuel!“Lieber Papa, hätte sie sagen mögen, aber ihr Töchterchen nannte ihn beharrlich „Vater“ ihr zu trotz; sie empfand eine Beleidigung in dem Unterschiede, den Elsi zwischen Vater und „Mama“ aufstellte.Jetzt sah sie den Blick ihres Eheherrn den einsamen Tisch entlang streifen und hätte gern gefragt: „Gelt, Manuel,du denkst an die Zeit, wo unsere großen Mädchen noch hier saßen?“ aber sie fühlte sich so unbeholfen, im Augenblick wollte ihr das Wort nie rechtzeitig zu Hilfe kommen,immer erst hintendrein.Es war auch richtig, Manuels Gedanken weilten wirklich in der Vergangenheit, bei den drei blonden lieblichen Töchtern, die sein Stolz und seine Freude waren; um sie zu erziehen, hatte er darauf verzichtet, eine neue Stellung zu suchen Es war kein Opfer seinerseits; die Juristerei war ihm von den Eltern aufgedrängt; er hätte es vorgezogen,Lehrer zu werden. Nun hatte er volle Muße, seine Töchter auszubilden; es waren schöne und kluge Mädchen und sein Stolz, sie um sich zu haben. Leider durfte er sie nicht behalten, alle drei heirateten kurz hintereinander und machten vornehme Partien. In der Stadt sah man sich wohl öfter; aber da oben. wo sich zu seiner Eltern Lebzeiten jung und alt um den Familientisch gruppiert hatte, wo sich in den alten Gaststuben droben mit den kleinen Fenstern [12] und der niedrigen Balkendecke junges Volk tummelle, hier durfte er die feinen Herrschaften nicht erwarten.

Eben wollte Frau Sybilla anheben, um etwas zu sagen,da wandte er sich an seine Elsi: „Gelt, du bist froh, daß du wieder recht herum springen kannst?“ Und als hätte der Vater eine Schleuse aufgezogen, sprudelte es über des Mädchens Lippen; was gab es nicht alles zu berichten!Mit einem warmen Lächeln blickte er auf seine Jüngste;hübsch war sie nicht, die schwarze Wilde, aber von einer Lebendigkeit! man ward wieder jung mit ihr.

Ehe der Substitut vom Tische aufstand, wandte er sich an seine Frau: „Liebe Mama, möchtest du uns in Zukunft nicht an den kleinern Tisch dort beim Fenster decken lassen?“ Sie sagte schnell: „Gewiß, lieber Manuel!“

Elsi hätte aufjauchzen mögen, dort gab es doch etwas zu sehn, und wenn es nur ein vorüberfliegender Vogel war, oder das vom Wind bewegte Laub der Bäume.Freudig wollte sie auf die Mutter zuspringen; aber diese räumte vom Tische ab und hatte in einer Hand den Brotkorb, in der andern das Salzfaß, und Sybilla war ein wenig abergläubisch: ausgeschüttetes Salz bedeutet Unfrieden im Hause; da wehrte sie kurz ab, daß Elsi sie nicht anstoße.

So war es immer; wenn das Kind seiner Mutter entgegen kam, verhinderte sie irgend ein unwichtiger Umstand am Verstehen. Der Vater sah es mit Gram; zwischen den beiden war eine unerklärliche Kluft. Trotz ihres zurückhaltenden Benehmens hatte seine Frau immer in freundlichem Einvernehmen mit den ältern Töchtern gestanden;zwar sahen sie sich äußerlich, mehr noch im Naturell ähnlich; gar nicht wie die Kleine, die aus dem Familienmodell [143] gefallen zu sein schien; die machte einem in der Tat gehörig zu schaffen mit ihrem störrigen Kopfe, und man war ihr nicht leicht gewachsen.

Frau Sybillens Schulbildung war gering; das merkte man ihr aber nicht an, sie verstand es vortrefflich, ihrem Hauswesen einen feinen Ton zu geben. Das hatten die Töchter auch erkannt und willig von ihr angenommen.

Nun sollte auch Elst auf des Vaters Wunsch ein wenig zur Hausarbeit angehalten werden, einstweilen nur kurze Zeit. Das Stricken hatte sie bei einer Lehrerin zur Not begriffen. Es war aber eine Marter für die Mutter, das Mädchen eine Stunde lang zu ertragen. Bald durchstach sie mit der Nadel die Tischdecke oder machte Löcher in ihre Schürze, oder sie bohrte sie irgend wo hinein, daß sie zerbrach; Frau Sybilla mußte sie immer ins Strafkämmerchen hinauf schicken, ein nit Grümpel gefülltey Raum, wo sie nichts verderben konnte.

Das machte dem Mädchen keine Sorgen; das Strickzeug lag irgendwo am Boden und sie stöberte in dem alten Kram herum und hätte schon allerlei interessante Entdeckungen gemacht. Eines Tages gelang es ihr, das rostige Schloß an einer wurmzerfressenen Truhe abzuschlagen. Da fand sie Helme von Pappe, Kronen, Waffen, mit Goldblech überzogen, Mäntel und Kleider aller Art; das mußten die alten Charadenanzüge sein; der Vater hatte ihr oft erzählt, wie sich die Jugend damals auf dem Mattenhofe amüsierte.

Selbstverständlich packte sie alles aus; da tat sie noch einen besondern Fund: ein kleines schwarzes Holzkästchen.Sie fand kein Schloß daran, erst nach langem Tasten [14] geriet sie auf eine Feder, und der Deckel sprang auf: ein Mädchenbildnis blickte ihr entgegen!

Eisi jauchzte vor Freude; es war ein herziges Bildchen in Wasserfarbe mit der Feder fein gezeichnet, einfach und lebendig glich es sogar Elsi, doch war das Gesicht etwas älter und sanfter.

„Es gleicht mir,“ rief sie entzückt, „nur daß es hübsch ist, und ich bin häßlich. Wenn ich aber auch Löckchen hätte und ein tief ausgeschnittenes Kleid und machte ein ebenso freundliches Gesicht, könnte man meinen, wir seien Schwestern. Wer mag es wohl sein?“

Lange betrachtete sie das Bildchen; „Mama muß sie kennen!“ dachte sie, und hastig warf ste den ganzen Kram in die Truhe zurück, zwängte den Deckel darauf und lief hinunter.

Frau Sybilla arbeitete eben an einer mühsamen Stopferei und blickte erst auf, als ihr Elsi das Bildchen unter die Augen hielt; dann aber fuhr sie entsetzt in die Höhe, als VD riß ihrem Kinde das Bildchen aus der Hand und lief damit in die Küche. Da wuschen die Mägde, auf dem niedern Herde brannte ein großes Feuer. Eben wollie die eine einen Kessel mit Wasser am dasen aufhängen, der aus dem Rauchfang an einer Kette mederhing; aber die Frau Substitut drängte sie weg und warf einen Gegenstand in die hohe Flamme.

Elsi war ihr nachgelaufen; sie stieß die brennenden langen Scheite auseinander und wollte ihr Bildchen herausscharren; das zerfiel aber schon in glühende Asche.

Nun stand Elsi mit einem Feuerbrand vor der Mutter wie eine Kriegsfurie. Die zwei starrten sich an, Frau

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Sybilla mit kaltem Blick aus den grauen Augen, Elsi DD Küchenboden, daß die Funken nach allen Seiten flogen,und rannte hinaus, den Vater aufzusuchen.

Eben kam der Substitut vom Dorfe herauf; das Steigen strengte ihn bereits an, und er ließ sich aufalmend auf den Sitz unter der Platane nieder; da flog sein Mädchen wie eine Rasende herbei: „Vater!“ kreischte sie, „ist Mama meine Stiefmutter?“ Er sah Elsi ganz verwundert an;was mochte geschehen sein? sie ließ ihn nicht lange in Ungewißheit; alles berichtete sie haarklein; ein Schatten Anfgeregten ihren Unsinn; aber an seinem Schweigen merkte sie doch, daß etwas dahinter stecke: „Ich bring es schon heraus!“ dachte sie.

In schmerzliches Sinnen versunken, nahm der Substitut kaum noch Notiz von ihr; da stampfte sie energisch zur Lehenfrau hinüber.

Diese war über Elsis Frage nicht weniger erstaunt als der Substitut; aber sie verstand es, das Mädchen von seinem Irrtum zu überzeugen. Hatte doch vor ungefähr elf Jahren ihr David von Herrn Manuel einen Brief erhalten, worin er schrieb: „Statt des erwarteten Knäbleins ist uns wieder ein Mädchen geschenkt worden, ein schwarzes und lebendiges Ding, das im Schreien zwei Buben übertrifft; es heißt Elsi.“

Und zu Elsit gewendet, sagte sie: „Denk dir, Kind,ich weiß noch gut, wie ich dich zum erstenmal hier oben sah; da trug dich die Wärterin in einem Kissen, und du hattest noch einen Schleier übers Gesichtchen. Ich sah,[16] das war eine Quälerei bei dieser Hitze, und trotzdem die Person meinte, die Frau Substitut würde zanken, band ich dir das Ding los, und da machtest du die Augen auf und sahest mich an Stell dir vor, was ich damals angerichtei habe! Das Elseli wollte von nun an keinen Schleier mehr leiden, es raste, bis man ihn wieder wegnahm. Erkennst du dich jetzt an dem trotzigen kleinen Ding?“

Elsi mußte wohl glauben, daß Frau Sybilla ihre richtige Mutter war, aber im innern Herzen widersprach doch etwas; sie verbarg es auch nicht vor der Lehenfrau, und die kluge Frau Zörnli hatite gute mütterliche Worte: wenn Elsi nicht ein so störriges Kind wäre und ihrer Mama mehr Freude machte, würde es nicht besser stehen?

Das Mädchen schwieg eine Weile; aber da fiel ihr das Bildnis wieder ein, und sie fragte: „Warum gleich ich aber der Mama nicht, wie die andern Schwestern? und ich ruhe doch nicht, bis ich weiß, wer das ist, dem ich so ähnlich sehe! Sag einmal, Mutter Lene, kann ein Herr nicht zwei Bräute gehabt haben? mein Vater war vielleicht mit der schwarzen einmal verlobt, darum war er so traurig, als ich ihm alles berichtete. Besinn dich doch,Mutter Lene, du hast das Mädchen gewiß gekannt?“

Die Lehenfrau hatte es bereits erraten; das mußte das Contrefey von Manuels Base sein, der Esther Reifenstein; die Beiden galten für Brautleute. Aber gesehen hatte sie diese Verwandte nicht; denn als sie auf den Hof heiratete, war Sybilla schon Frau Substitutin, und mit den Reifensteins war die Freundschaft entzwei.

„Nun denn, hast dus endlich?“ stieß Elsi die Frau an. Diese sagte: „Es wird, denk ich, das Mädchenbild [17] deiner Großtante Reifenstein sein, die soll ja so schwarzes Haar haben!“

Das ließ Elsi nicht gelten: „Als die Tante jung war,hatte man eine andere Kleidermode, steifes Mieder und einen hohen Haarwulst auf dem Kopf; sie besaßen ja in der Stadt ein Jugendportrait von der Großtante. Das junge Mädchen hingegen trug kleine Löckchen um die Stirn und hatte ein weit ausgeschnittenes Kleid, ungefähr so, wie ihre Mama als Hochzeiterin abgemalt war.“

Unzufrieden wie ein Verhörrichter, der nichts herausbringen kann, ging Elsi weiter; hätte sie wenigstens Gottfried die Sache erzählen können; aber wenn man ihn brauchte, war er nie zu haben!

Frau Sybilla empfand, daß sie sich vor ihrem Kinde eine Blöße gegeben habe; sie fühlte sich stets von zwei dunkeln Augen beobachtet, und es war ihr zu Mute, wie unter polizeilicher Bewachung. Der Vater konnte es auch nicht länger ansehen; da eine Aussprache zu vermeiden war,gab es kein andres Mittel als Entfernung.

Der bequeme Herr Substitut raffte sich auf und begleitete Elsi zu einer befreundeten Familie, wo man sie längst zu den Töchtern des Hauses eingeladen hatte. Hier verließ er sie im Glauben, sie sei für eine Weile versorgt; aber er kannte sein Mädchen noch nicht ganz! Eines schönen Morgens erklärte Elsi bestimmt: „Jetzt geh ich nach Haus!“Man redete ihr zu, sie sollte wenigstens auf eine Fahrgelegenheit warten, da es so weit weg war. Aber nichts konnte sie zurückhalten, sie marschierte zu Fuß ab.

Als sie im Laufe des Nachmittags auf dem Mattenhofe erschien, war der Vater nicht da; das Fehlen seines [42]28

Mädchens hatte ihn vom Hofe abgetrieben und er war in die Stadt gegangen. Zum Glück trafs gerade Samstag,Gottfrieds Ferientag. Wo er steckt? im Gartenhäuschen wohl, da er im Lehenhaus nicht zu finden war.

Froh, eine Ueberraschung in Szene setzen zu können,schlich sie um die Gebüsche und trat hinter den Knaben,ohne daß er es merkte.

„Was treibt er denn, daß er so vertieft ist? zeichnet er? nein er schreibt.“ Sie sieht ihm ohne sein Wissen über die Schulter. Vier Verse hat er geschrieben, jeden mit derselben Endzeile. Sie liest plötzlich hinter im ganz laut:„Der Friedli ist dem Elseli hold.“

Ein Donnerschlag aus blauem Himmel hätte den Jungen nicht so erschreckt, wie diese Ueberrumplung; er tat einen Wutschrei, knüllte das Papier zusammen und stieß das Mädchen heftig mit dem Ellbogen weg. Vom Stoße flog sie an die Wand und fiel zu Boden. Er kümmerte sich nicht darum, krebsrot war er davon gerannt.

Elsi schrie, was sie aus dem Halse brachte es kam niemand, sie aufzuheben. Sie mußie zuletzt allein aufstehen und dann lief sie in den Lehenhof; die Dichterei hatte sie vollständig vergessen, aber für seine Grobheit verklagte sie ihn. Sie wurde getröstet, der Bub mußie gehörig abgestraft werden.

„Würde er gehauen?“ „Nein, viel schlimmer; der Vater werde ihm eine schärfere Züchtigung auferlegen, er sollte in Zukunft das Elslein in Ruhe lafsen!“

„Nein, nein!“ das wollte das Mädchen nicht; wenn Gottfried heim kam, das war selten genug, da pflegte sie ihn ganz in Beschlag zu nehmen; ohne ihn hielt sie es gar []J nicht aus. Elsi bat daher, lieber möchte man vom Strafen absehen.

Trotzdem war kein Gottfried zu finden, sie suchte im Garten, in den Ställen und auf den Heuböden; auch im Walde droben; keine Spur von ihm! So langsam war ihr Samstag Abend und der folgende Vormitiag noch nie vergangen.

Es war Sonntags nach Tisch; alle Dienstboten vom Lehenhof hatten sich im festlichen Putz entfernt; Elsi sah nach, ob Gottfried bei den Eltern sei. Da rief die Lehenfrau: „Siehe, der Bitzburger kommt zu uns.“

Bitzburger, ein Basler Schnupftabakhändler, hatte sein Schäfchen ins Trockene gebracht und in Rosenthal ein Stückchen Land gekauft, um seinen Kohl zu pflanzen. Er war ein besondrer Freund von feinen Obstsorten und pflegte mit Meister David oft Propfreiser zu tauschen.

Das kleine Männchen mit der Schnupfernase schaute diesmal etwas verlegen drein.

„Was bringt Ihr gutes?“ redete ihn der Lehenmann an. Der Bitzburger zog ein Sackmesser aus der Tasche und fragte: „Kennt Ihr das?“

„O das ist Gottfried seines,“ rief Elsi freudig. Das Mädchen hatte keine Ahnung von dem Weiter, das es über den Spielgefährten heraufbeschwor.

Nun erzählte der Tabakhändler von seinem jungen Barellenbäumchen, das zum ersten Mal getragen hatte,sieben schöne Barellen. Den zeigte er in seiner Freude dem Goitfried, und der Junge sei so darauf versessen gewesen, daß er sie ihm durchaus abkaufen wollte; er gab sie aber nicht.

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Heute morgen sei er in den Garten gegangen, um sie zu pflücken, da war das Bäumchen leer, und da fand er dies Messer drunter liegen.

„Gotifried!“ rief schallend der Vater; der Knabe erschien sofort, und mit einem Blicke übersah er alles, den Tabakhändler, das verängstete Gesicht der Gespielin und des Vaters richterliche Miene.

„Hast du die Früchte genommen?“ „Ja, Vater!“„Wo hast du sie hingebracht?“ Keine Antwort. Der Lehenmann holte einen Stock aus der Nebenstube: „Willst du es sagen?“ „Nein“.

Nun fiel der Stock unbarmherzig auf den schlanken Knaben, daß er sich bog wie eine Weidengerte, aber kein Laut gab er von sich; als aber der Vater den Stock wegstellte, ging Gottfried mit hocherhobenem Haupte hinaus.

Mutter Lene hatte still am Tisch gesessen; ihr Kiefer zitterte vor Bewegung, aber sie ließ alles geschehen; Elsi hatte den Kopf in ihren Schoß verborgen und schluchzte zum Herzbrechen.

Auch dem Tabakhändler liefen die Tränen über die magern Backen; „Meister Zörnli, Ihr habt Euren Jungen fast entzwei gehauen“, sagte er mit zitternder Stimme.

„Das nächste mal schlag ich ihn tot!“ entgegnete der Vater und ging ohne Gruß davon, und der Bitzburger wankte gebrochen hinaus, als hätte er selber die Prügel erhalten.

Das war ein Sonntag Nachmittag! Gottfried blieb unsichtbar, Elsis Vater verreist, und Zörnlis waren auch nicht gut zu sprechen. Das Mädchen setzte sich auf die Stufen vorm Tusculum, stützte die Ellbogen auf die Knie und [21] das Kinn auf die Hände: „Nein, das ist ein Leben! Erst die Geschichte mit dem Bilde und heute die Prügelsache!Was doch der Mensch aushalten muß, man möchte fast heulen!“

Das tat sie auch, bloß zum Versuch und reckte den Kopf nach rechts und links, ob ihre Töne nicht den Gespielen herlocken möchten; aber der war schon weit weg;die zurückkehrenden Dienstboten hatten ihn auf dem Wege zum Schuldorf angetroffen, wo er die Woche durch bei Lehrers bleiben wollte, sagten sie.

War das wieder ein Streich von dem Friedli! sie begriff überhaupt nicht, wozu er die Geschichte mit dem gestohlenen Obst angestellt, und was er wohl mit den Barellen gemacht hatte.

Diese tiefen Rätsel zu bedenken, schlich sie in ihre Schlafstube hinauf und nahm sich vor, die ganze Nacht wach zu bleiben, bis sie es heraus bekommen hatte; aber als die Mutter nach einer Viertelstunde hinaufkam, lag sie schon in tiefem Schlafe.

Am folgenden Morgen kam Elsi ganz erregt zu Mutter Lene gelaufen und zog sie mit zum Gartenhäuschen. Dort lagen die sieben Aprikosen sorgfältig zwischen Reblaub gebettet im Schatzkämmerchen. Die Lehenfrau blickte das Mädchen an, als wäre ihr nun ein Licht aufgegangen;ihr Gesicht sah gedankenschwer aus.

Elsi unterbrach ihr Sinnen mit der Frage: „Was soll ich mit den Barellen anfangen? Gelt, dem Bitzburger wieder bringen, nicht?“ „Das wirds beste sein; tue ganz nach deinem Willen, liebes Kind.“[]baf

Elsi ordnete sie in ein Körbchen und wandelte damit nach Rosenthal hinunter. Des Tabakhändlers Tür war,entgegen dem Dorfgebrauch, immer geschlossen; sie hämmerte darauf, bis oben durch ein Fensterchen seine Zipfelkappe mit dem weißen Quästchen herausguckte; es nickte über seiner großen Nase, und er fragte fast zaghaft: „Was willst du?“

„Ein paar Worte mit Ihnen reden, Bitzburger; machen Sie auf!“ Und als er sie eingelassen, stellte sie das Körbchen vor ihn auf den Tisch und sagte scharf: „Da haben Sie Ihre Barellen wieder!“

Der Mann sah überwacht aus; des Zörnli Strafgericht hatte ihn sehr mitgenommen, und er fing aufs neue an zu weinen: „Jerum, Jerum, hätte ich doch geschwiegen!“

„Das meine ich auch!“ sagte Elsi mit altkluger Strenge,und der Zerknirschte war eine Weile ganz still. Auf einmal fuhr er auf: „Du bist aber auch Schuld, Elsi; was brauchtest du zu sagen, daß es Gottfrieds Messer war?“

Das Mädchen schwieg erst betroffen, dann fuhr es auf: „Hören Sie, Bitzburger, des Messers wegen sind Sie nicht in der Hitze auf den Mattenhof gelaufen; es ging Ihnen um Ihre Barellen! Wissen Sie, der Gottfried dachte gewiß nicht ans Stehlen, er mußte die Früchte holen, da Sie sie ihm nicht gaben, und das Geld dafür hätte er Ihnen bezahlt! Ich halte nichts mehr auf Sie, Bitzburger, sicher nicht! Ihretwegen ist Friedli gehauen worden, zum ersten mal in seinem Leben,“ so schimpfte sie drauflos.

Der Bitzburger faßte die Geschichte doch nicht ganz so auf; zu welchem Zwecke mußte der Knabe das Obst haben?

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Da ihn aber die kleine resolute Person darüber nicht aufklären konnte, gestand er, wie ihm die Sache die ganze Nacht zu schaffen gemacht, und ihm Goitfried durch seine Standhaftigkeit imponiert habe. Das versöhnte die strenge Richterin wieder, und sie machte den Vorschlag, einen Brief zum Abbitten nachzuschicken, sonst käme der Bub nicht mehr heim.

Da gab er dem Möädchen Papier und Feder und sie kritzelte:

„Lieber Goitfried, es tut dem Bitzburger leid und mir auch; er hat aber einen famosen Reschbeckt vor dir bekommen und du mahnest ihn an Muzius Zewolah, wo seine Hand ins Feuer steckte ohne zu muksen. Vater ist noch fort, und kommst du nicht heim, so gehe ich auch.Gruß vom Elsi und vom Bitzburger.“

Das Schreiben wollte der Schnupftabakhändler durch einen von Goitfrieds Schulkameraden abschicken. Nun schaute er noch immer auf die sammtnen Früchte hernieder, denen man keine Spur ihrer abenteuerlichen Schicksale ansah. Sollte er sie nicht mit dem Mädchen teilen?Es hatte doch den netten Brief geschrieben! Nein, er wollte generös sein: „Elsi! nimm sie mit! Du sollst sie alle haben!“ und er schob sie ihr im raschen Entschluß zu.

Und Elsi ging und sann: „Was fang ich mit den Barellen an? Wäre Vater hier, ich brächte sie ihm;Mutter Lene darf ich nicht damit kommen! Und dem Friedli auch nicht! Was ist mit ihm eigentlich los? Er war sonst nie so bbs! Warum schmiß mich der Zorniggel zuerst so grob an die Wand? Wer weiß, er wirft mir die Früchte vielleicht an den Kopf!“

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Es blieb ihr also keine Wahl, als das corpus delicti aus der Welt zu schaffen, und das tat sie, indem sie es gelassen aufaß.

Der Knabe kam wirklich am folgenden Abend heim;Elsi ging ihm entgegen und folgte ihm neugierig auf den Lehenhof. Goitfried reichte den Eltern wie gewohnt die Hand und auch sie waren nicht anders als sonst; daraus konnte sie nicht klug werden; es schien ihr aber ratsam,ihrerseits auch zu tun, als wäre nichts vorgefallen.

Mehrere Sommer und Winter waren vorübergegangen;Gottfried, schon ein großer Knabe, hatte die Bezirksschule im Nachbardorf verlassen und war nach Liestal übergesiedelt,wo er die Realschule besuchte, beim Organisten Musikunterricht nahm, sowie beim Pfarrherrn das Latein weiter lernte; der Substitut hatte ihn schon alle die Sommer hindurch in diese Sprache eingeführt.

Der Knabe war hoch gewachsen und benahm sich auch wie ein Herr. Elsi konnte ihn nicht mehr ausstehen, wie sie saglte; dennoch war sie stets in seiner Nähe, im Lehenhof daheim und am Steintisch unter der Platane, wo der Substitut sich vom Schüler genau berichten ließ.

Manuel hatte wirklich seinen Beruf verfehlt, als Erzieher hätte er Vorzügliches geleistet. Das hatte er schon gemerkt, als er begann, seine drei Töchter zu unterrichten. Sie waren mit guter Fassungskraft und gutem Willen begabt, er hätte fast gewünscht, daß es ihm schwerer gemacht worden wäre; aber sie waren nun einmal Musterschülerinnen.

Später, als der Knabe seines Lehenmanns und Freundes,der Gottfried, heranwuchs, fand er an ihm ein dankbares

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Objekt; er durfte ihn aber des Winters wegen, wo der Substitut in der Stadt wohnte, der Schule nicht entfremden, und begnügte sich, den Jungen in der übrigen Zeit anzuziehen und durch Anschauungsunterricht zu fördern.Sein Elslein war gewöhnlich dabei, und was sie mit ihrem kleinen, harten Kopfe nicht lernen wollte, nahm sie unbewußt vom Spielkameraden an. So erging es auch mit dem Französischen; anstrengen wollte er die Kleine noch nicht, aber Gottfried brachte ihr spielend alles bei, was er selbst gelernt hatte.

Das änderte sich, als der Knabe in die Bezirksschule versetzt wurde; die war in einem andern Dorfe, und er konnte erst abends wieder auf dem Mattenhofe sein, und das kleine Mädchen langweilte sich ohne ihn und war unartiger als je. Gute Freunde deuteten an, Elsi sollte auch in die Schule kommen, wenn es nur wäre, um Disziplin zu lernen. Aber der Vater hatte seine eigene Ansicht; er selbst mußte die Erziehung des schwierigen Kindes leiten, sie fügte sich sonst keinem.

Der Substitut hatte sich schon früher mit pädagogischen Schriften vertraut gemacht; ihm war Pestalozzi der rechte Führer; durch Liebe und Sanftmut wollte auch er seine Kleine auf den rechten Weg lenken. Einen andern Zweck hatte sein Leben ja auch nicht mehr.

Frau Shybilla beschwerte sich zwar darüber. Wenn das Wetter den Unterricht im Freien nicht gestattete, mußte sie hören, wie schwer es ihrem Gatten wurde, die herumflatternden Gedanken seiner Schülerin einzufangen; wie oft fiel das Buch oder die Tafel zur Erde, oder mit Gepolter sogar der Stuhl; wie konnte Manuel sich quälen; es war [26] ja alles umsonst! Auch sie hatte einen so harten Schädel gehabt, der nichts aufnehmen wollte; man mußte das Kind gehen lassen, ein Mädchen brauchte ja ohnehin nicht so viel zu lernen.

Aber Manuel wurde nicht müde! Tropfen um Tropfen goß er bescheidenes Wissen in der Kleinen Verständnis;aber seine Liebe feierte den größten Triumph, des Kindes Seele schloß sich mit einer wahren Inbrunst an den geliebten Vater an, und er vermochte sogar etwas von dem vollen Strome zu seiner Sybilla hinüber zu lenken. Elsi nahm dem Vater zuliebe ein freundlicheres Wesen gegen ihre Mutter an; im Herzen blieben sie einander gleichwohl fremd,aber das äußerliche Verhältnis wurde doch erträglich.

Am glücklichsten waren beide, Lehrer und Schülerin,wenn sie am Steintische unter der Platane weilen konnten.Es war ein schönes „Lug ins Land“ auf die umliegenden Berge und Hügel und auf Rosenthal mit der Kirche zu Füßen. Hier feierten die beiden köstliche Lehrstunden; ein Blatt, ein Baum, ein Vogel gab Stoff zum berichten;da stieg im Dorfe der Rauch gerade auf in die Höhe oder der Luftstrom trug ihn seitwärts; es bildete sich seltsames Gewölk oder es waren Dachdecker auf einem Hause.Hier sah man ein Begräbnis auf den Kirchhof ziehen;dort schafften Frauen mit hellen Kopftüchern auf den Aeckern oder in den Reben; bald wellte der Wind die jungen, blaßgrünen Kornbreiten am Hügel oder die Frucht fing an zu reifen und wurde alle Tage gelber bis zum bräunlichsten Tone. Die Höhe drüben war von Wald umsäumt; man sah die Landarbeiter vom Felde her sich im Schatten dort niederlassen und „Znüni“ nehmen kurz, der Stoff ging nie aus.

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Nur eines vermißte der Lehrende; er war stärker und deshalb auch bequemer geworden. Wenn seines Elsleins Augen herumwanderten, wäre sie ihnen gerne auch mit den Füßen gefolgt; das konnte der Substitut aber nicht mehr vollbringen. Zum Glücke gab es in den Ferienzeiten einen Begleiter; wenn nicht gerade die Ernte oder andere Verrichtungen den zur Hülfe auf den Lehenhof Heimgekehrten in Anspruch nahmen, ging Gottfried leichten Schrittes mit Elsi den Hügel hinan, besuchte die fernen Höhen, die Dörfer und Schloßruinen, und kamen die Kinder wie ein vergnügtes Geschwisterpaar zurück, so hatten sie viel zu berichten.

„Dieser liebe Bursche!“ fügte der Substitut im stillen bei; „hätte mir das Geschick einen Sohn gegönnt wie dieser müßte er sein, so gesund an Leib und Seele und ebenso reinen Herzens.“

Sein geistiger Vater war er ohnehin; was in dem Knaben schlummerte, hatte er ja geweckt und zur Entwicklung gebracht; Meister David, so gescheit und praktisch er war. konnte das nicht an seinem Kinde herausbilden.

** *

Die Sitzungen am „Philosophentische“, so hatten die Freunde den Steintisch unter der Platane getauft (weil früher oft Diskussionen über philosophische Fragen hier stattfanden), hatten noch immer Anziehungskraft. Mitte des Sommers wohnten ziemlich viel Basler in der Nähe und abends kamen die Herren gerne hier zusammen. Es plauderte sich so hübsch unter dem breiten Blätterdache der Platane, und zum Behagen der Besucher schenkte die Lehenfrau einen ausgezeichneten Roten aus, Rosenthaler 1804.

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Als einheimische Bauerntochter und Rebenbesitzerin war sie von Jugend auf mit der Behandlung des Landweines vertraut, und vom Elternhause her besaß sie noch gute Jahrgänge, die sich mit der Zeit sehr veredelt hatten. Die Gäste pflegten beim Weggehen einen bescheidenen Betrag auf den Tisch niederzulegen, daß sie nicht in Schaden kam.

Wenn auch viele Herren nach den Ferien in die Stadt zurückkehrten, blieben noch immer ein paar Stammgäste.Der eine, Balthasar, der in seinem stattlichen Hause am Tannenberg drüben immer am längsten aushielt, war ein gar hitziger Gesellschafter; damals erregten die politischen Fragen alle Gemüter und man konnte nicht zusammen kommen, ohne sich zu streiten. Der Substitut nahm es mit kühler Gelassenheit auf; er, der Vielbelesene, vielleicht auch der Freisinnigste, betrachtete alles gleichsam aus der Vogelschau. Bei seinem starken Sinn sür Gerechtigkeit ahnte er, daß es zu einem Kampfe und zur Trennung zwischen Stadt und Land kommen müsse; daß sich aber deshalb die Freunde so hitzig befehdeten, war seinem feinen Wesen eine Pein.

Der Besitzer vom Tannenberge schnob Feuer und Flamme gegen die Stadtregierung; der Pfarrherr von Rosenthal aber, ein Vetter der Substitutin, gehörte, wie die meisten Geistlichen, mit Leib und Leben der Stadt.

Wenn diese beiden Geister aufeinander platzten, der eine schäumend vor Zorn, der andere mit ruhiger Wucht, konnte mans erleben, daß der „Balzer“, so nannte man ihn vertraulich, seinen Zinnbecher heftig auf den Tisch warf und mit dem Rufe davonstürmte: „Mich seht ihr nicht wieder!“

Lange hielt ers aber nicht aus; schon am zweiten Tage []*8 pflegte er sein Kommen durch Heraushängen einer weißen Friedensfahne anzumelden. Man sah nämlich vom Philosophentische gerade auf den Giebel des Tannenberghauses,das zwischen hohen Pappeln stand, und der Balzer seinerseits konnte mit seinem guten Perspektiv alles beobachten,was unter der Platane vorging. Saßen dann die andern,der Pfarrherr und der heitere Doktor von Rosenthal und der Meister David fröhlich bei Manuel, brachte er, der einsame Junggeselle, in seiner verbohrten Stimmung einen grimmigen Abend zu.

Am meisten neidete er dem Lehenmann, dem Zörnli,dem Herren- und Pfaffendiener! seinen Vorzug und daß man ihn sogar rief, wenn er nicht von selbst kam. „Nach mir fragt kein Teufel, wenn ich auch ganz wegbleibe!“grollte er.

Das war richtig, Meister David durfte nicht fehlen;er sprach zwar selten und blieb trotz seiner Liebe und Anbetung für Manuel entschiedener Anhänger der Siadt,und in der streng-religiösen Richtung war er eins mit dem Pfarrherrn.

Er stand auch fest zu seiner Ansicht, stritt jedoch nie;es schmerzte ihn aber tief, daß der Freund, den er als sein Höchstes auf Erden verehrte, in dieser Beziehung so unzugänglich war.

Befand sich Gottfried an solchen Abenden zu Hause,versah er Ganymeds Dienst und paßte dabei auf das Gespräch der Herrn. Er hatte in Liestal so manches zeitgemäße Wort gehört; ihn zog es zu der freidenkenden Partei, und im stillen war er sogar ein angehender kleiner Rebell, schon von der Zeit her, wo er sich zum Lauschen [31]33

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hinter dem breiten Rücken des Vaters versteckt hatte; jetzt ftand er zunächst horchend unter der Platane und in seinem Beifall oder mit Ablehnung.

Der Substitut hatte seine Freude an dem jungen Burschen; dem Lehenmann aber bangte im stillen. Er hatte sich den Sohn anders erhofft, der Tradition der Väter gemäß, einen streng Gläubigen und Getreuen der Stadt mit Leib und Seele. Und nun mußte er erleben,daß der Sohn auch die Mutter in die Irre lockte. Uebermäßig fromm war sie nie gewesen; jetzt hatie der Knabe leichtes Spiel, denn sie war von ihm vollständig hingenommen, und er selbst hatte keinen Einfluß mehr auf ihr Denken. Aber klagen durfte er nicht, denn beide,Mutter und Sohn, erwiesen ihm ihre Achtung und Liebe wie gewohnt.

Nur eine schimpfte tüchtig über Gottfried“ Der war kein Spielkamerad mehr, er hatte jetzt immer Wichtigeres zu tun. Dennoch lief sie ihm auf Schritt und Tritt nach;sie mochte ihn nur noch leiden, „weil ihn Vater so furchtbar gern hat“, so meinte sie.

* * *

In den letzten zwei Sommern hatte sich der Freundeskreis am Philosophentische allmählich gelichtet; die Basler Bekannten kamen wohl noch einzeln den guten Manuel besuchen, aber er war doch zu leidend, um Gesellschaft zu ertragen.

Wie es nach und nach gekommen, seit er sein tägliches Schöpplein im „Bären“ aufgegeben, darauf besann er fich nicht mehr recht. Jetzt saß er in seinem großen Lehnstuhl [31] mit den Ohrklappen, einen Polsterschemel unter den Füßen und eine Decke über sich gebreitet Der Frau Syhilla Kraftsüpplein und die frischen Eier, alle die Hühnerbrühen nichts wollte anschlagen; sein Leiden nahm langsam überhand und die Asthmaanfälle kamen immer häufiger.Er tröstete sich aber mit seinem Nachbarn vom Tannenhofe; der Balzer lag grimmig auf einem Ruhbett und fluchte auf seine eingewickelten Füße; wenns hoch ging,konnte er in großen Filzstiefeln ein wenig herumschlurfen.Seine Hauptbeschäftigung bestand daraus, das Perspektiv auf und zuzuschieben, durch welches er den ganzen Tag nach dem Mattenhofe hinüber „glurte“. Manuel hatte zwar den luftigen Platz am Hügelrande verlassen und saß,von Wandschirmen umgeben, weiter zurück; aber man sah doch, wenn ihn David hinaus- und hineintrug.

Wenn der Tannenberger ein borstiger Patient war,der vom Morgen bis Abend kollerte, blieb der Substitut dagegen immer derselbe, gütig und liebenswürdig; der Arzt hielt dem Balzer öfter seinen geduldigen Freund als Beispiel vor; doch er ließ das nicht gelten; der Manuel hatte sein liebes, lustiges Töchterchen; da wars leicht, brav zu sein. In der Tat, Elsi war ihrem Vater die kleine Freundin und Pflegerin, ihrem kindlichen Können gemäß.

Da er sie nicht weiter unlerrichten konnte, ließ er sich täglich von ihr vorlesen, und das Mädchen kannte nichts höheres, als bei ihm zu sitzen. Sie war etwas gewachsen,und wenn auch nicht hübsch, doch sympathischer geworden;ihm aber, dem Substituten, war sie das Liebste und Schönste, was es auf Erden gab. Auch im Umgange mit [322] der Mutter hatte sie sich gebessert, es war doch wenigstens ein friedliches Verhältinis zwischen beiden.

Für den Kranken warens glückliche Tage, wenn Gottfried heimkam; er lebte nun im Lehrerseminar zu Muttenz,und da der Vorsteher, ein Basler Pfarrherr, in der Musik sehr bedeutend war, hatte er den begabten Jüngling in seine besondere Obhut genommen. Gottfried besaß eine schöne Stimme; schon da er noch in Liestal war, hatte er seinen Lehrer, den Organisten, durch seine musikalische Begabung überrascht.

Jetzt wurde er oft Sonntags berufen, in den Dörfern die Orgel zu spielen; zuweilen mußt er in der Stadt bei einem Konzerte mittun; so kam er selten auf den Mattenhof. Desto größer war die Freude, wenn der sehnsüchtig Erwartete erschien; seine Alten ließen es gerne zu, daß er fast die ganze Zeit beim Kranken saß, mit dem er ein Herz und eine Seele war. Lang würde es ja nicht mehr dauern, das lag auch in den kummervollen Mienen des Jünglings, wenn er wieder zu den Eltern hinüberkam.

Es war damals eine gährende Zeit. In dem strengreligiösen Seminar entwickelten sich gerade entgegengesetzte Elemente; die jungen Männer neigten nicht bloß zum Freisinn, sondern zu entschieden rebellischer Gesinnung gegen die Stadt.

Meister David, der treu gesinnte, litt sehr darunter;sein Sohn war ihm über den Kopf gewachsen und ging seine eigenen Wege. Die Mutter sah es aber mit strahlenden Augen, Gottfried blieb ja immer derselbe liebevolle,bescheidene Junge; nach ihrer Meinung war er im Recht und wenn ihn der Substitut nicht tadelte, mußte ihr Sohn doch das Richtige gewählt haben![]2V

*

Der arme Substitut! Krank kehrte er im Herbst in die Stadt zurück und hatte den ganzen Winter nur eine Sehnsucht: wieder auf den Mattenhof! Meister David war selbst zur Stadt gefahren, den Kranken zu holen und auf seinen starken Armen in die alte, gelbe Kutsche zu heben; Manuel hatte ein solches Verlangen nach ihm gehabt, daß des Arztes Bedenken davor zurücktraten. Und nun saß der Patient wieder im großen Lehnstuhl, von Kissen unterstützt, in Decken gehüllt im warmen Sonnenschein; es war zufällig ein recht heißer, trockener Sommer,und die gute Landluft schien ihm wohl zu bekommen.

Die Ernte war eingebracht; noch immer dauerte die Hitze. Wenn zwei zusammen redeten, sprachen sie über die Trockenheit, die alles verdarb, und ein Gebet um Regen war angeordnet; wer am Sonntage konnte, ging in die Kirche. Auch der fromme Lehenmann hatte seinen lieben Substituten recht bequem in die Kissen gebettet und ging,sein Gesangbuch, den „Pfarrhofer“, unterm Arm, den Fußweg hinab; Elsi folgte ihm.

Oben horchte der Kranke still dem Kirchengeläute; auch das Orgelspiel und der Gemeindegesang tönte bis zu ihm hinauf, und er bekam Hunger nach geistiger Speise;Sybilla mußte ihm die alte Bibel holen. Die war aber groß und schwer; seine schwachen Hände konnten sie nicht halten. Da bot sich die Substitutin an, ihm vorzulesen;er bat um den 103. Psalm.

Bis sie ihn nach langem Blättern gefunden, stand ihm vor Ungeduld schon der Schweiß auf der Stirn; sie hatte das Buch gegen die Mitte des Tisches geschoben, denn

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Buchstabieren, es war zum erbarmen. Sie fühlte es mit tiefer Zerknirschung; weun ihr doch der liebe Gott helfen würde! Es geschah aber nichts dergleichen, und während sie lesend mit dem Zeigfinger Wort für Wort begleitete,wand sich ihr Mann vor Qual; um sie nicht zu kränken,schwieg er still! Es kam aber doch Hilfe!

Auf einmal rief der Substitut mit einem frohen Aufseufzen: da kommt der „Seminarist!“

Eben war Gottfried den Weg hinaufgekommen; erst stand er wie erstarrt; der Kranke hatte sich so furchtbar perändert! Dann warf er den Hut beiseite und schritt lebhaft auf den Substituten zu, wie Gabriel der Erzengel,dachte dieser, und er bewillkommte ihn auch wie einen Himmelsboten.

Frau Sybilla hatte sich hinter den dicken Stamm der Platane zurückgezogen, sie war innerlich zerschmettert; wie hatte sie ein langes Leben um Manuels Zuneigung geworben, und nie war ihr solcher Willkomm geworden;nun erschien dieser junge Bauer und wurde wie ein Herzenssohn aufgenommen. Und abseits schluchzte sie leise in ihr Tuch, daß er es nicht höre.

„Liebe Mama“, rief da seine Stimme, „komm schüttle mir die Kissen auf; Gottfried will mich besser beiten.“Und sie kam, und der Kranke legte seine Arme um des Burschen Nacken und ließ sich langsam von den jungen,sorgfältigen Händen aufheben; wie alles wieder in Ordnung war und Gottfried seine liebe Last auf den Sitz niederließ, kam der Jüngling der Stirne des Kranken so nahe, daß er aus einem warmen Impuls einen innigen stuß darauf drückte. Verwirrt über seine Keckheit, erhob [725] er sich, aber der Substitut flüsterte: „Mein Sohn, mein lieber Sohn“, und sah ihn mit einem so liebevollen, dankbaren Blicke an, daß der junge Mann ihn im Leben nicht mehr vergaß. „Du kommst sehr gelegen“, fügte er bei,indem er auf das Bibelbuch wies; „bitte den aufgeschlagenen Psalm!“

Da las Gottfried mit seiner zu Herzen gehenden und wohllautenden Stimme; Sybilla hörte es zerknirscht an.Warum hätte man sie dergleichen nicht gelehrt?

Dann wünschte der Substitut noch das Lied: Befiehl du deine Wege; „gelt, das singst du mir, nicht wahr,mein Sohn?“

Und Gottfried ging einige Schritte weiter und sang alle Verse durch. Er hatte sich so gestellt, daß der Ton in das Freie schalle und den Kranken nicht anstrenge.Es klang auch weit hinaus in dieser Sonntagsstille.

Von einem der Seitentäler her erschienen auf zwei Leiterwagen fröhliche, junge Leute mit Singen und Jubeln;sie unterbrachen auf einmal die lärmende Fahrt und die Teilnehmer lauschten, bis das Lied zu Ende war.

Und noch eine hatte es gehört, Elst! Sie fühlte sich heute so beklommen; die Kirche war des angeordneten Gebetes wegen dicht angefüllt, da hinein mochte sie nicht und ging deshalb auf den Gottesacker daneben, setzte sich auf ein Grab und fragte sich: „Was ist denn mit mir,daß ich so betrübt bin?“

Die zwei Fuhrwerke hatte sie gesehen und gehört; die standen plötzlich stil wie auf Kommando. Warum?

Da schallte auch zu ihr Gottfrieds Gesang, und unbewußt faltete sie die Hände: das war wie in einer Kirche!

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Die Stille überall, kein Vogelton, nur die Falter wiegten sich über den Blumen auf den Gräbern, und ihr erschien es wie eine Stimme vom Himmel, sie vergaß fast, daß es die ihres Jugendgefährten war.

Der Sänger hatte geendet; der Kranke schien eingeschlafen zu sein; Gottfried wußte es besser, der Substitut wollte nicht mehr sprechen, „das ist der Abschied“, sagte sich der Jüngling und ging traurig davon; da öffneten sich die vorher geschlossenen Augen und folgten ihm mit heißer Liebe und Wehmut. Der Jüngling fühlte es in seine Seele hinein, er wagte aber nicht, sich umzublicken.

Nachmittags schickte der Substitut Elsi hinüber: David soll kommen. Zörnlis saßen eben in ernster Stimmung beisammen, Frau Lene sah verweint aus. Das Mädchen machte große Augen: „Habt Ihr Euch mit Gottfried, dem Revoluzzer, gezankt?“ fragte sie; es kam wohl hie und da vor in letzter Zeit.

Frau Zörnli blickte sie mitleidsvoll an: das arme Kind hatte gar keine Ahnung davon, was ihm in kurzem bevorstand.

Während dann der Jüngling mit dem Mädchen einen Spaziergang machte es kam jetzt selten von Hause weg hätten die beiden alten Freunde eine ernste Unlerredung.Ueber den Kranken war plötzlich eine angstvolle Unruhe gekommen; er wollte heim in die Stadiwohnung, und David sollte alles vorbereiten. Diesem waren alle Wünsche des Kranken Befehle: er werde gleich Montags die gelbe Reisekutsche instand stellen lassen und Dienstag früh könne dann die Abreise erfolgen.

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Bisher hatte Manuel noch keine Aeußerung über seinen Zustand getan, und Zörnli schwebte in beständiger Angst.das geliebte Leben möchte auslöschen, ohne daß der Kranke seinen Frieden mit Gott gemacht habe. Jetzt aber, wo er selber sagte, es gehe zu Ende, durfte David auch reden,und er bat dringend, den Pfarrer herbitten zu dürfen, daß er ihm das Abendmahl reiche. Er mußte sich aber auf die Stadt vertrösten lassen; dort wollte dann Manuel,wenn das Irdische im Reinen war, die heilige Handlung in Ruhe begehen; er sprachs nicht aus, aber David merkte es doch: ihm, dem alten Freunde wollte er es zuliebe tun.

Viel schwerer lag dem Substituten das Irdische auf dem Herzen. Was wollte er noch anordnen, wo doch nichts mehr vorhanden war als Schulden? „Ich bin allezeit ein schlechter Haushalter gewesen“, sagte er zu Meister Zörnli,„das ist von den Eltern ererbt. Und meine arme Sybilla,die lebte auch immer in den Tag hinein; sie wird es gar nicht fassen können, wenn alles über sie hereinbricht! Wie dank ich dir, daß du mich immer daran mahntest!Sie ist doch so weit sicher gestellt, daß sie kein Bettelbrot essen muß, wenns auch armselig genug ist. Meine Töchter sind ja versorgt und sie haben seinerzeit mehr bekommen als ich verantworten kann; dafür bleibt meinem lieben kleinen Mädchen nichts! gar nichts!“

David tröstete: „Darum sorge dich nicht, lieber Manuel,„Elsi ist unser wie Gottfried. Und sollte es sich nicht fügen, du weißt, was ich meine! wird unser Sohn an ihr treu sein wie ein Bruder.“

„Ich weiß, ich weiß! als ob ich nicht selbst alles aus deiner Hand angenommen hätte wie ein Kind vom Vater?

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Und alle Zeit hindurch, wo ich zu feig war, Sybilla aufzuklären, da habt ihr unsern Haushalt aufrecht gehalten;und deine Meisterin! Wo gibt es eine wie sie? Mit vollen Händen gab sie, ohne Dank oder Anerkennung zu finden; meine Frau wird es später einsehen. Liebe, treue Mutter Lene!“

Umsonst hatte der Freund gebeten; der Substitut wollte nicht schweigen; er hatte noch etwas auf dem Herzen:„Ich verlange noch einen Liebesdienst von dir, David!Wenn wir in der Stadt sind, kommst du mir zuhilfe.Du weißt, mein Schuldenverzeichnis ist gemacht. Damit gehst du zur Tante Reiffenstein; sie ist zu stolz, einen Blutsverwandten fallen zu lassen. Aber einen Kampf wirds kosten! Wenn ihn einer ausfechten kann, bist dus! Willst du? Und dann sprich ein gutes Wort für mein Elseli!Sie hat das Kind immer gern gesehen, weil es ihrer verstorbenen Esther gleicht. Vielleicht hätte sie sich mit mir versöhnt, wenn man ihr die Kleine mehr gelassen hätte;aber Sybilla haßt ja alles, was Reiffenstein heißt.“

Manuel hatte sich so aufgeregt, daß er im Fieber zitterte; sein guter David nahm ihn auf die Arme und brachte ihn zu Bette, wo der Ermattete sogleich in Schlaf verfiel.Tags darauf saß der Kranke wieder draußen; der Windschirm schützte ihn vor dem Luftzug, der von Westen her kam und Regen zu verheißen schien. Leichtes Gewölk türmte sich auf; das dürre Laub flatterte von den Bäumen wie im Herbst, und doch wars erst August.

Manuel schaute mit heißen Augen in die vertraute Landschaft, die sich wie zum Abschied leicht verhüllt hatte.

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Von der Platane sank ein Blatt ums andere zu Boden;ein besonders großes wehte sanft nieder und legte sich wie ein Gruß des alten Baumes auf seine wachsbleichen Hände.Er nahm es auf und betrachtete die vollendete Form, das schön gezeichnete Geäder, das sich in die Mitte noch gegen das leuchtende Gelb zu sträuben schien; grüne Lebenskraft kämpfte da um das Vergehen: bloß ein Hauch noch, wie bei ihm, dem Kranken.

Er hielt das Blatt am Stile fest und dachte daran,wie es im Frühjahr gekeimt und getrieben und seinen Platz zwischen den Brüdern gefüllt hatte. Das brachte ihn auf seine eigene Kindheit und Laufbahn zurück. Man kann in wenig Minuten ein ganzes Leben an sich vorüberziehen lassen.

Als schwaches Keimlein war er seinen Eltern erst in spätern Tagen geboren; sie hatten vor ihm drei Kinder begraben, und ihre Aengstlichkeit für den Jüngsten ging nun über alles Maß hinaus. Nie durfte er mit andern Kindern spielen; seine französische Bonne war seine einzige jüngere Gesellschaft. Umso mehr erschien ihm der Mattenhof wie ein Paradies; hier brauchte er nicht immer an Mamsells Hand zu gehen. Der pausbackige, fröhliche und doch nicht wilde Pächtersknabe wurde von den Eltern gewürdigt, der Spielgenoß ihres Manuels zu werden.

Dadurch nahm die Liebe zwischen beiden ihren Anfang,und das Lehensöhnchen nahm dem feinen Knaben gegenüber das Mütterliche an, das er ihm sein ganzes Leben lang widmete.

Beide Kinder lernten auch zusammen, erst bei der Welschen, später bei einem Hauslehrer. Wenn aber die

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Herrschaft im Herbst zur Stadt zurückkehrte, besuchte Pächters David die Dorfschule. Da kam es oft vor, daß der Lehrer dem gescheiten Buben das Schulmeistern überließ. Er selbst hatie eine größere Familie und mußte mit Posamenten dem kleinen Gehalt aufhelfen.

Von diesem Schulhalten wußte David dem Baslerbüblein so viel zu erzählen, daß Manueli ihn beneidete;er wollte, wenn er einmal groß war, auch Schulmeister werden.Damals kam Tante Sabine Reiffenstein viel nach dem Mattenhofe. Sie hatte noch ein Guthaben daran, das nie zur Auszahlung kam; darum erschien sie jeden Sommer mit ihrem Töchterlein Esther, ihre Zinsen in natura zu verzehren, „verfressen“, wie sie sagte. Sabine war eine derbe, rasche Frau und nahm kein Blatt vor den Mund;da kam es oft zu stürmischer Unterhaltung.

Einmal waren sie so aneinander geraten, daß sie im Zorn zusammenpackte und nach dem Lehenhofe übersiedelte,wo auch Gastzimmer zu haben waren. Geschenkt sollte es ihnen darum nicht sein! Sie setzte einen verwaisten Knaben aus ihres Gatten Familie an ihre Stelle und lachte schadenfroh; denn Louis Reiffenstein war ein lang aufgeschossenes, hageres Bürschchen, und solche „habens wie die jungen Hund, mögen fressen alle Stund“, sagte sie.

Es fiel aber ganz anders aus, als sie erwartet hatte;der aufgedrungene Gast war ein gescheiter Junge, welcher die Herrschaft famos unterhielt. Er hatte sich beizeiten gute Manieren erworben und strebte überall darnach, beliebt zu werden; denn er hatte es hoch im Kopf.

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Dem Manuel merkte ers gleich an, daß es ihm bei den Eltern zu enge war, und er sich nach der Schule und dem Verkehr mit Altersgenossen sehne; denn er horchte mit leuchtenden Augen, wenn Louis vom Schulleben erzählte,und er tat das mit kluger Auswahl; er wollte dem netten Knaben zur Erfüllung seines Wunsches helfen.

Es gelang ihm auch, zu Frau Sabinens größtem Sitaunen: Manuel sollte zum Herbst in die Schule, und Louis hoffte, in seine eigene Klasse. Des Hauslehrers Unterricht hatte ihn sogar weiter gefördert, als Louis gekommen war; doch mußte man sich nach den Lehrfächern der Anstalt richten, und Manuel bekam deshalb Nachhilfestunden. Im Herbst trat er dann ein.

Die Eltern bestimmten noch, daß Louis bei ihnen wohnen solle, was dem ehrgeizigen Knaben die erste Staffel zum Glücke bedeutete. Es war aber nicht bloß Eigennutz bei ihm; er mußte Manuel lieben, wie jeder,der mit ihm in Berührung kam, selbst die bärbeißige Tante war von seinem lieblichen Wesen gefesselt; noch mehr aber ihr Töchterchen Esther, seine kleine Herzensfreundin.

Während der Substitut so still unter der alten Platane saß, zog sein ganzes Leben an ihm vorüber: die Schulund Studentenjahre mit dem treuen Louis, der ihn väterlich umsorgte und hütete.

Als sie beide ihre Studien absolviert hatten, empfing man sie auf dem Mattenhof wie preisgekrönte Sieger!Da entstand ein Festleben! Alle Tage Gäste, welche den zu seltener Schönheit aufgeblühten Jüngling bewunderten.

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Auf seinen Mentor Louis fiel auch manch wohlwollender Blick; dieser verstand auch seinen Vorteil und begegnete ältern Leuten mit ausgesuchter Bescheidenheit. Bet der Jugend wußte er sich zu behaupten, obschon die Mädchen ihn nicht ausstehn konnten: der hagere Mensch mit dem eckigen Gesicht und moquanten Lächeln sah neben dem schönen Manuel zu widerwärtig aus. Er nahms gelassen,wenn der schöne Besuch den Haussohn umschwärmte, und er leer ausging; er würde später auch „Einer“ und dann kam „seine Zeit“.

Manuel mußte in Gedanken an jene Tage lächeln.Da saßen hübsche, junge Mädchen um den Stammtisch,machten Filet oder stickten, und er lehnte am Stamm der Platane ein bischen eitel war man doch und spielte den Gästen zur Unterhaltung Flöte: Arien aus Opern,bekannte Lieder, auch eine Allemando oder einen Walzer;dann standen die zierlichen Jungfräulein auf, umfaßten sich und tanzten einen Reigen um den Tisch herum; zuweilen sangen sie auch, zum Beispiel: „Ich Mädchen bin aus Schwaben“, oder „Die Stationen des Lebens“, ein Extrapostlied; wohl auch Webers Ständchen:„Wenn die Racht mit süßer Ruh

Längst die Müden lohnet,

Geh ich auf das Hüttchen zu,

Wo mein Mädchen wohnet,

Wünsch ihm noch um Mitternacht

Eine süße, gute Nacht.“

Nachher spielte Manuel auf der Flöte Variationen zu der Melodie; sie waren der einen zugedacht, die so unscheinbar und heiter lächelnd unter den Gefährtinnen saß;[45] denn ihr, der Bescheidensten, gehörte das Herz des schönen Flötenspielers zu eigen. Ach! er war nur zu empfänglich für die Huldigungen auch der andern Jungfräulein! Dennoch wußten beide, sie würden einmal Mann und Frau werden.

Leider hatte Mutter Sabine die unglückliche Idee, ihre Esther noch ein Jahr ins Institut zu schicken; diese Trennung war den Liebenden verhängnisvoll. Manuels Eltern sahen ohnehin diese Verbindung nicht gern; ihre Pläne gingen höher hinauf; die Schönste und Reichste nur durfte seine Gattin werden: das war die gefeierte Sybilla, das einzige Kind eines vermögenden, einflußreichen Mannes.

Bis jetzt hatte die stolze Tochter schon einige Anträge abgewiesen; als sie jedoch Manuel zum erstenmal sah,erklärte sie: „Dieser soll es sein!“ Ihr Vater mußte mit des jungen Mannes Eltern Verbindungen anknüpfen, und diese kamen ihm freudig entgegen. Einladungen erfolgten von beiden Seiten, Sybilla sah täglich den ihr so liebenswert erscheinenden Manuel, und dieser war nicht geartet,der werbenden Inklination eines so schönen Mädchens zu widerstehen. Beide waren noch jung zum heiraten, dennoch fand die Hochzeit in Kürze statt.

Damals prophezeite ihnen jedermann eine glänzende Zukunft, denn Sybillas Vater besaß die Klugheit und die Macht, den Tochtermann zu fördern. Zunächst wurde Manuel als Substitut an einem Gerichte angestellt; dem Reiffenstein verschaffte er einen Posten, damit dieser dem jungen Manne in allen Fällen als Stütze beistehe; denn er hatte es gleich erkannt, Manuel paßte nicht für seinen Beruf.

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So glaubte er bestens für das Wohl seiner Kinder gesorgt zu haben; da traf ihn ein schwerer Schlag. Die französische Revolution war ausgebrochen; er hatte sich tief in finanzielle Unternehmungen eingelassen und verlor in Frankreich den größten Teil seines Vermögens. Um den Schaden zu decken, wagte er zu spekulieren; aber auch da verfolgte ihn das Mißgeschick. Sorge, Aufregung und Verluste verdüsterten allmählich sein Gemüt, und er mußte als schwerkranker Mann in die Stille zurücktreten.

Der Schlag beugte Manuels Eltern am meisten. Ihre glänzenden Aussichten für den Sohn waren nun zerstoben.Der Substitut suchte sich in seiner Stelle einzuleben, aber diese Geschäfte waren ihm zuwider. Während Louis beim Eintritt der helvetischen Verfassung sogleich einen höhern Posten erreichte, konnte er sich nicht in das neue System finden, und schließlich rieten ihm die Alten selber zum Rücktritt.

Er blieb aber unter seinen Bekannten „der Substitut“zum Unterschiede von einem Altersgenossen und Freunde,welcher denselben Vor- und Zunamen trug.

In den nächsten Jahren verbrachten die Alten und die Jungen den größten Teil der Zeit auf dem Mattenhofe,und Spbilla fand sich leicht in das stille Leben. Troß vieler Verwandten besaß sie keine einzige Freundin und empfand nie ein Bedürfnis nach Verkehr, weil sie vollständig in der Haushaltung aufging. Sie führte dieselbe nach der im Vaterhause gewohnten Art.

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Dem Substituten wars hier auch am wohlsten, da er bor einer Begegnung mit Reiffensteins sicher war. Tante Sabine geriet in Wut, wenn sie eins von der „Sippschaft“erblickte; ihre Tochter hingegen trug den Abfall mit Sanftmut und Würde; sie wußte, daß ihr Jugendfreund am meisten darunter litt; Sybillas blendende Erscheinung konnte ihn nicht lange über ihre Leere täuschen. Dafür stand Esthers verklärtes Bild auf dem Altar seines Herzens,besonders seit sie, wie ihr Vater einst, unerwartet an einem Herzschlage gestorben war.Manuels Eltern mußten auch aus dem Leben scheiden;dem jungen Paare erwuchsen drei Töchter. Nun fand Manuel seinen Beruf und Wirkungskreis; mit einer unvergleichlichen Sorgfalt erzog er die schönen, begabten Mädchen.

Als diese rasch hintereinander heirateten, nahm die nachgeborne kleine Elsi seine ganze Erziehungskunst in Anfspruch. Das Kind war schwierig zu behandeln, um so heißer schloß ers ins Herz. Und wie sie der verstorbenen Esther giich! Dieselbe Größe! Das gleiche dunkle Haar! Kam nicht die Verklärte eben durch den Baumgang geschritten? Nein! es war ja sein Mädchen, das Elseli!Das hüpfte sonst wie ein Füllen oder stapfte mit den Absätzen trotzig auf; jetzt kams sanft herbei und kauerte sich zu seinen Füßen, und zärtlich ihm in die Augen blickend, fragte es: „Ists denn wahr, Väterchen, du wollest diese Woche noch in die Stadt ziehen? Armer, kranker Vater, es wird dir dort wie einem Gefangenen zwischen bier Wänden zumute sein!“

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Der Substitut zuckte schmerzlich zusammen; er dachte an die vier Bretter, die ihn in Bälde einschließen würden.Elsi hielt ihm in liebreichem Schelten vor, wie unrecht er tue, den schönen Mattenhof jetzt schon zu verlassen, um die enge Stadtluft einzuatmen; die roten Bäckchen würde er dann verlieren und seinen glänzenden Blick.

Von seiner Genesung redete sie, von der Freude, wieder mit ihm am Philosophentische zu sitzen. So lange hatte er sich mit ihr abgemüht! Nun sollte er sehen, wie sie eifrig sein werde! Sie plauderte so unbefangen, und ihm brachs fast das Herz

Tändelnd verglich sie seine blassen, durchsichtigen Hände mit ihren braunen Tätzchen; die müßten wieder rund werden, wie früher, und der grämliche Zug im Gesichte sollte verschwinden. Ich will, wie immer, den schönsten von allen Vätern haben! Aber, was ist das? Um Gotteswillen, Vater ..!“

Der Substitut war plötzlich in sein Kissen gesunken;er zitterte wie im Froste. Elsit schrieb es dem kühlen Lüftchen zu und stellte die Windschirme dichter um seinen Lehnstuhl. Da kamen schon die Rosen wieder auf seinen eingefallenen Wangen und Elsi schwatzte zärtlich weiter.

Ihm aber verwirrten sich die Gedanken im Fieber;er schaute mit brennenden Augen auf sein Kind: wars Esther? oder wars Elsi? Die beiden Gestalten zerflossen ihm in eine; er stammelte ohne Zusammenhang! „Ach Gott, er kennt mich nicht mehr!“ schrie Elsi * mnd wie ein Blitz kam ihr die Erkenntnis: der Vater tirbt

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Sie warf sich jammernd über den Kranken, als vermöchte sie mit ihren festen, jungen Armen das entfliehende Leben zurückzuhalten. Sie weinte laut! Das hatie sie seit ihren ersten Kindertagen nicht mehr getan.

Wars ihr Schluchzen oder der körperliche Schmerz,den ihm die heftige Umklammerung verursachte er erwachte wieder zum Bewußtsein und zur schwersten Stunde seines Lebens: das ungestüme, verzweifelnde Kind, das ihn nicht lassen wollte! Der Tod mit seinen Schrecken schien ihm mild gegen diese Qual, die ihm das Herz zerfleischte!

Zum Glück eilten von zwei Seiten Sybilla und David herbei. Letzterer zog das Mädchen weg und bat es eindringlich, dem Substituten keine Aufregung mehr zu verursachen; er hätte sofort den Tod davon haben können.Und Elsi flog hinauf in den einsamen Wald; da durfte sie doch ihren Schmerz hinausschreien.

Jungen Herzen kann man die Hoffnung nie ganz nehmen. Als sie dem Vater „Gute Nacht“ sagen durfte,fand sie ihn wieder gelassen in den Kissen gelehnt, und er gab ihr liebreich die Hand und sagte: „Schlaf wohl,liebes Kind!“ wie er jeden Abend tat, und doch wars heute das letztemal.

Es hatte in der Nacht geregnet; der Staub auf der Landstraße war gedämpft und die Luft still. Alles traf zusammen, um dem Kranken die Abreise zu erleichtern;sogar die Nacht hatte ihm Schlaf gebracht. Nun saß er,schon frühe, in seinem Lehnstuhl, an welchen man Stangen gebunden hatte; David und sein Meisterknecht Hansli trugen [48] ihn das Sträßchen hinunter; die Frauen hatten mii Fläschchen und allerlei Stärkungsmitteln den kürzern Fußweg genommen.

Elsi war zum Glücke nicht aufgewacht. Aus ihrem Fensterchen in der Eckstube oben wehte der kleine Vorhang wie zu einem Scheidegruße; Manuel blickte hinauf, so lange ers sehen konnte; jetzt sah er nur noch das alte,bucklige Dach, jetzt die liebe, breitästige Platane, und nun mußte er die Augen schließen: das Rückwärtstragen, so vorsichtig es geschah, verursachte ihm Schwindel.

Unten wurde er in den bereitstehenden Wagen gebettet,Sybilla setzte sich neben ihn. Meister David sah noch nach,ob das Riemenzeug an den drei Pferden in Ordnung sei,Hansli stieg auf den Bock und dann setzte sich das Gefährt langsam in Bewegung.

Dicht hinter der Substitutenkutsche, die hernach nie mehr in dieser Gegend gesehen wurde, fuhr der Arzt mit Zörnli. In Liestal war alles vorausbestellt; am Eingange warteten zwei Spitaldiener mit einem Tragbette; denn auf das bekannte holperige Gassenpflaster durfte man sich mit dem Kranken nicht wagen. So trug man ihn hinter dem Städtchen durch.

Einmal, als Manuel aufblickte, sah er Gottfried nebenher gehen. Sein Gesicht leuchtete einen Augenblick auf;aber er war nicht imstande, ein Zeichen zu geben; er nahm auch keine Notiz davon, als man ihn wieder in den Wagen legte.

Jetzt setzte sich David auch in die Kutsche. Es waren frische Pferde eingespannt und rasch gings der Stadt zu,wo die tags vorher gesandten Mägde alles vorbereitet [49] hatten. Der Arzt wartete schon, auch die Töchter mit ihren Gatten; sie konnten aber den Vater nicht begrüßen.

Mutter Lene hatte schweren Herzens den Weg zum Mattenhofe erstiegen. Ihr bangte so sehr vor der Frage des Mädchens, warum man sie zurückgelassen habe. Mehrmals hatte sie vor Elsis Bett gestanden und hatte nicht den Mut, es zu wecken: „Schlafe nur, armes Kind!“flüsterte sie.

Aber nun war die Zeit doch gekommen. Elsi nahms viel ruhiger, als sie gedacht; aber sie wollte zu Fuße nachfolgen, weil im Wagen kein Platz für sie gewesen war.Nur des Vaters Gebot konnte sie zurückhalten; sie versprach zu warten, bis ihr Bericht geschickt würde.

Am Tage nach der Uebersiedlung nach der Stadt schien sich der Substitut wohler zu befinden, und David begab sich auf den Weg zu Frau Reiffenstein. Diese wohnte im zweiten Stocke eines großen Hauses. Meister Zörnli setzte mehrmals den Klopfer an der Haustür in Bewegung es rührte sich nichtz. Oben an den Fenstern waren Spiegel angebracht, sogenannte Spione, in denen man die Einlaßbegehrenden revidieren konnte. Da drin erschienen Gesichter und verschwanden wieder; David sah daraus, daß man ihn mit Absicht nicht hörte und daß sich diese Tür für ihn nicht öffnen würde.

Er war aber nicht der Mann, sich abschrecken zu lassen,und schlug den Hammer nur kräftiger auf. In der Nachbarschaft öffneten sich die Fenster; neugierig und unwillig zugleich iönten Reden über die Straße: er stand wie eine Mauer und klopfte weiter.

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Zuletzt kam eine bärbeißig aussehende Magd und fragte nach seinem Begehr. Trotz ihres Widerstrebens drückte er die Tür auf und stand endlich im Hause drin. Dann ging sie eine Treppe hinauf, er hörte wispern, und schließlich kam die Person zurück, öffnete ein Zimmer, dessen vergittertes Fenster gegen den Hof ging. Hier solle er warten, bis die Frau benachrichtigt sei.

Er ging zornig auf und ab. Plötzlich fiel ihm ein,man möchte Lust haben, ihn gefangen zu setzen. Leise zog er den Schlüssel aus der Tür und legte ihn auf das hohe Bord eines Schrankes. Nun kam es zaghaft die Treppe hinunter. Das war offenbar die Base, die Frau Reiffenstein pflegte, eine blasse, ängstliche Jungfrau. Sie fragte nach seinem Begehr und hieß ihn einstweilen Platz nehmen. Dann war sie mit einem Sprung an der Tür,schlug diese zu und wollte schnell den Schlüssel umdrehen;doch der war weg. Das Gesicht mußte er sehen! Er irat an die Erschrockene, welche kaum mehr ihrer Sinne mächtig war: „Gehen Sie voran“, befahl er, „ich will zu Frau Reiffenstein. Sie zeigen mir jetzt den Weg!“

Die Greisin saß in der Nähe des Fensters zwischen den Kissen eines weichen Polsterstuhls. David hätte sie nicht wieder erkannt, so gebrechlich und schwach war die einst so resolute Frau geworden. Ihr kleines Gesicht verschwand fast unter der großen Haube; die Spitze der stark gebogenen Nase und das aufstrebende Kinn schienen sich begegnen zu wollen, und dazwischen lag der kleine, tliefeingefallene Mund. Sie nahm eben eine Prise zur Stärkung und schob dann die silberne Dose in ihre Schürzentasche. Meister Zörnli war höflich grüßend eingetreten und []

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51 sah gleich die scharfen Augen auf sich gerichtet; sie stachen aus Schlitzen heraus wie zwei Messer: „Was will der Lehenmann hier?“ rief sie mit starker Stimme; „er hat ja schon den Mattenhof in seine Tasche gesteckti Von ihm triffts zu, was in der Bibel gesagt ift: Und Jonathan zog seinen Rock aus, den er anhatte, und gab ihn David,dazu seinen Mantel und sein Schwert, seinen Bogen und seinen Gürtel.“Vers 4; aber vorher heißt es: ‚„Und Jonathan und David machten einen Bund miteinander; denn er hatte ihn lieb wie sein eigen Herzl Das ist das Richtige, Frau Reiffenstein: Manuels Freundschaft war das Glück meines Lebens;aber daß ich ihn ausnützte, wer dürfte das behaupten?Sie wiffens ja durch Ihren Neffen, den Präsidenten. Es ist rechtschaffen erworben und anständig bezahlt. Für einen andern hätte das Gut nicht den Wert gehabt wie für mich.“

Frau Reiffenstein hatte immer dafür gegolten, daß sie ein „böses Mundstück“ habe; auch jetzt fuhr sie über ADDan Titeln aus dem Tierreich nicht fehlen ließ; sie, „die Aushauserin“, war an allem schuld, und die Schwiegersöhne, die den Alten ausgezogen hatten.„Sehe er einmal dort hinüber! Die Wetterfahne auf dem spitzen Dach! Das ist Manuels Elternhaus! Es war auch einmal meines; er hats von den Eltern überkommen. Jetzt ist kein Ziegel auf dem Dache mehr sein eigen, alles verklopft! Das Ding da oben zeigt schon lange richtig: „O weh, nur Schulden!“[58]12

Als sie endlich schwieg, um Atem zu holen, erklärte David, er müsse mit Frau Reiffenstein ohne Zeugen sprechen,und deutete auf die Verwandte, die noch immer zunächst der Türe stand und horchte. Sie wurde hinausgewiesen.

Dann legte er ihr des sterbenden Freundes Anliegen ans Herz. Er erinnerte sie an die Zuneigung, die sie für den Knaben Manuel gehabt; aber es hatte den entgegengesetzten Erfolg: ihr fielen alle Kränkungen ein, die sie und ihre Tochter vom Neffen erlitten hatten. „Es geschieht ihm recht, das ist der Sünde Schuld!“ sagte sie, ein damals üblicher Ausdruck, wenn man jemand eine Strafe gönnte.

Zuletzt mahnte David wohlmeinend, aber etwas ungeschickt, daß vielleicht auch bald ihr Stündlein kommen werde, bei ihrem hohen Alter

Ihn unterbrechend, schrie sie: „Was untersteht er sich?Der Teufel ist alt! “.

Er war auf dem Punkte, den Mut zu verlieren; da kam ihm eine komische Unterbrechung zu Hilfe: schon lange hatie er ein Schlürfen und Trippeln im Hausflur vernommen; ob wohl jemand an der Tür lauschte? Rasch ging er darauf zu und riß sie auf: da standen die Mägde des Hauses, die bärtige Köchin und eine noch nicht gesehene;die eine mit mächtigen Schüreisen bewaffnet, die andere mit ähnlichem Gerät. Die Verwandte floh eiligst, er sah noch ihre Kleider flattern und in einer Seitentür verschwinden.Zörnli fuhr sie mit seiner kräftigen Stimme an: „Ihr verrückten Weibsbilder! Wenn ich wollte, ich schlüge euch []37*17 nieder!“ und vor den erhobenen Fäusten des Lehenmanns flüchteten sie in Eile.

Frau Sabine mußte so unbändig lachen, daß sie einen Stickhusten bekam, und hätte sie David nicht gehalten,wäre sie vornüber gefallen. Er klopfte ihr sanft auf den Rücken, wie ers in ähnlichem Falle schon gesehen; als es nachließ, lehnte er sie in die Kissen zurück, zog das große Schnupftuch aus Blumdruck aus ihrer Tasche und wischte der alten Frau wie einem Kinde das von Schweiß und Tränen benetzte Gesicht ab.

So schnell der Zwischenfall vorübergegangen, war bei Sabine eine Umwandlung geschehen. Sie ließ sich das Schreiben wieder geben vorhin hatte sie es dem Lehenmann vor die Füße geworfen , und nun war sie zur Unterhandlung bereit. Aber dem Meister brannte der Boden unter den Füßen. Die Närrinnen hatien ihn so lange aufgehalten; was hatte Manuel unterdessen gelitten?Was konnte geschehen sein in dieser Zeit?

Die Frau Reiffenstein war besser als ihr Ruf; David ging mit einer unbestimmten Zusage und stürmte zum Hause des Substiluten zurück. Dort war des Kranken letzte Stunde gekommen; der Arzt hatte die Angehörigen holen lassen, Manuel aber rief sehnsüchtig nach ihm, dem Freunde.

In der Krankenstube war das Beit von der Wand geschoben; an einer Seite saß Sybilla und schluchzte leise in ihr Taschentuch. Die drei Töchter standen weinend am Fußende; sie dachten wohl jetzt der sonnig-heitern Jugend,die sie bei dem gütigen Vater genossen hatten. Sie fühlten den Stachel des Gewissens, das ihnen die spätere Ent[54] fremdung vorwarf. Ihre Gatten standen in Reih und Glied näher der Wand und machten ernste, unbehagliche Gesichter.

Der Doktor überließ dem Zörnli seinen Platz am Bette. Mit heißen, vom starken Lauf und von der Erschütterung bebenden Händen umfaßte dieser die kalten Finger des Sterbenden, beugte sich zu seinem Ohre und sagte: „Manuel! ich bins, David“.

Das Bewußtsein war noch nicht ganz geschwunden.Mit Anstrengung hob der Substitut die Augenlider ein wenig, und sein Blick fragte: „Wie stehts?“

„Alles gut, mein Lieber! Du darfst auch ohne Sorge um dein Kind sein; denn die Reiffensteinerin liebt Elsi!“

Als hätte man einen grauen Vorhang von seinem Gesichte weggezogen, verschwand auf des Sterbenden Antlitz der Ausdruck einer furchtbaren Angst. „Er hat nur noch auf das gewartet“, dachte David, „nun läßt er sich sinken;Friede liegt auf seinem Angesicht! Wenn jetzt nur einer beten wollte!“ aber niemand tat es, als er selbst, stumm,mit tiefem Herzweh.

Es war so still im Zimmer, daß man das Geräusch des schwingenden Perpendikels im Uhrkasten störend empfand;auf der Gasse hörte man hin und wieder Leute gehen.Jetzt trafen mehrere Männer vor dem Hause zusammen und führten eine laute Unterhaltung; sie hätten nicht so derb gelacht, wenn sie eine Ahnung gehabt hätten, daß über ihnen eine Seele auf der Schwelle der Ewigkeit stehe.Einer der Schwiegersöhne ging entrüstet, das Fenster zu schließen; Manuel hatte nichts mehr gehört, eben war sein letzter Seufzer entflohen.

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Meister Zörnli war gegangen; der Schmerz erstickte ihn, er mußte ins Freie. Ohne Hut lief er in den Gassen und Gäßchen herum. Wäre er doch auf dem Mattenhofe gewesen, unter seinem Baume, das freie Feld vor sich.Hier zwischen den engen Zäusferreihen war der Druck so schwer, als hätte ein Schraubstock sein Herz umspannt!Ueberall rannte er an Leute; es war die Feierstunde, wo sie von der Arbeit heimkamen.

Endlich fand er im Kreuzgang des Münsters die gesuchte Einsamkeit! Hier dämmerte es bereits; aus allen Ecken schien ihm das Dunkel entgegenzukriechen. Er hatte kürzlich gehört, daß einmal einer das Schließen der Pforte verpaßt habe und eine Nacht eingesperrt worden war. Dieser Mann behauptete, daß fich um Mitternacht die Gräber geöffnet haben und die Verstorbenen umhergewandelt seien.David glaubte es ja nicht; dennoch fing er an zu laufen wie ein Schulknabe und war bald draußen unter den Bäumen der Pfalzterasse.

Aber wohler wurde ihm nicht; ein physischer Schmerz zog ihn zusammen; er wollte schreien, würgte aber keinen Ton heraus. Verzweifelnd wankte er bis zu einer Bank an der Mauer und schaute mit Augen, die nichts sahen,auf den Strom und die Gegend im Abendschein. Der Mann, dem im Leben nie etwas weh getan hatte, war vor Qual fast von Sinnen.

Und wie er stille saß, fielen ihm die Augen zu. So manche Nacht schon hatte er nicht geschlafen; Frau Sybilla war ja nicht geschickt genug, ihren Mann zu pflegen.

Ein paar Stunden vergingen, noch immer saß er unbeweglich; die Münsteruhr schlug zehn, das weckte ihn [2]20 auf. Erstaunt sah er um sich! Wie kam er dahin?Unten rauschte der Strom feierlich-ernst vorbei und die Sterne spiegelten sich in dem Wasser. Dort in Kleinbasel waren einzelne Fenster erleuchtet; auf der Brücke brannten rötlich die Oellaternen. Da kam es ihm plötzlich in den Sinn: er war hier, weil Manuel gestorben war, ach, ohne das Nachtmahli Er ging ungestärkt den dunkeln Weg!„O Manuel, wo bist du?“

Bange sah er zum Himmel auf. In diesem Momente schoß eine Lichtgarbe vor ihm nieder und verschwand langsam in den Fluten des Rheines. Er wußte es ja wohl,das war eine Sternschnuppe, wie sie so oft fallen im August; aber ihm kams vor wie eine Botschaft aus der Höhe, daß der Geliebte zur Seligkeit eingegangen sei.

Nun konnte er etwas getröstet an das Nächste denken.Er begab sich in die Stadt hinunter, zu sehen, ob er in einem Wirtshaus noch Essen bekomme; denn am heutigen Tage hätte er noch keinen Bissen genossen; bei Substituts war alles aus dem Geleise. An der Freienstraße fand er noch eine offene, kleine Kneipe, und als er gesättigt war,überlegte er erst: „Wohin für diese Nacht?“ Die Stunde war schon so vorgerückt. Wie er aber gegen das Sterbehaus kam, sah er die Köpfe der beiden Mägde zum Fenster hinausschauen und hörte sie rufen: „Er ists! er kommt!“und freudig eilten beide die Treppe hinunter, ihm zu öffnen.Die jüngere wäre um keinen Preis allein geblieben; sie hielt sich krampfhaft an den Rockfalten der andern fest 8 ihre Bilcke irrten in den dunkeln Winkel des lurs.

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Oben saß Frau Syhilla wie vernichtet in der Sofaecke: „Sie haben mich allein gelassen“, klagte sie, „es muß doch jemand wachen.“

„Gehen Sie ruhig zu Bett, Frau Substitutin, ich „werde das schon versehen!“ sagte David und hieß die Mägde sie begleiten.

Er nahm den Leuchter, in dem eine dicke Wachskerze brannte, und ging damit in Manuels Zimmer. Leise hob er das Tuch von des Toten Gesicht. Auf diesem war alles Schmerzliche ausgelöscht. Die Züge hatten sich geglättet, und verjüngt und schön wie in den Jugendtagen lag er da, das sanfte Lächeln um den feinen Mund.

Wie er doch vor allen Menschen bevorzugt war! Leibesschönheit und alle Gaben des Gemütes hatte ihm Gott verliehen. Eigenes (I) verstand er nicht vor Leiden zu bewahren!

David dachte an seine Jugendzeit zurück. Als sie beide noch kleine Knaben waren, hatte ihn Manuels Freundschaft beglückt; und als er sich verbittert von den Seinigen getrennt hatte, war der einzige Trost, der ihn in die Fremde begleitete, des Jünglings Wort: „Ich werde immer an dich denken!“ Wie glücklich hatten sie sich wieder zusammengefunden! Jetzt war dieses Licht in seinem Leben erloschen; es schien ihm, er könne niemals mehr froh werden. In seiner naiven Seele fühlte er sich eins mit dem Psalmisten und klagte mit dessen Worten:„Es ist mir leid um dich, mein lieber Bruder Jonathan!“

Die Fünfuhrglocke weckte am Morgen den Meister Zörnli. Er hatte sich im Sterbezimmer auf ein Ruhbett ausgestreckt und wollte wach bleiben; aber die Müdigkeit hatte ihn übermannt. Durch das offene Fenster wehte der []* 7

Frühwind und bewegte das Leinentuch, das über den Toten gebreitet war. Es sah aus, als ob Lebendiges darunter liege.

Bald mußte die Sonne ins Zimmer scheinen. David zog die Fensterladen zu. Da stand schon ein Bote von Frau Reiffenstein an der Haustür: der Lehenmann solle fofort kommen, die Frau Reiffenstein habe eine schwere Nacht durchgemacht.

Sie lag zu Bett und sah viel verfallener aus als am gestrigen Tage: ein weißes Tuch umschlang den Kopf;die magern Arme und Hände streckten sich aus dem weiten,bunten Nachtgewande dem Meister entgegen.

„Wo hat er gestern Abend gesteckt?“ fuhr sie ihn an,„ich hab ihn überall suchen lassen! Was hat er mit Manuel gesprochen? Ich will alles wissen!“

Dabid berichtete getreulich. Er war darauf gefaßt, daß sie über ihn herfallen werde, da er weit mehr versprochen als sie ihm zugesagt. Zu seinem Erstaunen rief sie: „Da hat er Recht gehabt! Ich muß ihm danken, daß er mir gestern den Daumen aufsetzte! Wenn ich mirs ausdenke,daß ihm drüben meine Esther als Engel entgegenkam!Wie hätte es sie gekränkt, daß die Mutter wieder einmal schnöde gewesen! Er braucht nicht zu lächeln, Lehenmann! Meine Tochter erfährt alles, was ich tue. Ich bin halt eine arge Frau, wenn ich aber Böses getan habe, kommt mir nachher die Reue; da gehe ich in meiner Esther Stüblein, schau er! da ist die Tir! Es steht noch alles, wie sie es verlaffen hat, sogar ihre Arbeit ist noch am Nähstock angeheftet. Dort saß sie am Vormittag und abends war sie tot.

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In ihrem Stüblein werde ich immer besser, denn sie ist da und sagt mir, wie ichs gut machen foll, wenn ich gefehlt habe. Da hat sie mir denn befohlen, ich soll Manuel geben, um was er bittet. Denk er sich meinen Schreck! Wo ich herauskomme, erfahre ich, daß mein Neffe gestorben ist. Er darf mirs glauben, das war eine schreckliche Nacht! Dort in der Tür stand meine Esther und sah mich betrübt und vorwurfsvoll an!

Nun!“ unterbrach sie sich, „Manuel hat auch schlecht an ihr gehandelt; er wird gewiß eine schwere Todesstunde gehabt haben, weil er ohne ihre Verzeihung abfahren mußte.“

„Er hat Vergebung erhalten, Frau Reiffenstein“, unterbrach sie David; „ich habs selbst mitangesehen.“

Die Greisin fuhr in die Höhe, riß in der Aufregung das Kopftuch weg und schrie ihn an: „Wann? was weiß er? sag ers mir!“

Und Zörnli berichtete, daß es auf dem ElisabethenGottesacker gewesen sei; der Substitut hatte den Steinmetz dahin bestellt, weil das Grabmahl der Eltern einer Reparatur bedurfte; er, David, hatte ihn begleitet.

Da sahen sie auf einmal die Jungfer Esther unter dem Schatten der Bäume hervorkommen; freudig ging sie auf Manuel zu. Natürlich zog sich David zurück und wartete draußen, und da kamen sie endlich, Hand in Hand,und sie saglie: „Behüt di Gott, liebe Vetter!“ und auch er nahm herzlich Abschied von ihr.

„Davon hat mir meine Tochter kein Wort gesagt“,brummte Frau Reiffenstein, „wie kam das?“[]75)3

Esther war aber bald darauf gestorben; demnach empfands die Mutter als eine schwer zu verwindende Kränkung, und David trat rücksichtsvoll zurück, bis sie ihn wieder rief.

Nun kam sie auf Manuel und die Seinen zurück. Der Meister war erstaunt, wie genau sie von allem unterrichtet war; sie sagte ihm, das sei immer der Fall gewesen, wenn Substitutens in der Stadt waren. „Beispielsweise: Hätte er mich gefragt, was sie z Immis kochen? Ich hätte ihms genau sagen können; wie ichs erfuhr, werde ich ihm aber nicht auf die Nase binden!“ David dachte gleich an eine bezahlte Spionin.

Ganz antipathisch waren ihr des Verstorbenen Tochtermänner. War das ein Getu, als die vornehmen Brüder auf einen Tag mit den beiden Substitutenmädchen Hochzeit hatten! Damals sagte der Louis mit Recht: „Der Substitut zieht sich aus, bevor er zu Bett geht“. Nachher kam die Helene dran; der gehörte auch was den andern.

Als man dann erfuhr, daß es bei den Alten anfing zu hapern, wollte Helenens Mann dem Schwiegervater einen Teil zurückerstatten; aber Manuels Stolz ließ es nicht zu. „Verhungert sind sie deshalb nicht, sie fraßen nur alles auf, was zu Geld zu machen war. Eben das ärgerte die jungen Handelsmänner am meisten, und da es herum kam, wollten sie nichts mehr mit den Alten zu tun haben.“„Das ist ihm ja alles wohlbekannt, auch daß Louis,der Präsident, zu Elsis Vormund bestimmt ist. Den armen Wurm hat er splitternackt zurückgelassen; für seine

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Sybilla sorgte er wenigstens, daß sie noch was zu nagen hat . Nein! unterbrech er mich nicht! Ich weiß wohl,was meine Pflicht ist: Esther hat mirs heut Nacht gesagt.

Was meint er, wenn ich sie in ein Institut gebe?“

David riet ab: „Elsi ist von Natur etwas unbändig und bis jetzt lebte sie wie ein Füllen auf der Weide.Wenns ihr nicht paßt, läuft sie draus. Es wäre vielleicht besser, sie zuerst in einer Familie unterzubringen, wo noch Töchter wären; zum Beispiel im Pfarrhaus in Liestal; es hat ihr dort immer so gut gefallen.“

„Da hat er einen gescheiten Gedanken!“ rief Frau Reiffenstein erfreut; „sie haben dort von Zeit zu Zeit Kostmädchen gehabt.“

Die Pfarrfrau hatte infolge der aufrührerischen Zeiten eine schwere Erkrankung durchgemacht; das war aber vorbei. Frau Sabine erklärte: „Elsi muß ins Pfarrhaus!Der Reiffenstein soll gleich heut schreiben.“

Mutter Zörnli hatte schwere Stunden mit der zurückgelassenen Elsi. Dabids Botschaft vom Abscheiden des Substituten war nach dem Mattenhofe gelangt; aber sie fand den Mut nicht, dem wie verstörten Mädchen die Trauernachricht mitzuteilen; es kam nicht mehr zu Tisch und floh alle Menschen.

Der Pfarrherr von Rosenthal war heraufgekommen,um die Waise zu trösten; sie ließ sich nicht blicken. Mit dem wärmsten Mitgefühl suchte er sie in ihrem Stübchen auf; aber sie schob schnell den Riegel vor. Alle wußtens und niemand traute sich, das schwere Wort auszusprechen.[]12*

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Da kam die beste Hülfe in der Not, der Sohn Gottfried. Willig folgte ihm Elsi die Anhöhe hinauf; er wußte,der erste Sturm mußte fern von den Leuten durchgekämpft werden!

An diesem Abend saß das Mädchen wieder zum erstenmal am Tische. Gottfried war zwar wieder gegangen, aber Elsi, die alles gewußt, ohne daß ihrs jemand sagte, hatte Ergebung gefunden.

Als der Meister vom Begräbnisse zurückgekehrt und ihr alles Nähere berichtete, weinte sie heiße Tränen. Sie prägte sich jedes Wort ein, das ihr der Vater durch David hatte sagen lassen. Daß sie ganz arm war, berührte sie kaum; Zörnlis waren noch da, bei ihnen fühlte sie sich Kind.

Nach der Mutter äußerte sie kein Verlangen, sie war ganz froh, als ihr Vormund, der Präsident Reiffenstein,für die Substitutin ein Unterkommen gefunden hatte. Es war bei einer Doktorswitwe auf aargauischen Boden, wo er selbst schon im Quartier gewesen; er führte sie auch an ihren Bestimmungsort

Energisch sorgte Elsi für ihre eigene Zukunft. Die Aussicht, ins Liestaler Pfarrhaus zu kommen, war ihr ganz erwünscht; nur gings zu lange, bis die Sache im Reinen war; denn in Liestal trug man Bedenken, in so unruhiger Zeit ein Kostkind zu nehmen, und Elsi stand obendrein im Rufe, etwas verwöhnt zu sein.

Das dauerte dem Mädchen aber zu lange: „Ich will wissen, wo ich dran bin!“ sagte sie zu Zörnlis, und da alles Zureden umsonst war, ließ man das Bernerwägelein einspannen, und der Meisterknecht Hansli fuhr sie nach Liestal.

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Das Gefährt erregte mitten in der Woche viel Aufsehen im kleinen Städtchen Der Hansli hatte sich dem „Baslerjümpferli“ zulieb mit seinem besten Staat angetan;seine glühenden Backen wetteiferten mit dem roten Halstuch, und im grünen Sonntagskamisol mit dem breiten Hut saß er stolz auf dem Vordersitz, hinter ihm Elst im schwarzen Kleide.

Kaum war er vor der Pfarrhaustür angefahren, zeigten sich kurz oben am Fenster zwei Köpfe: das waren die ältere Pfarrerstochter Valentine, die sich dann beeilte, ihrem Vater oben im Studierzimmer die unliebsame Ueberraschung mitzuteilen, und die jüngste, Thekla, die in einigen Sprüngen die Treppe herunterflog und mit lautem Jubel den Gast in Empfang nahm.

Einen größern Gegensatz gab es nicht als die zwei Mädchen: Elsi schwarz, etwas derb, eher klein für ihr Aller; die blonde Thekla hingegen außerordentlich aufgeschossen und überschlank; sie ging noch in kurzem Kleide und trug das Haar à la Titus.

Schwatzend hüpften beide die Treppe hinan. Oben stand die Pfarrfrau und schloß Elsi mit zartlicher Wehmut in die Arme. Ihr war der Substitut ein so lieber Verwandter gewesen! Sie zog das Mädchen ins Zimmer,denn eben hörte man die Schritte des Pfarrherrn auf der Treppe. Vally hatte ihn schon bearbeitet, das sah man an seinem Gesichte.

Die Pfarrerin trat schnell zum Gatten, als wollte sie ihn halten, und ihre Blicke hingen bittend an den strengen Mienen des Hausherrn. Dieser vermied aber, sie anzusehen, und sein frostiger Gruß zeigte deutlich, daß ihm

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Elsi nicht erwünscht kam. Da dachte das Mädchen: „Hier muß man für sich selber sprechen“, und trat resolut auf den Gestrengen zu. „Herr Pfarrer“, sagte sie, „ich merke wohl, daß Sie Lust haben, mich wieder fortzuschicken.Aber versuchen Sie es doch erst ein paar Tage mit mir;die liebe Frau Pfarrer hat mich so herzlich empfangen! Wenn Sie wüßten, wie nötig es für mich ist, in ein solches Haus zu kommen! Seit der Vater tot ist, sagt mir kein Mensch mehr, was ich tun soll, und was wird dann aus mir? “. Ein Schluchzen kam in ihre Stimme.Thekla warf sich dem Vater an den Hals und bettelte und flattierte mit vielen Küssen. Sie stellte ihm vor: „Wir sind drei Stimmen gegen zwei, denn Laura möchte auch und die Mutter! Sieh nur, wie sie nasse Augen hat!Sie hat Elsi so gern!“

Der Pfarrherr war überwunden. Er reichte dem Mädchen die Hand entgegen: „Meinetwegen denn! Wir wollen es auf ein paar Wochen wagen. Die Zeiten sind nicht danach, einen langen Akkord zu schließen. Aber da unten hört man mit der Peitsche knallen. Ich glaube,Zörnlis Knecht wird ungeduldig?“

Laura, die zweite Tochter, hatte schon für einen Becher Wein gesorgt; eine Magd brachte ihn dem Durstigen samt einem kleinen Imbiß. Dann zog sie aus der weiten Schürzentasche einen Wampen Brot und fütterte das Pferd.Hansli klöpfte seine kleinen Augen weit auf und schaute über den Becherrand fast neidisch zu, wie die hochgewachsene, schöne Person den Kohli streichelte und ihm gute Worte gab. In seinem Kopfe entstand der Gedanke, so müsse einmal die Lehenfrau beschaffen sein, wenn ihm

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Meister David die Pacht übergab; das helle Gesicht und die Zöpfe von der Farbe des reifenden Kornes nahmen ihn gefangen, und ihre Freundlichkeit mit dem „Roß“.hüls Elsi aus dem Fenster herabrief: „Fahr zu,Hansli, ich bleibe; grüße mir alle“, machte er mit Leidwesen Kehrt und vergaß darüber den Abschiedsgruß für die Auserwählte.

Elsi war also ein Glied des Hauses geworden. Die paar zugestandenen Wochen des Pfarrherrn machten ihr kein Bedenken, denn nun saß sie mit der Familie beim Abendbrot. Mutter Lene hatte ihr stets mit einem Leckerbissen aufgewartet; auch hatte sie die Erinnerung an frühere Gelegenheiten, wenn Tante Sabine sie ins Pfarrhaus mitnahm und der Tisch mit viel Silber und einer Menge guter Sachen besetzt war. Die Großtante brachte letztere gewöhnlich im Kutschkasten mit.

Jetzt erstaunte sie über das einfache Gerät: es war alles, auch die Löffel, von Zinn; der Hausvater allein hatte einen von Silber und die Pfarrerin einen solchen Kaffeelöffel, um das weiche Ei auszuschöpfen, das ihr tägliches Äbendessen war. Die Töchter umsorgten ihre Mutter; dergleichen hatte Elsi noch nie gesehen: eine schob ihr den Strohstuhl an den Tisch, die andere steckte ein Kissen hinter ihren Rücken und Thekla den Schemel unter ihre Füße. Der Pfarrherr schnitt ihr das Weißbrot zum Eintunken in lange, schmale Würfel, so peinlich genau,als wärs der feinfte Leckerbissen. Alle bestrebten sich nur,sie zu verwöhnen. Der Vater dämpfte sogar seine starke Stimme, wenn er mit ihr sprach. Und doch war sie nicht schön, die Pfarrerin. Da war die Mama eine andere

Frau dagegen!

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Aber die weiße Tüllkrause ihrer Haube umschloß ein liebliches Gesicht, von dem es wie Sonnenstrahlen ausging; wie wohl wurde einem unter ihren Augen!

Jetzt wurde das Abendessen hereingebracht. Duft wie von gebratenem Speck ging von der breiten Schüssel aus.Elst blickte gespannt, als man sie vor Valentine nieder setzte: was wars? Haferbrei!

Die älteste schöpfte auf die Zinnteller; sie tat es so geschickt, daß auf jeder Portion von dem Geschmelzten obenauf lag. Die Mägde waren mit ihren Tellern auch gekommen; Laura hatte vorher die Becher mit Milch gefüllt und schmackhaftes Hausbrot in Scheiben geschnitten;jedes bediente sich nach Belieben.

Die Neuangekommene knusperte fröhlich ihre gerösteten Speckwürfel. Da merkte sie, daß alles wartete. Erst als die Dienstboten ihren Anteil auch hatten, betete Thekla:„Aller Augen“, und dann ging ein allgemeines Löffeln an.

Spöter ließen sie sich zum zweitenmal geben, Elsi dankte.Sie besah sich unterdessen die Leute am Tisch: der Pfarrherr war anders geworden als früher; ein scharfer Zug lag auf seinem Gesicht. Valentine war sein Ebenbild.„Die mag ich nicht, so schön sie ist“, dachte sie, „auch Thekla scheint mores vor ihr zu haben; sie meistert wohl alle! Hingegen Laura hat das liebliche Wesen ihrer Mutter, die muß man gern haben!“

Elsi kannte die Mägde auch von früher her. Damals wurden die Dienstboten mehr zur Familie gerechnet; es kam ja vor, daß sie in derselben Sielle ihr ganzes Leben zubrachten. Kunigunde war die ansehnliche Tochter eines Liestaler Bürgers und Handschuhmachers; ihr selbstbewußtes

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Wesen zeigie an, daß sie aus bloßer Neigung im Pfarrhause diente. Dagegen war die anmutige, blonde Chrischona von musterhafter Bescheidenheit; denn sie stammte bloß aus dem Gestadeck, dem an Liestal angeschlossenen Dörfchen.

Als die Pfarrersleute ein Kindermädchen suchten, wurde sie ihnen von des Hauses Wäscherin vorgestellt, aber zu jung erfunden. Betrübt wandte sich das artige Kind zur Tür; da fragte die Hausfrau: „Wie heißest du denn?“„Chrischona“ antwortete das Mädchen, und zwei schwere Tränen rollten über seine Wangen.

Der poesievollen Pfarrerin stieg plötzlich eine Erinnerung auf: „Chrischona“, der grüne Hügel mit dem lieblichen Kirchlein, wo sie sich mit ihrem Kandidaten versprochen hatte. Der Name und vielleicht die Tränen des Kindes machten ihr das Herz weich; sie wechselte einen Blick mit ihrem Gatten und sagte: „Chrischona! du kannst morgen eintreten“, worauf der Pfarrherr beifügte: „Einstweilen auf Probe!“

Damals kroch Valentine noch auf allen Vieren; andere Kinder folglen. Chrischona hegte und besorgte sie wie ein Mütterlein und wuchs dabei selbst in die Höhe und in die Familie hinein, und als zwei ihrer Pfleglinge an der Bräune starben, benetzte sie ihre Särglein mit den heißesten Tränen.

Das war alles der Elsi wieder in den Sinn gekommen.Jetzt falteten die Mägde ihre Hände zum stillen Gebet und gingen dann mit ihren Tellern ab; Elsi blickte gespannt nach der Tür.

„Auf was wartest du, liebes Kind?“ fragte die Pfarrfrau, und das Mädchen sagte unüberlegt: „Auf das, was nachkommt!“

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Die Ehegatten sahen einander belustigt an; dann erklärte die Hausmutter: „Es kommt nichts mehr; wir haben abends eine einzige Speise. Der Herr Pfarrer allein nimmt zum Nachtisch einen Bissen zum Wein, weil er bis Mitternacht arbeitet. Aber Väterchen ist so gut und gibt euch ein Stückchen vom Käse ab.“

Jetzt war das Lachen an Elsi: das Väterchen hatte gewiß seine sechs Schuh Länge, und als er den Mädchen an der Messerspitze einen schön abgezirkelten Käsewürfel entgegenstreckte, reichte sein Arm über den ganzen Tisch.

Nachher wurden die Mägde wieder hereingerufen und setzten sich neben der Tür. Valenline hatte dem Vater die Bibel gereicht; er las einige Verse, knüpfte ein paar Worte daran und sprach das Vaterunser. Nachher ging alles auseinander, und Elsi hatte Zeit, ihre Betrachtungen anzustellen. Zuerst fiel ihr auf, wie sich die Wohnstube verändert hatte. Noch stand der massive Eßtisch in der Mitte, die Holzstühle ringsherum. Aber doch war alles früher viel netter gewesen; hohes, braunes Getäfel, oben dran weiß gekalkte Mauer. Da hingen zwei schönbemalte Holztafeln, die einst Türen einer Hausorgel gewesen; auf der einen junge Gestalten in griechischen Gewändern, die Musen; auf der andern Orpheus mit der Leier! Rings um ihn lagerten zahme und wilde Tiere und vom Baume herab lauschten Pfauen, Fasanen und anderes Gevögel.

Die gegenüberliegende Wand schmückte eine sentimentale Landschaft mit einem Weiher; auf blumigen Rasen kniete eine Jungfrau und schlang dem Lämmchen vor ihr ein farbiges Band um den Hals.[2]8

Seitdem sie zum letztenmale dagewesen, war das Helle,Bunte alles verschwunden; die Stube sah nüchtern aus in dem eintönigen Graugrün der neugestrichenen Farbe. Es fehlte auch der gemütliche Ofenwinkel mit seinen TreppenD kalten Winter bon 1829,30 Tag und Nacht einheizen mußte, um nicht zu erfrieren. Da hatte der alte Ofen den Rest bekommen.Sein Nachfolger war kleiner, von den neumodischen, grünen Kacheln und heizte gut. Ein warmes Plätzchen für die Muller war so gewonnen, ihr hochbeiniges Sofa stand nun dicht daneben.

Thekla zog nachher Elsi in die Visitenstube. Dieser mit einer Menge Kleinigkeiten angefüllte Raum war der Jüngsten zur Besorgung übergeben, und sie pflegte mit einer unglaublichen Pietät alle die Andenken, welche die Pfarrfrau im Lauf der Jahre erhalten hatte. Das waren einst Arbeiten von jungen Liestaler Töchtern, welche im Pfarrhause Unterricht im feinen Nähen und Sticken, im Folorieren und Ausschneiden erhallen hatten. Damals schnitt man mit winzigen Scherchen Blätter und Blüten aus farbigem Papier und klebte sie zu Albumblättern,Blumenkörbchen und anderem zusammen. Selbst Landschaften wurden auf diese Weise mit Tempelchen und Bäumen aufgestellt und Figuren darum gesetzt

Thekla machte die neue Hausgenossin auf einige kunstvolle Sachen aufmerksam, welche die dankbaren Schülerinnen der Pfarrfrau verehrt hatten. Sie öffneie auch eine Schublade und zeigte ihr das Werkzeug; aber Elsi fand es zu dumm: ihr ging der Sinn für Kleinigkeiten vollständig ab. Die lebenden Blumen hingegen draußen auf [70] dem Fenstersims hatten ihren Beifall. Das Pfarrtöchterchen hatte eine glückliche Hand, und was sie pflanzte, gedieh.

Es war schon dämmerig im Zimmer, da leuchtete auf einem Eckschranke eine Büste hervor. Wen sie vorstellte, hatte Thekla vergessen; der Vater hatte den Kopf in seiner Hauslehrerzeit geschenkt bekommen. Leider war er angestoßen und hatte einen Leck an der Nase.

Das große Mädchen stellte sich auf die Fußspitzen,netzte mehrmals den Zeigfinger an der Zungenspitze und rieb an der Gipsnase. Dabei nahm ihr hübsches, junges Gesichtchen einen mütterlichen Ausdruck an, wie eine Frau,die ihr beschmutztes Kind reinigt. Elsi sah lächelnd zu ihr auf; da rief Thekla: „Hier steht der Rame: Plato!“

„Er kam mir doch so bekannt vor“, sagte die Substitutentochter. „Vater hatte ihn auf seinem Bücherschrank stehen; er hielt gar viel auf seinem Plato. Aber was soll er hier in all dem kleinen Krinskram? Er gehört doch eher in deines Vaters Zimmer.“

Thekla war empört und wies die andere zurecht: „Was fällt dir ein? in meines Vaters Studierstube, wo so viele Leute hinkommen? Weißt du denn nicht“, sagte sie von oben herab und mit verächtlicher Betonung, „er war ja ein Heide!“

Elst warf den Kopf auf wie ein feuriges Schlachtrößlein, und, den Standpunki ihres Vaters vertretend,geriet sie in Disput mit dem Pfarrerstöchterchen, welches begreiflicherweise an demjenigen ihrer Familie festhielt.Elsi gelang es aber, ihre Gegnerin zu ducken; sie hatte nicht umsonst manchen Brocken vom Philosophentisch aufgeschnappt. Auch behauptete sie bestimmt, daß Plato [71] mehrere hundert Jahre vor Christi Geburt gelebt habe und wohl ein großer Weiser, aber kein Christ fein konnte.

Das mußte aber erst bestätigt werden; dem Vater durfte man nicht damit kommen, der hatte sonst genug im Kopfe. Aber Vally, die war ja ungeheuer gescheit, die wußte es ganz genau.

„Ja, und 8 Befehlen versteht sie auch, das merkt man gleich“, sagte Elst lächelnd, und Thekla stimmte bei und verfiel sofort in vertrauliche Geschwätzigkeit. Sie wurde ja den ganzen Tag von ihrer ältern Schwester kommandiert, und ahmte nach, wie diese beständig mahnte: „Thekla,sitz aufrecht! Zieh die Ellbogen ein! Thekia, streck die Füße nicht so lang heraus! Thekla! du glaubst nicht,wie das dumm aussieht, wenn du den Mund so hängen lässest! .“„Ja, ja! 8 Regieren ist ihr Element; aber doch kann sie ihren Kopf nicht allemal durchsetzen. Weißt du, als der Präsident das erste Mal schrieb, Tante Reiffenstein möchte dich bei uns in Kost geben, hat sie sich mit Händen und Füßen gewehrt; du seiest als störriges Kind bekannt,Mutter werde darunter leiden, und Vater mußte absagen.Nun kam der zweite Brief von deinem Vormunde, und es war das Gleiche wieder. Zum Glück erscheinst du selber und Vally mußte zuletzt parieren.“

Da trat Laura ins Zimmer und erkundigt sich freundlich, was die zwei so lebhaft zu berichten hätten. Elsi wars ein wenig unbehaglich, aber Thekla sagte ganz ruhig:„Ich habe ihr alles erzählt, wie sich Vallh dagegen gewehrt hat, daß wir sie nehmen.“

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Laura blieb der Mund offen vor Erstaunen. Das war doch eine gefährliche Schwatzbase, diese Jüngste; und dann begann sie Elsi zu erklären, weshalb ihre Schwester Besorgnisse gehabt: die Mutter habe eine lange, schwere Krankheit durchgemacht, wobei sich Vally ganz aufopferte,und jetzt war sie noch immer bedacht, der Leidenden alle Unruhe fernzuhalten. „Das Kind da siehts gar nicht ein,was es der Schwester zu verdanken hat; ohne sie lebte die Mutter vielleicht nicht mehr!“

„Lorli, liebes Lorli“, schmeichelte die Jüngste gerührt;aber dann fügte sie bei: „Elsi hats doch gleich gemerkt,daß wir hier alle nach Vallys Pfeife tanzen!“

In diesem Augenblicke riefs draußen: „Thekla!“ Obschon gedämpft, klang die Stimme doch herrisch, und das schlanke Mädchen warf einen tragischen Blick auf die beiden andern, schob die Unterlippe so weit als möglich vor und ging mit einer Grimasse, halb Weinen, halb Lachen, zur Tür hinaus.

Bis jetzt waren die beiden Jüngsten beisammen gewesen;nun mußte Thekla ihr Bett an Elsi abgeben und zur ältern Schwester übersiedeln. Valentine würde nicht die Geduld haben wie Laura, welche die Schlaftrunkene weckte und wieder weckte, bis das Möädchen sich endlich losreißen konnte und mit der Stubengenossin Hülfe in die Kleider kam. Es gab von da an auch jeden Morgen Tränen.

Zum Frühstück erschienen die Eltern nicht; der Vater arbeitete am Morgen am ungestörtesten und die Mutter durfte nach ärztlichem Befehl erst spät aufftehen. Valentine hielt die Morgenandacht; sie hatte eine Vorliebe für die

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Sprüche Salomons, „gehe hin zur Ameise“ und „wie lange liegest du, Fauler!“ „Das ist alles für mich gepredigt“, flüsterte Thekla der Elsi zu. „Vally hätte Pfarrer oder Schulmeister werden sollen.“

Thekla war zur Schule gegangen und die Töchter an ihre Hausarbeit. Valentine kam noch einmal zurück, um Elsi zu fragen, ob sie ihr Strickzeug habe. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Von der herrschsüchtigen Pfarrerstochter würde sie sich nicht meistern lassen. Die war sicher doppelt scharf, weil sie gegen ihren Willen da blieb. Elsi irrte jedoch. Valentine war eine gelassene Natur; sie trug nichts nach. Freundlich sagte sie: „Ich schicke dir Laura, sie hat eine angefangene Arbeit für dich!“

Und Laura erschien mit einem Strickkörbchen, in dem lag es blütenweiß mit einem kunstreichen Börtichen. „Nein!“wehrte Elsi, „nimms nur wieder mit! Wenn ich einmal herum gestrickt hätte, könntest du eine Stunde lang gefallene Maschen aufheben!“

Laura ließ sich nicht abfertigen; jedes junge Mädchen mußte wenigstens seinen Strumpf stricken können; und durch ihr freundliches Zureden brachte sie es dahin, daß Elsi am Nachmittage bei den nähenden Frauen saß und an einem gestrickten Waschlappen arbeiten wollte.

„Mutter wird bald kommen!“ sagte sie im Hinausgehen; aber Elsi zog sie wieder in die Stube und fragte:„Warum nennt ihr sie „Mutter“ und nicht „Mama“?Gelt, weil man eine Mutter lieber haben muß?“

„Armes Mädchen!“ dachte die Pfarrerstochter; es war ja bekannt, daß die Substitutin ihr eigenartiges Kind nicht [74] zu behandeln wußte. Sie belehrte aber Elsi, daß sie des Landes Brauch angenommen hätten; vielleicht würden sie in der Stadt auch Mama gesagt haben.

Es blieb noch Zeit für Elst, in der Stube herumzustöbern und sich auf frühere Zeiten zu besinnen. Hier vor dem alten Klavier hatte ihr Vater so oft gesessen, und jedesmal, wenn er im Pfarrhause einkehrte, spielte er seiner Base, der Pfarrerin, das Neue, was er in Konzerten gehört hatte

Wenn man nach dem Mattenhofe ging oder davon zurückkam, brachte man den Mittag hier zu; später aber harmonierten die Herren nicht mehr. Emanuel fuhr vorbei und speiste in einem Wirtshause.

Elsi kam freilich auch dann noch ins Pfarrhaus, weil Frau Sabine sie gern mitnahm. Wenn aber im Gespräche Substituts aufs Tapet kam, schickte man die Kinder in den Garten; sie durften nicht hören, wie die Tante über ihren Neffen und seine Frau loszog. Dennoch hatte das kleine Mädchen manches Wort aufgefangen und mit ihrem jungen Verstande gemerkt, daß die Hausfrau noch immer ihrem Vetter Manuel gewogen war.

Es ging auch früher nicht so strengreligiöß zu im Pfarrhause Die Ehegatten hatten als langjährige Brautleute einen schön-geistigen Briefwechsel geführt; der Kandidat lebte damals als Hauslehrer in einer süddeuischen Familie.Er selbst dachte an ein Lehramt. Da bot sich die Pfarrstelle in Liestal, und nach langem Warten wurden die Verlobten endlich vereinigt.

In Liestal war große Freude. Der imposante Pfarrherr und seine feingebildete und doch so freundliche Gattin [75] gewannen sogleich alle Herzen, obschon manche ihn seinem Vorgänger ähnlicher, das heißt von strengerer Richtung gewünscht hätten.

Das brachte aber die nachkommende Zeit zustande.Allmählig wurde das Aesthetische von den Pflichten in den Hintergrund gedrängt; damals begann die Zeit, wo Elsis Vater sich im Pfarrhause nicht mehr heimisch fühlte.

Jetzt kam Frau Pfarrer und begrüßte Elsi freundlich und entschuldigte sich, daß niemand zu ihr gekommen war.„Die Mädchen haben viel Arbeit, denn morgen sind Pfarrherrn und Lehrer bei uns zu Tische, und da muß heute schon alles vorbereitet werden.“

Elsi wollte der Hausmutter schnell einen bequemen Sitz bieten; überall stieß sie an, alles Holzstühle. Da ging die Pfarrfrau aufs Sopha zu und zog das Mädchen neben sich. Sie plauderten von allem Möglichen, und immer sagte das Mädchen: „Ja, Frau Pfarrer! nein,Frau Pfarrer!“ Diese aber sagte mütierlich: „Nenne mich „Tante“, das ist weniger steif.“

Da hörte Elsi zuerst von Frau Reiffensteins Wunsch,daß sie hier in Liestal konfirmiert werden solle. „Mein Mann wird dich in diesen Tagen einmal ins Studierzimmer rufen zu einer kleinen Prüfung!“

„Prüfung? worüber?“ staunte Elsi.

„Das kannst du dir doch denken, liebes Kind; es betrifft den Religionsunterricht, den du gehabt hast!“

„Ich habe keinen gehabt, liebe Tante.“

„Du gingst aber doch in die Kinderlehre?“

„Nie, Tante!“

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Mitleidig sah die Pfarrfrau auf das Heidenkind an ihrer Seite. Sie wußte wohl, daß der liebe Substitut ein Freidenker war; aber seine Frau doch nicht! die war freilich weder eins noch 8 andere.

„Liebes Elseli“, forschte sie, „hat dir denn niemand von den schönen, biblischen Geschichten berichtet? Von der Schöpfung und den Patriarchen, von David und Goliath und allem, was die Kinder so interessiert? Und die schöne Erzählung von der Geburt Christi, und seine Wundertaten,und sein Tod und seine Auferstehung?“

Da fielen Elsi die früheren Zeiten wieder ein, wo sie auf dem Mattenhofe mit Friedli an den Sonntagabenden zu den Füßen der alten Magd Züs gesessen und ihr die Worte von den Lippen getrunken hatte.

„Die Züs hat uns von dem allem erzählt; gewiß,ich weiß noch vieles!“ und sie erzählte der Pfarrfrau von der alten Person, die schon grau war als die Mutter Lene auf die Welt kam, und Mutter Lene ist schon mehrere Jahre über fünfzig. Kein Mensch weiß, wie alt Züs ist,und sie selber nicht.

„Das ist jedenfalls eine fromme Person gewesen! Von der hast du doch etwas über Religion gehört, gottlob!“

„Nicht allein von ihr, liebe Tante; der Gottfried hat jedesmal berichtet, was sie in der Kinderlehre gehabt haben,und der wußte viel mehr als Züs und sagte ihr Bibelsprüche und Liederverse vor, und sie lernte sie von ihm;sie konnte eben nicht lesen. Dennoch hat sie ein gedrucktes Lied gehabt; das war schon gelb und zerschlissen, obschon sie es in einem Seidentüchlein aufbewahrte. Das mußte ihr Gottfried oft vorlesen, obgleich sie es auswendig konnte.“

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„Was war das für eins?“

„Das christliche Posamenterlied von d'Annoni, eins mit vielen, vielen Versen.“

Eben kehrte der Pfarrherr von einem Ausgange zurück und trat ein, um seine Frau zu begrüßen. Da teilte sie ihm von dem Erzählten mit, und er wünschte einige Verse aus dem Liede zu hören. Richtig aufsagen hatte Elsi beim Vater gelernt, ihre Stimme war auch angenehm, man mochte ihr gern zuhören. Sie wählte auch klug einige Verse von sechsundzwanzig Strophen, welche das Lied enthält:„Hier steh ich bei dem Webestuhl,Herr, mach mir ihn zur guten Schul,Daß bei der äußern Handelschaft Dein Wort in meinem Herzen haft.So geht es denn aufs Weben los.

Wie mancher Zug, wie mancher Suehi Doch schreckt das Rumpeln mich nicht ab,Ich webe, bis ich Bändel hab.

Bricht dann ein Fädelein entzwei,

So eil und knüpf ich ihn aufs neu.

Zeigt sich im Räderwerk ein Fehl,

So sricht ichs ein und salbs mit Oel.Halleluja! was will ich mehr?

Der Heiland ist mein Bändel-Herr.Er deckt uns hier und dort den Tisch.Halleluja! so web ich frisch!“Elsi fügte bei: „Das Lied ist zu finden im Bischoffschen Buchladen 1786 und wird gesungen nach der Melodie des hundertsten Psalms; das steht darüber. Der Gottfried kann Ihnen mehr davon sagen, Herr Pfarrer.“

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Aber dieser machte ein finsteres Gesicht: „Gottfried kommt nicht mehr zu uns“, und als er gegangen war,sagte die Pfarrfrau von seibst: „Gottfried hat meinem Mann sehr weh getan! Er hatte den Jüngling so lieb,nun ist er von uns abgefallen und bei den Freigeistern und Revoluzzern und macht böse Anschläge mit ihnen.

Elsi verstand wohl: nicht gegen das Pfarrhaus, sondern gegen die sogenannten Aristokraten wars gemeint, aber dennoch wehrte sie sich für ihren Jugendfreund: „Nein,liebe Tante, böse Anschläge macht er gewiß nicht, und wenn ers mit den andern hält, ists, weil sie Recht haben!“Das Unpassende ihrer Antwort empfand sie sogleich und bat um Verzeihung; aber die Pfarrfrau sagte mit wehmütigem Scherze: „Sieh, sieh! wir haben eine kleine Rebellin unter unserm Dache! aber hüte dein Zünglein,uueine Kleine; Herr Pfarrer versteht darin deinen Spaßi Es darf überhaupt bei uns von diesen Sachen gar nicht gesprochen werden! und nun wollen wir mal sehen,wie die Mädchen den Tisch für die Herrn gedeckt haben.“

Am folgenden Tage ging es im Pfarrhause sehr lebhaft zu. Die beiden Jüngsten aßen allein mit der Mutter,Valentine und Laura bedienten und die beiden Mägde hatten in der Küche alle Hände voll zu tun. Man schickte an solchen Tagen gern die Jüngste aus, um vor ihren Ueberraschungen sicher zu sein; diesmal begleitete sie Elsi mit Vergnügen. Erst waren die Mädchen in den hintern Gassen beim Schuhflicker, bei dem Strumpfwirker und noch bei andern bescheidenen Leuten. In diesen Gassen war [79] nicht viel zu sehen: neben den Haustüren die der Ställe,Düngerhaufen vor jedem Hause und weiße und farbige Lappen zum trocknen an den Fenstern. Da war die Hauptstraße viel unterhaltender. Laden und Lädchen, wo die hinter den Scheiben aufgestapelten Waren wenigstens Abwechslung boten In der Gasse, die sich von beiden Seiten leicht abschüssig gegen die Matte neigte, rauschte ein Bächlein und teilte sich in zwei gleiche Hälften. Das war so lockend zum Ueberspringen, und da Elsi wie eine Bachstelze hinüber und herüberflog, wollte Thekla auch versuchen, mit geschlossenen Füßen darüberzusetzen, und machte mit den Armen gewaltige Gesten. Buben und Mädchen kamen zu sehen und probierten das Kunststück auch, wobei eins ums andere mit beiden Füßen in das Wässerlein platzte Das war ein Gekreisch und ein Jubel unter den Kindern! Die Mütter kamen aus den Häusern,lachten und zankten, je nachdem ihre Sprößlinge naß geworden oder nicht.

Auch Kunigunde, die Pfarrmagd, hörte es, denn sie hatte der Handschuhmacherin, ihres Bruders Frau, ein Töpfchen gute Suppe gebracht; nun trat sie unter die Tür und schrie auf: „Herjeses! unsere Hopfenstange und das Substitutenmädel!“ Dann holte sie die beiden ins enge Handschuhlädchen und hielt ihnen eine Standrede,daß sich solches Benehmen für Töchter eines geistlichen Hauses nicht schicke und sie nicht verfehlen werde, es dem Herrn Pfarrer anzuzeigen.

Thekla machte sich nicht viel aus der Drohung, da es heut nicht möglich war, des Pfarrers habhaft zu werden;bis morgen hatte es Kunigunde wieder vergessen.

[29]

J

Und die alte Magd hatte auch ein Einsehen. Sie dachte an die blanken Sechsbätzner, die der Herr Substitut allemal unter den Teller gelegt hatte, wenn er mit den Seinen im Pfarrhause speifte. Das geschah früher regelmäßig und ohne vorherige Anmeldung; der Gast brachte ja selbst ein Namhaftes zur Besetzung des Tisches mit.

Das Substitutentöchterlein war bei Kunigunde gut angeschrieben. Die alte Frau Reiffenstein zahlte ein schoönes Kostgeld, welches dem Hause gutkam; damit konnte man der kranklichen Pfarrfrau die Stärkungen anschaffen,gegen die sie sich immer gewehrt hatte. Es war eben anders als früher, wo die anhänglichen Bürgersfrauen von allem Guten eine Probe ins Pfarrhaus schickten. Eine besonders gesegnete Zeit brachte das Schweineschlachten,wo Tag um Tag das Todesstbhnen der gestochenen Tiere aus den Höflein tönte. Damals kam oft so viel „Metzgete“ins Haus, daß mans nicht aufessen konnte und die Pfarrfrau hin und wieder heimlich mit einem gefüllten Körbchen ins Gestadeck ging; dort wohnte ihre Waschfrau, die Schupferin, die Leule um sich herum wußte, welche nie ein Stückchen Fleisch sahen; denen waren die Blut- und Leberwürste ein Festmahl.

Liestal war damals eine sehr lebhafte Stadt. Als Durchgang zweier bedeutender Verkehrslinien, der beiden Hauensteinstraßen, sah es täglich eine Menge von Güterwagen pafsieren, zum teil acht- bis zwölfspännig. Es kam zuweilen vor, daß gegen Abend einer um den andern anfuhr, mit Stampfen der starken Rosse, die mit den Hufen Funken aus den runden Pflastersteinen schlugen.Am Kummet klingten die Messingziraten; die Fuhrleute [81] riefen und schalten, um Raum zu bekommen, und öfters war die Hauptstraße links und rechts und vom untern bis zum obern Tor mit Frachtwagen besetzt. Schmiede,Sattler und Wagner hatten vollauf zu tun; Lichter zuckten hin und her, jeder Wagen mußte eine Laterne haben. Die Wirte und ihr Gesinde hatten alle Hände voll zu tün,aber auch ihren schönen Verdienst; das Uebernachten für Fuhrmann und Tiere kostete um fünfzig alte Schweizerfranken herum, je nach der Zahl der Pferde.Dagegen war es in den Nächten vom Samstag auf Sonntag und der darauffolgenden recht still und dunkel.Liestal war von vier Oellaternen beleuchtet, in besonderen Fällen aber, zum Beispiel, wenn ein Brand ausgebrochen war, mußte jeder Bürger eine Laterne an seinem Fenster heraushängen. Die Bürger mußten außerdem, wenn das Feuer in strenger Winterszeit ausbrach, Kessel voll heißen Wassers in Bereitschaft halten, weil das Wasser zum Löschen in den Metallröhren leicht einfror.

Es ging alles noch äußerst einfach zu; eine Beförderung von Passagieren gab es nicht, so groß auch der Warenverkehr war. Wer sich nicht Extrapost leisten konnte,mußte zu Fuß gehen und konnte noch froh sein, in einem Botenwagen unterzukommen. Nur mußte man sich in Geduld fassen oder unterwegs schlafen, wie es der Botenmann tat. Spitz, der Wächter, saß vorn unter der Hauder auf erhöhtem Sitze; sah er etwas Ungewöhnliches, machte er Lärm. Der Schimmel oder Kohli trottete seinen bedächligen Schritt und blieb ruhig stehen, wo sein Herr anzuhalten pflegte.

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Außer den Geschäften für die Posamenter versah der Bote, oder „Bott“, alles Mögliche, sogar die Beförderung von lebender Ware, wie etwa einem Kälbchen oder einem Schaf. Das Größte und Kleinste wurde ihm anvertraut,und, obschon damals die Post existierte, trug der Bote in einer angeschnallten Ledertasche die meisten Briefschaften mit.

Die Post besaß damals ein Stübchen an der Hauptstraße, das ihr als Bureau diente; ein Töchterlein vertrug etwaige Briefe aus dem Auslande.

Im Pfarrhause ging das Leben still vorbei. Was sich draußen begab, wurde von der Mutter geheim gehalten.Sie unterdrückte im stillen die Angst und Sorge, wenn der Gatte ausging: aber doch atmete sie erst auf, wenn er wieder im Hause war. Der Pfarrer, auch wenn er noch so schweren Herzens zurückkehrte, nahm eine sorglose Miene an; sie wußten beide, daß sie sich gegenseitig täuschten; aber die Beherrschung ihrer Gefühle war nötig,da der erste Ausbruch ihres Herzleidens nach Gemütserschütterungen erfolgt war.

In die Wochenkirche drang einmal ein junger Mensch,legte die Flinte auf den Pfarrer an und schrie: „Soll ich dich von der Kanzel herunterschießen, du .....2“Laura, die weit hinten saß, trat auf den jungen Menschen zu und sagte: „Du kannst ihm nichts tun, denn Gott steht bei ihm!“ worauf er mit einem Fluche zwischen den Zähnen fortging. Das andere Mal war der Pfarrer auf dem Rathause und verlangte einen verwandten Geistlichen zu sprechen, der als Gefangener eingebracht war. Es kam zu einem Wortwechsel und er wäre bald selbst abgefaßt worden.

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Eine erschreckte Nachbarin war hergelaufen, hatte von der Gefahr berichtet, und damals bekam die Pfarrfrau ihren ersten Herzkrampf; schnell wurde Kunigunde abgeschick, den Vater zu holen. Sie war überhaupt eine tapfere Person und setzte es durch, daß sie täglich dem gefangenen Vetter des Hauses ein Mittagessen bringen durfte.

Von der Zeit an kränkelte die Mutter, und obschon man ihr alles verschwieg, merkte sie doch, was vorging.Thekla flüchtete steis mit Elst in eine verschwiegene Ecke,um ihr alles Erlebte mitzuteilen. Da wars im Sommer,als es hieß, die Basler Garnison rücke gegen Liestal aus.Das Geschrei im Städtchen! Das war ein Flüchten von Menschen, Tieren und Habseligkeiten! Und die arme Mutter lag gerade schwer krank an einem Fieber, und als die Sturmglocken in Liestal und in den Ortschaften herum läuteten, ließ der Doktor die Fenster der Krankenstube mit Bettzeug verbarrikadieren; aber sie hörte doch alles, auch das schreckliche Schießen. Die Kanonenkugeln flogen auf die Dächer, und Ziegel und Kamine polterten herab. Am meisten schossen sie auf den Kirchturm, um die Glocken zu zerstören. Der Vater mußte Mutter halten,sie wollte immer auf und davon. Und dann schrie man „Fürio“ und Vally ging hinauf und sah durchs Bodenfenster, daß ein furchtbarer Rauch und Feuer auf der Spiitelmatie war Puh! Thekla wäre um kein Lieb hinaufgegangen; man konnte ja durch eine Kanonenkugel getötet werden! Dann hieß es, die Garnison sei im Städtchen; es war ein grausiger Lärm.

Hernach kam den Landschäftlern Hilfe und die Basler mußten weichen; die Kanonen waren verstummt und es [34] war schrecklich unheimlich nach dem Rufen und Jubeln in den Gassen. „Jetzt kommen sie das Pfarrhaus erstürmen und den Vater erschießen“, jammerte die Mutter, und ihr Zustand wurde so schlimm, daß man Kunigunde herausließ, den Doktor zu suchen.

Lange, lange ließ sie auf sich warten; endlich erschien sie und ein paar wilde Kerls hinter ihr drein, die mit ins Pfarrhaus wollten. Sie wehrte sich mit ihren Fäusten und ihrem guten Mundstück und schrie: „Ihr kommt nicht hinein und wenn ihr mich hinmacht!“

Vally hatte es durch den Laden gesehen und wollte der alten Magd beistehen! Laura rief um Hilfe; aber niemand hörte es, weil das Pfarrhaus so zurücksteht.Einzig zwei Buben schauten ängstlich um eine Hausecke.Da rief einer davon: „Der Doktor kommt! Pfarrjumpfer!Der Doktor!“ Da ließen die Kerls von Kunigunde ab und machten sich davon.

Nach diesem aufregenden Tage wurde es, äußerlich wenigstens, ruhig im Städtchen. Die Tagsatzung hatte Einstellung aller Feindseligkeiten geboten und ihre Repräsentanten versuchten zu schlichten; aber sie vermochten den Bruderhaß nicht zu ersticken, und die freisinnigen Landschäftler sahen sich steis in Gefahr, von den Gegnern überfallen zu werden; sie machten ihrerseits Ausfälle gegen die stadibaslerisch gesinnten Gemeinden.

Thekla erzählte das alles in kindlicher Weise; das Wichtigste erschien ihr, daß eidgenössisches Militär Liestal und andere Landgemeinden besetzte. Da wars einmal lustig im Städtchen: in der Hauptstraße standen Kavballerie,[]*735

Infanterie und Schützen; die schimpfenden Bürger mußten sich entfernen und mehrere Freisinnige wurden eingesperrt.Thekla war durch Höflein und Gänglein zu ihrer Freundin in die Hauptstraße geschlichen, um auch etwas davon zu sehen.

Damals bekamen Pfarrers auch Einquartierung. Thekla stand gerade mit der Mutter am Fensier, als ein junger Offizier auf das Haus zuschritt: „Das scheint mir ein ganz netter Mensch; er ist gewiß guter Leute Kind! Geh,Thekla, rufe deine Schwester, daß sie ihn in Empfang nimmt!“

Die Pfarrfrau war über die Gegenwart eines Soldaten im Hause sehr froh; er gab ihr Sicherheit für den Gatten.Sie wollte, daß ihn Valentine hineinführte; aber diese stolze Tochter nahm ihm gegenüber ein schroffes Wesen an, das jede Annäherung ausschloß, und doch war der junge Krieger von Valentinens Schönheit ganz überwältigt.

Theklas Spürsinn fand das bald heraus; wenn sie dem Offizier im Hause begegnete, blieb sie bei ihm stehen und schwatzte wie mit einem Kameraden. Er ließ sich gern aufhalten, denn es ereignete sich bisweilen, daß die schöne Pfarrerstochter unwissentlich durch eine Tür auf den Flur trat. Dann sperrte die Jüngste Augen auf wie Pflugsräder, und in ihrem kindischen Kopfe entstand ein großer Plan: sie wollte dem so schlecht behandelten Verehrer eine Genugtuung verschaffen. Das tat sie verwegen,im Gedanken, daß Mutter auch gewünscht habe, ihn kennen zu lernen sie lud ihn zum Nachtessen ein. Anfänglich zögerte er; aber der Wunsch, einmal in Valentinens Nähe zu sein, ließ ihn über die Form wegsehen und er sagte zu.

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Wer aber nicht den Mut hatte, von der kecken Einladung zu sprechen, das war Thekla. So traf der Offizier dann unerwartet um die Zeit des Abendessens mit Chrischona in der Tür zusammen. Die Magd trug die große Schüssel mit dem Habermues und ließ dem Gast den Vortritt.

An den verblüfften Gesichtern merkte er, daß er gar nicht erwartet war, und wollte sich entschuldigend zurückziehen. Aber die Pfarrfrau brauchte bloß in das lamenlable Gesicht ihrer Jüngsten zu blicken, da wußte sie, was Thekla angestellt hatte. Sie ging rasch auf den Offizier zu und sprach ihre Freude aus, ihn hier zu sehen, und da es aufrichtig gemeint war und herzlich, ging die erste unbehagliche Viertelstunde glücklich vorbei, und der Gast aß die Haferkost, als wenn es nichts besseres auf der Welt gäbe. Laura und die Mägde waren weggeblieben;Kunigunde lief zum Schlüsselwirt, wo sie zum Glück einen fertigen Braten ergatterte, Chrischona rüstete eilig Salat,und als der Brei abgetragen war, erschienen alle drei wieder beladen, Lorle mit einer petschierten Flasche, die schon jahrelang im Keller geruht hatte.

Bei diesem Anblick schaute der Pfarrherr auch auf, er hatte bis jetzt steif dagesessen und seiner liebenswürdigen Gattin den Gast überlassen. Man unterhielt sich recht gut, nur Valentine saß da wie ein Eisklotz, und die Jüngste schaute ängstlich auf fie hin: Welch Strafgericht brauten die Wetterwolken auf der stolzen, schwesterlichen Stirn zusammen? Es ging aber gnädig vorbei; man war eben unverantwortlich schwach gegen die Jüngste, den Nestvogel.

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Der nette Offizier wollte andern Tags seine Dankund Abschiedsvisite machen, wurde jedoch nicht angenommen.An seine Stelle kam ein älterer, der so sauer dreinblickte,daß Thekla alle Lust verging, mit ihm anzubinden.

2* 2* *Der Konfirmationsunterricht hatte begonnen; aber mit einer viel kleinern Zahl von Konfirmanden als in früheren Jahren. Eisi sollte probeweise teilnehmen; aber sie fand sich gut zurecht, du Laura sie jedesmal auf die UnterrichtsVtigung, schrieb Bibelsprüche ab, lernte sie auswendig und war zufrieden dabei. Wenn sie früher gewohnt war, nach Belieben zu gehen und zu kommen, hier fügte sie sich leicht in die Hausordnung.

Mit Thekla durfte sie nicht mehr ins Städtchen: es war von der Hüpferei über das Bächlein doch etwas ins Pfarrhaus gedrungen; aber Laura nahm sie immer mit,zuweilen auch eine der Mägde. Vorsicht war in dieser unruhigen Zeit ganz gerechtfertigt.

Der Herbst war gekommen und allmählich der Winter.Da saßen die Pfarrtöchter abends strickend am Tische.Thekla hatte das Amt mit der Lichtschere; da passierte es gar oft, daß sie beim Schneuzen des Nachts die Unschlittkerze löschte. Dann gab es Schelte von Vally. Chrischona,die sowohl als Kunigunde mit dem Spinnrad in der Nähe der Frauen saß, mußte im Dunkeln hinaustappen, um das Licht am Oellämpchen in der Küche wieder anzuzünden. Mit vorgehaltener Hand brachte sie es herein und zündete wieder an; das Kerzenlicht brannte erst ganz schwach auf. Die Leute waren damals noch recht geduldig.

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Die Pfarrfrau spielte etwa Domino oder ein anderes Unterhaltungsspiel mit Elst und Thekla und saß in fröhlicher Laune unter den Mädchen. Es ging ihr wieder gut und sie hatte große Freude an ihrem Kostkinde. Elsis angenehme Stimme und ihr melodisches Lachen halfen ihr über die Melancholie weg, der sie zuweilen nachhing.

Das Substitutenmädchen fühlte sich so glücklich wie noch nie in seinem Leben. Es nahm sich im stillen vor,auch einmal eine so liebevolle, gütige Mutter zu werden,die niemals schalt. sondern nur mit ihrem warmen Blicke abmahnte, wenn man im Begriffe war, Unrechtes zu tun oder zu sagen.Im übrigen saß Elsi wie eine Krähe unter den blonden,rosigen Pfarrersmädchen. Ihr schwarzer Kopf und die dunkle Haut stachen so sehr von den andern ab, auch durchs Gedrungene ihres Körpers, den ein schlecht gearbeitetes Trauerkleid noch mehr verunstaltete; die Haustöchter,besonders Valentine, waren sehr schön gewachsen. Wenn Thekla mit ihrer dünnen Schlankheit neben ihr saß, wurmte es Elselt doch ein bischen, daß sie so kurz geraten war.

Elsi hatte keine Ursache, eitel zu sein; aber doch besaß sie einige Vorzüge. Die Frau Pfarrer schaute so gern in ihre feurigen, dunkeln Augen, und die zärtliche Thekla wollte immer den frischen Kindermund mit den roten Lippen küssen. Laura hingegen nahm sich des krausen, schwarzen Haarbusches an. Man hatte Elsi zuletzt kurz geschoren,um sich nicht mit dem ungeduldigen Mädchen quälen zu müssen; jetzt aber hielt sie still und ließ sich kämmen und bürsten.

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Laura war das Ebenbild ihrer Mutter; deshalb schloß sich das Substitutenmädchen besonders an diese an. Dennoch ging ihr Thekla auf Schritt und Tritt nach und war selig, wenn sie ihr in einem verschwiegenen Winkel alle ihre erlebten Geschichten anvertrauen konnte. Das viele Schwatzen hatte man ihr verboten.

Elsi fühlte sich glücklich hier, da sich das Leid um ihren Vater allmählich in ein liebevolles Erinnern verwandelte. Er würde sich freuen, wenn er sie so von Liebe und Friede umgeben sähe, auch über sie seibst, meinte sie,sie war sanfter geworden, die kleine Schwarze, wie man sie scherzweise nannte.Wie konnte es auch anders sein in diesem Hause, wo eines das andere liebte und ihm alles zu Gefallen tat!Thekla freilich gab oft Anlaß zum Schelten; aber sie war ein so gutes Mädchen, daß ihr niemand graäm sein konnte.

Hier spielte sich das Leben so ruhig ab. Jeder Tag brachte seine Pflichten; der Feierabend war frühe, und außer dem Pfarrherrn lag schon alles zu Bette, wenn der Nachtwächter seine Runde begann. Da klirrte er mit dem Stocke auf und sang:Loset, was i euch will sage,

DeGlocke het achti gschlage, achti gschlage.Bewahret gur und Liecht!

Daß euch Gott behüet!

Für und Liecht nehmt wohl in Acht!

Gott geb euch all e gueti Nacht.Nur eines verdroß Elsi: Gottfried war hier im Städichen und bekümmerte sich gar nicht um die Jugendgespielin; sie [90] war ihm auch noch nie begegnet, was Thekla öfters geschah.Ja, sie zog Elsi eines Abends in eine verschwiegene Ecke und vertraute ihr an, sie habe einen „Schatz“.

Verständnislos blickte ihr die Schwarze ins Gesicht.Auf dem Lehenhofe hatten die Mägde wohl hie und da ein solches Anhängsel, aber dann mußten sie wandern;das wurde nichi gelitten. Thekla war aber doch ein Schulkind, nein, das glaubte sie nicht!

Aber die Pfarrjüngste versicherte: „Frag nur die Fieke,meine Schulkamerädin! Wir haben ihn miteinander!“

„Da ists wohl ein Schulbub?“ fragte Elsi.

„O nein“, erwiderte Thekla empört, „er ist gewiß schon zwanzig Jahre alt! Du kennst ihn ja auch! 8 ist der Gottfried Zörnli!“

Elsi wurde feuerrot; aber sie fragte nicht weiter. Was würde sie noch erfahren von dieser Thekla?

Sie bekam nun auch zu wissen, daß sie, Thekla und Fieke, dem Gottfried einen Brief mit einem Verslein Jeschickt hätten. Fieke dichtete wunderschön, man müsse sich bloß wundern, wo sie es herhabe.

Aögeschrieben hat sies, die Gans“, warf Elfi ein.

Meinst du? Es hat ihn aber doch gefreut. Wir sind ihm begegnet; natürlich wurden wir rot wie Klatschrosen und durften ihn nicht ansehen; gemerkt haben wirs aber doch, wie er uns freundlich anlächelte!“

„Der Schlingel!“ rief Elst erzürnt dazwischen.

Bist du böse auf ihn, Elseli? Er ist doch ein so lieber Mensch! Weißt du, er wohnt im gleichen Haus mit Fieke und sie weiß alles, was er tut. Im Rathause halten sie viel auf ihn; er muß auch alles besorgen, wo [91] es einen feinen Mann braucht, und da ist er oft auswärts. Ach! früher kam er auch zu uns, als er bei Vater Stunden hatte. Ich mochte ihn so gern, und er brachte mir Levkoiensamen vom Mattenhofe und bekümmerte sich um meine Blumengärtnerei. Und jetzt steckt er unter einer Decke mit den Revoluzzern. Aber ich weiß es besser;er ist nur da, um Gutes zu tun: einen hat er gewarnt,daß er nicht gefangen wurde, und ein anderes Mal flüchtete er ein Pfarrerskind mitten durch die Insurgenten.

Dann erzählte Thekla das Ereignis: In einer Baselbietergemeinde hatte sich der Pfarrherr durch seine Strenge gegenüber den Freisinnigen so verhaßt gemacht, daß die Landleute sein Haus überfielen und ihn totschlagen wollten.Er konnte aber entwischen, seine Frau auch, und sie verbargen sich jedes an einem andern Ort.

Ihr kleines Mädchen, das Gritli, war von der Magd rechtzeitig noch bei den Ihrigen untergebracht worden.Weder Vater noch Mutter konnten nach ihm sehen, sie wußten selbst nichts von einander. Da erfuhr die Pfarrfrau, daß ein paar Dörfer von dem ihrigen weg Meister Zörnli, ein treuer Stadtanhänger, wohne, und sie sandte ihm einen Boten mit der Bitte, ihre Kleine in seine Obhut zu nehmen. Das erfuhr Gottfried und entschloß sich, das Gritli herauszuholen und nach der Stadt Basel zu bringen.

Das Mädchen war für sein Alter noch so klein, daß sich Gottfried der Bequemlichkeit halber den Tragkorb seiner Hüterin, der Dorfwächtersfrau, erbat und das Kind hineinsetzte. Man kannte ihn dort nicht, er hatte auch schlechtes Zeug angezogen; aber dennoch wurde er von den Bauernwachen angehalten, die noch immer auf die Pfarrersleute [92] fahndeten. Sie fragten „woher und wohin“ und wem das Kind gehöre. Er gab zur Antwort, „es sei dasjenige der Wächterin“, und er bringe es zu seiner Großmutter.

Da schob das kleine Ding sein Näschen über den Rand des Korbes hinaus und rief empört: „S ist gar nicht wahr, ich gehöre nicht der Wächterin, ich bin das Gritli vom Herrn Pfarrer!“

Gottfried hatte Mühe, die Kleine zu schützen; die erbosten Dörfler hätien gern am „Pfaffenbalg“ ihren Zorn ausgelassen; aber Gottfrieds Pistole hielt sie in respektvoller Entfernung. Sie selbst waren nur mit Heugabeln und Zaunpfählen bewaffnet. Der junge Mann verlangte,daß sie denjenigen herholten, der hier befehle, und das ging nicht so schnell.

Als er endlich erschien, gab sich Gottfried zu erkennen,und daß die Kerls von ihrem Anführer „Rindviecher“und noch anders geschimpft wurden, brachte die verlorene Zeit nicht ein. Er mußie gewaltig ausschreiten; es ging schon gegen Mittag.

Endlich erreichte er einen bekannten Bauernhof. Ein jüngerer Sohn dieses Hauses war zugleich mit ihm im Lehrerseminar in Muttenz gewesen. Dort wurde er freundlich aufgenommen, hob das leise winselnde Kind aus dem Korbe und wusch das verweinte Gesichtchen mit frischem Wasser. Die Hausmutter wärmte Milch und deckte ein Beit auf, wo die Kleine ihre schmerzenden Glieder ausstrecken konnte.

Sie schlief auch sofort ein; Gottfried weckte sie ungern wieder, aber es war noch die letzte Strecke zu überwinden,ehe es dunkelte.

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Den Korb hatte er zurückgelassen, Gritli saß bald auf seinem Arme, bald auf seiner Schulter; und mit eiligen Schritten ging es St. Jakob zu.

Als er mit der kleinen Last in das Aeschentor trat,jauchzte Gritli auf, faßte seinen Retter um den Hals und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Die Wache wollte im Durchgang auf ihn zu, nun aber mußte sie so lachen,daß sie den Mund fast von einem Ohr zum andern zog.Die andern Garnisönler, die herumstanden, machten schlechie Witze, und Gottfried war damit glücklich hineingekommen.

Jetzt kam eine andere Verlegenheit. Zörnli wußte wohl den Namen der Großmutter, aber nicht ihre Wohnung.Die Kleine konnte es nicht sagen; sie meinte all Augenblickt „Da ist!“ Wenn sie aber näher kamen, wars doch nicht der Großmutter Haus. Er fragte eine begegnende Frau, die wußte auch nicht Bescheid, der Name war zu allgemein. Sollte er das Kind auf die Wache bringen?Dann konnte der Rebell selbst Unannehmlichkeiten haben.

Ratlos schritt er dahin, die jämmerlich weinende Kleine auf dem Arme. Da kam eine Frau auf ihn zu und fragte teilnehmend: „Was fehlt dem armen, kleinen Mädchen?“Und sie wußte ihm Auskunft zu geben und meinte: „Das ist wohl das kleine Gritli, auf das man schon viele Tage mit Sorgen wartet?“ und bot sich zur Begleitung an.Der Zörnli übergab ihr aber das Kind und machte sich eilig auf den Rückweg; er wollte noch den Bauernhof erreichen und dort übernachten.

Das hatte Thekla in behaglicher Breite erzählt und Elsi mit brennenden Wangen zugehört: er war wirklich [94] ein famoser Kerl, ihr Gottfried; die andern aber brauchten nicht solch Wesens aus ihm machen, er ging sie nichts an.*Unter eisigen Winden nahte die Festwoche. Im Pfarrhause wurde wenig gerüstet; jedermann war zufrieden,wenn alles still verlief. Doch lags in der Zeit, daß sich alle in freudiger Stimmung befanden. Damals feierte man Weihnachten nur im religiösen Sinne, Geschenke kamen erst auf Neujahr dran. Von einem Lichterbaume war überhaupt nicht die Rede; das wurde erst später allgemeiner.

Man saß am heiligen Abend still beisammen; der Vater hatte seine Studierlampe ins Wohnzimmer gebracht.Da fiel das langweilige Schneuzen der Talgkerze weg.Er las das Evangelium von Christi Geburt; es war feierlich-schön, Elsi hatte es nicht so erwartet. Valentine begleitete auf dem alten Klavier mit dem Harfenklange die altgewohnten Weihnachtslieder, und als hernach eine augenblickliche Stille eintrat, sagte die Pfarrfrau: „Es fliegt ein Engel durch die Stube!“

„Mutter, der Engel bist du selber!“ rief Thekla und fiel mit ihrer stürmischen Zärtlichkeit über sie her, während der Vater mit den beiden ältern Töchtern ernste Blicke tauschte: „Wie lange noch wird sie bei uns bleiben?“Der Alltag kam wieder zu seinem Rechte. Jedes hatte eine kleine Handarbeit, und wenn sie noch so unbedeutend war. Thekla drückte sich in die Ecke und zog Elsi mit;sie war von einem großen Unternehmen erfüllt und wollte sich aussprechen.

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Mit Fieke zusammen hatte sie einen schönen Neujahrswunsch gekauft, den schönsten, den man in Liestal bekommen konnte, mit Blumen, Vögeln und Golddruck. Den wollten die Mädchen an Gottfried senden, und Elsi durfte als seine Jugendbekannte ihren Namen auch einschreiben.

Elst nahm das auf empörende Weise auf; sie griff nach dem Blatte und riß es von oben bis unten durch.

Thekla sah sie erst sprachlos an, dann versteckte sie ihr Gesicht in die Schürze und weinte herzbrechend; da tat es dem heftigen Mädchen doch leid und sie tröstete:„Heul doch nicht so, Thekeli, 8 ist ja bloß Papier!“

Aber Thekla war vernichtet; sie hatte kein Geld, ein zweites zu kaufen, und was würde Fieke sagen?

„Aber zu was braucht denn Gottfried einen Neujahrswunsch, als wenn er euer Großvater wäre?“

„Man sieht wohl, Elsi, daß du ihn nicht gern hast,sonst täte es dir mehr leid!“

„Geh doch, Thekla! so ein dummer Glückwunsch; er ist dem Gottfried ganz wurst.“

Die beiden kamen dann überein, das teure Blatt mit Eiweiß zu verkleben, und da der Riß doch gar zu sehr in die Augen stach, schrieb Elst darunter: „Das habe ich zerrissen“. Thekla erbetielte beim Vater einen weißen Bogen und machte einen geschickten Umschlag davon, der,mit Oblate zugeklebt, der Mitspenderin Fieke das Geschehene verbergen sollte.

Am Shylvestermorgen gings in der Schule gemütlich zu; da schrieb man überall Neujahrswünsche. Die Schüler brachten ihre Glückwunschböglein mit, mehr oder minder verziert, und außer dem Kratzen der Federn hörte man []J934 keinen Laut. War das wichtige Werk dann zu Ende,teilte der Lehrer die Zeugnisse aus; dem alten Jahre wurde noch ein Abschiedslied gesungen und dann war die Schule aus.

Thekla ging mit weinerlichem Munde heimwärts; in ihrem Zeugnis stand: „Schwatzhaft und vorwitzig“. Vor den Eltern bangte sie nicht, da liefe es gnädig ab; aber die gestrenge Schwester! Ihre scharfen Augen hatten die Zerknirschte schon entdeckt, als diese verstohlen ins Haus schleichen wollte, und das ominöse Schriftstück nahm sie ihr oben an der Treppe ab und begab sich damit zur Mutter.

Hier gab es eine pädagogische Verhandlung: Valentine beklagte die unverantwortliche Nachsicht der Eltern; sie und Laura waren so streng erzogen, und diesem leichtfertigen Mädchen sah man alles durch die Finger. Aber einmal müsse Recht vorgehen, sonst verliere man alle Gewalt über Thekla.

Die Mutter berief sich auf des Kindes Jugend und Unverstand; weil sie so in die Länge gegangen sei, verlange man zu viel von ihr. Bekanntlich werde man gegen die Jüngsten immer nachsichtiger, und wenn Vally einmal eigene Kinder habe, werde es ihr auch so ergehn; überhaupt passe nicht dieselbe Methode für alle. Einen kleinen Arrest setzte Valentine doch durch.

Elsi war oben im Schlafzimmer, das sie mit Laura teilte; sie lernte ihre Sprüche für den Unterricht auswendig. Da brachte Kunigunde eine Schachtel, die der Bote für sie abgegeben hatte. Damals waren diese leichten,soliden Holzschachteln, welche einst von Schwarzwälderhändlern verkauft wurden, das übliche Gepäckstück, das zu [87] festlichen Zeiten mit dem Botenwagen hin- und herwanderte;auch mit der Deligence nach Bern, Zürich, Luzern. Da konnte man auf dem Deckel die alten, durchgestrichenen Adressen studieren, und die Abdrücke von Siegellack, mit dem man neue Adressen aufpetschierte, waren über das ganze, angebräunte Holz verstreut.

Elsi jubelte; das war das erste Liebeszeichen seit den drei Monaten, die sie im Pfarrhause war, und es kam von ihrer Schwester Helene, von der sie beim Oeffnen auch einen Brief fand. Sie meldete, daß ihr Gatte im Herbst die Kur in Baden gebraucht und die Mama öfter gesehen habe. Diese fühle sich wohl dort und lasse ihre Elsi vielmal grüßen; sie denke so viel an ihr liebes Töchterlein und hoffe, es gehe ihm gut, aber man wisse ja, mit dem Schreiben fiele es ihr zu schwer. Aber was die alte Schachtel alles enthielt! Vieles Nötige für Elst, auch ein Müffchen und Boa nebst Pelzhaube, die Helene von ihrer Mädchenzeit her noch aufgehoben hatte. Thekla, welche von ihrer Schwester auf den Stuhl vor den Arbeitstisch genagelt worden, erfuhr von dem wichtigen Ereignis, warf ihre Strafarbeit weg und erschien, beim Auspacken zu helfen.Baslerleckerli füllten den untern Teil; die wollte Elsi der Frau Pfarrer bringen; ihr war ein Wurstzipfel lieber.Da fanden die Mädchen noch ein Geldbeutelchen, durch dessen Seidenmaschen Silbermünzen blinkten.

Elsi fühlte sich dem Pfarrtöchterchen gegenüber ersatzschuldig für Gottfrieds mißhandelten Glückwunsch. Sie nahm einen glänzenden Sechsbätzner und drückte ihn Thekla in die Hand. Da führte die Beglückte einen wahren Indianertanz auf, daß alles zitterte und klirrte. Im

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Augenblick kamen rasche Schritte über den Flur. Der Pfarrherr, der an der Predigt arbeitete, riß die Tür auf und rief zornig: „Was geht da vor? Macht, daß ihr hinunterkommt!“

Die Pfarrfrau freute sich des Gebäcks, sie hatten andere Jahre auch solches fabriziert, aber jetzt war die Zeit nicht zu Ueberflüssigem angetan. Elsi hatte ganz blaue, starre Hände vom Aufenthalt im kalten Stübchen droben: „Du armes Kind“, sagte sie liebkosend, „du erfrierst ja fast in deinem dünnen Merinofähnchen! Geh eins, das Paket im Kasten holen! Ich habe deiner Großtante geschrieben,und da ermächtigte sie mich, dir ein warmes Kleidchen machen zu lassen. Es ist wohl am besten, du ziehst es gleich an, gefällts dir?

Ob es ihr gefiel? Schon die warme Umhüllung tat ihr wohl; dann wars auch gut gearbeitet, der Stoff vom besten Liestaler Halblein. Elst kam sich so hübsch drin vor, sagte ganz naiv: „Wenn mich nur Gottfried so sähe!“und als alle lächelten, fügte ste bei: „Er hats so gern,wenn man gut angezogen ist!“

Das war ein schöner Tag im Pfarrhause; der Duft des Milchbrotes im Flur, die Stimmung im Familienzimmer Vally hatte sich wieder entwölkt. Die Mutter saß am Ofen, in dem die Holzscheiter knackten und knisterten,um sie herum die Mädchen; das freundliche Gesicht der Pfarrfrau bestrahlte alle gleichmäßig.

Abends gingen sie zur Kirche in den Jahresschluß.Elsi fühlte sich so geborgen, sogar eine kleine Pelerine hatte sie bekommen. Die Pfarrtöchter hatten keine Mäntel,nur kleine, viereckige Umschlagtücher. Man war damals [5] noch nicht so empfindlich; nur glaubte man, dem Kopf eine warme Umhüllung schuldig zu sein. Die farbigen Samthauben der Mädchen stammten von ihren Kinderjahren her, die Pelzeinfassung war ziemlich abgescheuert, aber sie schmückten dennoch die hübschen Gefsichter.

Die Pfarrfrau war mit Chrischona allein geblieben.Letztere deckte den Tisch und die Hausmutter wigelte ihre bescheidenen Geschenkchen ein und band farbige Bändchen darum; für die Mägde war das Uebliche ein Wecken, mit einem Taler oben drin stecken. Und dann kamen alle heim mit klappernden Zähnen, roten Nasen und blauen Backen, und brachten einen Strom von Kälte in den Kleidern mit; aber der Thee dampfte auf dem Tisch und rosiger Schinken von selbst aufgezogenen Schweinchen war die Festspeise. Fröhliches Geplauder und die Verteilung der kleinen Gaben füllten den Abend, bis der Pfarrherr mit einem Vaterunser die kleine Familienfeier beschloß.

Elsis stiller Wunsch, der Jugendfreund möchte sie sehen,ging am Neujahrstage in Erfüllung. Frau Pfarrer schickte die Jüngsten unter Valentinens Obhut spazieren. Es war ein kalter, aber sonniger Tag und alle Welt auf den Füßen; dem schwarzhaarigen Mädchen mit dem dunkeln Teint gab die Kälte etwas Frisches, und die weiche Umrandung durch den grauweißen Pelz stand ihr gut; sie war sich dessen auch bewußt und deshalb vergnügi.

Da kam ihnen der Zörnli mit einem Herrn entgegen;letzterer verschlang von weitem schon die schöne, ältere Pfarrerstochter mit den Augen, während Gottfried dem Mädchen zulächelte. Als er sich aber näherte, kam ein weicher Ernst in sein Gesicht; er dachte an ihr letztes

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Zusammensein, da sie miteinander um einen teuren Versiorbenen geweint hatten. Elsi empfand das sogleich und senkte beschämt die Augen; in der Freude des Wiedersehens war er ihr zuvorgekommen, hatte vor ihr des Vaters gedacht.

Aber Valentine schritt in diesem Augenblick mit stolzer,abweisender Gebärde an den beiden Männern vorbei.Gottfried konnte nur noch mit einem treuen, warmen Blicke die kleine Freundin umfassen; dann waren sie vorbei. Thekla hatte mit Verwunderung dieser Augensprache zugesehen; sie wäre leer ausgegangen, wenn sie sich nicht umgekehrt und dem still Verehrten mit betrübten Blicken nachgesehen hätte. Eben wendete sich Zörnli auch zurück und da ward ihr noch ein freundliches Nicken zu teil.

Wenige Tage später saß die Pfarrfrau wieder an ihrem warmen Plätzchen, von den arbeitenden Mädchen umgeben,und prüfte kritisch Elsis Näherei: „Du hasts schon los,einen ordentlichen Saum zu machen“, sagte sie, „nur sind deine Stiche immer noch zu lang!“ Ich sehe, du lernst alles leicht, wenn du nur den Willen dazu hast; ich möchte so gerne, daß du bei uns auch etwas Rechtes profitiertest,du hast uns einen so reichen Segen ins Haus gebracht!Ich meine nicht nur, was unsere liebe Verwandte Reiffenstein deinethalben uns schickt, sondern deine kleine, fröhliche Person hat mir auch fürs Gemüt gut getan. Es hat niemand erwartet, daß ich mich so erholen würde von der nervösen Aengstlichkeit; sogar gestern hat der Arzt gesagt, ich dürfe mich nun auch ein wenig im Haushalt umtun. Aber“,mit einem eigenen Blick auf die älteste Tochter, „es geht bei Valentine alles am Schnürchen, daß ich überflüssig [101] bin. Aber ich könnte mich doch nützlich machen, indem ich dir Unterricht gebe: aus den Schulfächern bin ich so ziemlich heraus, aber zum Beispiel im Gesang, was meinst du, Elsi?“

Das Möädchen wehrte sich lebhaft; es wäre für die gute Tante eine Qual, da ihr das Gehör für Musik fehle und vor ihrem falschen Singen alles davonlaufe.

„An der Sümme fehlts nicht, lieb Elst, sondern nur am Zutrauen; ich muß mich eigentlich wundern, daß dich dein musikalischer Vater nicht dazu vermocht hat; aber man weiß ja: einer, ders zum Künstler brachte, dem geht die Geduld mit dem Anfänger bald aus.“

„Dem Vater die Geduld ausgegangen? Niemals!o nein!“ dachte Elsi.

Da aber die Pfarrfrau ihr noch mehr zuredete, versprach sie einen Versuch zu machen mit den Liedern aus dem Gesangbuche, von denen sie sagte, daß sie am leichtesten zu lernen seien. „Aber schrecklich langweilig,solch schleppender Gesang!“ warf sie offenherzig ein. „Ja wenns noch ein lustiges Liedlein wäre, wie es Burschen und Mädchen auf dem Lande singen!“

Valentine machte eine geringschätzige Geste, welche die Mutter von weiterem abhalten sollte; aber die Pfarrfrau erzählte im Gegenteil, daß sie in jüngern Jahren auch heitre Musik bevorzugt habe. Laura sollte das Heft aus ihrem Schreibtische holen; sie legte es vor sich.

Es war ein Band in rotem Leder mit schwarzer Etiquette; auf dieser stand mit Goldbuchstaben gedruckt: „Lieder von Magdalis“.

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„Magdalis? Wer ist das?“ fragte Elsi, und die Hausmutier wurde ganz rosig, als sie berichtete: „Man war eben auch einmal jung und schwärmerisch; da schien uns mein Name „Magdalena“ zu trocken und die Freundinnen nannten mich Magdalis.“

Elsi blätterte interessier in dem roten Buche; ihr Vater hatte auch solche selbstgeschriebenen Notenhefte. Hier waren Schweizerweisen, ein Appenzeller Kuhreigen, dann weitere Lieder: „Reicht mir frische Myrthenkränze“, „Wie wohl ist mir in meinem Innern“ und andere mehr. Französische Airs folgten aus Climène, „Zèmire et Azor“, ein „Vaudevillo de la belle Arseno“. Da kam: „Mal-brough s'en va-t-en guerre!“ Elst saß in Gedanken auf des Vaters Knie, damals, als sie anfing Französisch zu lernen und ihr nichts im Kopfe bleiben wollte als das lustige Mironton, mirontaine“.

Die Pfarrfrau hatte ihr mit Spannung zugesehen; sie wußte, daß das Kind auf eine Ueberraschung stoßen werde,und da schrie es schon heraus: „Tante! ist das hier nicht meines Vaters Handschrift? Hier: „Der Rose Sendung“,von Tiek, komponiert von Hummel.“

„Du hast recht gesehen, liebe Elsi. Als wir hier meiner Schwester Brautgastierung hielten, war das Lied in Basel bekannt geworden; einer der Eingeladenen hat es uns vorgesungen, und dann kopierte mirs der liebe Substitut hier in mein Heftchen.“

Bald darauf schickte die Pfarrfrau einmal ihre Töchter XDD das sich nur in wenig Tönen bewegt!“ Sie schlug die Note auf dem Instrument an; da das Möädchen nicht [103] treffen konnte, sang sie den Ton vor. Es war eine unendliche Mühe, und Elsi, hingerissen von der Liebe und Geduld ihrer Lehrerin, gab was sie konnte an gutem Willen und Können. Schließlich kam doch ein kleiner,winzig kleiner Erfolg, und zum Lohn und zur Ermunterung sollte sie das Lied von der Rose hören, mit halber Stimme nur:„An Alexis send ich dich .

Die Pfarrfrau stimmte es mit leiser Begleitung. Sie mußte einmal eine gute Sängerin gewesen sein, denn jedes Wort fiel deutlich von ihren Lippen; Innigkeit und Wärme ergoß sich aus den schwachen Tönen. Ihr liebliches, von der weißen Tüllkrause umrahmtes Gesicht fürbte sich rosig,und ganz verjüngt erschien sie ihrem Gatten, der, von der Aeltesten hergerufen, in die Türe trat. Er brachte es nicht über sich, sie zu stören; erst als sie fertig war, trat er heran: „Liebe Magda“, sagte er weich, „du weißt doch,du darfst dich nicht anstrengen! Sieh, wie erregt du bist!Dein Puls schlägt wie ein Hammer!“

Er trug sie aufs Ruhbett und zog einen Stuhl heran;ihre Hand in der seinen, wartete er, bis sich das Herz beruhigt hatte. Damit wars nun aus mit der Singstunde.Dennoch glühte in Elsi ein Funke von Sangeslust weiter;sie hätte zu gern probiert, aber sie waren alle stets um den Weg, die gestrenge Valentine und die vorlaute Thekla,vor Laura hätte sie sich weniger geniert. Das rote Buch der Magdalis hatte sie aber in Verwahrung genommen.

Die Gelegenheit ergab sich schließlich doch. Im Pfarrhause war großes Waschfest, und bei dem köstlich warmen Weiter hatten sich alle auf den Gstadeck begeben, den all[104] gemeinen, großen Trockenplatz des Städtchens. Elst arbeitete an ihrer Aufgabe für den Unterricht; die Herrin ordnete oben im Studierzimmer ihres Gatten. Dieser hatte sich bei Tagesanbruch auf den Weg gemacht, um einen gleichgesinnten Amtsbruder zu besuchen; der Weg durch die nächsten Dörfer war ihm versperrt und er konnte nur in einem großen Umkreise zu ihm gelangen.

Jetzt irat die Pfarrfrau in die Stiube: „Elseli, machts dir nichts, ein wenig allein zu Haus zu bleiben? Ich möchte gern einmal nachsehen, was die andern machen!Aber gelt, du kommst einmal in die Küche? hier unter das Sauerkraut schiebst du einen Spahn; es ist gar und braucht nur noch warm gehalten zu werden. Aber da unter dem schwarzen Topfe mußt du tüchtig anlegen, daß die Kartoffeln zur Suppe verkochen! ich bin ja bald wieder hier.“

Und freundlich nickend ging sie fort. Sobald die Haustür ins Schloß fiel, öffnete Elst das alte Instrument und legte das rote Buch auf: das Lied von Alerxes Rose, das mußte sie probieren. Aber erst die Pflicht tun! Sie schob unter die hochbeinige Kupferkasserole mit dem Kraute, was nur von Holz darunter Platz hatte; dagegen bedachte sie den schwarzen Kartoffeltopf mit einigen dürftigen Spähnen.„Und jetzt hinein zum Klimperkasten!“ jauchzte sie.

Mit dem Zeigefinger schlug sie die Noten an, die kannte sie zum Glück, und dann sang sie, was das Zeug hielt,obschon sie selbst fühlte, es klang anders, als sie wollte;aber die Stimme mußte zuletzt doch parieren, obgleich sie wie ein störriges Böcklein bald auf die eine Seite, bald auf die andere übersprang. Einstweilen übte sie nur die [105] zwei ersten Zeilen; um aber etwas Abwechslung hineinzubringen, änderte sie den Namen Alexis in Gottfriedus um.

Sie war so im Eifer, daß sie gar nicht merkte, daß die Pfarrfrau in der halboffenen Tür stand und ungesehen wieder hinausging. Als die Hausfrau aber in die Küche treten wollte, quoll ihr ein dicker Dampf von verbronntem Sauerkraut entgegen; zugleich eilte schimpfend Kunigunde vom Garten herauf. Erschrocken warf Elsi den Klavierdeckel zu und flog hinaus. Eben schüttete die Magd das Gemüse in eine Schüssel um und zeigte dem Mädchen die dicke, schwarze Kruste im Kasserolbodden. „Die muß nun wieder verzinnt werden“, brummte sie grollend.

Elsi trat zur Hausfrau: „Tante, hauen Sie mir ein paar!“ sagte sie. Aber die Pfarrfrau war nicht einmal imstande, ein ernstes Gesicht zu zeigen; die Katzenmusik „an Gottfriedus“ lag ihr noch in den Ohren.

Bei Tische fühlte sich das Mädchen recht unbehaglich.Laura und Chrischona waren noch auf dem Trockenplatze,die andern aßen schweigend von dem brenzligen Kraut,außer Thekla, deren Grimassen zum Lachen reizten; die Mutter mußte sie warnend anstoßen. Die Waschfrau saß mit dabei, die ehrwürdige Frau im schneeweißen Haar und mit dem stark gewölbten Rücken; auch sie verzog keine Miene und wollte mit den Mägden ihren Teller hinaustragen! Da sagte die Pfarrfrau: „Sitzt nur wieder ab,Schupferin, es gibt noch einen Kaffee“. Das alte, schöne Gesicht erstrahlte. Das war ein Schluck, der in ihren Kundenhäusern nicht vorkam; ja im Pfarrhause selbst gab es nur am Sonntag Kaffee statt der gewohnten Morgensuppe.

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Dieser Februar war ein richtiger Frühlingsmonat; am Kornelkirschbaum im Pfarrgarten zeigten sich die gelben Blüten, die Schneeglöckchen streckten ihre Spitzen aus der Erde, und Thekla wühlte mit Spaten und Hacke im weichen Boden. Die Mädchen hatten ihre Sommerkleider hervorgeholt, auch Elst trug wieder das schwarze Merinofähnchen,deim die gute Laura zu einer bessern Form geholfen hatte.Die Pfarrfrau genoß mit Entzücken diese Frühlingstage und wagte sich immer weiter hinaus. Sie spazierte mit den Ihrigen an einem besonders schönen Nachmittage zum Erzenberg, wo die Liestalerfrauen eben ihre Reben bes chnitten,während' die Männer ihrem Gewerbe nachgingen. Sie traten jeweilen aus den Stöcken heraus und reichten der lieben Frau „Pfarreri“ die Hand und freuten sich mit reichlichen Worten, aber von Herzen, ihrer Genesung.

Valentine war noch einmal zurückgegangen, um etwas Vergessenes zu holen: die Medikamente für den Fall einer plötzlichen Herzkrise, aber niemand wußte davon.

Da zog der Pfarrherr die Uhr und mahnte an den Rückweg: er hatte eine Amtssache und mußte zu bestimmter Zeit zurück sein, ja, er hatte sich schon versäumt und überůeß den Töchtern, die Mutter heimzubringen.

Kaum hatte er hundert Schritte getan, so trat ein Mensch mit einer Flinte aus den Reben, rief gräßliche Schimpfworte und legte auf den Pfarrherrn an; der Schuß knallte, die Kugel pfiff an seinem Ohr vorbei und riß ihm den Hut vom Kopfe. Weiter oben sank seine Gattin mit schwachem Schrei in die Arme ihrer Töchter.Alles andere vergessend, sprang er zurück, zog seinen Rock aus und half die Mutter darauf niederlegen.

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Die arbeitenden Frauen kamen aus den Reben gestürzt;sie sahen die Gefahr, in der ihr Seelenhirte geschwebt, und schrien: „Herjeses, Herjeses, s8 isch jo euse Herr Pfarrer!“

Dann drängten sie sich jammernd um die blasse Kranke,und man mußte sie bitten, sich zurückzuziehen; still weinend gingen sie weg.

Die Töchter hatten getan, was in ihrer Lage möglich war. Das schneeweiße Gesicht bekam von den stärkenden Essenzen wieder einen Schimmer von Farbe; wie gut, daß Vally die Mittel noch geholt hatte!

Darüber hatte niemand gemerkt, daß Elsi fehlte; sie war sogleich auf den Schützen zugerannt, und da er vor ihren Augen verschwand, sprang sie auf ein Bord und sah ihn unter sich in einem Weglein, wie er sich mit seinem Gewehre beschäftigte. Sie nahm einen Satz und tauchte plötzlich vor ihm auf, wie eine aus der Erde gewachsene, kleine Furie, zerzaust, mit flammenden Augen und wetterte mit einer wahren Glockenstimme auf ihn los.Wars diese oder eine abergläubische Furcht: er floh in weiten Sprüngen und sie hinter ihm drein! Auf dem holperigen Wege kam sie nicht rasch genug vorwärts. Auf einmal war er verschwunden, und dann fiel ein zweiter Schuß, sie wußte nicht, wo.

Als sie umkehrte, sah sie Thekla, die, zusammengeklappt wie ein Taschenmesser, mit Seitenblicken in die Reben hineinschielte; obschon sie sich entsetzlich vor dem Schießen fürchtete, hatte sie doch der Vater geschickt, Elsi zu suchen.

Sie kamen miteinander zurück; der Pfarrer durchbohrte sie mit einem schrecklichen Blicke! Was war denn geschehen?Da erblickte sie die Pfarrfrau am Boden, und ein sonder[108] bares Gefühl beschlich das entsetzte Mädchen; jedes Haar richtete sich auf und ein eisiger Schauer ging durch ihren Körper: „Der zweite Schuß“, stammelte sie, „hat er getroffen?“ Sie war dran schuld, sie hatte den Mörder gereizt, und sie wünschte, die Erde möchte sich auftun und sie verschlingen! Sie irrte aber; der Schuß hatte nicht der Pfarrfrau gegolten. Da öffnete die vermeintliche Tote ihre Augen; ihr Blick ging in die Runde, ob alle die Ihrigen noch lebten; dann blieb er auf Elsi haften mit einer Liebe, fast Bewunderung, als danke sie ihr für den bewiesenen Mut. Vally aber bemerkte das mit Neid und leiser Erbitterung; in diesem Augenblicke haßte sie das Substitutenkind.

Die beiden Jüngsten wurden heimgeschickt, Kunigunde mußte den Arzt suchen und Chrischona mit dem Strohsessel der Pfarrerin hinaufkommen; der Gatte und die starke Magd würden sie heimtragen. Die jungen Mädchen gingen wie verscheucht umher.

Thekla schlief oben, Elsi ging ins Gastzimmer. Das Türschloß knarrte, darum ließ sie eine Spalte offen stehen;es mußte still zugehen heute im Hause.

Da erwachte sie von einem Lichtschein an der Decke;es war des Nachtwächters Laterne, und eben sang er:„Wänd er höre, was i euch will sage:D Glocke het Vieri gschlage, Vieri geschlage,Bewahret “Da brach es plötzlich ab, und der Laternenschimmer zuckte weiter. Elsi saß aufrecht und horchte: „Unten ging etwas vor!“

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Jetzt kam ein leiser Tritt die Stiege hinauf; Lichtschein drang durch die Türspalte, und schnell sprang das Mädchen auf und stand vor Laura! Die Pfarrfrau hatte nach Mitternacht einen neuen Anfall gehabt; eben ging der Arzt fort; aber er gab die beste Hoffnung.

Aber der Tag brachte trübe Kunde. Thekla erschien mit verweinten Augen und sagte: „Elsi! man schickt dich fort! Vally hats mit dem Vater eben ausgemacht!“

Bald darauf kam dieser ins obere Stockwerk und Elsi trat ihm entgegen: „Herr Pfarrer“, sagte sie, „ich hab ein paar Worte mit Ihnen zu reden!“ Es war schier lächerlich, wie die kleine Person zürnend zum großen,stattlichen Menschen aufsah.

Er ließ sie ins Studierzimmer vorangehen; Thekla,die vor Neugier brannte, schlüpfte hintendrein. Der Pfarrherr bestätigte, was seine Jüngste schon ausgebracht hatte;er herrschte diese aber an: „Du nichtsnutzige Schwatzbase,mach, daß du in die Schule kommst!“

Dann sprach er von den Gründen, die ihn zu diesem Beschlusse geführt: nächst dem wichtigsten, der Erkrankung seiner Frau, noch die Verantwortung, in dieser unruhigen Zeit ein Mädchen von Elsis Temperament im Hause zu haben. Man war bei ihr nie vor Ueberraschungen sicher.

Elsi erwiderte heftig: „Das ist nicht die Hauptsache!Ich weiß, Valentine hats angestiftet, daß ich fort muß! Weiß die Tante schon davon?“

Der Pfarrherr verneinte; man dürfe überhaupt jetzt nicht mit ihr sprechen. Er besann sich eine Weile und fragte dann: „Elsi, wie kams, daß du dem Menschen gestern nachgesprungen bist?“

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„Es mußte doch jemand dem Kerl die Meinung sagen!“erwiderie sie gereizt.

Ein leises Lächeln glitt über des Pfarrers Züge; dann meinte er, das wäre Elsis Amt nicht gewesen! „Er war betrunken, und wenn er dir was zu leide getan häite,mein guies Kind? Das hätte meiner Frau den Tod gebracht! Wir müssen nun weiter reden“, fuhr er fort; „in die Stadt kann ich dich auf dem gewohnten Wege nicht schicken, es ist zu unsicher. Der Doktor hingegen weiß eine Frau, mit welcher du nach Rosenthal fahren kannst. Auf dem Mattenhofe finden sie eher Mittel und Weg, dich in die Stadt zu befördern; einstweilen kannst du nirgends besser versorgt sein! Und dann muß ich dir doch sagen, daß es uns allen leid tut, daß wir dich müssen gehen lassen!

Lange Zeit hätte es nicht mehr gedauert; Tante Reiffenstein will dich bald nach Montmirail schicken. Mir aber ists besonders schmerzlich, daß ich dich nicht konfirmieren darf; du hast mir in der letzten Zeit recht Freude gemacht mit deinem gewissenhaften Lernen und namentlich mit deinen Antworien in der Unterrichtsstunde “

„Die mir Laura immer vorher eingedrillt hat“, fuhr Elsi dazwischen.

„Mag sein! Aber du hast doch Interesse gezeigt, und ich denke, daß du das Gelernte nicht wieder vergissest!Gelt, ich darfs hoffen?“

Elsi schüttelte den Kopf und wollte auch dem Pfarrherrn die Hand zum Abschied nicht geben. Er nahm sie dennoch und sagte: „Du bist ein trotziges, aber aufrichtiges

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Kind, und wie ich dich, als dein Lehrer, nicht ungesegnet von mir lassen kann, so wird der Herr deine sich sträubende Hand auch einmal an sich ziehen, ob du willst oder nicht!“ Es war bestimmt, daß Elsi die Pfarrfrau nicht mehr sehen sollte; da traf es sich zufällig, daß die eben eingetroffene Krankenwärterin aus dem Zimmer trat und das beirübte Mädchen einen Blick hinein werfen konnte: die lila Betivorhänge waren zurückgerafft; die Hausmutter lag schneeweiß mit geschlossenen Augen in den Kissen, und Elfi lief Thekla voran ins Wohnzimmer, wo sie sich einem leidenschaftlichen Schmerze hingab, denn sie meinte, es sei alles aus.Aber Laura tröstete: die Mutter schlief von der Arznei so und es stand gar nicht schlimm.

„Was wird die liebe Tante sagen, daß ich fort muß?“schluchzte sie; „sie soll es ja jetzt nicht erfahren!“

„Sie hats aber doch gemerkt, mein liebes Elseli; als ich allein bei ihr war, fragte sie, wann du verreisest, und trug mir auf, dir in ihrem Namen „Bhüet Gott“ zu sagen mit vielen, vielen Grüßen.“

Kunigunde kam zu mahnen, es sei Zeit; sie wolle Elsi bis zum Gefährt begleiten. Laura war mit leisen Tritten bis zur Haustür gefolgt; kein Geräusch sollte die Schlummernde stören. Da rasselte etwas die Stiege herunter, daß sie unten erschrocken auseinander fuhren; Thekla,die immer ein paar Stufen übersprang, die untere hatte sie ganz vergessen. Als sie in der Hauptstraße das bespannte Bernerwägelein gesehen hatte, das ihre Gefährtin [112] mitnehmen sollte, rannte sie heim, um Elsi ein Andenken mitzugeben, einen im geheimen gepflegten Rosenstock, dessen drei Knospen auf den Konfirmationstag aufblühn sollten.

Als Elsi mit einem Kleiderbündelchen und dem Rosenstocke im Arm oben beim Mattenhofe anlangte, schien alles ausgestorben; nur der Tyras riß an seiner Kette und stieß ein Freudengewinsel aus.

Das Mädchen schritt um die Gebäulichkeiten herum,ohne einer Seele zu begegnen, dann trat sie durch eine Tür in die Küche. Das war der älteste Teil des Lehenhofes und massiv wie eine Burg; er stammte aus der Zeit, wo ein einziger Raum für alles genügte. Der niedere Herd mit dachartigem, großem Rauchfange streckte sich in die Küche hinein. Aus diesem Kamine hingen an eingemauerten Eisenstangen Ketten herab, an denen man die Kessel und Kochtöpfe aufhängte. Zörnlis benützten teilweise die alten Kochgeräte, aber daneben standen noch Dreifüße von allen Größen zum bequemen Gebrauch.

In gewohnter Weise waren die Gluten, die man nie ausgehen ließ, auf einen Haufen gekehrt und mit Asche bedeckt; um Feuer zu haben, brauchte man ein wenig von dieser abzuheben und das Reisig, das man auflegte, stand in Flammen.

In der Küche war kein Mensch zu sehen; der alten Züs Bandstuhl war von einer Decke überhangen. Bisher geschah das nur auf den Sonn oder Feiertag; Züs war eine Posamenterin, wie es auf der Landschaft wenige gab.

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Zuletzt öffnete Elsi das Kabinett, in welchem David Zörnlis Schreibschrank stand; da saß denn Mutter Lene im Lehnstuhl und hielt ihre Siesta. Elsi stieß sie leise an.

„Du?“ rief sie auffahrend, „wo kommst du her?Sag aber, was für ein hübsches Mädel du geworden bist!“

Auf Lauras Rat nämlich, weil in der letzten Nacht ein scharfer Ostwind aufgestanden war, zog Elsi zur Fahrt ihr Halbleinkleidchen an und die Pelzhaube, die ihr so gut stand. Die Luft hatte ihre Wangen gerötet und das krause,schwarze Haar um ihre Stirn gewirbelt.

Aber sofort dachte die gute Hausmutter an den Hunger ihres Gastes, ging eine breite Pfanne auf die Glut legen,und als die Butter dann zu zischen begann, öffnete sie ein Ei ums andere und ließ es hineinfallen.

„Sechs Mutter Lene, halt ein!“ rief Elsi, „es ist genug!“ Doch Mutter Lene sagte, Gottfried wäre mit einem Dutzend kaum zufrieden.

Erst als der Gast sich an den „Stierenaugen“ satt gegessen hatte, ließ sich Frau Zörnli berichten und dann gab sie auch die Erklärung der großen Stille auf dem Mattenhofe! Alle Leute waren droben am Walde, wo man einen Zufluchtsort für die Viehware erstellte; die Zeiten waren ernst und man sprach davon, daß es zum Bürgerkriege kommen werde.

Später kam der Meister und der war nicht weniger überrascht als seine Frau. Den Pfarrer aber fand er unbegreiflich; er mußte doch wissen, daß Zörnlis nicht in der Lage waren, Elsi in die Stadt zu spedieren. Ja, wenn der Gottfried noch da wäre; aber der Bursch steckte ja bei seinen Revoluzzern.

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Dennoch behielten sie „ihre Kleine“ gar zu gern; um ihre Sicherheit war keine Bange; die Vorfahren hatten schon für ein Versteck gesorgt, das nur ein Wissender auffinden konnte. Elsi war auch kein ängstliches Mädchen,im Gegenteil: im stillen freute sie sich darauf, einmal etwas Rechtes zu erleben.

Am 22. Februar hatte die Stadt mehr als die Hälfte der Landgemeinden aus dem Staatsverbande entlassen;diese bildeten eine neue Selbständigkeit unter dem freisinnigen Schutze der Tagsatzung.

Ddas Volk hielt bei Liestal eine Volksversammlung ab,die Organisation des neuen Staates betreffend; auch tat die Landschaft das Möglichste, um recht viele Gemeinden zur Trennung zu bewegen. Die Stadt ihrerseits bemühte sich, viele festzuhalten.

So kams zu Reibungen überall, und eidgenössisches Militär besetzte einzelne Gemeinden, um Tätlichkeiten zwischen den feindlichen Brůdern zu verhindern. Die Gemüter waren sehr erregt, und wer auf den Mattenhof kam, wußte Neues zu berichten; Militär lag in der Nähe und es verlautete,daß Baselstadt eine Kompagnie Standestruppen in die Gegend schicken werde.

Elsi jübelte und obschon sie versprochen haite, sich still zu verhalten, ließ ihr die schon in Liestal angeregte Neugier und Spannung keine Ruhe; sie mußte alles sehen!Am Rande des ebenen Platzes vor dem Herrenhause war ein Gebüsch, jetzt noch kahl, aber es verbarg sie gegen das Dorf hin und gab ihr doch die Möglichkeit, alles zu sehen.

Das war ein Unterschied gegen früher: wo friedliche Leute damals in aller Gemütlichkeit ihre Geschäfte besorgten []-

115 und höchstens ihre Kühe anschrien, wenn sie dieselben zur Tränke führten, sprach und lärmte jetzt alles durcheinander;die Mannen übten sich in Waffen, die Bubenschar war aus Rand und Band und exerzierte wie die Alten, nur mit mehr Spektakel.Dann kamen eines Tages Soldaten und quartierten sich im Dorf und Umgebung ein. Nun sollte sie doch einmal Taten sehen! Das gegenseitige Drohen und Kanonieren war doch zu erbärmlich. Mit leuchtenden Augen ging sie umher, die friedliche Zeit im Liestaler Pfarrhause schien nie dagewesen zu sein. Das war Leben jetzt!

„Die Stadigarnisönler kommen!“ so riefs von allen Seiten. Eine unbeschreibliche Aufregung hatte sich des Dorfes bemächtigt; alles rannte und schrie durcheinander.Die einquartierten Soldaten traten ins Glied; sie sollten den Garnisönlern den Eingang wehren.

Die Truppe war in der Nacht von Basel aufgebrochen und über Großherzoglich badisches Gebiet nach Rheinfelden marschiert, wo ihr ein Bürger heimlich die Tore zum Durchlaß öffnete. Waffen und Munition wurden ihr auf verdeckten Wagen nachgeführt. Die basellandschaftliche Regierung hatte ihr den erbetenen Durchlaß verweigert,aber den Marsch durch andere Gebiete nicht verhindern können. Ihre Repräsentanten begaben sich zum Obersten der eidgenössischen Truppen, welche Rosenthal besetzt hielten,und verlangten von ihm, daß er den Abzug der Garnisönler bewirke; die freisinnigen Gemeinden waren scharenweise in Waffen herzugeströmt.

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Der Oberst beschwichtigte und versprach, die Stadisoldaten zu entfernen, worauf ein Teil des Landvolkes zurückkehrie; die übrigen zerstreuten sich auf den nächsten Anhöhen.

Bei Zörnlis herrschte an diesem Abend eine unheimliche Stille. Der Meister ging mit finsterm Gesichte hin und her; Mutter Lene versank in sorgenvolles Schweigen.Beide mochten ein und denselben Gedanken haben: ihr Gottfried war sicher dabei.

Die alte Züs geriet in große Aufregung; sie hatte ihre fertigen Bänder vom Posamentstuhl genommen und schön in Packpapier eingebunden, um sie bei der ersten Gelegenheit dem Basler Bandhause zu senden. Jetzt rannte sie mit ihrem kostbaren Pakete umher, um ein sficheres Versteck dafür zu finden, denn der Knecht Hansli hatte gerufen, es kämen Stadtsoldaten den Weg zu ihnen hinauf.

Mutter Lene hatte Elsi ergriffen und sie in des Meistersleute Schlafzimmer gezogen; dort war hinter der Wand des uralten Beiles ein versteckter Eingang, durch welchen das Mädchen in einen dunklen Raum geschoben wurde. Erst sah sie nichts und hörte nur die Stimmen der Soldaten,die lärmend Essen und Trinken verlangten. Erst allmählich an die Dunkelheit gewöhnt, fand sie sich zurecht; durch selssame Löcher und Einschnitte in der Wand drang ein Schein; sie merkte, daß Stufen zu den Oeffnungen hinauf führten. Jetzt ging ihr ein Licht auf: das war die braune,verrauchte Schnitzerei an einer Küchenwand, sie hatte sich oft gewundert, daß Zörnlis diese plumpe Verzierung nicht weggeschafft hatten.

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Als sie oben stand, konnte sie alles sehen und hören,was in der Küche vorging: die Garnisönler saßen schon breitspurig am Tische und ließen sich Brot und Wein schmecken; die Meisterin brachte eben noch Käse. Einer der Soldaten schnitt sich einen großen Würfel, steckte ihn ans Taschenmesser und briet ihn über der heißen Asche.Währenddessen blickte er auf und sah das geräucherte Fleisch und die Würste, die inwendig im Kaminrand hingen; den Käse warf er in die Glut und schnilt sich ein Stück Speck herunter, und wie das seine Kameraden sahen, stürzten sie herbei und folgten seinem Beispiel. Sie aßen mit Gier, und da sie nicht mehr so viel zwingen konnten, wanderte alles in die Tornister.Auf das Gesalzene folgie der Durst; sie verlangten heftig nach Wein, aber vom bessern. Der Meister schickte sich gelassen darein, zündete die Laterne an und ging mit ihnen in den Keller. Das Beste war in einem eifernen Gewölbe verborgen. Mutter Lene folgte in Angst, es möchte ihrem Gatten etwas geschehen von diesen rohen Menschen.Unterdessen kam die alte Magd von oben herunter und Elsi aus ihrem Verstecke. Sie berichtete, was geschehen war und überredete Züs, daß sie gemeinschaftlich das Gestohlene aus den Tornistern nehmen und dafür Backsteine vom Herde hineintun wollten. Kaum waren sie damit fertig, kamen mit Geschrei und Poltern die Soldaten herauf: sie hatten vom Dorfe ein Signal gehört, stolperten nur herein, ihre Ausrüstung zu holen und stürzten fast kopfüber den Berg hinunter.

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Als es dunkelte, vernahm man den Abzug der eidgenössischen Truppen; der Oberst hatte versprochen, die Garnisönler zu entfernen. Statt dessen zog er sich mit seinen drei Kompagnien zurück, und die kleine Schar der Landleute stand unbeschützt der Ueberzahl der Garnisönler gegenüber. Zum Glück hatten sich noch bewaffnete Freisinnige in der Nähe aufgehalten, strömten nun von den Anfuhren herunter, und das Feuern begann zwischen dem Landvolke und den Stadtsoldaten.Sorgenvoll gingen die Meistersleute umher; auch Züs hatte keine Ruhe; sie hieß Elst mitgehen und zusammen standen sie auf dem Altan des alten Herrenhauses und blickten in den gräßlichen Tumult hinunter: Blitz, Knall,Schreien der Blessierten, dazwischen die scharfen Rufe des Kommandierenden. Das Drauflosgehen und Zurückweichen der Kämpfenden war schauerlich beleuchtet, da mehrere Häuser brannten. Blutrot waren die Wolken, dazu Rauch und Pulverdampf, der im Dorfe hin- und herwogte.Plötzlich packte die alte Magd Elsis Arm und flüsterte ihr zu: „Dort ist er! Mit dem neuen Trupp ist er gekommen! Komm!“ Sie zog das Mädchen rasch durch das dunkle Haus bis in Zörnlis Küche: der Meister stand am Fenster und schaute finster in den zunehmenden Glast.Hansli, der Meisterknecht, hatte ihn eben um das Gewehr gebeten; er versagte ihm die Waffe und hieß ihn wieder in den Wald hinaufgehen, wo die Knechte nur durch das Bitten und Weinen der ängstlichen Mägde davon zurückgehalten wurden, unten dreinzuschlagen.

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Da kam die Meisterin mit dem verweigerten Gewehr und schickte selber den Hansli hinunter: „Geh, such den Bub! Laß ihm nichts geschehen!“ Und der junge Mann eilte, fortzukommen.

Das Gefecht dauerte die ganze Nacht; mehrere Gebäude gerieten noch in Brand. Da erschien gegen Morgen Zuzug von landschaftlichen Kriegern. Die Baslersöldner wurden zurückgedrängt; fie sammelten sich noch zur Wehr auf dem Kirchhofe. Da ihre Munilion ausging, wurden sie immer mehr bedrängt und eilten in wilder Flucht davon über die Höhen, teils ins Aargau, teils nach Säckingen.

Hansli hatte den Haussohn nur einmal von ferne im Kampfgewühl erblickt, dann aber wieder aus den Augen verloren. Während er ihn weiter bei den Kämpfenden suchte, lag Gottfried bei einem Rebhäuschen am Wege zum Mattenhof, aber totwund.

Er war dazu gekommen, als eine Scheune im Dorfe in Brand geriet, hatte auch geholfen, die widerstrebenden Tiere aus den Ställen zu ziehen. Die Flammen ergriffen das Haus; zum Löschen war keine Hülfe da, jeder sorgte für sein eigenes Leben und für sein Hab und Gut. Viele hatten sich auch in die Keller versteckt. Es war ein gräßlicher Tumult: die Kühe, die mit Gewalt wieder in ihren Siall wollten, in Todesangst brüllend; dort das Geschrei der Kämpfenden, die scharfen Kommandorufe, hier das Knirschen und Heulen der Flammen und das Krachen,wenn ein heruntergebrannter Teil zusammenfiel.

In diesem Höllenlärm verhallten fast ungehört die Hülferufe zweier Frauen, auf deren morsches Schindeldach das Feuer hinübergesprungen war und das alte

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Hülichen im Nu aufflammen ließ. Sie selbst waren noch herausgekommen, aber im Hinterstübchen lag eine alte,bͤlinde Frau; sie mußte elend verbrennen, wenn sie niemand herausholte.

Die paar Leute, die noch auf ihr Geschrei hörten,sahen sich ratlos an: die Giebelmauer der brennenden Baracke neigte schon vornüber. Wer wollte sich noch in diesen Glutofen wagen?

Die Frauen lagen auf den Knien und beteten; kein Retter zeigte sich!

Da erschien Gottfried; er wußte nachher nicht, wie er dazu gekommen war. Sobald er erfuhr, um was es sich handle, riß er vom Haufen der geretteten Ware eine Decke,iauchte sie in den Brunnentrog und sprang todesmutig in den Brand.

Eine Weile war alles so still, daß man nur das Fressen der Flammen und den fernen Lärm hörte. Atemos standen die paar Menschen und starrten auf die Stelle,wo Gottfried verschwunden war; die Schwestern bebten und schluchzten leise. Es dauerte keine drei Minuten, aber ihnen schiens die Ewigkeit.

Da tauchte ein über und über brennender Mensch aus der glühenden Lohe auf; mit den Armen hielt er eine eingehüllte Last an sich gedrückt.

Man nahm ihm die Gerettete ab, übergoß ihn mit Wasser, und während alle sich um die alte Frau bemühten,wantte er betäubi davon; er hatte nur einen Drang: heim zur Mutter. Bei einem Rebhauschen fühlte er den Boden unter den Füßen schwinden und im Bestreben, sich an der Wand zu hallen, war er lautlos zusammen gesunken.

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Bei Zornlis war die Nacht entsetzlich schwer gewesen;Hansli hatte sich noch nicht blicken lassen, der Meister lief hin und her, bald bergunier nach dieser Seite, bald nach jener. War er unten, kehrte er in der größten Angst zurück, sie möchten auf dem andern Wege seinen Sohn heraufgebracht haben.

In diesem Hause glaubte man fast an der alten Züs zweites Gesicht, der Juůngling sei schwer verwundet, wenn man ihn aber rechtzeitig finde, müsfe er nicht sterben.

Elsi lehnte auf der Fensterbank. Sie war bis gegen Morgen wach geblieben; aber der Schlaf überfiel sie zuletzt so schwer, daß sie von allem Lärm nichts mehr hörte.In halbem Bewußtsein däuchte ihr, daß ein Mann, wie Vater David, mit einem langen Menschen auf dem Rücken draußen am Fenster vorbeiginge; es war halb Traum,sie vermochte nicht die Augen zu öffnen.

Aber es war doch so; David hatte seinen Sohn heraufgetragen. Es war ihm aufgefallen, daß der anfangs in seiner Hütte versteckte Hund winselnd an der Kelte riß.Würde er wohl die Fährte finden?

Er machte ihn los und das Tier lief davon. In der Dunkelheit würde er ihn aus dem Auge verloren haben, wenn ihm nicht dessen Klagetöne den Weg gewiesen hätten.

So fand er Gottfried! Wie schwer verwundet, wußte er nicht, wenigstens lebte er noch.

Einen Augenblick war er ratlos; er, der ziemlich kleine,gedrungene Mann konnte den schianken, langgewachsenen Jüngling nicht allein tragen; er würde ihm zu wehe tun.

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Aber es war keine Zeit zum überlegen; er rutschte auf den Knien dicht an ihn heran, bis es ihm gelungen war, den Widerstandslosen auf seinen breiten Rücken zu ziehen. Es mochte gehen wie es wollte, nur nach Haus!

Mutter Lene wollte das Herz stille stehen, als sie den Mann mit seiner Last ankommen sah.

Die Eheleute und Züs bemühten sich um den Kranken.Die alte Person eilte ins Dorf, mitten durch Gewühl und Soldaten, um den Arzt zu suchen. Als Hansli endlich erschien, gramvoll, weil er den Gesuchten nicht gefunden hatte, fuhr er entsetzt zurück: war das der Haussohn, mit dem zerstörten Gesicht, den gräßlichen Brandwunden überall?

Mit Tagesanbruch, als Zuzug von landschaftlichen Kriegern erschien, wurde das Gefecht noch hitziger. Auf dem Mattenhofe bekümmerte sich niemand darum, und als die Basler flohen und die Landleute das Plündern bei den Aristokraten, das heißt städtisch Gesinnten begannen, erwarteten Zörnlis in Ruhe die wütende ländliche Schar,welche bei ihren Gegnern alles verwüstete und zertrümmerte:der Sohn war ihre einzige Sorge und ihr einziges Denken.

Gottfrieds Tat und sein schwer leidender Zustand waren bekannt geworden. Das mochte dazu beitragen,daß sein Elternhaus verschont blieb; übrigens erhielt das Dorf rasch wieder eidgenössisches Militär, die Ruhe kehrte zurück und auf dem Mattenhofe pflegte man den Verwundeten in aller Stille.

Bis jetzt war das klare Bewußtsein nicht zurückgekehrt,doch war keine Lebensgefahr mehr. Sonst gings wieder [1238] im alten Geleise. Da kam der Meister einmal von einem Gange zurück und fragte, in die Küche tretend: „Frau,wem gehört das Gefährt da draußen?“

Mutter Lene wies auf eine Frau, die, städtisch angezogen, mit schwarzer Taffthaube, der Tür den Rücken kehrend, am Tische eine Erfrischung zu sich nahm; sie war vom Präsidenten hergesandt, Elsi zu holen, und hatte einen Brief an den Meister abzugeben. Der Präsident teilte Zörnli mit, es habe sich Gelegenheit gefunden, das Kind einer Baslerfamilie nach Montmirail mitzugeben;mit bestem Dank für die freundliche Aufnahme möchte er Elsi der zuverlässigen Dienerin anvertrauen.

Diese fuhr erschreckt zusammen, als sie des Meisters Stimme hinter sich hörte. Das mußte der Lehenmann sein, gegen den sie sich so grob benommen damals. Hätte sie das gewußt, nichts würde sie in die Höhle dieses Löwen gebracht haben.

Der Meister ging an ihr vorüber und grüßte freundlich; ein Lächeln huschte über sein Gesicht: auch er erkannte den bärtigen Dragoner der Tante Sabine! Dennoch atmete die Alte erleichtert auf: der sah nicht mehr so aus, als ob er sie fressen wollte.

Bei Tisch fragte er, wie sie heiße: „Annkätter“,sagte sie.

„Annkätter? Was ist das für ein schöner Name?“meinte er in gutmütigem Spott; „wohl Anna Katherine?Ihr stammt aus dem Wiesental, nicht wahr?“

Annkätter war ihm unlertänigst dankbar; in ihren Gedanken suchte sie einen Titel, womit sie ihn ehren könnte.

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Meister konnte jeder Bauer sagen, sie, die Stadiperson,hatte schon mit Ratsherren, Doktoren und Professoren gefprochen; davon paßie hier aber nichts, so verschluckte sie klug die Anrede.

Die Knechte und Mägde kamen zu Tische; Annkätter wurde auch aufgefordert, sogar der Kutscher aus der Stadt.Der Meister sprach ein kurzes Gebet, sonst wurde nichts geredet. Es gab nur eine Speise, Kohlsuppe mit Kartoffeln gemischt und Speck. Die Baslermagd hielt wacker mit,obschon sie eben Schinken und Eier verspeist hatte; den Wein fand sie auch „süffig“ und ließ sich gern einschenken.Nachher setzte sie sich draußen unter die Linde und machte ein Schläfchen Dasselbe tat die Meisterin. Sie hatte die Nacht wachend bei Gottfried zugebracht, der noch immer bewegungslos dalag wie am ersten Tage.

Er hatte außer den vielen Brandwunden eine tiefe Verletzung auf dem Kopfe; wahrscheinlich war ihm ein glühender Eisenteil darauf gefallen, darum war man wegen DDV

Jetzt wartete ihm die alte Züs. Elsi horchte an der Tür und hörie sie schnarchen wie eine Säge. Da trat sie leise ein mit Theklas Rosenstock im Arm; den wollte sie ihm zum Andenken da lassen. Die Knospen waren gewachsen, eine davon fast aufgebrochen, und aus dem glühend roten Blumenherzen quoll ein herrliches Duften.

Jetzt stand sie am Bette: war das Gotifried? Eine Gestalt in Wickel gehüllt, den Kopf mit Binden umgeben;[125] man sah nur ein wenig von der Stirne und die geschlossenen Augen. Dieser Teil war verschont geblieben, weil er von dem Schilde einer Mütze geschützt worden war.Das Lederbord und der Schild hatten ausgehalten, der Boden der Kopfbedeckung war weggesengt.

Ein heißes, zärtliches Mitleid flutete durch ihre junge Seele. Um den geliebten Jugendgefährten besfer zu fehen,stieg sie auf einen Schemel und neigte sich über das Lager.

Lange blieb sie in dieser Stellung; schwere Tränen hingen an ihren Wimpern und rollten auf das Linnen,mit dem seine Wangen bedeckt waren. Zwischen seinen zusammengezogenen Brauen lag eine tiefe Schmerzensfalte;leise legte sie ihre Lippen darauf, ihn mehrmals sanft und lange küssend. Nach ihrer Meinung sollte das ihn erlösen!Wirkte es nicht schon? sicher! Die Falte war nicht mehr da; „er wird wieder gesund!“ jubelten ihre Gedanken.

Nun durfte sie aber nicht länger bleiben, man suchte nach ihr. Für Theklas Rosenstock fand sie ein guies Plätzchen. Wenn er die Augen aufmachte, mußte sein erster Blick darauf fallen. Lachelnd schlüpfte sie aus der Tür; Züs sägte noch immer darauflos, sie hatte nichts gesehen noch gehört.

Frau Sabine Reiffenstein hatte sich wieder einmal aufgerafft und für Eist ihr Gastzimmer geöffnet. Sie war diejenige, welche die Institutskosten bestritt und des Kindes Ausstattung besorgte; man durfte ihre Anordnungen nicht durchkreuzen.

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Elsi durfte ste nur dann verlassen, wenn die Tante ihren Mittagsschlaf abhielt, und dann entschlüpfte sie gern zu Helene, mit welcher sie am besten auskam; Theodora und Katinka, die älteren Schwestern, hatten immer so viel an ihr zu rügen.

„Na, Kleine, warst du wieder in Helenens Kaninchenstall?“ pflegte sie zu schelten; „wie kann man auch so viel Kinder haben?“

„Aber, liebe Tante! Kinder sind doch eine Gabe Goties; der Herr Pfarrer hat es im Unterricht gesagt.“

„So! Das hast du dir wohl am besten gemerkt?Du wirst wohl auch einmal ein Stücker sechse anschaffen,wenn du verheiratet bist?“

Elst sah die Tante in so guter Laune, daß sie frech ausrief: „Ich? Unter einem Dutzend tu ichs nicht!“

Die alte Frau mußte so lachen, daß sie einen Hustenanfall bekam; dann gab sie ihr mit ziemlich derben Kosenamen zu verstehen, daß sie noch eine unvernünftige Kreatur sei, sonst wüßte sie, daß Kinder zu viel Geld kosten.

Das lag Elsi zu fern, um sich darum zu kümmern;einstweilen hatte sie Helenens Kinderchen so gern, nirgends fühlte sie sich so daheim, wie unter den Kleinen der Schwester.

Aber auch hier war ihr wohl. Das Gastzimmer ging gegen den Garten. Da sah sie einen Teil des alten,heimeligen Riegelbaues durch die blühenden Bäume schimmern; es war ia alles wie neu, das Ziegeldach, die Wände mit den braunen, gestrichenen Balken. Aber warum war der Garten durch einen Zaun geteilt, daß sie nur hinübersehen, aber nicht dazu gelangen konnten? Hier fing die Linde an zu grünen; an den Weglein blühten in [127] schnurgeraden Linien die roten Tulpen auf, die Aurikeln zeigten auch schon Farbe, ach, das war ja ihr Kinderparadies gewesen, wenn die Großtante guter Laune war und sie holen ließ.

Jeden Vormittag ließ sich Frau Reiffenstein in ihrem Rollstuhle zu Elsi hinüberschieben; auch sie schaute gern nach dem Gartenhause mit den lieben Erinnerungen: dort hatte ihre Esther gespielt, später das Elslein, wenn sie die Laune hatte, das Kind zu sich holen zu lassen.

„Wer besorgt jetzt die Immen?“ forschte das Mädchen.Das konnte die Tante schon längere Jahre nicht mehr.

„Die Bienen! Ein harter Winter hatte sie zugrunde gerichtet.“„O wie schade! Weißt du noch, Tante? wenn der Lindenbaum blühte, klang es oben in der Krone wie Orgelgebrumm! Und du hast mir erzählt, daß deiner Esther deshalb das Immengärtlein so lieb war.“

Es war für Elsi ein Schmerz, als ihr die alte Frau mitteilte, das Gartenhaus sei nicht mehr ihr Eigentum.„Wem gehörts? Und wenn der Mensch nicht drin wohnt,wie kommis, daß alles so sauber gejättet, kein Unkräutlein in den Beeten und Wegen ist? Und wie geht der eigentlich hinein?“

Da erfuhr sie, daß durch die Gärten eine neue Gasse herausgebrochen sei; dort befinde sich ein eigener Eingang.

Elsi, die zu den Leuten gehörte, die das Gras wachsen hören, dachte bei sich selbst: „Die Tante flunkert, sonst würde sie seinen Namen sagen. Am End soll ich drin wohnen, wenn ich einmal meinen Mann habe. Dann adien Kinder! na, das steht noch in weitem Feld!“

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116

Das Mädchen ging am andern Morgen auf Rekognoszierung aus. Richtig, da fand sie die neue Gasse und darin ein Gartenpförtchen, von roten Steinen eingefaßt.Ein paar Stufen führten hinauf; aber trotzdem sie sich auf die Fußspitzen stellte, reichte sie nicht, durchs vergitterte Guckloch in der Tür zu schauen.

Da blinzelte sie durchs Schlüsselloch. Nichts regte sich von innen; nur ein paar junge Spatzen hüpften auf dem Kiese, und da war Tantes dreifarbige Miez, welche die Vögel beschlich: „Dir will ich!“

Ohne die Augen von ihrem Aussichtspunkte zu erheben,hob sie den schweren Eisenklopfer in die Höhe und ließ ihn hart herabfallen; es klang wie ein Schuß zwischen den kahlen Mauern, und die Wirkung war groß: die Vögel flatterten plötzlich auf, die Katze machte einen entsetzten Luftsprung und verschwand, und das Mädchen ergötzte die alte Frau nachher mit ihrer komischen Schilderung von Miezens Erschrecken.

Elst merkte wohl, daß sie bei der Greisin einen Stein im Brette hatte; das benützte sie, um der lieben, noch immer leidenden Pfarrtante eine Erleichterung zu verschaffen. Sie berichtete von dem Strohstuhle, der trotz aller Kissen für die Kranke ein unbequemes Lager war,und brachte Frau Sabine auf die Idee, ihres Gatten Krankenstuhl, der unbenützt in einem Alkoven stand, durch den Sattler aufarbeiten und nach Liestal spedieren zu lassen.

* * *

Frau Reiffenstein hatte beschlossen, ihre Großnichte auf zwei Jahre ins gleiche Institut zu tun, wo einst ihre Esther so glücklich gewesen war. Der Präsident zuckte die Achseln:„Die bleibt nicht; Sie können uns glauben!“

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Aber Elsi nahms auf die Ehre, niemals sollte sich der Vormund brüsten: „Hab ichs nicht gesagt?“

Es war ihr ernst mit dem Lernen; in Liestal hatte sie einsehen gelernt, welchen Wert eine gute Erziehung hat. Die Pfarrfrau wurde ihr Vorbild und ihr ähnlich zu werden und später einmal eine ebenso gute Hausfrau und Mutter, das traute sie sich zu.

Elsi erkannte, daß sie wenig begabt war; dafür hatte sie einen Willen, der alles erzwang. Sie erinnerte sich aus ihrer Kindheit, wie ihr Vater schon die Hoffnung aufgab, ihr je das Lesen beizubringen. Da kam einmal sein Freund Balzer zum mühsamen Buchstabieren und sagte:„Das ist die reine Tierquälerei für beide: wir wollen einmal etwas anderes versuchen! Höre, Elseli, wenn du morgen um diese Zeit diese Seite hier glatt lesen kannst, bekommst du von mir einen Neutaler.“

Das Mädchen saß fest; kaum, daß mans zum Essen brachte. Und als die Herrn am andern Nachmittag am Philosophentische beisammensaßen, erschiens mit wichtiger Miene, legte die Fibel offen hin und las, langsam zwar, doch ohne Stocken und ohne Fehler, die bezeichnete Seile herunter.

Alle lobten und tätschelten das brave Kind. Damit war ihm aber nicht gedient; als der Balzer keine Miene machte, sich seines Versprechens zu erinnern, stellte es sich resolut vor ihn hin, streckte die Hand aus und sagte befehlend: „Wo bleibt mein Neutaler?“

Jetzt traute sich Elst zu, allem nachzukommen, was im Institut gelehrt wurde, einzig die Singereil da wirds hapern. Sagte doch der Friedli immer: „Sei still! Du miaust wie ein Kater!“

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Diesem räkelnden Gottfried etwas richtig vorzusingen,etwan, Der Rose Sendung“, das war jetzt der „Neutaler“,der sie anspornte. „An Alexis“ wurde freilich hier nicht einstudiert, dafür Choräle und geistliche Lieder, die eine gütige Lehrerin vorher separat mit ihr durchgenommen hatte. Bald konnte sie, ohne gar zu störende Töne, mitsingen; ihre Stimme war voll Kraft und Klang.

Hier im Anstaltsfrieden verlebte Elsi das erste Jahr und wurde dann konfirmiert. Hieher gelangte kein Ton von der Unruhe der Außenwelt. Unnötiges Briefschreiben war früher nicht üblich und „keine Nachricht“ bedeutete damals nur Gutes.

Wie es ferner mit den Streitigkeiten zwischen BaselStadt und -Land erging, machte ihr keine Sorgen. Ihr Jugendgespiel, der Gottfried, ging jedenfalls wieder auf gesunden Beinen; sie lebte der Ueberzeugung, ihr Kuß habe ihn geheilt, und nach dem damaligen Sturme gehe alles wieder glatt seinen Weg.

Es hatte auch den Anschein. Die eidgenössische Einquartierung wurde zurückgezogen; alles atmete vom Drucke auf, Freiheitsbäume wurden aufgerichtet und frohe Feste gefeiert.

Doch schlief der alte Hader nicht; heimlich grollte es in beiden Lagern. Im Laufe des Jahres wurden die Geistlichen auf dem Lande aufgefordert, den Eid auf die Verfassung von Baselland zu leisten. Sie weigerten sich und verloren infolgedessen ihre Stellen; die aus Baselstadt gebürtigen Lehrer traf dasselbe Schicksal.

Schon längere Zeit hatten die Händel das Band der Einigkeit in Kirche und Schule zerrissen; die städtischen

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Pfarrer sahen in der Bewegung einen Abfall von Goit und den Sittengesetzen.

Der Pfarrer von Liestal, der Dekan war, hatte früher einen großen Anhang gehabt, auch von Seiten der Mitglieder der Brüdergemeinde.Nun waren außer den Freisinnigen auch viele von diesen abgefallen und stellten sich in die Reihen der Rebellen. Fromme Männer und Frauen, die seine Predigten eifrig besucht hatten, blieben nach und nach aus und die Kirche war halb leer.Er trugs äußerlich mit Würde. Seine schwerkranke Frau bekam nur sein heiteres Gesicht zu sehen; es sollte in ihren letzten Tagen Friede um sie sein.

Die Pfarrerin hatte sich von ihrem Anfall nach dem Schrecken am Rebberg scheinbar wieder erholt; aber die Kräfte kehrten nicht zurück. Den Sommer über lag sie an der Sonne am offenen Fenster; der bequeme Krankenstuhl der Tante Reiffenstein tat seine guten Dienste.

Die Leidende lächelte manchmal still vor sich hin; sie erriet, wer Frau Sabine den Anstoß gegeben hatte, auch zu anderm, was der Bote hie und da aus der Stadt miitbrachte. Das liebe, frische Naturkind! Möchte ihm ein Los zu teil werden, welches das lautere, warme Herzlein glücklich machte!

Die Töchter sorgten scheinbar fröhlich um die Mutter.Sie sollte nicht ahnen, wie es um sie stand; aus zarter Liebe täuschten sie sich gegenseitig, denn die Kranke wußte,wo sie dran war.

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15

Täglich trug sie Chrischona vom Bette zum Lehnstuhl,sie war zuletzt so leicht wie ein Kind; da kam die erfte Frostnacht und mit den Herbstblumen im Garten starb auch sie.

Der Novembersturm fuhr mit abgerissenem Laube über das offene Grab, um welches nebst der Pfarrfamilie noch eine Anzahl Männer stand, die einer nach dem andern eine Scholle Erde auf den eingesenkten Sarg fallen ließen.

Schwarz hing das Gewölk bis auf die Erde, und so düster und streng wie der Himmel war auch des Pfarrherrn Gesicht. Bis jetzt halte er um der kinen willen geschwiegen und geduldet; jetzt war die Bürde von ihm abgefallen, sein vorher gebeugtes Haupt richtete sich auf und mit hartem Blicke sah er über die Leute weg.

Befangen blickten die meist ältern Männer drein;bekanntlich war diese Frau das Opfer der Revolution.Aber warum war „Er“ trotzig und starr dabei geblieben,wo es nur an ihm lag, sich seine gute Stellung zu erhalten?

Sie entfernten sich mit linkischem Gruße. Valentine stand ebenso aufrecht neben dem Vater und sah mit herbem Ausdrucke zu einer Gruppe von Frauen, welche sich elwas entfernt hielten, um die Hand nicht reichen zu müssen.Hätte sie zurückgeblickt, würde ein anderes Bild ihre bitteren Gefühle gemildert haben. Dort war die alte Waschfrau,die Schupferin, und hielt sich an einem Grabkreuze fest,um nicht vor Schmerz umzusinken, und mit der gebeugten Greisin im weißen Haar weinten Frauen und Mädchen aus dem Gstadeck um ihre geschiedene Wohltäterin. Sie hatten sich nicht vorgewagt, und doch kam der Rauten[]135*kranz, der vorhin das Bahrtuch geschmückt hatte, aus dem geringen Gstadeck. Sie warteten, bis das Grab gefüllt war und die Pfarrerstöchter das Grün sorgfältig darauf legten.

Thekla, welche aufgelöst in Chrischonas Armen gelegen,hatte in ihrer kindischen Unerfahrenheit von dem kommenden Ende nichts gemerkt. Man hüäite sie doch darauf vorbereiten sollen! Jetzt wurde sie fassungslos von Laura und der Magd heimgeführt und zur Ruhe gelegt.

Der Pfarrherr ging finster umher; der Zusammenhang zwischen ihm und seiner Gemeinde war zerstört. Täglich mußte er fühlen, wie überflüssig er sei. Zwar Begräbnisse waren angemeldet worden; aber obgleich es fromme Familien betraf, wünschte man ausdrücklich nur die Personalien und ein Gebet. Ein Brautpaar, frühere Konfirmanden, bestellte das Aufgebot, begab sich aber nachher zur Trauung in eine auswärtige Gemeinde, wo ein von der Landschaft neu angestellter Pfarrer amtete.

Nun hatte man in Liestal auch die beiden städtischen Lehrer fortgewiesen. Es schmerzte ihn tief, denn sie waren sehr tüchtige und ihm sympathische Männer.

Immer mehr stand er allein; ein bitterer Groll nahm seine Seele gefangen.

An einem Sonntag, es waren nur wenig Kirchgänger da, sagte er in seiner Predigt, daß die Gemeinden, welche ihre Geistlichen fortgeschafft hätten, Strafe verdienten.Denn ein Pfarrer stehe im Einverständnis mit Gott und sei ein Botschafter an Christi Statt; und ein schweres Gericht werde darum über Liestal ergehen.

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Da standen die wenigen Frauen und Männer auf und verließen die Kirche; es blieben darin nur die Pfarrerstöchter und die beiden Mägde übrig. Es war ein trauriger Heimweg.

Der Pfarrherr schloß sich in seine Studierstube ein.Valentine, die ihm folgen wollte, wurde nicht eingelassen.Des Pfarrers Aelteste, ein hochbegabtes Mädchen, hatte für den Vater eine solche Anbetung, daß sie alles, was er sprach oder tat, groß fand. Das ertrug er in seiner jetzigen Stimmung nicht; er war tief unglücklich und mit sich selbst unzufrieden, und wenn er sich nach jemand sehnte, wars nach einem aufrechten Manne, der ihm schonungslos die Meinung sagte. Von einem solchen Starken gerichtet zu werden, schien ihm eine Wohltat zu sein.

Man pochte an seine Tür; der junge Zörnli bat um Einlaß. „Dieser? nein!“ es wallte heftig in ihm auf,und schroff wies er den Besuch zurück.

Gottfried hatte mit den Schwestern gesprochen, ob sie den Vater nicht bewegen könnten, auf ein paar Tage nur wegzugehen; er setze sein Leben aufs Spiel, denn am Abend werde seine heutige Predigt in allen Wirtshäusern verhandelt werden, und die Folgen werden schlimm ausfallen. Er brachte auch einen verschlossenen Brief für den Pfarrer, den Laura hinauftrug, und zu ihrem Erstaunen die Tür nicht mehr verriegelt fand; vielleicht wäre der junge Mann doch noch angenommen worden.

Das Schreiben kam von einem früher als treuestes und bedeutendstes Gemeindeglied geschätzten Bürger, der ihm den Rat gab, freiwillig zu gehen, ehe noch einer der

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35 jungen Stürmer seine Seele mit einer Bluttat beflecke.Der Pfarrer habe selbst Haß und Zorn geschürt, und er müsse es einst vor Gott verantworten, wenn einer durch ihn zum Mörder geworden wäre.

Lange saß der Pfarrer brütend über diesem Briefe.Ach, sie verstanden ihn nicht! Würde er denn feige seinen Posten verlassen? nie!

Nun kam aber von einer andern Seite Hülfe: Fieke,Theklas Schulkamerädin, hatte von der Gartenseite her immer nach der Freundin geäugt, und das neugierige Pfarrtöchterchen ließ sie ein.

Was dieses Mädchen zu erzählen wußte! Bei ihr daheim war des Vaters Predigt auch verhandelt worden;alles fiel über ihn her und nach diesem Vorgange, sagte sie, sei der Pfarrer vogelfrei. Auch seine Verhältnisse wurden breit getreten: Vermögen war keines da, und wenn er starb, waren die Töchter auf nichts gestellt.„Und du, Arme, kannst ja noch nichts verdienen, du kommst ficher ins Basler Waisenhaus!“ bemerkte die darauflosschwatzende Fieke.

Von diesem Klatsche wie geladen, stürmte Thekla zum Vater hinauf. „Schweig!“ fuhr er sie an; sie hatte aber kein Bewußisein, wie grausam und unkindlich sie war,sie konnte nicht einhalten.

Da gab ihr der Vater einen Streich! Körperlich tat er wohl kaum weh, aber in dem jungen Geschöpfe quoll es auf: Schmerz, Empörung, Scham. Geschlagen!fie, die des Vaters Hand nie anders als liebkosend gefühlt hatte.

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Entgeistert schaute sie auf ihn, dann warf sie sich über den Tisch, achtlos über Bücher und Schriften, und verfiel in einen Weinkrampf.

Der Pfarrer rief die andern Töchter herbei. Sie versuchten alles umsonst; das Weinen artete in Schreien aus. Da flüsterte Laura dem Vater zu: „Versprich ihr, daß du fortgehen willst, gleich, oder morgen in der Frühe; es ist die Angst, dich zu verlieren!“

Und er versprach ihr, daß er sich in Sicherheit bringen werde, und der Anfall ging vorüber; Thekla weinte sich an des Vaters Brust sanfter aus.

Laura trocknete von den Büchern die Tränen ab, und Vally ging mit geringschätzigem Achselzucken fort.

Die Mägde hatten Tür und Fensterladen gegen die Gasse schon geschlossen und kamen eben hinauf, um das gleiche oben zu tun: „Es geht schon los, hören Sie!“

Das war richtig. Es kamen einzelne Menschen mit dem Rufe: „Wo ist der Pfaff? Der Pfaff muß hingemacht werden!“ Dann flogen Steine gegen die Läden und der Tumult nahm immer zu.

Darüber war es dunkel geworden. Ein Licht, nur ein kleines Lichtlein! bestellte Thekla: es war zu schrecklich, der Lärm von draußen und die Finsternis innen;aber Kunigunde verweigerte es. Nun saß sie stumm an des Vaters tröstlicher Seite. In das Haus kam die Bande ja nicht, und es war doch Ordnung im Städtchen, man würde schon einschreiten.

Als ein Bursche die Meinung aufbrachte, der Pfaff habe schon vorher Versengeld gegeben, zerstreuten sich die

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Lärmmacher wieder; es brannte ja auch kein Licht in der Gasse und das Pfarrhaus war im Dunkel.

In dieser Nacht wachten ihrer drei im Pfarrhause:der Vater, Vally und Kunigunde.

Nachdem es zwölf geschlagen, trat der Pfarrherr mit Valentine unter die Gartentür und lauschte in den dichten Nebel hinaus; kein Laut ließ sich vernehmen, und mit stummem Abschiede schritt er ins feuchtkalte Dunkel. Zuerst benützte er Feldwege, um allfällige Begegnungen zu vermeiden; dann hielt er gegen den Füllinsdörfer Rebberg zu. Diese Gemeinde hatte sich an der Bewegung nie beteiligt.

Es war schwer, im Nebel die Richtung einzuhalten.Nachdem er eine Stunde gelaufen war, kam er wieder in die Nähe desselben Hundes, der vorhin so laut gebellt hatie; er war also im Kreise herumgegangen.

Nun wurde es aber lichter und er fand seinen Weg und ging dem Flusse der Ergolz entlang bis Augst, wo er in einer Schiffshütte auf seine Töchter wartete.

Valentine und Kunigunde blieben. Erst lauschten sie am offnen Fenster, ob der Pfarrer nicht etwa genötigt wurde, daheim wieder Zuflucht zu suchen. Als aber alles still blieb, besprachen sie miteinander, was ferner zu tun sei. Valentine wollte im Pfarrhause bleiben, nur die Schwestern sollten dem Vater folgen und Chrischona mit ihnen.

Nach einem reichlichen Frühstücke machten sich die drei auf den Weg; die jüngste, die noch nie so früh aufgestanden war, wankte halbschlafend zwischen Laura und der Magd. Sie kamen glücklich nach der durch Abrede [78] bezeichneten Schiffshütte und fuhren mit Tagesanbruch über den Rhein.

Als Thekla das Wasser rauschen hörte, weigerte sie sich, in den Waidling zu treten; aber der Fährmann hob sie ohne Umstände hinein. Wimmernd lag sie vor dem Vater auf den Knien und verbarg ihren Kopf an seiner Schulter. Das schmale Schiffchen durchschnitt schräg die Strömung, und der Schiffsrand schien kaum höher zu sein als das Wasser selbst. Doch brachte sie der Mann sicher ans badische Ufer, wo die Flüchtigen in einem Bauernhause Stärkung fanden und ein ländliches Fuhrwerk, um in die Stadt zu fahren.

Hier suchte der Pfarrer einen bescheidenen Gasthof auf.Er hätte wohl Freunde gehabt, bei denen er und die Seinen Aufnahme gefunden; aber bei dem überreizten Zustande seiner Jüngsten fand ers besser, sie mit Laura und Chrischona allein unterzubringen. Thekla, welche der Mutter Anlage geerbt, wurde ernstlich krank; die Aufregungen und die erkältende Fahrt hatten zusammen dies bewirkt.

Sobald es aber besser ging, kehrte der Pfarrer nach Liestal zurück. Es hatte ihm wohlgetan, sich mit seinen Amtsbrüdern in der Siadt auszusprechen: um vieles milder und versöhnlicher kehrte er auf seinen Posten zurück,obschon er wußte, es werde nur für kurze Zeit sein.

Am hellen Tage kam er wieder, von allen gesehen.Ein Schulmädchen sprang auf ihn zu und fragte lebhaft,wie es seiner Thekla gehe. Das war ein Gruß, der ihn freute, umso mehr, als die artige Tochter bis zur Schwelle des Pfarrhauses plaudernd neben ihm ging.[]

Der erste Advent schlang wieder ein Band um ihn und seine Gemeinde. Erstaunt blickte er auf die Kirchgänger, die sich so zahlreich seit vielen Monaten nicht eingefunden hatten. Das nahe Weihnachtsfest wohl oder ein Rest von Anhänglichkeit? Er empfand es mit Dank, und ein warmer Strom von Liebe ging von der Kanzel auf die Zuhörer aus.

Ach, wie grau war ihr Pfarrer geworden! Sie schauten mit Bewegung in sein von Kummerfalten durchzogenes Gesicht und verglichen es mit dem frischen, blühenden Antlitz früherer Tage.

Trotzdem wurde dem Pfarrherrn in aller Form die Ausweisung angekündigt; die landschaftliche Regierung hatte bereits seinen Nachfolger gewählt, und er ging mit einer einfachen, stillen Würde, die ihm auch die höchste Achtung seiner Gegner eintrug.

Die Pfarrfamilie fand nahe bei der Stadt eine leerstehende Sommerwohnung, wo man auf eine neue Anstellung warten konnte. Chrischona half noch einrichten;dann wurde sie entlassen: die Töchter wollten die Haushaltung selbst besorgen.

Tiefbetrübt wanderte sie Liestal zu; aber es war schon für ihre Zukunft gesorgt. Mutter Zörnlin suchte eine Hilfe;da brachte der Knecht Hansli die blonde Pfarrmagd in Vorschlag, und als man sie gesehen und gesprochen hatte,war ihre Anstellung abgemacht.

Nachdem die Tagsatzung vergebens eine Vereinigung von Stadt und Land vorgeschlagen, kam schließlich die

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Trennung zustande; die Stadt entließ mehr als die Hälfte der rebellischen Gemeinden aus dem Staatsverbande.

Eine geographische Trennung konnte nicht stattfinden,da Nachbarsdörfer verschiedenen Staatshoheiten angehörten und auf dieselben Verkehrswege angewiesen waren.

Dazu kam, daß eine der Stadt angeschlossene Gemeinde um des Friedens willen bat, der Landschaft einverleibt zu werden. Basel wollte aber seine Rechte auf die treu gebliebenen Gemeinden nicht aufgeben, und das entfachte den Parteihader immer mehr.

So gings bis Mitte des Sommers 1833. Ueberall wurden militärische Vorkehrungen getroffen; unterhalb Liestal, bei der Griengrube, errichtete die Landschaft eine Schanze, und ließ sie mit Palissaden versehen. Vier Kanonen wurden angekauft und verschiedene Korps bewaffnet.

In der Stadt Basel versammelte sich in diesen Tagen der Kleine Rat. Berichte von Gewalttätigkeiten, welche die Landschaft gegen die Stadtanhänger in den Dörfern verübten, hatten die Bürger aufgestachelt, und sie drangen in die Ratsherrn, endlich Ernst zu zeigen.

Daraufhin wurde dem Gemeinderat in Liestal angezeigt, daß Waffengewalt eintreten werde, wenn ihre getreuen Landgemeinden ferner angegriffen würden.

Gottfried Zörnli stand mitten im politischen Treiben.Er hatte sich von der Schädelverletzung und den Brandwunden erholt und sich weder durch des Vaters Bitten noch durch seinen Zorn auf dem Mattenhofe halten lassen.Er war kein Dreinschlager, im Gegenteil; wo es zu [141] schlichten gab, wirkte er durch sein Wort und seine gewinnende Persönlichkeit. Ein ideales Feuer aber durchglühte ihn: er wollte mit Gut und Blut einstehen, um das Landvolk vom ungerechten Drucke zu befreien.In den ersten Augusttagen war überall eine unheimliche Stille, wie vor einem Sturme. Die Städter, die noch auf ihren Landgütern im Baselbiet weilten, zogen eilends in die Stadt. Freisinnige Stadtbürger sandten Warnungen an ihre Gesinnungsgenossen der Landschaft,daß man sich dorti schlagfertig mache.

Der junge Zörnli eilte als Bote der landschaftlichen Regierung von Ort zu Ort, um alle einheitlich zum Widerstande zu vereinigen. Mehrmals entging er mit knapper Not der Gefahr, von städtischem Militär erschossen oder gefangen gesetzt zu werden. Es lag noch Besatzung in mehreren Tälern verstreut.

Vom 2. auf 3. August verbreiteten sich dumpfe Gerüchte von einem drohenden Ueberfall der Basler auf die Landschaft. Gottfried nahm die Nacht zu Hülfe, um nach Liestal zurückzukehren. Als er am Morgen das Städichen erreichte, heulten die Sturmglocken; aber niemand wußte zu sagen, was vorging. Auch als der Wächter den verspäteten Brief der Militärkommission an den Liestaler Gemeinderat abgab, sahen die Regierungsräte nur eine Drohung darin.

Nun kamen aber Berichte von den Kämpfen der Basler mit den Schützen zwischen Muttenz und Pratteln,und auf einmal bekam die Bewegung eine bestimmte Richtung; ohne Führung lief alles nach den Schanzen,

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Männer und Knaben. Man jagte mit den vier Kanonen dahin, merkte erst unterwegs, daß die Munition vergessen worden war.In der Stadt war nach drei Uhr Alarm geschlagen worden. Die Feuerglocke läutete; aber die Mannschaften beeilten sich gar nicht, dem Rufe zu folgen, denn es waren nur einzelne, welche den Auszug erzwungen hatten. Die Leute vom Kontingent mußte man einzeln herbeiholen;dennoch fehlten von den Dienstpflichtigen gegen 300 Mann.Dagegen war bei den Standestruppen großer Jubel: sie konnten es kaum erwarten, die Scharte von Rosenthal auszuwetzen. Dennoch vergingen Stunden, ohne daß die Truppe marschfähig war und die Stadt verließ.

Sie traf bei Muttenz die Vorhut der landschaftlichen Schützen; die Kolonne der Basler bewegte sich in der Ebene vorwärts, während die Landschäftler am Waldabhange hinzogen. Ihre Schar vermehrte sich beständig;viele eilten über den Bergabhang, um den Baslern bei Pratteln den Weg zu verlegen.

Dort kam es zum ersten Zusammenstoß. Ein Schuß fiel auf die Standestruppen; diese stürmten brüllend ins Dorf: „Ladt! Feuer! Ladt!“ war das Kommando.Ein Basler Oberst sandte seine Ordonnanz; die Garnisönler sollten das Dorf verlassen, aber sie gehorchten nicht. Sie trugen in ihren Tornistern nicht bloß Flaschen voll Branntwein mit, sondern auch Faßbrand und Schwefelhölzer. Sechs Häuser auf einmal steckten sie in Brand.Das Feuer ergriff noch weiter die mit Heu und Korn angefüllten Scheunen.

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Langsam stiegen die Rauchsäulen gegen den Himmel,Wehegeschrei der Dörfler erscholl von den Hügeln; die Männer riefen sich mit Ingrimm zu: „Laßt brennen!Schießt aber die Mordbrenner nieder!“

Den geplanten Uebergang über das Ehrli, das eine gute Position gewesen wäre, konnten die Stadtiruppen nicht mehr gewinnen. Vereint rückten sie auf der Landstraße vor.

Da wurden sie von der Birchschanze aus mit Kanonenkugeln beschossen. Jetzt sollte die städtische Artillerie das feindliche Geschütz zum Schweigen bringen und die Standestruppe rüstete sich zum Angriffe auf die Hülftenschanze,wo die Entscheidung fallen mußte; denn von da an lag der Weg nach Liestal dem Feinde offen.

Die laudschaftlichen Schützen hingegen waren ihrerseits über den äußersten Vorsprung des Ehrli geeilt. Nun füllte sich dieser Vorsprung und der ganze Rain aufwärts immer mehr mit Bewaffneten, besonders auf der offenen Erdschanze der Griengrube.

Die Standeskompagnie richtete ihren Angriff dahin und wurde mit verzweifelter Gegenwehr empfangen. Kugeln der Artillerie sausten den Landscht von vorn entgegen und zwei Kanonen schoßen aus der guhe nach der Griengrube.

Da flogen von der Birchschanze her die kleinen Kugeln den Garnisönlern in den Rücken: „Vorwäürts!“ schrien sie im wilden Anstürmen; „Hurrah, Baselland!“ hallte es von den Höhen hinab.

Das Knattern der Gewehre und Stutzer, das Pfeifen ihrer Kugeln, das Rasseln der Kartäschen in den Bäumen [144] und das mühsame Sausen der großen Geschoße erfüllten bei dem allgemeinen Geschrei den kleinen Raum mit furchtbarem Getöse.

Einige Mann von der Standestruppe waren still im gebüschumwachsenen Graben bis zur Griengrube herangekrochen, erhoben sich plötzlich und schossen aus nächster Nähe auf deren Verteidiger.

Hier oben stand Gottfried neben einem geliebten, ältern Freunde, gerade über der Stelle, wo die Garnisönler sich zum Ueberfall aufgerichtet hatten; sie schossen beiderseits,aber schon sank der Freund tötlich getroffen neben dem Jüngling zusammen. Gottfried wollte ihn mit den Armen auffangen, auch ihn traf ein Streifschuß am Halse. Unterdessen war unten etwas geschehen, denn die Soldaten sprangen über Kopf und Hals in den Graben hinunter,um sich mit den ihrigen zu vereinigen. Die Standestruppe hatte fich nämlich wieder zum allgemeinen Angriff gesammelt, als ihr aus nächster Nähe Kanonenschüsse entgegendonnerten

Ihr Kommandant war schwer verwundet; von der Hauptmacht kam keine Unterstützung. Da trat die Garnison ihren Rückzug an, und mit ihr die übrige Macht der Basler. Sie wurden ungestüm verfolgt; immer mehr landschaftliche Mannschaft rückte nach, und in vollständiger Auflösung flohen die Basler dem Hardtwalde zu.

Die Städier schossen nicht mehr, desto schrecklicher die Landleute; sie fielen zuletzt mit den Gewehrkolben über die Basler her und erschlugen sie. Die Verwundeten baten um Gottes willen, daß man sie nicht liegen lasse; man lud viele auf die Caissons, von denen das Blut herabtroff.

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Erst am Weichbilde der Stadt konnte Halt gemacht werden; so weit der Hardtwald ging, hatten aus jedem Verstecke die Landschäftler auf die Flüchtenden geschossen.Fünf Offiziere, 36 Mann der Slandestruppe und 22 Bürger lagen erschlagen auf dem Felde.

Gottfried war bei seinem toten Freund allein zurückgeblieben; die übrige Mannschaft halle sich auf die Verfolgung gestürzt. Der Jüngling sah erst auf die bleichen Züge des Gefallenen; dann deckte er das liebe, iote Gesicht sorglich zu.

Ihm selbst rieselte das Blut fortwährend vom Halse;er ballte Erde in sein Taschentuch und drückte es an die Wunde. In der Hitze des Kampfes hatte er kaum bemerkt, daß beim vorhergehenden Bajonettangriff beim Ehrli sein linker Arm blessiert worden war; der Aermel hing zerfetzt und war voll gestockten Blutes.

Es war ihm schwer zu Mute; das wilde Siegesgeschrei der Genossen, die Grausamkeit und Wut der Verfolgung erfüllten ihn mit Ekel. Das sollte die erhoffte Freiheit sein! Er hatte den geliebten Freund verloren; aber ihm starb in diesem Augenblick noch viel mehr: sein Jugendtraum ging dahin.

Glühend sengte die Augustsonne auf sein unbedecktes Haupt, dessen alte Schädelwunde noch nicht ganz verharscht war; die Zunge klebte ihm am Gaumen. Alles um ihn her schien sich zu drehen und todesmatt sank er zu Boden.

Es war sein Glück, daß Leute kamen, die seine Taschen nach Geld durchsuchten. Das brachte ihn wieder zu sich; er raffte sich auf, um aus dem Sonnenbrande zu kommen. Dort am Waldrand fand er gewiß einen schattigen Zufluchtsort.

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Wie er taumelnd hingelangt war und das Buschwerk teilte, fiel sein Blick auf einen verwundeten Basler. Mit Todesangst sah dieser zum Jüngling auf; er war auch schrecklich anzusehen: sein Haar starrte von Schweiß und Staub, die Augen waren blutunterlaufen und schienen aus den Höhlen zu treien.

Der blessierte Stadtsoldat machte sich ganz klein und flehte um sein Leben.

„Ich bin kein Mörder“, sagte Gottfried.

„Aber deine Landsleute! Sie schlagen die Verwundeten tot!“

„Und eure Soldaten! Wie haben die gemordet und gesengt!“

Der Basler verteidigte sich: er hatte keinem einzigen was zu leide getan, er war überhaupt nur gezwungen mitgegangen, wie die meisten vom Kontingent. Als durch die offenen Fenster der Blömlikaserne das wilde Toben und Jauchzen zu der sich sammelnden Truppe herausschallte, hatten alle das boöse Ende vorausgesehen. Aber die Garnisönler konnten es nicht erwarten, bis es losging;sie brüllten: Hurrah! Wein und Schnaps in Liestal!Hurrah, Rewansche!

Der Mann berichtete weiter, daß er und seine Gattin zur Brüdersozietät gehörten, und seine Frau eine Landschäftlerin sei; er hatte ihr versprechen müssen, ihre Landsleute zu schonen.

„Wir vom Kontingent sind ja auch gar nicht zum Schusse gekommen; dafür habe ich hinterrücks eine Kugel in die Seite gekriegt und kann weder stehen noch gehen.

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Meiner Frauen Bruder ist ein Liestaler, wenn der es nur wüßte, er hülfe mir aus der Not!“

Noch sprachen sie zusammen, da teilte sich das Gebüsch:ein beutetragender Knabe wollte hier seinen Raub verbergen. Entsetzt fuhr er zurück, aber Gottfried herrschte:„Steh! oder ich schieße!“

Zitternd gab der Junge Bescheid auf die Frage des Soldaten: Ja, er kannte den Mathys Senn, „den ‚Bedischt“(Pietist) meint Ihr doch?“

Eben wollten ihn die beiden mit Botschaft zu ihm senden, da rauschte es in den Baumkronen; Blätter und geknickte Zweige flatterten herunter.

Die Angst packte den Jungen; es schoß dort noch zwecklos der eine oder der andere, und eine Kugel konnte ihn treffen; er raffte seine Beute zusammen und wollte verschwinden. Aber Gottfried packte ihn am Schopfe, und da schrie er in Todesangst: „Laßt mich los, der Bedischt ist nicht weit weg. Bei den Bäumen an der Augsterstraße verbinden sie Blessierte, und des Meisters Mathys Wägelchen ist dort; er hat ihnen Brot und Wein gebracht.“ Damit entichlüpfte er ihnen.

Sie ratschlagten beide, wie sie dahin gelangen sollten.Der Schlosser wollte nicht allein bleiben, sonst komme noch einer und schlage ihn tot, und Gottfried war zu schwach, um ihn zu tragen. Da packte der Basler seinen Tornister aus; die Gattin hatte ihm manche Stärkung hineingetan. Sie wolltens nun wagen.

Die Montur mußte der Schlosser zurücklassen. Gottfried lud den Verwundeten auf seinen Rücken und schritt übers Feld. Vor und hinter ihnen fiel es wie schwere

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Regentropfen auf den Acker, das waren Kugeln, von solchen, die aus Uebermut losknallen.

Der Schlosser hielt sich so fest an Gottfrieds Halse,daß sich die Kruste auf seiner Wunde löste und das Blut neuerdings zu fließen anfing. Dies und die Anstrengung machte ihn zusammenbrechen; es war nicht weit vom Verbandsplatz, und des Schlossers Geschrei: „Mathys, komm hilf!“ wurde zum Glück gehört.

Gottfried wurde gewaschen, verbunden, gestärkt und nach Liestal gebracht, wo er in seiner eigenen Stube ein paar Stunden schlief.

Gegen Abend weckte ihn ein verzehrender Durst und er richtete sich auf. Da hatte jemand ein Krüglein hingestellt: es war Wein, und er trank alles aus. Nach einigen Versuchen, aufzustehen, konnte er sich auf den Beinen halten; sein einziger Gedanke war: „Heim!“

In der Hauptstraße gings lebhaft zu; da konnte er ungesehen durch die Hintergasse fortschleichen. Wie im Traum wandelte er den gewohnten Weg; bei jedem Brunnen löschte er den Durst, sogar den Umschlag tauchte er ein, um ihn wieder auf das brennende Haupt zu legen.

Seine Füße wollten ihn nicht mehr tragen; doch wankte er weiter, an Häusern vorbei, wo schon alles schlief: „Heim, nur heim!“ das war der Jnsiinkt, der ihn vorwärts trieb.

Auf dem Mattenhofe wußte man nichts von allem,bis am späten Nachmittag Hansli atemlos erschien und von den Ereignissen berichtete. Sofort lief der Meister den weiten Weg Liestal zu; die Angst gab ihm Flügel.Als er ins Städtchen kam, erfuhr er die Verwundung [149] seines Sohnes und sein Weggehen; es hatte ihn jemand durchs Tor hinauswanken sehen, und er kehrte um, in der Hoffnung, ihn bald einzuholen.

Ein anderer, der Hansli, wurde von der Züs angewiesen, die Nebenwege abzusuchen, da Gottfried diese der Kürze wegen zu benützen pflegte. Der Knecht war auch der erste, der den Blessierten fand, als er eben matt auf ein Rasenbord gesunken war. Er richtete Gottfried auf,flößte ihm ein, was die Meisterin ihm Stärkendes mitgegeben, und brachte es dazu, daß der Jüngling, von seinen starken Armen gehalten, wieder gehen konnte. Hier in dieser Einsamkeit war keine Hülfe zu finden.

Doch jetzt wars gefehlt: Gottfried schien sterben zu wollen. Er sank aus den stützenden Armen des Knechtes leblos zu Boden. Hansli lag neben ihm auf den Knien und starrle wie vernichtet in die helle Sommernacht hinaus; dann ermannte er sich und rief: „Helft! helft!“Es antworteten ihm nur die Töne der aufwachenden Vögel.

Plötzlich ein ferner Laut: „Ich komme!“ Es war der Meister, dessen fester Schritt sich in der Stille immer näher hören ließ. Nun war er da! Hanslis Stimme hatte ihm den Weg gewiesen. Starr und finster blieb er stehen und sandte den Knecht nach der erreichbaren Ortschaft, um eine Tragbahre zu bekommen.

Darüber verging lange Zeit und Sonnenaufgang war nahe, als sie den Jüngling nach dem Mattenhofe brachten.

„Die Meisterin!“ rief Hansli, „sie steht unter der Tür!“

Der Mann erwiderte nichts, das Unglück schien ihn zu Stein gemacht zu haben. Als die Frau wieder hinein[150] gewankt war, gleichsam, um den Anblick ihres Schmerzes vor dem hellen Tageslichte zu verbergen, stellten sie die Bahre vor ihr nieder.

Da brach Frau Zörnli in die Knie und schrie auf wie ein totwundes Tier: „Tot?“

„Ja, tot!“ sagte die unerbittlich harte Stimme des Meisters.

Sie rief ihren Sohn mit den zärtlichen Namen ,dann jammerte sie wieder laut: „Tot? mein lieber Bub?Ach, warum mußtest du auch bei allem dabei sein?“

„Das fragst du?“ sagte er mit einem Blick, der sie erbeben machte. Dann kam bei ihm auch ein wilder Schmerzensausbruch, und er floh hinaus.

Die Mutter warf sich mit dem Gesicht auf des Sohnes Hände, welche Hansli fromm wie zum Gebet ineinander gefügt hatie; man hörte nichts, sie zuckte nur in Stößen.Züs lag neben ihr an der Erde und streichelte mit ihren hagern Fingern die Schultern der Frau: „Meisterin! Lene!du nimmst ihm die Ruhe im Grabe, wenn du so viel Tränen auf ihn fallen lässest!“

Frau Zörnli schaute in gramvoller Hilflosigkeit auf:was dann, wenn sie nicht einmal mehr weinen durfte?

Warum lag sie nicht an seiner Stelle auf der Bahre?ohne das Kind, war das noch leben?

Verzweifelt starrte sie vor sich hin und fuhr zusammen,als die alte Magd sie in schwer unterdrückter Aufregung plötzlich am Arm packte und mit heiserer Stimme flüsterte:„Lene! wenn er noch nicht gestorben wäre? Tote werden starr, und fühl ihn an, er ist noch ganz lind!“

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Die Mutter warf einen Blick auf des Jünglings Gesicht; das war von Todesblässe wie eingesunken und entstellt. Hoffnungslos wendete sie sich ab und stöhnte: „Es ist alles, alles aus. Er hat recht, der Mann da draußen,ich bin schuld, ich habe ihn stets gegen den Vater unterstützt! Für mich gibts kein Erbarmen mehr!“

Züs hatte mit energischem Ruck den gekrümmten Rücken aufgerichtet. Sie stand vor der Meisterin und sprach:„Das Erbarmen wirst du jetzt kennen lernen! glaube endlich einmal und bete! Denk an den Jüngling zu Nain; der war auch ein einziger Sohn und ist seiner Mutter zurückgegeben worden.“

Damit hastete sie hinaus, den Meister und den Hansli zu rufen, hier tat rasche Hilfe not.

* **

Präsident Reiffenstein holte sein Mündel im Institut ab. Aus dem früher knochigen Studenten war ein sehr ansehnlicher Herr geworden; seine markige Gestalt und das scharf gezeichnete Gesicht machten ihn zu einer imposanten Erscheinung.

Er hatte es auch weit gebracht und seinerzeit glücklich geheiratet; jetzt war er schon lange Jahre Witwer. Die Ehe war kinderlos geblieben, und um sein Leben froher zu genießen, gönnte er sich zeitweilig eine Badekur oder eine kleine Reise.

Damals galt die Fahrt nach einer Schweizerstadt,Bern, Zürich oder Luzern, schon für eine erhebliche Reise;in die Berge wagte er sich nicht, denn mit Ertrapost konnte man nicht gut hingelangen, und das schien ihm die einzige tunliche Art zu fahren.[]»22

Diesmal gings nach Neuchätel, eine ihm noch fremde Gegend; es genierte ihn, daß er französisch sprechen mußte.Obschon er die Sprache leidlich konnte, ließ ihn seine gewohnte Leichtigkeit im Reden doch hier im Stiche, und er war glücklich, als er im Gasthofe mit einem Reisenden deutscher Zunge zusammentraf. Er lud ihn auch zur Rückfahrt ein, um dem Zusammensein mit Elsi zu entgehen.

Trotz des Protestes des Fremden wurde das Mädchen auf den Rücksitz verwiesen; das war eine heruntergeklappte,gepolsterte Banquette, von wo man nicht hinausschauen konnte. Dazu hatte der Präsident auch noch das Fenster an seiner Seite geschlossen, um keinen Zug zu haben.

Elsi war widerhaariger als je; sie erboste ihren Vormund mit schroffen Antworten. Er konnte ihr auch nicht verzeihen, daß sie in den zwei Jahren nicht hübscher geworden. Sonst brachten die unschönsten Mädchen aus dem „Welschland“ eine gewisse Frische mit heim, wenn auch nur la beauté du diable. Hier keine Spur! die große Nase sprang immer gleich keck zwischen den magern Backen hervor; kein Hauch von Wangenröte, alle Farben in diesem schmalen Gesichte schien der korallenrote Mund an sich gezogen zu haben.

Je länger er sie mit kritisierendem Blicke anschaute, ie mehr schien sie ihm ein verjüngtes Exemplar von Tante Sabine. Ja, wie sie ihn eben zornig anblitzte, fehlte nur noch, daß sie anfing zu fluchen wie die Alte.

Zum Glück fuhr der Wagen rasselnd unter einem Stadttore durch; der Postillon blies: „Trara trara!“ Mit 33 Trabe fuhren die Pferde durch die holprige asse.

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Aus dem stattlichen Gasthause stürzte der Wirt herbei,aus den Stallungen ein Pferdeknecht; ehe sie noch angehalten, war Elsi schon hinausgeflogen: „In den Kasten brächte mich keiner mehr!“ machte sie bei sich selbst aus.

Froh schaute sie um sich; das war ja ein lustiges Städichen; an den schmalen Häusern hinaufblickend, sah sie an allen Fenstern neugierige Köpfe. Dort, wo aus dem Torwege Scharen von Buben und Mädchen kamen,mußte wohl die Schule sein? Und am altväterischen Brunnen holten jetzt Frauen und Töchter mit Krügen und Eimern Wasser und besahen sich die ausgespannte Extrapost eben das Essen serviert wurde.

Ehe die Mahlzeit zu Ende war, lief Elst mit einem Kelchgiase voll dufligen, goldgelben Weines davon. Der Wiri, der ihn zum Dessert eingeschenkt hatte, schaute ihr verplüfft nach. „Wo hinaus?“ rief der Präsident scharf,erhielt aber keine Antwort mehr.

Sie suchte den alten Postillon auf und reichte ihm das Glas. Mit verklärtem Schmunzeln trank er langsam aus, und als das Mädchen ihn fragte: „Darf ich nicht bei Euch oben sitzen?“ gab er Bescheid: „Gern, wenns der „Herr Vater“ erlaubt!“

Sie saß aber schon oben, als der Vormund aus der Türe trai. Er proiestierte, Elsi beachtete es nicht: „Sie läßzt mich hier stehen, wie einen Haubenstock“, knurrte er dem Gefährten zu. Dieser flüsterte verstohlen etwas, daraufhin rief der Vormund: „Meinethalben! wenn sie durchaus neben dem alten Krauter sitzen will!“

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Wie herrlich wars, so hoch oben zu thronen, alles unter sich zu schauen, wie die Spatzen in der Luft. Ein dem Gefängnis entronnener Vogel war sie ja auch; jetzt erst genoß sie die Freiheit in vollen Zügen.

Das Städichen hatten sie hinter sich gelassen, im freien Felde dampften die frisch umgepflügten Acker; hier blüten Kirschbäume, dort in der Linde hings wie grüne Schleier.Der Weg führte zwischen Hecken; die waren von Schlehenblüten weiß umsponnen. Und was kam dort über die Matten? eine singende Kinderschule. Die Kleinen hatten die Händlein voll Himmelsschlüssel. Und dazu flöteten die Vögelein in allen Zweigen.

Elsi mußte jauchzen und singen! ja auch das wagte sie. Als aber der alte Postillon bis zu Tränen lachte,weil er der Meinung war, sie singe aus Possen falsch,steckte sie es wieder auf. Hingegen mußte er das Posthörnli blasen; sie bettelte ihm sogar ab, daß sie fahren durfte; es war ihr vom Mattenhofe her nicht ungewohnt.Die braven Postpferde trabten wohlgezogen ihre Straße klingend fürbaß.

Wenn der Vormund gewußt hätte, daß das Heil seiner lieben Knochen von dieser nichtsnutzigen Mädchenhand abhinge? Seitdem ihn der Reisegefährte verlassen hatte,schlief er, in die Wagenkissen bequem hingegossen.Der Präsident pflegte im Trinken sehr peinlich zu sein;er wußte, daß ihn der Wein gehässig und ausfallend machte und mischte ihn deshalb stets mit Selterser. Dieses hatte er hier nicht vorgefunden; auch ließ ihn der unterhaltende Gast die Vorsicht vergessen. Darum wurde das

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Gespräch im Wagen nachher etwas zu aufgeregt und der Begleiter rief: „Halten!“ stieg verstimmt an einer Kreuzstraße ab, reichte dem Rosselenker ein Trinkgeld und wünschte dem Mamsellchen eine glückliche Reise.

Der Vormund wachte wieder auf, als der Wagen zum Pferdewechsel stille stand. Das Schläfchen hatte seine Laune wieder hergestellt; er rief Elsi hinein, da es anfing zu dunkeln und die Abendkühle empfindlich wurde.

Ganz aufgeräumt sprach er von der Zukunft; der Reisegefährte haite ihm nämlich eine bessere Meinung von seinem Mündel beigebracht. Nun hoffte er, daß Elsi sich bei ihrer Schwester wohl fühlen werde; daß diese ihr eine gute Partie zuschanzen wollte, das verschwieg er weislich.

Das Mädchen sah erstaunt aus; Thea und Doris,die ältern Schwestern, hatten sich bisher nie um sie gekümmert, Helene war die einzige, die es gut mit ihr meinte.Sie haite auch erwartet, die Tante Sabine würde sie wieder haben wollen, und daß es der Gesundheitszustand der alten Frau nicht erlaubte, tat ihr leid. Hingegen freute sie sich lebhaft auf Helene, welche die erste sein wollte.Dort war während der Institutszeit gewiß wieder ein Kleines angerückt?

Elsi wurde mit Jubel empfangen, Helene war just Sirohwitwe, ihr Edi zur Kur in Oberbaden.

Trotz später Ankunft schwatzten die Schwestern noch lange. Elsis Vermutung war richtig, der Dieterli, ihr früherer Liebling, hatte sein Bettchen schon vor vielen Monaten an den Nachfolger Fredy abtreten müssen und schlief in einer höhern Nummer. Das Mädchen wollte zu [156] gern in die Kinderstube, aber Helene gabs nicht zu; das Landvögtli konnte aufwachen und dann machte es einen Lärm, daß die andern aus dem Schlafe kamen.

„Den Dieterli meinst du? Kann der noch so vaterländisch brüllen wie damals? Und warum nennst du ihn Landvögtli?

„Das kommt von meinem Manne her. Der behauptet,unser alter Ururahne, der Landvogt Dietrich, spucke noch immer in unserem Blut und zeige er sich in jeder Generation einmal; zum Beispiel in der Tante Reiffenstein,dann gelt, du nimmst ihms nicht übel? in dir und nun in unserm Buben. Es muß etwas dran sein,denn ihr habt alle drei etwelche Aehnlichkeit miteinander.“

„Mag ihn dein Mann denn nicht leiden?“

„Im Gegenteil, er hat den Narren an ihm gefressen.Hab ich dir erzählt, wie Edis Tanten die Kinderbettvisite machten? Die zwei Jungfern waren ganz entsetzt und meinten, wir müßten uns mit etwas versündigt haben; so hübsche Eltern und kriegen ein so gräßliches Kind! Wie hat sich mein Mann über sie lustig gemacht; so alte Fraubasen verständen vom Rassigen nicht die Spur. Aber weißt du, Elsi, ein Kind ohne Rasse wäre mir doch lieber gewesen; wie nett sind Franz und Rudölfli, wie herzig das Lenchen, sogar der Fredy lacht einem nur immer an; aber mit dem Schlingel, dem Dieterli, werd ich nicht fertig, er fragt mir gar nichts nach.“

„Folgt er dem Papa denn?“

„So so, la la! Edi prätscht ihn halt hie und da;aber glaubst du, das mache ihm Eindruck? Nicht einmal [157] heulen tut er und läuft dem Papa gleich darauf wieder nach wie ein Hund. Und mich nennt er nie „Mama“, sondern nur „es“.

Elsi schlief im Zimmer mit Helene, und wohl zu lang für das ungeduldige Landvögtli: auf einmal flog dem Mädchen ein Ball ins Gesicht und ein Bürschlein stand da und begehrte auf: „Mach, daß du herauskommst, das ist Edi sein Bett!“Die Mama war auch darüber aufgewacht und schaltr „Was wird das gute Tanti von dir denken, du freche:Bub!“

„Sie soll aufstehen und mir die Höslein zuknöpfen!“

Aber schon kam die Marei, ihren Flüchtling wieder einzufangen, und Helene jammerte, es sei ein Elend mit dem bösen Knaben; wenn er nur einmal so weit wäre,daß er wie Rudeli in die Häfelischule gehen könnte! So nannte man früher die Kleinkinderbewahranstalt; der größere ging schon in die Gemeinde-, heutzutage Primarschule.

Die Krone der Kinder war Lenchen, des Großpapa Manuels Ebenbild. Dem Kinde flogen alle Herzen zu,wie einst dem Substituten; es sah Elsi mit des Vaters Augen an, sie konnte sich gar nicht von ihm wegwenden.

Das Schwesterchen allein fand Gnade vor dem Landvögtli; seine phlegmatischen Brüder mußten ihm parieren und bekamen Prügel, wenn sie nicht folgten. Helene war machtlos diesem kleinen Tyrannen gegenüber; nun war zum Glück Elsi da, und die wußte bald mit ihm umzugehen.

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So behaglich wars der jungen Mutter noch nie gewesen: das Schwesterlein war für seine siebzehn Jahre noch so kindisch, daß es immer mit den glücklichen Kleinen DOO jedenfalls unpassend, daß man ihren guten Willen so ausnützte!

Elsi dachte gar nicht weiter; nach dem langwierigen Lernen war sie überglücklich, ihren Tag bei den Kindern zuzubringen; ihrethalben konnte der Schwager foribleiben,so lang er wollte.

Aber seine Kur ging zu Ende, und man sprach im Hause von nichts als von seiner bevorstehenden Ankunfi.Der Brief war gekommen. Helene redete nicht darüber,obschon Elsi gesehen, daß die Schwester beim Lesen die Farbe gewechselt hatte; sie ging aus, zu Thea und Doris,wie sie sagte.

Erst nach ihrer Rückkehr ließ sie das Mädchen lesen.Eduard schrieb, daß er leider genötigt sei, Mama Sybilla mitheimzubringen. Sie hätte sich sollen künftig mit einem der schönen, großen Eckzimmer begnügen, weil der Sohn der Hausbesitzerin heirate und dadurch der Platz beschränkter werde. Das wollte aber die Substitutin nicht und hat schroff gekündet; sie wolle sogar die Zeit nicht abwarien und mit dem Schwiegersohn nach Basel kommen.

Helene hatte mit den Schwestern beraten; beide waren bereit, die Mama aufzunehmen, aber nur unter der Bedingung, daß Elsi mitkomme. Erschrocken wehrte das Mädchen ab: „Von den lieben Kindern weg? Mit Mama zusammensein den langen Tag!“ Und Helene, die lobte, wie es jetzt behaglich wäre, die Kinder waren stets []*9 beschäftigt. „Lieber nehmen wir die Mutter dazu“, seufzte sie; die Visitenstube wurde selten gebraucht, die würde man für die Substitutin einräumen. Es war aber doch,als ob ein Schatten aufs Haus gefallen wäre, die Schwestern waren beide gedrückt.

In der Nacht hörte Elsi leise stöhnen; sie lauschte:ihre Schwester warf sich unruhig herum. „Bist du krank,Hely?“ fragte sie; zugleich sprang sie auf und setzte sich auf Helenens Beitrand: „Was quält dich sonst noch, meine Liebe, sag mirs doch, bitte, bitte!“

„Alles kann man einem jungen Mädchen nicht gut mitteilen“, schluchzte die Schwester.

„Warum nicht, Hely? So dumm bin ich doch nicht mehr; ich merke schon, das hängt wieder mit dem „Kingelistall“ zusammen.“

„Mit was?“ fragte die ältere Schwester erstaunt.Da erzählte ihr das Mädchen der Tante Sabine Aeußerung vom Kaninchenstall, und Helene mußte trotz allem Kummer hell auflachen: „Das wird Edi amüsieren“, sagte sie. Uebrigens hatte Elsi richtig geraten; auf den Herbst erwarte sie wieder ein Kleines, und darum werde es ihr so schwer, die Mama um sich haben zu müssen; aber lieber sie ertragen, als das Schwesterlein hergeben.

Eduard war angekommen und die Frau Substitut mit ihm. Die Kinder waren noch nicht zu Bett; das Landvögtli erstickte den Vater fast mit Liebkosungen, dann stellte er sich vor Großmama Sybilla auf und starrte sie unhöflich an. „Du, Edi“, sagte er dann zu Papa, „schick doch die Frau wieder fort, sie gefällt mir nicht!“

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Die Substitutin war erstarrt: solche Kinder! Das würde ihr was zu schlucken geben, und Reue ergriff sie,daß sie das behagliche Heim in Baden verlassen hatte.Die schöne Visitenstube legte aber Balsam auf ihr verletztes Gemüt. Die Straßenecke war ja auch kurzweilig,und nach der längern Abwesenheit freute sie sich, wieder in Basel zu wohnen.

Sie war viel unterwegs, machte Besuche, kaufte ein,o daß sie eigentlich nur über Tisch bei den Kindern war;dennoch gab es viel Störungen. Die Dienstboten murrten über die vielen Ansprüche der alten Frau, und Helene wurde von den Klagen so nervös, daß sie das beständige Klingeln nicht mehr ertragen konnte; sie sah leidend aus und sollte zur Erholung nach Bad Säckingen. Eduard ging natürlich mit; man konnte der Kinder wegen ruhig gehen, Elsi war ihnen ein musterhaftes Mütterchen.

Heiter und gesund kam das Paar zurück; aber es dauerte nicht lange, so gings von neuem los. Eines Morgens schellte und schellie die Substitutin, bis ihr der Klingelzug in der Hand blieb; aber keine Magd wollte erscheinen. Erbost lief sie in die Küche; da sagte man ihr, der Herr habe die Glocke abgeschraubt, das ewige Klingeln sei ihm verleidet. Sie kehrte schweigend in ihr Zimmer zurück, aber von Stund an warf sie glühenden Haß auf den Schwiegersohn, den sie nicht ganz verbergen konnte, und lange konnte es auf diese Weise nicht mehr dauern.

Einmal hörte Elsi eine scheltende Männerstimme, war das nicht Eduard? Sie eilte schnell ins Eßzimmer; dort war die Schlafstubentür angelehnt. Helene lag noch zu Bett und ihr Gatte sprach aufgeregt:

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„Du kannst nichts als meinen“, sagte er, „eeig doch einmal, daß du daheim Meister bist! wenn ich einschreite, heißt es: Barbar!“

„Du bist aber auch gleich so derb, lieber Edi! Da war Papa ganz anders, voll feiner Rücksichten gegen seine Frau!“

„Geh doch mit deinen dummen Rücksichten! Ich bin der Maun, der für dich und die Kinder sorgt. Und wenn ich den ganzen Tag für euch ochse, will ich abends mit der Frau und den Kindern behaglich zusammensein und deine Alte nicht vor mir hocken haben; wenn sie mich mit ihren kalten Augen fixiert, ist mir zu Mut wie einem Käfer, der aufgespießt wird. Wie gesagt, wenn das nicht anders wird, eß ich wieder im „Bären“ oder in „Drei Königen“ zu Abend, da hab ich angenehmere Gesellschaft!“

„Und verdirbst dich wieder mit Essen und Trinken und wirst krank!“

„Einerlei, ich tus!“ damit ging er und schlug die Tür hart zu, und Helene schluchzte zum Erbarmen.

Elsi wußte nichts besseres, als ihrer Schwester das kleine Lenchen zu bringen; das stack noch im Hemdchen und ließ sich gern zur Mutter ins Beit stecken. Zärtlich nestelte es sich an die Weinende und fragte mit seinem weichen Stimmchen: „Mammelh, wo tuts dir weh?“ und Helenens Tränen versiegten unter den Liebkosungen der Kleinen.

Eine Stunde später war Elsi bei Schwester Doris.Diese wußte schon, wie es stand, Eduard hatte sich bei []4.

ihrem Manne beklagt. Sie hatten ja immer im Sinne gehabt, die Mama zu sich zu nehmen und es schon unter sich besprochen, weiche Veränderung zu treffen sei. Das Schulzimmer der Mädchen, wo sie mit ihrer Mademoiselle lernten, würde für die Großmama Shbilla eingerichtet.Elsi müßte freilich mit ihr zusammenwohnen. Das Mädchen bat, man möchte sie über die nächste Zeit noch bei Helene lassen; sie erreichte aber nur so viel, daß sie tagsüber bei den Kindern sein durfte, bis die junge Mutter wieder vom Wochenbett aufgestanden sei.

In den ersten Oktobertagen erschien ein kleines Mädchen,zu dessen Patin Elst erbeten wurde. Mit dem Taufen machte man bei Eduards nicht mehr viel Umstände; diesmal war die Gesellschaft klein, aber des eleganten Herrn Paten wegen durch ein sehr feines Mahl ausgezeichnet.Der junge Herr Hieronymus, oder „Ronimus“, wie er unter seinen Intimen genannt wurde, war äußerst liebenswürdig, beschenkte den Täufling und seine Geschwister und nach einem schon fast abhanden gekommenen Brauche auch die junge lustige Gevatterin, die ihm außerordentlich sympathisch war.

Dann ging das Leben eine Zeitlang ungestört weiter;Frau Sybilla fügte sich in die strengere Hausordnung bei ihrer Tochter Doris. Zum Kaffeetisch erschienen alle fertig angezogen; der Hausherr ging gegen neun aufs Kontor und die Mädchen mit ihrer Mademoiselle ins Schulzimmer.Gesprochen wurde selten; Heinrich, der wortkarge, beschränkte sich auf „guten Tag“ und „Adieu“.

Elsi hätte sich gern der Französin angeschlossen, aber die Schwester gab ihr zu verstehen, sie sei für die Kinder da.

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Trotzdem sich alle freundlich und höflich begegneten,herrschte doch eine kühle Luft in dem Hause; für Elsis Temperameni wars unerträglich. Wohl brachte sie manchen Rachmittag bei Helenens Kindern zu; aber um so peinlicher empfand sie den Abstand, wenn sie zurückkam.

Da fügte es sich, daß ihrer Schwester Doris Schwiegermama, Frau Elianor, an dem Mädchen Gefallen fand.Sie wohnie still in ihrem behaglichen zweiten Stocke und kam fafst nie zu den Kindern herunter; dafür besuchten diese die Großmama um so fleißiger, und Elsi durfte auch manche Stunde bei ihr zubringen.

Hier wars auch, wo das Mädchen den ersten Christbaum sah. Am heiligen Abend war die ganze Familie bei Frau Elianor vereinigt, die Brüder Heinrich und Thea; die zwei Söhne der letztern und die Heinrichmädchen sangen ein schönes Weihnachtslied, einer der Herrn begleitete. Die alte Frau saß im Lehnstuhl und las das Evangelium von Christi Geburt; sie sah mit ihrem weißen Haar und mit der milden Feierlichkeit ihres Wesens wie eine Priesterin aus.

Das war die Siunde, wo sich die kühlen Brüder, die Handelsherrn, jedesmal wieder als Kinder fühlten. Sie beleten die Mutter an, und es verging kein Tag, wo sie nicht Zeit gefunden hätten, nach ihr zu sehen. Wenn die Tür aufging am Weihnachtsabend und der Lichterbaum brannte, wehte sie mit dem Tannen- und dem Wachskerzenduft die erste Jugend wieder an.

Kaum daß Elssi den nächsten Morgen erwarten konnte;ihr Schwager Eduard sollte seinen Kindern auch diese Freude bereiten.

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So früh es anging, schellie sie dort an. Die Magd,die ihr öffnete, kam eben von oben mit einem Arm voll Windeln: sie bringe sie der Frau; „die ist drin im Eßzimmer und der Herr auch, er frühstückt eben“.

Elsi ging darum zuerst nach der Kinderstube: „die schlafen sicher nicht mehr“, dachte sie, „es geht ja gegen zehn, und doch alles so still!“

Leise trat sie ein. Die drei Knaben lagen auf dem Bauche am Boden; sie schaute fragend Marei an, welche eben das Jüngste badete, diese flüsterte: „se machen die Krippe zu Bethlehem!“ sie hätte ihnen die Weihnachtsgeschichte erzählt, und da sei dem Dieter ins Kopfle gekommen, sie wollten das spielen; und was der Bub ausdenkt, machen die andern immer mit.

Elsi wollte die ins Spiel vertieften Kinder nicht stören.In der Fensternische saß das Lenchen auf einem Kissen am Boden; die Kindsmagd hatte ihm das warme, blaue Wickeltuch ums Nachtkleidchen geschlungen, daß es sich nicht erkälte. Vor dem kleinen Lenchen Maria stand als Krippe ein umgekehrter Schemel und eine weißumwickelte Puppe als Jesuskindlein drin. Rechts und links aufgestellt hölzerne Kühe, Pferde und ein wolliges Schaf, das aber an Größe alle anderen Tiere überragle, und nun errichteten drei Buben mit Bauhölzchen einen Hag um den heiligen Stall.

Im Eßzimmer wars nicht so weihnachtlich; Elsi hatte nicht angeklopft, weil die Stubenmagd eben herauskam.Helene faltete Windeln, Eduard saß sehr nachlässig im Schlafrock, trank Kaffee und las das Tagblatt dazu. Als er ihren Schritt hörte, sah er sich um schrie: „Millionendonnerwetter! wo kommt das Mädel plötzlich her? Schnell,Frau! gib mir dein Halstuch her!“

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Helene setzte gelassen ihre Beschäftigung fort: „Elsi hat dich ja schon gesehen, du alter Faulpelz! Wenn ich nur malen könnte, ich würde dich abkonterfeien, wie du jetzt aussiehst; daneben den geschniegelten, jungen Stutzer,der seinerzeit der angebeteten Helene nachlief, und darunter würde ich schreiben: „einst und jetzt!“

Ganz gemütlich sagte er: „die Anbetung wenigstens ist noch dieselbe!“ Dazu drapierte er seinen bloßen Hals mit der Zeitung: „Nun bin ich geistvoll angetan und kann meinen Spruch bei der kleinen Schwägerin beginnen!“

Elsi horchte auf. Es handelte sich um die Neujahrsfeier; Eduard und Helene baten feierlich die Mama Substitutin und ihre Tochter auf diesen Tag zu Gaste.

„Es ist aber doch Familientag bei uns, bei Heinrichs!Da feit Ihr gewiß auch gebeten?“ warf Elsi ein.

Der Schwager setzte ihr auseinander, wie es sich mit diesem Familienfeste verhalte. „Der alte Remigius hatte zwei Frauen gehabt. Von der verstorbenen ersten waren bier Tochter da, als er Frau Elianor zur Ehe nahm.

Diese vier Töchter heirateten sie sind auch schon Großmütter und der Alte liebte es, seine ganze Familie am ersten Tage des Jahres um sich zu haben, und Frau Elianor handelt in seinem Sinne, wenn sie diese Vereinigung am Neujahr beibehäli, obgleich es für alle, Schwäger und Schwägerinnen, eine große Schur ist. Uebrigens sind sie darauf eingerichtet, die ganze große Sippschaft bei sich zu empfangen.

Die Frage war bloß, was man mit Mama Substitut anfangen soll; sie kennt ja niemand von all den Leuten, und wir, Helene und ich, sind zum Neujahr mit Kind und

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Kegel stets bei den alten Tanten. Doch haben die guten Weiblein uns zu lieb ihr Festchen auf den nächsten Sonntag verlegt. Somit würde alles klappen, wenn ihr bei uns Verlieb nehmen wollt!“

Gerne und selbstverständlich sagte Elst für sich und Mama zu; letztere hatte übrigens keine Wahl, auf ihr Zimmer wurde als Garderobe gerechnet.

Am folgenden Morgen hielt Doris ihr Schwesterchen zurück. Zuerst übergab sie ihr zwei kleine Päckchen Geld,den Ueberschuß des vom Präsidenten einbezahlten Kostgeldes; Doris hatte bloß die Auslagen berechnet.

Sie war sehr erleichtert, als ihr das Mädchen von Eduards Einladung sagte, und nahm am Plane, dessen Kindern einen Baum zu schmücken, recht lebhaften Anteil:„Du kannst ja unser Tännchen haben, es muß doch auf die Seite geräumt werden; Konfekt und Zierraten wollen wir auch spendieren, und laß dir von Mamag Elianor zeigen,wie man Wachsstock verschneidet und die Lichter aufsetzt.“

Elst war über ihr Geldlein so froh; gleich wollte sie nach dem Andreasplatze laufen, wo ein bescheidener Weihnachtsmarkt stattfand. Dort gab es die billigen Raritäten,die den Kleinen hochwillkommen sind. War das eine Freude für ihr junges, kinderliebendes Herz, für ihre Batzen Säbel, Trompeten und Knallbüchsen einzukaufen, und die vergoldeten Lebkuchenfraueli und Grättimannen und was der Herrlichkeiten mehr waren. Sie sprach aber nicht davon, denn die Mama war zornig; sie hatte geringschätzig ihr Geldpäckchen in eine Ecke geschleudert: „so schofel!“Eduard hatte ihr seinerzeit das ganze Kostgeld zurückgegeben.

* F *[]167f Der Jubel der Kleinen beim Anblick des Christbaumes und die frohe Ueberraschung bei den Erwachsenen warfen noch lange hinaus ihren warmen Schein auf die folgenden unfreundlichen Januartage. Marei war heimlich bei den Tanten gewesen, sie einzuladen; sie erschienen auch zur rechten Zeit, und waren von der allgemeinen Freude so miigenommen, daß sie ihre Sacktüchlein naßweinten. Elsi,das „Bubenmädel“, das ihnen früher so zuwider gewesen,war dadurch plötzlich in ihrer Gunst. Sie wurde von den Jungfrauen „Phrosine und Adelheid“ eingeladen und war bald ein Hausgast in ihrem wohnlichen Heim. „Bring auch eine Handarbeit mit, liebes Kind“, mahnten sie einmal, und als Elsi den Kopf schüttelte, fügten sie bei:„wenns zuletzt nur ein zerrissener Strumpf ist, wir wollen vich verstechen lehren“.

Aber die Mama machte ja alle Löcher zu; was sollte sie sonst den lieben langen Tag tun?

Frau Substitut fühlte sich in der letzten Zeit bei Doris nicht mehr behaglich. Einerseits trug sie ihr nach, daß sie vom großen Familientag ausgeschlossen gewesen, anderseits mäkelte sie an der Kost; der Tisch in diesem Hause war fein, aber nicht so reichüich wie bei Helene. Elsi hatte es zuerst auch empfunden und ging oft halb hungrig vom Essen; aber es war sehr schmackhaft zubereitet und genügte den andern auch. Doris trachtete ihre Kinder fein und zart zu erhalten; so gab sie auch nur wenig Brot und steis ganz weißes zu den Mahlzeiten.

Aehnlich hatte es Mama Sybilla einst mit ihren Kindern gehallen; daran erinnerte sie sich aber nicht mehr.Mit den zunehmenden Jahren wurde sie stumpfer und fand ihr Vergnügen allein noch am Naschen.

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Man hatte ihre Ausgänge nie kontrolliert; da erhielt Herr Heinrich einmal eine Konditornote zugeschickt für Pasteichen, Törtchen und dergleichen. Er brachte sie seiner Frau herauf, und diese ging gleich ins Geschäft, zahlte die Rechnung und bat den Zuckerbäcker, nur noch auf ihre eigene Bestellung hin zu liefern.

Als die Substitutin nachmittags unverrichteter Sache zurückkehrte, war sie in einer schrecklichen Laune und ecklärte ihrer Tochter Doris, hier bleibe fie nicht länger, sie wolle wieder ihre eigene Haushaltung führen. Dadei beharrte sie auf ihrem Willen, und es blieb nichts anderes übrig, als den Vetter Präsident, ihren gesetzlichen Vormund, zu einer Familienberatung zu berufen.

Er wußte auch keinen Rat: wenn sie mit dem reichlichen Kostgeld der Tante Sabine nicht auskommen konnte,dünkte ihn ihr Begehren geradezu Unvernunft. Frau Reiffenstein war überhaupt nicht gut auf Sybilla zu sprechen, da sie von Oberbaden her noch verschiedene Rechnungen erhielt für Eßwaren und unnötigen Tand,den sie dort angeschafft und nicht bezahlt, die „Aushauserin“, die sie ihr Leben lang bleiben würde, hatte die Alte gegrollt.

In der Not fragte man noch einmal bei der frühern Hauswirtin in Baden an und bot Erhöhung des Kostgeldes; dennoch erfolgte abschlägiger Bescheid.

Elsit ihrerseits hätte einen Ausweg gewußt; sie bat,man solle sie mit der Mutter nach dem Mattenhofe schicken.Dies wurde ohne Angabe des Grundes verworfen. Die Geschwister hatten des Herrn Ronimus Vorliebe für die kleine Gevatterin bemerkt, er schien sich allmählich zu [169] nähern; eine solche Gelegenheit zu verpassen, ging nicht an. Der junge Mann war reich und von guter Familie.Dem Präsidenten teilten sie aber ihre Gedanken nicht mit;wenn er in seiner raschen Art zugriff, konnte er alles verderben.

Thea erklärte, die Schwestern hätten Mama gehabt,nun sei die Reihe an ihr, sie zu beherbergen, und die Substitutin mußte wohl oder übel mit Elsi nach dem Hause ihrer Aeltesten übersiedeln.

Das Haus war nicht groß, aber vornehm. Eine breite Paradetreppe führte in den ersten Stock zu einem Vorsaal,in welchen die Türen der Wohngemächer mündeten, sowie das Eßzimmer, hinter welchem die Küche lag und ein Gang, der auf eine steinerne Wendeltreppe führte, diejenige der Dienstboten; sie reichte vom Keller bis zum Dachstock.Frau Sybilla bekam zwei schöne Stuben im obern Geschoß, die später für die beiden Söhne bestimmten Räume. Sie höätte sich hier behaglich fühlen können, aber ihre freien Ausgänge fehlten. Das Haus war geschlossen und Thea gab keinen Hausschlüssel.

„Die Mama kann ja anschellen, es ist immer iemand unten in der Nähstube.“ Ueberhaupt ließ man sie nicht mehr allein aus.

A sohn Remigius trat mit mehr Autorität auf als Heinrich und Thea war stolzer als Helene. Und nicht allein die Alten ärgerte sie; da war der Knabe Ludwig, einer der besten Köpfe seiner Klasse, der trug ein hochfahrendes

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Wesen gegen Großmutter und Tante zur Schau. Und sie waren doch nicht um den „Gottswillen“ da, Sabine zahlte ja für sie.

Auch Elsi seufzte im stillen: wo blieben ihre Gänge zu Jungfer Phrosine und Adelheid? die Plauderstündchen bei Frau Elianor und die köstlichen Nachmittage bei Helenens Kinderstube? Die arme Helene! sie war so krank, daß niemand zu ihr gelassen wurde. Eduard kam eines Morgens in Verzweiflung zu den Tanten und klagte ihnen, die Kinder müßten fort, ste machten zu viel Lärm.

Und da nahmen die alten Jungfrauen ihre Mäntel um und pilgerten vor die Stadttore, bis sie nach langem,mühseligem Suchen eine freie Sommerwohnung fanden und sogleich mieteten. Schon andern Tags konnte die Uebersiedlung stattfinden: die Kinder mit Marei und einer zweiten Magd ins Erdgeschoß und die Tanten in die Giebelstube.

Elsi sah und erfuhr nichts, außer wenn Eduard schnell einsprach. Zuletzt stand es so schlecht, daß er nicht mehr ankehren mochte. Da wars ihr ein Trost, daß der jüngere Knabe, Remigius, nach der Schule zu Helenens Wohnung lief und Bescheid holte.

Remy war überhaupt ihr Trost. Entgegen seinem begabten und von den Eltern vorgezogenen Bruder hatte er eine Vorliebe fürs Praktische. Auf derselben Etage wie Großmama besaß er eine kleine Werkstatt, wo er in den Freistunden schnitzte, leimte und zierliche Gegenstände fabrizierte. Elsi, die von Gottfried her einige Erfahrung darin besaß, konnte ihm manchen guten Wink geben.

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Dem Remh klagte sie bisweilen die Aengste, die sie nachts ausstand, wenn die Mama lärmte und um sich schlug. So oft sie sich aber bei den Schwestern beschwerte,glaubte man ihr nicht; über Tag war die Substitutin ganz richtig bei Verstande.

Der Knabe half ein altes Sopha in einen unbenützten Raum neben der Schlafstube unterbringen; dahin konnte das Mädchen flüchlen, wenns die Mutter zu arg trieb.Er sorgte auch für einen festen Riegel an der vorher unverschließbaren Tür.

So ging es viele Wochen hindurch. Wie manche Nächte hatte Elst hinter dem schützenden Riegel auf dem Sopha gelegen! Als dann einmal Nanette, das Mädchen, das Frühstück brachte, war die Frau besonders aufgeregt und schlug ihr das Tablet aus den Händen: Brötchen, Getränk und Scherben lagen beisammen am Boden.

Entsetzt floh die junge Person; Elsi wunderte sich nicht, als darauf beide Mägde erschienen, um wegzuräumen, daß die Schwester ihr sagen ließ, sie möchte bald herunterkommen.

Als Elsi mit nüchterem, knurrendem Magen bei ihr eintrat, ging ihr diese mit freundlicher Feierlichkeit entgegen, umarmte sie und sagte: „Liebes Schwesterlein, ich gratuliere dir zum schönsten Tage deines Lebens!“

„Na na!“ dachte Elsi, „vorderhand habe ich noch nicht viel davon gemerkt!“ Sie mußte neben Thea sitzen,und die Schwester teilte ihr in tiefer Erregung mit, daß der junge Ronimus bei ihrem Manne um Elsi angehalten habe. Remigius würde diesen Vormittag zum Vetter Präfidenten gehen, um ihn mit dem Bewerber zusammen auf [172] den Abend einzuladen. Da wollte man dem jungen Herrn Gelegenheit geben, seiner Erwählten den Antrag zu machen.

Elsi lächelte malitiös: mit dem Erscheinen des Vormundes wars schon nichts, der Neffe Remy hatte ihn am Tage vorher abreisen sehen. Dann sagie sie entschieden:„Gebt euch keine Mühe! den nehm ich nicht!“

Thea war zuerst sprachlos vor Schreck; dann überlegte sie, daß Elsi eigentlich noch zu jung sei, um ernst genommen zu werden. Sie ist ein widerhaariges, eigenartiges Geschöpf,man muß sie mit großer Klugheit zur Einsicht bringen,welches Glück ihr durch diese Partie zu teil wird. Wer nicht nachläßt, gewinnt. Freundlich sprach sie weiter:

„Hast du denn nicht gedacht, daß es so kommen muß,liebes Schwesterlein? Wir ahnten alle, wo hinaus er wollte, wagten aber nicht, auf ein solches Glück zu hoffen.Dem jungen Manne standen andere Türen offen, er konnte unter reichen und schönen Mädchen wählen!“

„Da soll er eine von diesen nehmen; ich werde ihn nicht heiraten!“

„Weil du deine Lage ganz verkennst, liebe Kleine!Du bist arm und auch nicht hübsch; wenn du diese Gelegenheit verpassest, kommt vielleicht keine mehr, und was willsft du als arme, alte Jungfer anfangen? Bei den Geschwistern sein?“

Elsi schüttelte den Kopf: „Bei euch gewiß nicht, aber bei Helenel Warum muß sie just so krank sein? sonst hätte ich dorl Zuflucht gefunden! Und dann ist ja die Großtante Sabine da, sie hat mich immer gern gehabt!“

„Aber jetzt nicht mehr ich will dirs nur berichten:deinetwegen ging ich zu ihr, um ein gutes Wort für meine [173] liebe Elsti anzubringen; aber wie hat sie mich empfangen? Die Jungfer Babeit sagte zwar zum voraus, ich soll mir nichts daraus machen, die Tante schimpfe alle aus;aber so stellte ich mirs nicht vor.

Ich wartete im Nebenzimmer, da kreischt sie: „Wer ist da? die Remigiussene? sieig mir den Buckel auf!Was macht sie hier, das “ nein, ich bringe das Wort nicht über die Zunge.“

„Liebe Tante!“ sagte die Babett, „sie will Ihnen bloß aufwarten!“

„Jawohl mit Gift und Popperment! Zeig ihr,wo der Zimmermann 8 Loch gemacht hat! Und daß mir keins von der verdammten Bande mehr ins Haus kommt!“

„Diese Insulten habe ich um deinetwillen schweigend in den Kauf genommen; mein guter Remigius hat keine Ahnung davon. Du kannst dir nun vorstellen, wie es mit deinen Hoffnungen beschaffen ist. Ja früher, als dich Tante zuweilen sah, da mochte sie dich noch gern haben, aber mit dem zunehmenden Alter ist sie immer verdrehier geworden. Du bist sonst ein so gescheites Mädchen!Denk auch an deine Zukunft! Ich hoffe bestimmt, daß wir dich herumkriegen werden!“

„Niemals! wenn ich wirklich einmal heirate, muß es einer sein, den ich gern habe, und dann bin ich ja noch jung, ich brauch nicht zu pressieren!“

„Jung gefreit, hat noch niemanden gereut! Du weißt ja, liebe Kleine, ich war nicht älter als du; Doris wurde mit siebzehn Jahren Braut. Und wir sind gut [174] gefahren mit unsern Männern, du kannst es ja merken,wie sie uns auf den Händen tragen. Und was das Gernhaben anbetrifft, was man Verliebtheit nennt, das r bei uns auch nicht das kommt später ganz von selbst.

Du sollst auch Rücksicht nehmen auf Mama, welche diese Heirat sehnlichst wünscht. Du weißt, wie ihr daran liegt, wieder einen eigenen Haushalt zu führen. Ronimus DDDihm sagst, läßt er es sicher der armen Mama ab; wir suchen dann nach einer passenden Wartefrau für sie. Es wäre eine große Liebe von dir für uns alle. Du siehst ja, daß man sie nirgends behalten kann!“

„Ach so! Dazu bin ich gut genug, und ihr merkt endlich was! Wohl darum, weil sie heut früh eine Szene gemacht hat! Wie oft habe ich euch gesagt, es sei nicht richtig mit ihr; dennoch habt ihr mich dort oben allein gelassen, all die bösen Nächte, wo sie bald jammerte, bald schimpfte und zornig alles durcheinander warf. Ohne Helenens Erkrankung wäre ich schon lange zu ihr geflohen;zum Glücke half mir der gute Remy eine Zuflucht schaffen,in der Kammer nebenan.“

„Steht es wirklich so schlimm? Armes Elsli! es tut mir sehr, sehr leid. Von heut an soll Nanette bei euch oben schlafen. Am Tage merkt man ihr aber gar nichts an; ich kann mirs nicht erklären, daß sie so gereizt ist.Worüber beklagt sie sich denn?“

„Erstens über ihre Gefangenschaft hier im Hause!Vor allem aber, daß sie an Magenweh leidet, weil sie beständig Hunger hat.“

[175]

Thea sah ihre junge Schwester ganz erstaunt an:„Hunger?“

„Du weißt ja, sie hat sich das Essen zwischen den Mahlzeiten schon lange angewöhnt; bei Doris konnte sie kleine Vorräte für ihr Taschengeld und für meines einkaufen, denn wir bekamen immer den Ueberschuß von unserm Kostgelde heraus. Du gibst uns keinen Rappen davon “

„Weil mein Mann das ganze Geld für euch zinstragend angelegt hat. Dachtest du, daß wir eiwas davon für uns brauchen würden? Heinrich hat auch dazu beigetragen, um euch einen ordentlichen Sparhafen anzuschaffen, und für diese gute Meinung werden wir noch getadelt! Und was das Uebrige anbetrifft, den Haushalt führen wir, wie uns Mama gelehrt hat. Remigius und meine Söhne sind überaus zufrieden, auch mit unserm Tische, nun, warum lächelst du so eigen? sprich!“

Elsi antwortete: „Remy hat erst dieser Tage gemeint,XDDDDC seine Hunde fast verhungern. Heirate lieber den jungen,hübschen Bäckermeister an der Ecke, sagte er, dann kommen wir alle Tage zu dir und essen uns am Brot satt!“

Thea hatte zuerst die Warnung wegen Ronimus herausgehört. „Seit wann hörte man Schulknaben ihre Ansicht ab in Heiratssachen?“ Dann stieß ihr anderes auf:wie kam Remy zu der Bekanntschaft mit dem Bäckermeister?Spielte etwa schon ein verstohlener Briefwechsel, wie damals zwischen ihrer Schwester Helene und Eduard? Sie fragte direkt: „Woher kennt der Knabe den Menschen?“

„Wie alle andern Leute, die ihren Batzen durchs

[176]

Fenster in den Bäckerladen hineinreichen und dafür ihr Brotlaiblein in Empfang nehmen, der Ludi wie der Remy“Daß die Knaben bei ihrer wöchentlichen Rechenschaft über das Taschengeld Löschpapier, Federn und dergleichen unterschoben, verriet sie nicht; aber Thea merkte es doch, sie nahm sich vor, diesem Appetite der stark wachsenden Knaben in Zukunft besser Rechnung zu tragen.

Als Elsi mit leeren Händen hinaufkam, war Frau Sybilla sehr unzufrieden; das Mädchen vertröstete sie auf das Mittagessen, es dauerte ja nicht mehr lange. Nun berlangte Mama zu wissen, ob der Verspruch mit Ronimus heut abend richlig gemacht werde. Lange halte sie es nicht mehr aus hier.

Als Elst schwieg, drängte sie: „Du bist doch so gescheit und sagst Ja?“

Das Mödchen verneinte, und da ging ein ganzer Sturm von Schimpfreden und Drohungen über sie herab:man würde ihren harten Kopf brechen und sie zum Gehorsam zwingen.

Elsi erklärte, daß sie nur einem gehorsam gewesen wäre, ihrem geliebten Vater. Der würde nie von ihr verlangt haben, einen zu nehmen, den sie nicht möge.

„Oho! da bist du auf dem Holzwege“, schrie die Mutter sie an. „Dein Vater selber hatte eine andere im Kopf; aber weil es seine Eltern verlangten, hat er mich geheiratet!“

„Und du wußtest von der andern und nahmst ihn doch?“

„Ja! denn ich wollte ihn durchaus haben!“

F Vnd die er im Kopfe hatte, wars nicht Esther Reiffenein?“

[177]

Die Muiter nickte und Elsi blieb erschüttert stehen.Da hatte sie die Lösung des Rätsels, das damals ihren Kinderkopf beschäftigt hatte: „Warums bei ihnen anders mal, die Meisterin hatte ein rasches Blut; aber das hinderte nicht, daß sie sich herzlich gern hatten.

Bet den Eltern gings dagegen fein zu; der Vater tat,als wäre seine Frau eine Prinzessin, und sie, die Mama,konnte so demütig und sanft sagen: „Ja, mein Lieber!“Wenn sie aber draußen war, ließ sie an irgend eiwas ihren Verdruß aus, den heimlichen Groll, der gleichsam unter der Asche fortglimmte. Arme Mama! arme Eltern!

Die Substitutin las das Mitleid auf dem Gesichte ihrer Tochter und klagte: „Dein Vater war die lautre Güte gegen jedermann; wie hat er dich geliebt, du böses störriges Kind! nur ich bin bei ihm zu kurz gekommen ich weiß, warum! Die andere stand immer zwischen uns.Als sie starb, dachte ich: Jetzt kommt er zu mir. Aber nein! noch tot hat sie meines Mannes Herz festgehalten;er kam nicht. Ich war doch das schönste Mädchen in der Stadt, sie garstig und schwarz wie du, dennoch liebte er nur sie. Wundre sich noch eins, daß ich so geworden bin! ich war verwöhnt! warum hat er mich nicht erzogen,wie dich, wie andere? Es lag ihm nichts an mir, und doch hätte ich ihm für jedes Bröselchen Liebe auf den Knien gedankt, ja sogar für Schelte und Schläge!“

Reute es sie, daß sie der Tochter die Wunde ihres Lebens aufgedeckt hatte, oder fühlte sie sich krank infolge des nüchteren Magens? Ihr Gesicht verzog sich in gräßlicher Weise; Elst sah sie wanken und wollte ihr zu Hilfe [178] kommen. Da schrie sie das Mädchen an: „Fort mit dir,du Schlange! Auch du hast mir das Herz meines Manuels gestohlen; ich hasse dich, denn du bist „Esther“;wie hätte er jene vergessen können, wenn er täglich ihr Ebenbild vor sich sah? Vor meinen Augen ist alles rot wie Blut! werde ich denn verrückt?“ Sie schien ganz von Sinnen zu sein.

Plötzlich hob sie mit übernatürlicher Kraft einen schweren Stuhl und wollte ihn auf des Mädchens Kopf niederschmettern. Dieses aber hatte sich schon vorher dem Ausgange genähert und schlüpfte behende hinaus; das Möbel fuhr krachend gegen die Tür.

Elsi flog zur Wendeltreppe; fast ohne die Stufen zu berühren, glitt sie an dem starken Tau, das zur Handhabe diente, von oben bis unten pfeilschnell hernieder und war schon vor dem Hause, als man bei Thea ängstlich hinund herlief und nach der Ursache des Spektakels fragte.Sofort wurde nach Remigius gesandt.

Daß man den Flüchtling verfolgen werde, davor war das Mädchen sicher; die Herren Schwäger mieden peinlich jedes Aufsehen. Nur hatte sie ohne Hut, ohne einen Rappen Geld und mit leerem Magen das Haus verlassen. Ueber das Ziel war sie nicht verlegen, sie wollte nach dem Mattenhofe.

Den Kopf schützte sie mit dem Sacktuche gegen den Sonnenbrand. In ihrem Haustleide glich sie einem Dienstmädchen, das Besorgungen macht, und so wanderte sie ohne Hast durchs Stadttor nach Birsfelden und in die einsame Hardtwaldung. Ihre Hoffnung, einen Botenwagen zu treffen, war nicht groß; sie hatte schon auf dem Bar[179] füßerplatz gesehen, daß die einen abgefahren waren, die andern erst abends gingen.

Zuerst hatte ihr die Aufregung Kraft gegeben, nun aber quälte sie der Hunger so, daß sie sogar gebettelt hätte. Es begegnete ihr kein Mensch; nur ein Steinklopfer saß auf niederm Stühlchen und zerkleinerte Kiesel.Er rief ihr Worte zu, die sie nicht verstand, aber ihren Füßen größere Geschwindigkeit verliehen. Erst als sie weit weg von ihm war, sank sie totmüde am Straßenrande nieder und die Augen fielen ihr vor der Gluthitze und der Erschöpfung zu.

Halb im Traum hörte sie das Nahen eines Fuhrwerkes; sie raffte sich auf und stand mitten in den Weg.Es saß ein älterer Mann auf einem Bernerwägeli.

„Was will die Jungfer?“ fragte er mißtrauisch;„was hat sie auf der Landstraße zu suchen?“

Elsi sah ihn bittend an: „Nehmt mich mit, ich komme aus der Stadt und kann nicht mehr weiter!“

„Ich fahr Sie zurück, hols der Daniel; oder ists nicht recht 2

Ueber des Mädchens Gesicht flog ein Freudenstahl.An dem Ausrufe hatte sie den Mann erkannt, den originellen Wirt, welchen ihr Vater bei jedem Besuche in Liestal aufzusuchen pflegte. Sie nannte ihm ihren Namen und ihr Wanderziel und er streckte ihr freundlich die Hand entgegen:

„So! Sie ist die Tochter des Substituten? Das war ein lieber, feiner Herr! Nun steig sie auf!“

Buser, unter dem Uebernamen „General“ bekannt,war eine ungewöhnliche Persönlichkeit. Seit dem Aus[120] bruch der französischen Revolution führte er ein bewegtes Leben. Im Jahre 1801 saß er zwölf Wochen im Kerker und seine Wirtschaft wurde ihm weggenommen, weil er im Verdachte stand, gegen die helvetische Regierung zu agitieren.

Dann gehörte er eine Reihe von Jahren zum Basler „Großen Rat“ und kam zur Erkenntnis, daß dem Landvolke viel Unrecht geschehe. Als die Wirren zwischen Stadt und Land ausbrachen, wurde er Mitglied der provisorischen Regierung in Liestal. Damals fiel ihm der Titel „General“ zu, weil er einen größern Trupp gegen den Feind geführt hatte.

Später blieb er ruhig in seiner Wirtschaft zum „General“, wo sich die erprobten „Freisinnigen“ zusammenfanden. Ein Feind der Geistlichkeit, der schwarzen Vögel,hielt er sich stets ausgestopfte Raben.

„Das ist so meine Meinung“, sagte der Liestler Buser.Wie oft hatte es ihm der Substitut scherzend nachgesprochen!Und kam etwas Unerwartetes, wohl auch: „Potz steinalie Käthri“ und „Hols der Daniel“, Busers spezielle Ausrufungen.

So wars gleichsam ein alter Freund, neben dem Elsi Liestal zufuhr, und sie scheute sich nicht, etwas von ihren Erlebnissen zu berichten. Aus allem hörte der gute Mann nur heraus, daß sie jetzt um drei noch nicht einmal ein Morgenessen im Leibe habe. „Was, sie hat kein Geld?Na, der General hat eins, und an der Kreuzstraße kehren wir ein!“

Bei Tisch fiel ihm auf einmal eiwas ein: „Sie geht auf den Mattenhof, Jungfer! Kann sie mir nicht sagen,[]h

21 wo der junge Zörnli steckt? Nu nu, da haben wir auf einmal rote Backen“, lachte er.

Das Mädchen konnte aber nicht Bescheid geben; seit langem wars das erste Mal, daß sie nur seinen Namen zu hören bekam.

Es wurde doch spät, bis Elsi den Mattenhof erreichte;die Dienstboten waren schon schlafen gegangen, nur die Meistersleute redeten noch zusammen in der Küche, und Züs ging eben die Tür schließen. Da stand plötzlich eine Gestalt im Rahmen und hob sich dunkel gegen den düster verglühenden Abendhimmel ab: „Alle guten Geister loben Gott den Meister“, brummte die alte Magd erschrocken;da rief eine schwache Stimme: „Ich bins, ich, die Els.“

Sofort sah sich das Mädchen in die Höhe gehoben und zum Lehnstuhl getragen; auf dem niedern Herde wurde die Asche auseinandergemacht, Reisig prasselte auf und ein Wohlgeruch erfüllte den Raum. Während die Meisterin die Kraftspeise zubereitete, saß Vater Zörnli neben Elsi und wärmte in seinen großen, warmen Händen ihre kalten Finger. Ach, wie schmal waren sie geworden!Er ging damit behutsam um, wie mit einem kleinen Vögelein, das er zu erdrücken fürchtete.

Keines fragte nach dem Grunde ihres Kommens, sie schienen nur glücklich, daß das Kind da war und daß sie es hätscheln durften. Aber kaum, daß seine Lebensgeister wieder erweckt waren, begehrte es mit der Mutter Lene allein zu sprechen und teilte ihr mit, was bei der Schwester vorgegangen war. „Sie wollten mich zwingen, diesen Ronimus zu heiraten, beide, Tea und Mama, du [52] hättest gewiß auch keinen auf Befehl genommen, gelt Mutter Lene?“

„Liebes Kind, damals fragte man uns nicht wollt ihr? Auch ich mußte einen Mann heiraten, weil es die Eltern beiderseits ausgemacht hatten, und mir tats besonders weh, denn ich hatte Holdschaft mit David; der ging dann in die weite Welt und ich wurde seines Bruders Jakob Frau.“

„Und du bist nicht vorher davongelaufen?“

„Wohin denn? Jeder hätte mich als ungehorsame Tochter zurückgebracht; was die Eltern damals befohlen,war Gesetz. Und da hab ich mich hineingeschickt; die Schwiegermutter vertrieb mir schon die Grillen, ich mußte schaffen wie ein Roß. Der gute Jakob hat sich oft für mich gewehrt. Als er das Unglück hatte mit dem bösen Tier, habe ich recht um ihn Leid getragen.

Und da suchte die Gemeinde nach David, und als er nach Jahren zurückkam, war er mir noch hold und wir sind schließlich doch Mann und Frau geworden. Es geht,wie es gehen muß, sicher auch einmal bei dir!“

Das gab ein frohes Erwachen! Vorbei die Angst und Pein mit Mama, hier war sie geborgen! Die Nacht hatte ein schweres Gewitter gebracht; alle im Hause waren aufgewesen, nur sie hatte sanft weiter geschlafen. Jetzt pläischerte der Regen draußen. Es mochte noch früh am Tage sein, denn kaum stahl sich das Licht durch die grünlichen, runden, bleigefaßten Scheibchen.

Eben wollte sie sich noch einmal ins Kopfkissen einwühlen, da sah sie auf dem Tische neben dem Beite einen

[183]

Krug mit Milch und Brot stehen; das war vielleicht noch vom Abend vorher. Wie war sie eigentlich hier ins Beit gekommen? Das wußte sie nicht, aber sie aß und trank und schlief aufs neue ein.

Endlich richtete sie sich auf; es war helle geworden und der Regen vorbei. „Wie heimelig es hier ist!“dachte sie, „das ist ja Gottfrieds Stube, und da auf dem Bücherbord stehen die alten Bücher, aus denen wir zusammen gelernt haben!“ Sie langte eins nach dem andern herunter: der Pfarrhofer, Gottfrieds Kirchengesangbuch,die französische Grammatik! warum hatte sie die so gehaßt? Ach! „Leos Aventures de Télémaque“,die Fabeln von Lafontaine und ihre Abscheu: „Le magasins des onfants par Madame de Beéaumont“ in mehreren Bändchen. Wie sie diese gelben Büchlein damals verabscheute, mit den langen moralfaulen und den dummen Mährchen. Gab es denn Leute, die solchen Unstnn mochten, wie zum Beispiel: „La bolle et la bôête“. Elsi hatte nur Sinn fürs Wirkliche im Leben.

Und während sie blätterte und hier ein seltsam geformtes Blatt zwischen den Seiten fand, dort eine gepreßte Blume, stand die Jugend vor ihren Augen auf und der schlanke, blonde Knabe mit den treuen Augen, und ein anderes liebreiches, schönes Gesicht über ihnen beiden:„O Vater! wenn ich dich noch hätte!“

Da öffnete sich die Tür ganz leise und ein altes Gesicht, braun und verrunzelt wie ein vorjähriger Lederapfel,guckte durch die Spalte.

„Guten Tag, Züs!“ rief Elsi.

[184]

„Ja schön, guten Tag; es ist vier Uhr nachmittags!Mutier Lene ist wohl ein Dutzendmal hier gewesen, du hast nichts gehört. Jetzt sind die Meistersleute zu einem Begräbnis und kommen erst spät wieder heim. Dein Mittagessen hat an der heißen Asche gestanden und ist ganz zusammengeschmorrt; die Meisterin sagte, Chrischona soll dir was Gutes zubereiten.

„Ach die Chrischona! So ist sie richtig da? Ich hörte einmal was davon tönen. Aber bleib hier, so schnell braucht es nicht zu sein, und erzähl mir was.“ Dabei raffte sie die Bände zusammen und warf sie auf den Bord hinauf.

„Nicht so, liebe Els, Gottfried leidet keine Unordnung in seinen Sachen! Jetzt ists besser!“

Elsi hatte Buch an Buch gereiht; freilich waren die Titel bald oben, bald unten, aber Züs verstand selbst nicht viel davon. „Also was erzählen soll ich dir? Vom Wolf und den sieben Gaislein? oder vom Prinzen, der eine Königstochter weiben sollte, dem aber die arme Hirtin lieber war?“

„Geh doch, du böse Alte! Du weißt ganz gut, was ich wissen möchte! Wo ist Gotifried? und warum bekomm ich seine Stube? Mutter Lene ließ sonst keinen Menschen darin wohnen!“

„Das ist für die Not; die andern Kammern sind alle voll Gerät. Der Sturm hat das Dach auf dem Herrenhaus eingedrückt und man mußte alles hieher bringen;der Zimmermann schafft drüben. Und wegen dem Gottfried? Der kommt jetzt nicht, er studiert in Leipzig.Du fragst mich, was? Liebes Kind, das kann ich dir [1855] nicht sagen doch halt! es klingt wie ein Weibername! wie nanntet ihr früher den Stammtisch unter der Platane? So lautets!“

„Also Sophie! Philosophentisch!“ lachte Elsi; „ich hab mir so was gedacht. Nun möcht ich aber doch wissen,was schimmert dort Rotes durchs Fenster?“

„Wie, du kennst den Rosenstock nicht mehr, den du ihm von Liestal gebracht hast? Gottfried hat ein schönes Blumenbrett dazu gemacht und der Mutter den Stock auf die Seel gebunden! Das erste, was er damals in seiner Krankheit wieder vom Leben wahrgenommen, das war der Geruch deiner Rose. Er hat von da an immer darauf hingeschaut, und es wurde alle Tage besser mit ihm.Und ausgesehen hat er, so vergnügt, als tät ihm was besonders Schönes durch den Kopf gehen.“

Im Gesicht der alten Züs spielte der Schalk; aus unzähligen Fältchen und Runzeln schien es zu lachen, und Elsi wurde über und über rot: „Gestehs nur, du scheinheilige Alte! du hast damals gar nicht geschlafen! Hast es aber niemand erzählt, daß ich ihm einen Kuß gab, auch ihm nicht?“

„Nein, liebes Kind; wenn er etwas davon weiß, hält ers allewege für einen Traum.“

Die alte Magd konnte ihre wißbegierige Kleine gar nicht zufriedenstellen, sie wollte mehr und immer mehr von Gottfried wissen: „Denk doch, Züs, es sind eben drei und ein halbes Jahr, seit ich von ihm gehört habe.“

Es war aber nicht viel Gutes gewesen; die Ruhe im Hause war weg. Der Meister, bei dem es viel brauchte, bis er einmal zornig wurde, der sich aber dann auch nicht leicht [186] wieder hinausfand, hatte mit der Meisterin schweren Streit gehabt. Der Gottfried folgte seinem Vater nicht, sondern ging nach seiner Genesung wieder die alten Wege mit halten. Mutter Lene gab ihm Recht. Sie sah in ihren Buben wie in einen Himmel hinein; was er sprach oder tat, waren ihr „Prophetenbeeren“, wie man so sagt.

Da hatte die alte Züs den Meister einmal gestellt und ihm vorgehalten, daß er, der gläubige Mann, es seinerzeit beim Substituten ganz gleich gemacht habe; „der Knabe habe nur die freien Gedanken seines Freundes eingesogen. Daraufhin war der Alte dann still, und wenn unser Bub einmal heimkam, durfte er dem Vater wieder die Hand geben.

Dann kam der gräßliche 8. August, und wer zuvorderst dabei sein mußte, das war unser Gottfried.“

„Weiter, weiter!“ drängte Elsi, die atemlos dasaß.

Und Züs berichtete alles, wie der Vater ihn gesucht und dann mit dem Knecht für tot ins Haus gebracht hatte; wie es dem Arzte gelungen war, ihn aus dem starren Zustande herauszureißen, aber nur, um ihn in neuer Lebensgefahr zu sehen. „Goitfried bekam so schreckliches Fieber, daß ihn nicht einmal mehr die Männer halten konnten; er mußte ans Bett gebunden werden. Wenn ich an diese Zeit denke! Unser Doktor war da,so viel er konnte. Er ließ noch von Basel einen andern geschickten Arzt kommen, und bis der ankam, hatte das Fieber abgenommen, aber auch die Kräfte des Kranken gingen zu Ende. Nun ist aber unser Gottfried doch wieder gesund geworden, und was die Doktors damals [187] sagten, er werde eine Schwäche im Kopf davontragen,das ist gottlob nicht eingetroffen; er ist so gescheit wie je!

Dann ging der Spektakel wieder los, als der Bub heim Meister-den Wunsch aussprach, auf eine Hochschule zu gehen. Der Alte war überzeugt, diese Krankheit des Sohnes werde zurückkehren, sobald er seinen Kopf anstrenge. Er wehrte und schalt und erklärte: keinen Heller gebe er dazu, den Sohn ins Verderben zu bringen. Was der Alte im Kopfe hat, muß durch; er schlug rund alle Bitten und Einwürfe der Frau ab.

Aber Gottfried ist seines Vaters Sohn: er erklärte,daß er dennoch gehe; er werde sich durchbringen, wie schon mancher arme Student vor ihm. Und er ging, der Dorfwächter brachte seinen letzten Gruß herauf.“

Züs erzählte weiter: „Da ist die Mutter manchen Tag herumgegangen wie vor den Kopf geschlagen, bis ich sie mitheraufnahm und ihr meinen Sparhafen zeigte: den soll der Fredli doch einmal bekommen! sagte ich. Jetzt ist die Zeit, wo ers brauchen kann; wir schicken ihm das Geld aber wie und wohin? Vielleicht weiß sein Freund, der junge Lehrer im Dorfe, Rat.

Der war sehr erfreut; er wußte, daß Goitfried nach einer Stadt, weit weg, nach Leipzig gegangen war. Dort lebten noch einige alte Freunde des Herrn Substituten,die ihm guten Rat geben konnten. Er wurde auch freundlich aufgenommen und bekam durch sie Schüler, die gut bezahlen, und hofft, seinen Unterhalt damit zu verdienen.Einer und der andere hat ihn auch schon eingeladen du weißt, Elsi, daß er schön Musik macht!“ fügte die Alte stolz bei „und seither wissen wir, wie es ihm [138] geht; er schafft und kommt auch nicht eher zurück, bis ers zu etwas Rechtem gebracht hat.“

„Und was sagte er zu deinem Gelde, Züs?“

„Das hat der brave Bursch als geliehen angenommen und mir dafür gedankt; der Lehrer meint, er komme dadurch schneller vorwärts. Du meinst, ob Vater David etwas gemerkt hat? Ich glaube wohl! Er lacht mitunter so eigen auf den Stockzähnen, und letzthin sah ich im Dorf, wie er dem jungen Lehrer die Hand schüitelte.“

Am andern Tage, da Elsi noch tief im Schlafe lag,wanderte Züs am Stocke ins Dorf hinab; sie brannte vor Begier, dem jungen Lehrer alles mitzuteilen, was sich mit Elsi ereignet hatte. Der Freund sollte es sofort in einem Schreibebrief an Gottfried berichten. Um diesen war sie schier ein wenig in Angst wegen dem reichen Baslerherrn, der das Mädchen zur Frau haben wollte.Der Lehrer lächelte oft über die alten Begriffe der guten Magd; da hatte sie zum Beispiel verlangt, daß er ihren Sparhafen einpacke und ihn nach Leipzig schicke und es brauchte viel Ueberredungskunst, bis sie ihn aus der Hand ließ und zugab, daß er die Summe für Gottfried auf einer Baslerbank deponierte.

Vergebens hatte ihr schon immer der Meister zugesprochen; sie trennte sich nicht vom Metall, höchstens daß er ihre Silberlinge in Gold umwechseln durfte, wenn er in Geschäften fortging. Es war übrigens ein schöner Sparhafen, den die Alte im Laufe ihres langen Lebens zusammengetragen hatte; seit David auf dem Mattenhofe war, überließ er ihr die Posamenterlöhne. Nach der Schätzung jener Zeit verdiente sie viel schönes Geld.

[154]

Elsi blühte in der Freiheit und im leiblichen Wohlsein auf. Doch fühlte sie, daß ihr der Aufenthalt bei den Schwestern gut getan hatte, äußerlich wenigstens;denn sie war magerer geworden und glich jetzt mehr dem netten Mädchen, dessen Bildnis sie in der Rumpelkammer gefunden und das die Substitutin ins Feuer geworfen hatte.

Damals wars ihr nicht gelungen, zu erfahren, wen es vorstellte; jetzt erriet site, es war Esther Reiffenstein,ihres Vaters Jugendliebe. Schon früher hatte sie etwas gemerkt, als er in seinen Fieberphantasien immer um Esther klagte, und mit seltsamer Zärtlichkeit mit ihr, seinem Mädchen, sprach, wenn er sie für die andere hielt.

Aber wie konnten diese zwei einander fahren lassen?Der Vater, ja, der tats aus Gehorsam, aber Esther? Ihr sollte mal eine kommen und den Schatz wegstehlen! Der würde sie schön heimleuchten!

Elsi betrachtele sich erst in Gottfrieds kleinem Spiegelein: etwas jungfräulicher war sie doch geworden, nicht mehr das „Bubenmädel“ von früher; das Haar, das sie jetzt gescheitelt trug, gab ihr ein sanfteres Aussehen. Die Nase, ja, die hatte noch immer ihr ordentliches Maß;aber zwischen den vollen Wangen strebte sie nicht mehr so kühn in die Welt hinaus wie früher. Und dann die Augen, die mußten doch schön sein, sonst hätte der Ronimus nicht solche Mordsgeschichte daraus gemacht! War sie nicht auch im übrigen ein adrettes Persönchen geworden?Kein Plumpsack mehr wie in den Kinderjahren!

Wenn sie aber hier blieb, wo sie faul dahinlebte und von Mutter Lene mit guten Bissen gestopft wurde dann adieu, Schlankheit! Nein, das ging nicht an, sie [190] mußte sich rühren! Wenn sie zum Beispiel zu Eduards als Kindsmagd ginge? Das gaben die andern Schwestern nicht zu, die trachteten nur nach einer Versorgung für sie.Zu Thea oder Doris kehrte sie nicht zurück, auf keinen Fall! Aber wohin denn? Tante Sabine ließ sie ja gar nicht mehr zu sich ein.

Sinnend über diese Frage stand sie einmal am Fenster.Da fuhr eine große Chaise vor; das Verdeck war so weit über den Sitz gezogen, daß sie nur etwas wie ein graues Bündel erblicken konnte. Jetzt sprang der Kutscher vom Bocke und zog das Dach nach hinten; es kam ein hoher,grauer Filzhut zum Vorschein, darunter eine schwarze Mütze, die über Stirn und Ohren und Nacken gezogen war. Ein langer, grauer Mantel umhüllte die männliche Gestalt; um die Schultern schlangen sich sechs Kragen,einer immer daumensbreit kürzer als der andere. Es war zu komisch in dieser Jahreszeit, wegen dem bischen Ostwind!

Elsi ließ ihr fröhlichstes Lachen los, es klang wie ein lustiges Geläute, und der Mann schaute hinauf: „Herrschaft! 8 ist der Vormund!“ rief sie und sprang eilends nach unten.

Da stand der Präsident; Chrischona hatte ihm den Reisemantel abgenommen, die Meisterin nahm den Hut in Empfang. Eben zog er die seidene Zipfelmütze vom Kopfe und versenkte sie in die Tasche; eine Bewegung der beringten Hand über das volle Haar, ein Vorwärtsstreicheln der Backenbärtchen, und er war fertig: nun der feine Stadtherr im schwarzen, feinen Anzug. Seine lila Weste von dickem Atlas trug er fast zugeknöpft; aus dem kleinen

[191]

Ausschnitt am Halse schaute der Knoten der weißen Krawatte, Kragen und Manschetten waren von blendender Frische. Von der Uhr hing ein breites Band aus Goldgeflecht, daran baumelten nebst Petschaft eine Menge goldener Breloques; es fehlte an seiner gewohnten Verfassung nichts als die goldene tabatière in der Westentasche, sie war ein Brautgeschenk der seligen Präsidentin, und ihrer doppelten Kostbarkeit wegen nahm er sie nie nach auswärts mit. Dafür hatte er eine größere von Horn mit Silberbeschlägen; das war seine Reisedose, stets mit feinem französischen Regietabak gefüllt. Er selbst war nicht Schnupfer; aber mit dem Anbieten einer Prise knüpfte man zuweilen neite Bekannischaften an.

Der Präsident kam, nach seinem Mündel schauen. Zu Elsis Staunen hatte er keine Ahnung von ihrer Flucht;der Schwager hatte ihm bloß mitgeteilt, sie sei zur Erholung nach dem Mattenhofe gegangen der Vater David hatte ihms nämlich so gemeldet während ihre Mutter eines schweren Magenleidens wegen zur Behandlung im Spital untergebracht werden mußte.

Zörnlis taten dem Gaste alle Ehre an; dem Meister kam sein Besuch besonders gelegen. Da Gottfried das Bauernwesen nie übernehmen würde, stand er im Begriffe,es dem verwandten Meisterknecht, dem Hansli, zur Pacht zu geben. Hierzu konnte er den Rat des rechtskundigen Herrn gut brauchen; er bat den Präsidenten, bei ihm zum Mittag vorlieb zu nehmen. Die Meisterin tat das Ihrige im Kochen und Backen, soweit es die knappe Zeit erlaubte.Chrischona hatte den Tisch auf der Altane gedeckt; das war eine Gallerie in der Küche selbst.

[1932]

Vor Zeiten, als die alten Zörnlis noch Sommergäste und Milch- und Molkenkuranten aufnahmen, hatten diese sich öfter beklagt, daß sie am gleichen Tische essen mußten,wo vor ihnen die stallduftenden Knechte und Mägde saßen.Damals hatte Davids Vater diesen Ausweg erdacht.Mehrere Stufen führten auf eine Erhöhung, die sich an der ganzen Wand hinzog und mit Geländer eingefaßt war.Er hatte auch ein dreiteiliges Fenster gegen die Linde ausbrechen lassen; man saß daher bei der größten Hitze im Schatten. Die Sommergäste liebten diesen heimeligen Platz; bei schlechtem Wetter war es in der Küche unterhaltender als in den Kammern oben. Hier brannte den ganzen Tag das Herdfeuer und allerlei Leute gingen ein und aus.

Der Präsident fühlte sich auch recht behaglich. Chrischona hatte den Tisch zierlich gerüstet; es gab im Lehenhause so manches alte Stück, mit dem man Parade machen konnte. Und wenn sie selbst in ihrer blonden Frische abund zutrug, das gefiel dem Gaste noch mehr. Er flüsterte der Meisterin zu: „Wenn Sie das Gewerbe aufgeben,brauchen Sie ja die Chrischona nicht mehr. Meine Haus bielleicht bekommen?“

Aber der kam zu spät! Chrischona wurde in kurzem Hanslis Frau und Meisterin auf dem Lehenhofe.

„Schade, schade!“ meinte er, „sie hat eine feine Art und ist nicht mehr zu jung; sie hätte meinem Hause prächtig angestanden.“

Nachher wünschte der Präsident noch eine Unterhaltung mit Elsi. Er hatte dem Remigius doch angemerkt, daß [198] etwas vorgefallen war: „Kind Gottes, du machst mir wirklich Sorgen“, sagte er, „was fangen wir nun mit dir an?“

Das Mädchen antwortete fröhlich: „Ich werde kochen lernen, und wenn ich etwas verstehe, komme ich zu Ihnen als Haushälterin.“

„Oho!“ dem Präsidenten brach schier der Angstschweiß aus; die kleine unternehmende Person war kapabel, ihm auf die Bude zu steigen. Man war vor ihren Ueberraschungen nie sicher. Schließlich faßte er sich und meinte:„Wenn meine Frau selig noch am Leben wäre, wie gerne wollte ich dich zu uns einladen! Aber du weißt ja, wie lange ich schon als Witwer einen Knabenhaushalt führe,und da paßt ein junges Mädchen nicht hinein. Ueberdies! wer wollte eine kleine Person wie dich in eine Stelle nehmen?“

„Ich bin doch schon drum gefragt worden!“ unterbrach sie ihn, und er meinte: „Vielleicht spaßweise“.

„Nein, nein, im Ernst! Der Balzer auf dem Tannenbergli hat mir Bericht geschickt, er wollte mich durchaus oben haben, da er schon lange krank ist und seine Diensten immer davonlaufen.“

„Ah wa! der alte Saufaus lebt noch? Und flucht er noch immer das Blaue vom Himmel herunter? Was wollte er dir geben ich meine an Lohn?“

„Er versprach, mir das Seinige zu vermachen, wenn ich bis zu seinem Tode bei ihm bleibe.“

„Und du griffest nicht mit beiden Händen zu?“

Nachdem sich Elsi vorhin mit dem Antrage gebrüstet,wars sehr undiplomatisch, daß sie jetzt ihren Abscheu so [194] offen zeigte; der Vormund aber sagte: „Du hast Recht!Laß lieber seine sieben Zwetschgen fahren!“ Dann dachte der Präsident eine Weile nach und machte halb für sich: „Schade, daß ich nicht mit einem Hochzeiter aufwarten kann; das wäre das Richtige für die Kleine ein Mann!“

Elsi hatte es aber verstanden: „Geben Sie sich keine Mühe! ich kann das haben, wenn ich will. Der Ronimus würde mich gleich heiraten, wenn ich ihn möchte!“

Jetzt kams dem Vormund doch zu dick, er pfiff durch die Zähne! Der reiche, elegante Ronimus, der bloß die Hand auszustrecken brauchte und es bleibt an jedem Finger eine hängen! Dann sagte er väterlich: „Du hast mit ihm zu Gevatter gestanden, da war er natürlich nett gegen die junge Gotte, das kann ich mir denken! Aber man darf eben nicht alles für bare Münze nehmen, was die galanten Herrn sagen “. Und als er das zornigglühende Gesicht des Mündels plötzlich dicht vor sich sah, als könnte es gar eine Ohrfeige absetzen, meinte er begütigend:„Nimms nicht so bös auf, Elst; wir Männer taugen eben alle nicht viel!“

„Das kommt mir auch so vor!“ schnauzte sie; „ich hätts Ihnen explizieren können; aber mit Ihnen rede ich kein unnötiges Wort mehr.“

Damit fuhr sie aus der Tür, und halb aufgebracht,halb lachend rief ihr der Vormund nach: „Kratzbürste,die du bist! Du wirst den Deinigen einmal nach Noten striegeln!“

Wenige Tage später kam Züs von einem Ausgange heim und sagte mit Schmunzeln: „Du Lene! Der Dorf[195] wächter hat der Els einen Liebesbrief gebracht!“ Die Meisterin horchte nicht einmal besonders darauf; die Alte wurde hie und da schon etwas kindisch. „Du willst nicht wissen, woher?“ fügte Züs bei, und da enischloß sich Mutter Lene doch zur Frage, erhielt aber die unbestimmte Antwort: „Von ihrem Holderstock natürlich!“

Man hatte hier nicht Zeit, über dergleichen Dinge nachzugrübeln; es fiel der Meisterin wohl auf, daß Elsi sich den ganzen Nachmitiag nicht blicken ließ. Beim Nachtessen saß sie mit strahlendem Gesicht, verschwand aber nach dem Vaterunser, ohne „Gut Nacht“ zu sagen.

Am andern Morgen frühe lief sie ins Dorf und suchte den jungen Lehrer auf. Er saß eben nachlesend über Schulheften und hielt nicht inne, als es klopfte; „Herein!“Drinnen wartete Elsi eine Weile; dann sagte sie mit ihrer klangvollen Stimme: „Guten Tag, Herr Lehrer!“

Als hätte eine Bombe eingeschlagen, fuhr er auf und in seine Weste hinein; die hing zum Glück an seinem Stuhl. Dann fragte er nach ihrem Begehr. Sie war gekommen, bei ihm Papier, Tinte und Federn zu kaufen.Zum Glück hatte sie der Präsident wieder mit Geld verforgl. Sie will dem Gotltfried schreiben, dachte er, da muß ich ihr beistehen; er schnitt ihr die Federn: „Hart oder weich?“ Elsi hat seit Montmirail keine mehr angerührt,sie wußte es nicht. „Machen Sie das ganze Büschel auf zweierlei Art“, bat sie. „Und ob er ihr dann die Adresse schreiben wolle?“ ‚Gewiß! Wenn Sie wünschen, auch den Brief spedieren?“

Vergnügt trottete sie zum Mattenhofe zurück, sich schon unterwegs besinnend, wie sie schreiben wollte. Hätte ihr

[196]

Chrischona nicht das Frühstück gebracht, wäre sie nüchtern an die Arbeit. Denn eine schwere Aufgabe wars, trotz des inneren Jubels, und viele Briefbogen wurden beschmiert,ehe es über die ersten Linien hinauskam.

Und wie sie endlich mit glühenden Wangen in Zug kam, holte man sie herunter; der Vormund wolle sie sprechen. „Schon wieder!“ dachte sie.

Es fiel ihr gar nicht auf, als sie den Präsidenten im Kabinett fand, daß er feierlich im Schwarz war, Kreppstreifen um den Arm und den Seidenhut. Mii ernster Miene trat er auf sie zu: „Elsi, ich komme mit einer Trauerbotschaft. Deine Großtante Sabine ist gestorben.“

Das Möädchen steckte eben noch in ganz andern als Leidgedanken; sie konnte sich nicht so plötzlich zurechtfinden:„Wirklich?“ gab sie zerstreut zur Anlwort; „aber die Tante war alt, sehr alt!“

Da brauste der Vormund auf: „Ist das eine Teilnahmsbezeugung beim Tode einer Verwandten, die dir so viel Güte erzeigte? Hat man euch im Inftitut keinen bessern Anstand gelehrt?“

Elst nahm die scharfe Zurechtweisung gelassen hin;sie hatte sie wohl kaum gehört. Halb zu sich sprechend,sagte sie: „Ich habe sie recht gern gehabt und sie mich sonst auch; in der letzten Zeit hat sie aber nichts mehr von mir wissen wollen!“ ein Schlucken kam in ihre Kehle,es ging ihr näher, als sie zeigen wollte.

Dem Vormunde war es doch nicht entgangen und mit mehr Gewogenheit als vorhin ieilte er ihr mit, daß die Großtante sie trotz ihrer langen Krankheit nicht vergessen,[197] sondern ihr das „Immengärtlein“ mit allem, was drin sei und was dazu gehöre, zum Andenken vermacht habe.

Einen Augenblick stand sie wie überwöältigt, dann schrie sie vor Freude auf: „Ich wußt es ja! ich habs dazumal schon erraten, obschon sie mirs verbergen wollte!“ Und sie hüpfte vor Freuden und tanzte mit offenen Armen auf den Präsidenten zu; „Hilf, Samiel, hilf!“ stöhnte er, „sie fällt mir noch um den Hals!“ Aber da kam zu rechter Zeit noch Mutter Lene und hielt lachend die stürmische Umarmung aus.

An diesem Tage war viel von der Verstorbenen die Rede; dem Präsidenten hatte sie sich beinahe als Mutter erzeigt, obschon er nur von ihres Mannes Seite mit ihr verwandt war. David, das Kamerödlein ihres Neffen Manuel, nannte sie ein braves, frommes Kind, und liebte es sehr, wenn ihre Kleine, die Esther, mit den beiden Buben spielte. Die drei Kinder lebten wie im Himmel,während Sabine mit ihren Geschwistern disputierte, teils üͤber ihre Nachlässigkeit im Entrichten der Zinsen, die sie zu fordern hatte, teils wegen der schwachherzigen Erziehung ihres Söhnleins.

Manches Ernste und Heitere wußten die beiden Männer zu berichten, bis sie ein Blick auf Elsi zurückhielt. Sie follten nur weiter reden, es sei ihr schon alles bekannt,auch wie es gekommen, daß ihr Vater seine Jugen dliebe nicht geheiratet habe. So sollte es iher einmal nicht ergehen.

Vielleicht war jetzt der Moment, sich mit dem Vormund auszusprechen. Da gab er selbst Anlaß dazu.„Apropos, Elsi, ich habe dir letzthin doch Unrecht getan:[198] der Ronimus ist in der Tat gekommen und hat bei mir um deine Hand angehalten. Nun ist ja für deine Zukunft glänzend gesorgt! Was soll das bedeuten? Du machst ja ein abweisendes Gesicht! Du solltest Gott danken, daß dir ein solches Glück in den Schoß fällt! Ists menschenmöglich? Du willst ihn nicht? Warum,in des Kuckucks Namen, warum?“ schrie er.

Elsi sagte ruhig: „Darum, weil ich im Begriffe bin,einem andern das Jawort zu geben!“

Der Präsident war außer sich vor Zorn. Da besann er sich, daß ihm solche Alteration nach dem Mittagessen leicht einen Schlaganfall zuziehen könnte. Er zwang sich zur Gelassenheit, fragte aber mit höhnischer Schärfe:„Darf der Vormund vielleicht erfahren, wer der glückliche Prinz istꝰ“Gedrückt schauten die Meistersleute auf das junge Mädchen, das sein Geschick in die eigene Hand genommen hatte und so siegesbewußt mit strahlenden Augen jedes von ihnen ansah. Nach einer kleinen Pause stand es langsam auf und sagte mit überlegenem Ausdruck ernst und feierlich: „Mein Zukünftiger heißt Doktor Gottfried Zörnli!“

Nun saßen sie da und schnappten nach Luft, wie die Karpfen auf dem Trocknen. Der Präsident runzelte die Stirn und fixierte die Zörnlis. Das war sicher eine abgekartete Sache! Aber die Leute schienen ganz überwältigt: er, der Meister, sah unheimlich aus. Sein Blick irrte in weite Fernen; er suchte wohl in allen Himmeln nach seinem Freunde Manuel, um ihm die Mär zu erzählen. Der Mutiter Lene aber rollten die Tränen erbsen[199] groß über die vollen Wangen. Nein, er tat ihnen Unrecht, sie hatten nichts gewußt.

Aber wo war die „Rätzebille“ hingekommen? Sie sollte wenigstens Rede stehen! Da hörte man eiliges Laufen und gleich erschien sie mit einem Briefe in der Hand: „Hier lesen Sie, Herr Präsident!“ und schnurrte wieder davon.

„Sind das Manieren für ein junges Mädchen!“brummte er und warf das Papier zuerst weg; doch überwog bald die Neugierde, er entfaltete das Schreiben und las für sich, dann teilte er auch den Eltern den Inhalt mit. Gottfried schrieb ungefähr folgendes:

Durch den Lehrer, seinen guten Freund, habe er erfahren, daß Elsi zu seinen Eltern gekommen sei, nicht zu heiterm Besuche, sondern weil schmerzliche Ereignisse ihr die Kinderheimat ins Gedächtnis gerufen hatten. Darüber wolle er jetzt mit ihr sprechen, vorerst aber Mitteilung machen, daß er vor einigen Wochen zum Doktor der Philosophie promoviert habe, daß ihm aber nicht Zeit geblieben sei, den Seinigen Nachricht zu geben: er mußte für einen erkrankten Lehrer einstehen und alle seine Kräfte anspannen, um seiner Aufgabe gerecht zu werden, denn in seiner Klasse waren fast erwachsene Jünglinge. Er hatte auch im Sinne gehabt, in den Ferien heimzureisen;nun habe sich alles anders gestaltet: die von ihm zeitweilig versehene Stelle sei zur Bewerbung ausgeschrieben,und die Vorgesetzten hätten ihm die Zusicherung gegeben,daß er sie erhalte, er möge sich der Form wegen melden.

Das wäre ein großer Schrilt und würde ihn in Stand setzen, sich und seiner Zukünftigen ein freundliches Heim [200] zu bieten. Darum frage er seine liebe Elsi: „Willst du meine Frau werden?“

Das Herz sage ihms und eine kleine, süße Erinnerung,die er fast für einen Traum gehalten habe: sie ist mir hold geblieben! Und wie es mit ihm stehe, wisse sie schon längst; er lege darum beider Zukunft in ihre kleine Hand.

Sobald er ihren Bescheid habe, werde er den Eltern schreiben und dem Herrn Vormund seinen Antrag vorlegen. Wollten sie im Herbst noch Hochzeit machen, müßte es rasch vorangehen.

Ihn beunruhige nur ein Gedanke: wenn es Elsi zu schwer würde, hier in der Fremde zu wohnen? In diesem Falle würde er sofort Schritte tun, um in der Heimat eine Anstellung zu finden; es dauere dann etwas länger,aber Elsi sei ja auf dem Mattenhofe daheim und unter seiner Eltern Schutz geborgen.

„Ich werde auch in meinem Vaterlande emporkommen,nur langsamer als hier; dafür wäre ich dann in der Nähe der Eltern und könnte ihnen in ehrerbietiger Liebe die Sorgen vergüten, die ste meinetwegen ausgestanden haben.Aber das Liebste, was ich ihnen zum Ersatz für ihre Leiden geben könnte, das bist du, mein Herzenskind.Die lieben Alten sähen es als die Erfüllung eines heiligen Vermächtnisses an: dein seliger Vater hat dich an uns verschenkt, und wenn meine Eltern sich nie etwas anmerken ließen, wars nur, um dir die volle Freiheit zu lassen.

Unendlich viel hätte ich dir noch zu sagen; das bleibt auf späteres Schreiben verspart. Erst muß ich deinen klaren Bescheid in den Händen haben“ usw.

[201]

Die Männer verfügten sich zu ungestörter Zwiesprache ins Kabinet. War der Vormund erst etwas abgeneigt,änderte sich seine Meinung, sobald er einen Einblick in die Vermögensverhältnisse Zörnlis getan hatte. Er war ein gewissenhafter Vormund, aber die gute Versorgung schien ihm die Hauptsache. Darum hatte er auch den Antrag des Ronimus so freudig begrüßt, und jetzt kam ihm peinlich in Erinnerung, daß er dem jungen Manne Elsis Zusage als bestimmt verheißen hatte. Dies stellte sich nun als unrichtig heraus: wer wurde aus diesen jungen Gänsen klug?

Es war übrigens kein zu schlechter Tausch; abgesehen davon, daß das Mädel den Ronimus nicht wollte, fiel ihm jetzt ganz gelegen ein, daß der junge Herr früher ein arger Luftibus gewesen und mit erzürnten Vätern etliche Auseinandersetzungen gehabt hatte. Gestand er doch offen,daß ihn das Rassige, die Kraft des Willens bei Elsi anziehe; er hoffe, an ihr einen rechten Halt zu haben, da ihm diese Eigenschaften fehlten.

„Nanu“, dachte der Präsident, „s ist schon mancherlei Vorhaben bachab gegangen; der junge Mann wird sich anderswo trösten.“

Dem Präsidenten wars gar behaglich im verschwiegenen Stübli; gespannt sah er zu, wie der Zörnli seinen Schreibschrank öffnete und die Rechnungsbücher vor sich auf den Tisch legie. Jetzt nahm der Meister noch einen Einsatz mit vielen Fächern heraus; dann knirschte ein Schlüssel und ein Geheimfach lag offen da. Was mochte der eiserne Kasten enthalten, der in der Mauernische stand?

[202]

Mit brennender Neugier bohrte er die Augen hinein,als er ihn endlich vor sich sah. In seinen Händen zuckte es, die vergilblen Blätter und etliche Pergamentrollen zu untersuchen. Zörnli sagte: „Familienschriften! Bei einem längern Besuche nehmen Sie dieselben wohl in Augenschein?Hier ist nur das Wichtigere, meine paar Gültbriefe; Elsis Vormund bin ich Rechenschaft schuldig.“

Zörnli stieg in hohem Grade in des Präsidenten Achtung! Bei einem Bauern hätte er diese Intelligenz in Geldsachen nicht vermutet! Alles war solid und ächt bei diesen Leuten, und sein Mündel machte einen Schick mit dem Gottfried. Die beiden Landwirtschaften, der Maitenhof und das Bachmühlegut, das von der Frau herkam, repräsentierten schon einen schönen Wohlstand; das Kind hatte eine feine Nase, saperlott!Als man Elsi herunterrief, war alles wieder an Ort und Stelle. Sie merkte dem Vormund gleich das gute Wetter an; er stand mit dem Rücken am Fenster und hatte die Daumen im NAermelausschnitt seiner Weste stecken,das war der Ausdruck seines höchsten Behagens, zum Beispiel, wenn er sich recht daheim fühlte.

Er war sogar so höflich, ihr einen Stuhl anzubieten;offenbar war sie in seiner Wertschätzung um eine Staffel höher gekommen. Mit einer ernsten Feierlichkeit eröffnete er ihr, daß Meister David ihnen beiden, Vormund und Mündel, die Ehre angetan, für seinen Sohn Gottfried um ihre Hand zu werben; daß er seinerseits fröhlich seine Zustimmung gegeben habe, und da sie, Elsi, schon zuvor ihren bestimmten Willen kundgegeben und vielleicht schon [293] das „Ja“ geschrieben, gratuliere er ihr von Herzen zu dem freudigen Ereignisse.

Elsi lachte dem Vormund ins Gesicht: solch lange Sauce! Es war ja schon von ihr alles durchgedacht!Nur wollte sie jetzt noch nicht Hochzeit machen. „Ueberhaupt, dorthin gehe ich nicht; das Deuischparlieren geht mir gegen den Strich. Goitfried würde auch nicht viel Ehre mit mir einlegen! Wir wollen ruhig warten, bis sich daheim etwas findet!“

„Das ist eine ganz vernünftige Ansicht von dir, liebes Kind“, sagte der Präsident; „für den Ehestand seid ihr beide noch zu jung. Deine Schwestern waren zwar in deinem Alter schon Frauen, aber das ist was anderes bei solchem Strudelkopf, wie du einer bist! Sobald mir der junge Mann schreibt, will ich mit Herrn Simon reden,dein Doktor steht in Gunst bei ihm, und er kann ihm sehr vorwärts helfen. Das wäre also im Reinen.Nicht wahr, liebe Freunde, Sie sind auch einverstanden,daß die Sache unter uns bleibt, bis wir einen Schritt weiter sind?“

Zörnlis hatten die liebe Elsi zärtlich in ihre Mitte genommen; auch sie lobten des klugen Mädchens Beschluß.Ihr Sohn war nur wenig Jahre älter als seine Erwählte,und der Ehestand ist eine ernsthafte Sache, man durfte ihn nicht zu jung und unerfahren antreten. Und herzlich froh waren sie, daß sie nicht in die Fremde wollte: wo Elsi blieb, würde Gottfried auch gerne bleiben.

Nachher war von der Substitutin die Rede. Es ging ihr gut, der Fieberanfall war nicht zurückgekehrt; sie mußte nur noch wegen ihrer außerordenttichen Magerkeit eine Diät[204] kur durchmachen. „Wenn sie aus dem Spital entlassen wird,wirst du sie zu dir nehmen, Elsi?“ fragte der Vormund.

Das Mädchen sagte natürlich ja, fügte jedoch wichtigtuend bei: „Wenn ich aber dann verheiratet bin ?“

„Für diesen Fall ist schon gesorgt“, sagte Mutter Lene. „Mein Mann und ich haben ausgemacht, daß wir Frau Sybilla zu uns nehmen wollten. Das Zimmer,das sie mit dem Substituten bewohnte, steht ihr zur Verfügung, sobald das Herrenhaus umgebaut ist.“

„Sie wollen bauen?“ fragte der Präsident interessiert.„Ach, dieses Glück ward mir nicht zu teil; meine Frau selig brachte mirs Haus in die Ehe. Es gibt für den Mann keinen höhern Genuß als zuzusehen, wie sich so etwas aus dem Boden herauswächst, und wie alle seine Ideen und Pläne in die Tat umgesetzt werden.“

„Wir aber bauen nicht von Grund aus, Herr Präsident; das Erdgeschoß bleibt stehen, nur kommt stait des Holzbaues ein gemauertes oberes Stockwerk dazu. Die Steinhauer sind schon an der Arbeit, Maurer- und Zimmerleute bestellt. Da nun alles schon vorbereitet ist, kann das Haus vor dem Winter noch unter Dach kommen.Das Holz holten wir schon lange aus dem eigenen Walde,und mit nächster Woche beginnt der Abbruch.“

„O, mich freute die heimelige Giebelstube mit dem Holzaltan und dem schönen Blick in die Weite!“ murmelte der Präsident, dem die Erinnerungen aus der Jugendzeit wieder aufgestiegen waren. Er und Manuel hatten dort oben gehaust. Aber die würde wieder ganz gleich eingee Gottfried sollte dort seine ungestörte Arbeitsstube aben.

[205]

So saßen sie plaudernd beisammen; da stieg dem neugierigen Vormunde noch eine Frage auf: „Apropos,Elsi! Was steckt denn hinter dem kleinen, süßen Geheimnisse, von dem im Briefe die Rede ist? Wenn dus dem jungen Lehrer anvertraut hast, dürfen wir es vielleicht auch wissen?“

„Ich habs ihm nicht erzählt, sondern die Zis“, antwortete sie unbesangen; „sie war nämlich dabei, als ich den kranken Gottfried auf die Stirn küßte, daß er wieder gesund werde und es hat ihm damals auch geholfen!“fügte sie stolz bei.

Mutter Lene schloß das Mädchen gerührt in die Arme;der Vormund machte ein spöttisches Gesicht und raunte dem Meister zu: „Heilige Einfalt!“ aber der Angeredete hörte es nicht, sein Blick ruhte liebevoll auf der künftigen Sohnsfrau.

Von einem federgewandten Menschen pflegte man früher zu sagen, er schreibe einen guten Stiefel. Bei Elsi wars eher ein Holzschuh; denn unter Mühen und Nöten berdarb sie Papier und Feder, und wenn sie die von der Arbeit erpreßten Schweißtropfen abwischte, zog sie mit den schwarzen Tintenfingern dunkle Linien über ihr Gesicht.Aber jede Ausdauer führt zum Ziele; endlich wars gelungen und sie überlas ihr Werk mit Befriedigung:

„Lieber Gottfried!

Ja, ich will gern deine Frau werden, wir habens ja nie anders gewußt. Aber jetzt ists mir noch nicht ums Heiraten; ich verstehe auch nichts von der Haushaltung,und nach Leipzig mag ich nicht, wo man nicht einmal reden darf, wie einem der Schnabel gewachsen ist.[92]4

Gestern war der Vormund da und brachte Bericht,daß Großtante Sabine gestorben ist und mir ihr nettes Gartenhaus vermacht hat. Auf deinen nächsten Brief setze die Adresse: zum „Immengärtlein“ in Basel; denn morgen führt uns der Hansli in die Stadt, dein liebes Mütterlein kommt mit.

Deine Eltern sind stolz auf dich, und erst die Züs!Ich soll dir schreiben, daß der Meister, wenn er schon nicht Namen haben will, doch dem Lehrer Geld hingetragen hat. Und desgleichen die Meisterin, die ihm alles brachte, was sie zusammenkratzen konnte, und doch sollte keins vom andern wissen. Du wirst es wohl erfahren haben?

Der Präsident ist allweg froh, wenn er mich ab dem Magen kriegt; er freut sich auf deine Anfrage und rühmt dich sehr. Gelt, du schreibst auch gleich?

Einen so langen Brief habe ich mein Lebtag nicht geschrieben, und doch steht die Hauptsach nicht drin, aber die weißt du schon. Nachher spring ich über Stock und Stein vor Freude.

Dein gutes Müeti packt eine ganze Kiste voll Eßwaren;wenns auf sie ankäme, würde ich wieder kugelrund. Aber das will ich nicht, sonst passe ich nicht zu dir.

Alleweil dein vielliebes, kleines Elseli.“Wenige Wochen später kam Elsi Sonntags aus der Frühpredigt heim; da stand Meister Zörnli vor dem Sommergärtlein und wollte eben den Klopfer in Bewegung setzen. „Du, Vater!“ rief das Mädchen freudig, „Du bist doch nicht zu Fuß gekommen?“

[207]

Vater David hatte sein Fuhrwerk in Birsfelden eingestellt; um die Kirchenzeit waren ja die Stadttore geschlossen, und nur ein Pförtchen stand für die Fußgänger offen. Er war nun eingetreten und sah sich vergnügt um:„Das ist einmal nett bei dir! Wer hält das Gärtchen so sauber? es ist ja wie geleckt?“

Das war ja Annkätters Werk. Mutter Lene hatte es schon daheim berichtet, aber auch geklagt, daß das Mädchen allein mit der alten, groblächten Person hauste.Im Hause Reiffenstein wars immer mit viel Geschrei zugegangen; nun gewöhnte sich Elsi an die täglichen Scharmützel, denn sie war nicht diejenige, die nachgab. Als der Meister eine Bemerkung darüber fallen ließ, gab sie offen zu, daß zuweilen Spektakel sei; aber es wohne zum Glück niemand in der Nähe, der es höre.

„Wenn das unser Goiltfried wüßte, liebe Elsi, es würde ihm Kummer bereiten ... Ja, ja, ich glaub dirs schon,daß du die Haushaltung nirgends besser erlernen kannst als bei ihr; ich fürchte nur, du nimmst auch unvermerkt die Art dieses Dragoners an. Denk an deinen seligen Vater; was würde der feine Mann dazu sagen? Käme deine Mutter nicht bald zu dir?“

Nachher fing der Gast an zu erzählen; auf dem Mattenhofe war seither allerlei geschehen. Der Meister hatte auf Chrischonas Rat die Mutter in Basel holen lassen, und da kam sie knapp recht, um die Züs noch lebend zu treffen.Sie verschied bald darauf ohne Krankheit; es war nur ein Auslöschen.

Elst war sehr betroffen; sie hatte die Züs immer alt gesehen und nie daran gedacht, daß sie einmal sterben könnte.

[208]

Mit welchem Eifer hatte sie es noch betrieben, um Gottfried und sie zusammen zu bringen, die alte treue Züö! Wie alt sie geworden, konnte Vater David nicht sagen, Züs wußte es wohl selber nicht. Der Pfarrer hatte Zörnlis gebeten, in ihren Sachen nachzusehen; er wollte doch einen Anhaltspunkt haben. Man fand aber nichts, als das dem Gottfried verheißene Posamenterlied und ein altes Beutelchen mit kuriosen Münzen, die niemand kannte; sie mochten aus fremden Ländern stammen. Einzig das konnte Frau Lene von ihr sagen, daß sie von Zörnlis Eltern aus einem Dienst in Muttenz herausgenommen und auf das Lehengut versetzt worden war. Einen Geschlechtsnamen besaß sie auch nicht, sie war als Susanna Mattenhoferin begraben worden.*

Einige Tage später feierte man die Hochzeit der jüngern Lehenleute; es ging sehr still zu, da außer den Zeugen nur die Hausgenossen beiwohnten Der Hansli aber platzt schier vor Stolz über seine noble Meisterin und hat einen Respekt vor ihr! Die Chrischona weiß sich aber auch zu benehmen und hat im kleinen Finger mehr Verstand als er in seinem ganzen dicken Schädel. Vater Zörnli ists zufrieden, daß er ihr alles überlassen kann; in den paar Jahren hat sie sich eingeschafft und leitet alles wie ein Mann. Aber vor den Leuten gibt sie immer dem Hansli die Ehre, und gehen sie ins Dorf oder in die Kirche,bleibt sie nach altem Baselbieterbrauch immer ein paar Schritte hinter ihm zurück.

Des Meisters Reise hatte aber noch einen andern Zweck.Mutter Lene war von ihrem letzten Besuch im Immen

**[209] gärtlein ganz entzückl von dem dortigen eisernen Kochherd heimgekommen, und da auch Chrischona sich über den ungeheuren Holzverbrauch auf dem Lehenhofe gewundert und schon mehrmals auf die Vorteile eines Sparherdes angedeutet hatte, ging der Meister zur Annkätter in die Küche.

Wie das blinkte und strahlte an den Wänden! Die alte Magd gratulierte sich, daß sie diesmal das Messingund Kupfergerät so besonders sorgfältig blank gemacht hatte.Auch der Kochherd glänzte vor Sauberkeit, und aus den Töpfen stieg ein herrlicher Duft! Sie hatte ihr Bestes getan, um den Meister zu feiern. Auch ihm leuchtete die Einrichtung ein, und nachdem er alles geprüft, beschloß er,nicht nur für die beiden Küchen im Substitutenhause, sondern auch für den Lehenhof in größerm Maßstab eine solche Kochgelegenheit anzuschaffen.

„Wenn nur deine Mutter hier wäre,“ sagte er zu Elsi,„es macht mir wirklich Sorge, daß du hier allein bist mit dieser Annkätter!“

Da erschien in den nächsten Tagen Frau Söbilla,verjüngt und munter wie nie zuvor. Nach gut vollbrachter Kur war auch ihr Gemüt wieder ins Gleichgewicht gekommen; eine kluge Spitalgenossin nahm sich ihrer törichten Nachbarin an und verspottete freundlich ihre Eifersucht auf Esther. Sybilla quälte sich nämlich mit der Idee, ihr Manuel sei jetzt im Himmel immer mit ihr zusammen.„Seien Sie zufrieden mit dem friedlichen Leben, das Sie an seiner Seite gehabt,“ sagte Frau Rennler, „und kommen die alten Mucken wieder, gute Substitutin, so jagen Sie die fort und danken Sie Gott, daß Sie einen solchen Mann lieben durften.“

[210]

Mama Shyhilla nahm sich vor, mit ihrer jüngsten Tochter liebreicher als bihher umzugehen; mit dem Ronimus wollte sie ihr nicht mehr kommen, das ersehnte kleine Haus war ja auch ohne ihn da. Wie sie sich freute,wieder in dem Eigenen zu schalten und walten!

Es fiel aber nicht ganz so aus, wie sie erwartet hatte.Elsi gab die Regierung nicht aus den Händen und wurde von anderer Seite wirksam unterstützt: Das Parlament Annkätter, wie Ludi die forsche Magd betitelte, gab der Mama zu verstehen, das Immengärtlein gehe sie nichts an.Es galt nur noch eine Macht, die „Frau selig“; nichts durfte geändert werden, was sie angeordnet.

Die alte Sabine ging wirklich „fry“ noch um. In der ersten Zeit wars der Substitutin recht unbehaglich.Sie fand hier im Hause das alte, früher ihrem Gatten gehörende Hausgerät wieder; doch hatte sie als junge Frau all das Zeug verschachert, um à la mode Möbel anzuschaffen. Die Spürnase Reiffenstein mußte es herausgeklügelt und unter der Hand hereingekauft haben; jetzt sahen die alten Stücke sie gleichsam vorwurfsvoll an. Aber man gewöhnt sich mit der Zeit an' alles.

Diese verging auch wie im Fluge! Sie staunte nur,was in Elsi gefahren war! Diese schaffte sich ins Wirtschaften ein, bat sogar die Mama, ihr im Flicken Anweisung zu geben und lief nebenbei noch in Lehrstunden, als ob ein Mädchen nötig hätte, etwas anderes zu lernen als die Haushaltung! Sogar Briefe erhielt das Kind! Wie gerne hätte sie ihrer Thea einen zum Lesen gebracht; Annkätter aber spielte sie vor ihrer Nase dem Töchlerchen in die Hände; es war keiner zu erwischen.

[211]

Gottfried hatte noch als Doktor seine Studien fortgesetzt; anderthalb Jahre waren seit dem Verspruch vergangen,da meldete er dem Präsidenten, daß er in der Heimat eine Stelle an einer Kantonsschule in Aussicht habe und gesonnen sei, seine Elsi, die einverstanden, in kürzester Frist heimzuführen.

Dem Vormunde wars nicht ganz behaglich, als er die Angelegenheit Elsis Geschwistern vorbringen mußte. Sie hielten ihm richtig sein Heimlichtun vor und machten überhaupt Umstände: ein Bauernsohn und Revoluzzer paßte doch nicht in ihre Familie. Thea hatte nie die Hoffnung auf Ronimus aufgegeben, darum war sie Goitfried am meisten abgeneigt. Und wenn Elsi noch in eine andere Stadt ziehen mußte, nahm sie gewiß ihre Einrichtung mit und lieh ihr Häuschen aus; wohin sollte dann Mama gehen? Nach den Erfahrungen, die sie schon einmal gemacht hatten, gelüstete es sie nicht mehr.

Der Präsident ließ sie schadenfroh zappeln, hingegen Elsi teilte ihrer Mutter Zörnlins Einladung mit, nach dem Mattenhofe zu kommen. Frau Sybilla war ganz begeistert:„Und ich soll wirklich unsere alte Schlafstube bekommen?und du sagst, sie haben alles gelassen, wie es früher war,als mein lieber guter Mann noch lebte? ... Wie gut sind diese Leute doch gegen uns gewesen; Vetter Präsident hat mir schon gesagt, daß sie uns zuletzt ganz erhalten haben. Elsi, eins mußt du dem Alten sagen: Der Ofen in der Stube taugt nichts mehr!“

„Der ist längst zusammengefallen und ein neuer gesetzt mit einer langen Röhre, in der die Mutter sich was [212] bräteln kann,“ lachte Elsi. Ueberhaupt sei alles schöner geworden, und doch die Einrichtung unten dieselbe geblieben.

Mit dieser Neuigkeit eilte die Substitutin triumphierend zu ihren Töchtern: es gab doch noch Leute, die sie gern wollien.

*Gottfried war gekommen! Nach manchem Jahr stand Elsi wieder vor ihrem einstigen Jugendfreunde und jetzigen Bräutigam und war scheu und sprachlos vor Glück. Und er sah leuchtenden Angesichts auf sie nieder; der gelehrte Doktor stammelte wie ein Schulknabe: „O du Liebes,du Herziges! O daß ich dich wieder habe, du köstliches kleines Els!“ Und eines las in des andern Auge denselben Gedanken: wie konnte ich es auch so lange aushalten ohne dich?

Zuletzt führte ihn Elst zur Mama, der es vor Ueberraschung auch das Wort verschlug: in ihrer Erinnerung hatte sich der halb bäuerisch angezogene Seminarist festgesetzt; sie konnte sich nicht in die neue Erscheinung finden.Wie fein er sich trug: so vornehm sah in ihrer ganzen Bekanntschaft keiner aus!

Gottfried blieb nicht lange in der Stadt; es zog ihn zu den Eltern, die ihn mit heißer Sehnsucht erwarteten.Sein Verlangen nach ihnen hatte ihn früher in die Heimat zurückgeführt, als er vorher im Sinne gehabt; er kam mit einer unvollendeten Arbeit, die er aus dem Maltenhofe abschließen wollte! Die Sonntage aber sollten seiner Braut gehören. Am Samstag schon erschien er jeweilen im Immengärtlein, um dann abends dem Samstagskränzlein des Herrn Simon beizuwohnen. Dieser, sein [213] besonderer Gönner, hatte ihm sein Gastzimmer für den ganzen Sommer zur Verfügung gestellt.

Zuerst ging Elst wie im Traume umher: die jungen Leute mußten sich erst wieder kennen lernen. Beide hatten sich nicht nur äußerlich verändert; Elsi spürte sofort Gotifrieds geistige Ueberlegenheit. Aber trotz ihrer großen Zuneigung fühlte sie sich nicht zur Unterwerfung geneigt.Er merkte gar wohl, was in ihr vorging. War sie doch das offene, lautere Kind geblieben; aber ihre warme,starke Liebe würde ihr darüber weghelfen.

An einem Morgen kehrte Annkätter vom Einkaufen zurück und breitete auf dem Küchentische Gemüse, Obst und Eier aus; sie rühmte sich bei Elsi, wie sie mit den Bauernfrauen gemarktet und alles billiger bekommen habe als andere Leute. Das Feilschen, das sie von der Frau selig gelernt und das Elst nicht ausstehen konnte, kam ihr als die erste Pflicht einer guten Hausfrau vor. Darüber erzürnte sich das Mädchen und es entstand zwischen beiden ein Wortwechsel, der mehr laut als böse gemeint war.Wie immer in solchen Fällen war die Mama zur Ruhe mahnend in die Türe getreten; daß sie diesmal ängstliche Zeichen machte, bewog Elsi, aufzublicken. „O Himmel,fall nicht ein!“ am Fenster stand Gottfried, hatte alles gehört und mit schmerzlichem Erstaunen sein zorniges Bräutchen angesehen. Sie selbst hatte ihm erst kürzlich den Schlüssel zum Gartenpförichen gegeben, damit er nicht lange zu klopfen brauche.

Gotifried trat nicht ins Haus; er begab sich zu einer Gartenbank und schien sich mit seinem Taschenbuche zu beschäftigen.

[214]

Der Elsi war elend zu Mut; einigemale versuchte sie,ihre Schritte auch dahin zu lenken, aber die Scham war zu groß. Und er sah es ganz sicher, wie sie es versuchte;warum kam er ihr nicht entgegen?Zuletzt siegte die Liebe. Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und fragte ganz demütig: „Bist du böse auf mich, Gottfried? Es soll nicht mehr vorkommen, das versprech ich dir!“

Er antwortete mit einem Kusse; innerlich nahm er sich aber vor, die Augen offen zu halten, daß in seinem Hause keine Annkätter in Dienst genommen werde.

Nun wollte Elst auch wissen, weshalb Gottfried zu einer solch ungewöhnlichen Zeit erschienen war: „Ist dein Buch fertig geworden?“

„Beinahe! Der gute Herr Simon wollte bloß Einsicht nehmen; ein paar Wochen habe ich schon noch Arbeit. Denke dir, liebes Els, seit ich dich wieder habe, ist eine Lust und Freudigkeit in mir, die mich weiter führt,als ich zuerst im Sinne hatte. Wenn ich daheim so ungestört oben im Giebelzimmer des Substitutenhauses sitze,wie dein Vater selig an der offenen Altantür, an demselben Tische, wo er zu arbeiten pflegte da denke ich immer an die große Schuld, die ich an ihn abzutragen habe. Sein Unterricht und sein Einfluß haben mich auf meinen jetzigen Weg geführt; ihm verdanke ich die schönen Verbindungen, die mich gefördert haben. Und gerade der alte Simon, Herrn Manuels bester Freund, hat mir seine wertvolle Gunst geschenkt. Du verstehst mich ja, liebe Els? Es betrifft unsere Zukunft.“

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Elsi nickte verständnisvoll, obschon ihr der höhere Sinn seiner Rede entging: fie würde es gut haben mit ihm und eine estimierte Frau sein; mit ihrem Gotifried könnte sich nicht leicht einer messen.

Am angesetzten Montag erschienen die zitierten Schwäger pünktlich im Hause des Vormundes, nach ihnen der alte Simon und Gottfried. Sie sahen erstaunt, wie der als exklusiv bekannte Herr vertraulich und doch wertschätzend mit dem jungen Doktor verkehrte. Das Gespräch der heiden drehte sich übrigens um Dinge, die sie nicht verstanden, und dauerte auch nicht lange; denn jetzt führte der Präsident sein Mündel herein und ihnen folgte der Notarius, der besonders vor Herrn Simon eine tiefe Verbeugung machte und dann eine allgemeine, leichtere für die übrigen.

Der alte Herr hatte die Braut mit einer herzlichen Gratulation begrüßt; er beklagte nur, daß sein geliebter Freund, der selige Substitut, die Erfüllung seines innigsten Wunsches nicht mehr erleben durfte. Elsi mußte sich zwischen ihn und den Bräutigam setzen, der Notarius öffnete seine Mappe, entnahm ihr einen Bogen, und mit einer Verbeugung in die Runde begann er die Eheabrede vorzulesen: Im Namen Gottes!

Zu wissen sei hiemit, daß zwischen Herrn Doktor Gotitfried Zörnli als Hochzeiter einerseits und Jungfrau Elsi .... als Hochzeiterin andererseits mit Vorwissen und Genehmigung des Vormundes der Hochzeiterin, sowie der beidseitigen respektiben Anverwandten folgender Ehekontrakt wissend und vorbedächtlich verabredet und getroffen worden:

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(daß auch Namen und Stand der beidseitigen Eltern in gewissenhafter Ausführlichkeit angeführt waren, versteht sich von selbst)

Erstens werden beide Verlobte einander zur heiligen Ehe nehmen, einander in christlicher Liebe, Treue und Anhänglichkeit behalten und diese gegen einander getane eheliche Zusage mit Beförderung durch öffentlichen Kirchgang und priesterliche Einsegnung vollziehen und bestätigen lassen.

Zweitens werden dieselben, neben ihren Kleidern, Kleinodien und Leibsangehörden, in die Ehe bringen, was ihre vor Eingehung der Ehe zu beziehenden und dem Ehekontrakt beizulegenden Inventarien des nähern ausweisen und zeigen werden.

Drütens: wenn nun das eine oder andere der künftigen Ehegatten ohne Hinterlassung eines in dieser Ehe gezeugten Kindes zu sterben käme, so nimmt das Ueberlebende der Ehegatten und des zuerst Verstorbenen Erben,jeder Teil, sein in die Ehe gebrachtes und während derselben ererbtes Gut zum voraus hinweg.

Mit demienigen Vermögen hingegen, so während der Dauer dieser Ehe durch Gottes Segen errungen, gewonnen und erspart worden ist, soll es in einem solchen kinderlosen Sterbefalle folgendermaßen gehallen werden:a) Stürbe der Ehemann zuerst, so hat dessen überlebende Witwe von dieser Errungenschaft zwei Drittel zu beziehen, der andere Drittel fälli den Erben des verstorbenen Ehemannes anheim.

Außerdem haben letztere aus ihrem gesamten hinwegzunehmenden Vermögen der überlebenden Witwe als eine

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Morgengabe und Ergötzlichkeit auch noch die Summe von lausend Schweizerfranken Kapitalgeld zu entrichten und zu vergüten.p) Wäre hinwieder der Ehemann der überlebende Teil, so verbleiben demselben zwei Drittel der Errungenschaft; dagegen verzichtet er auf jede Ergötzlichkeitssumme ab Seile der respektiven Erben der zuerst absterbenden Ehegattin.

Viertens: Falls nun aber beim frühern oder spütern Hinschied des Gatten oder der Gattin ein in dieser Ehe erzeugtes Kind oder mehrere dergleichen vorhanden sein werden, so bilden alsdann, ausnahmsweise der einem jedem Teil verbleibenden Kleider, Kleinodien und Leibsangehörden,sämtliche von beiden Seiten in die Ehe gebrachten und wahrend derselben ererbten, errungenen und gewonnenen Vermögensmittel ein gemeinschaftliches Gut, womit folgendermaßen zu verfahren ist:

Sollte nämlich der Ehemann vor der Gattin das Zeitliche mit dem Ewigen vertauschen, so hat letztere von dem gemeinsamen Vermögen zwei Drittel und die Kinder ein Drittel zu beziehen.

Beim zuerst erfolgten Hinschied der Ehegattin gebühren dem überlebenden Ehemann zwei Drittel und den Kindern ein Drittel.

Auch ist verstanden, daß in einem solchen Kinderfalle die hievor im Artikel 3 ab Seite des Ehemannes vorgeschriebene Summe wegfällt.

Alles aufrichtig und ohne Gefährde.

Urkundlich dessen ist dieser Ehekontrakt doppelt ausgefertigt, von beiden Verlobten, dem Vormunde der Jungfrau Hochzeiterin, den resp. nächsten Angehörigen, sowie [218] dem hiezu berufenen Notar eigenhändig unterschrieben, mit des Notars angewohntem Insiegel öffentlich verwahrt und sodann jedem Teile ein Exemplar zugestellt worden.

So geschehen in Basel ꝛc. ꝛc.

Der Präsident, welcher hinter seinem Mündel gestanden hatte, nahm den Bogen vom Notar in Empfang und legte ihn vor das Mädchen hin, das Schreibzeug mit GansRDD Erste unterschreiben!

Alle schauten erstaunt auf, als Elsi in heftigem Ton sagte: „Nein, ich tus nicht! Das ist eine Ungerechtigkeit,daß ich eine Ergötzlichkeitssumme bekommen soll und Gottfried geht lerr aus. Das haben sicher die beiden Handelsherren ausgeklügelt!“ und sie wars einen flammenden Blick auf die ihr gegenübersitzenden Remigius und Heinrich.

Der Bräutigam hatte ihr zugeflüstert, daß sie sich irre,er selbst habe diese Bestimmung festgesetzt; dennoch wollten die beiden Herren fortgehen, aber der junge Doktor hielt sie zurück. Dann zog er eine feine Bleistifilinie auf dem Papier, tunkte die Feder ein und gab sie der Braut in die Finger: „Meine liebe Elsi, hier setze deinen Namen hin!“Im Gefühl, daß sie ihrem Bräutigam einen peinlichen Augenblick verursacht hatte, sah sie abbittend in seine Augen und las darin die sanfte Nötigung, zu gehorchen. Noch zitterte ihre Hand vor Erregung, aber doch malte sie ihren Namen mit einigen Kraftspritzern hin. Als sie aufblickte,sah sie gerade in das spöttifche Gesicht ihres Schwagers Heinrich und sprang so rasch in die Höhe, daß der Präsident nur noch schnell dem Stuhl ausweichen konnte, der polternd zu Boden fiel. Beschämt flüchtete Elst, während [219] alle unterschrieben, in eine Fensternische und sah in den stillen Hof hinaus, in welchem der laufende Brunnen so ruhig und gleichmäßig plätscherte; wer auch so zahm werden könnte!

Als sich mit gebührender Feierlichkeit der Notar von dem versammelten Familienrat verabschiedet und auch der Präsident und die Schwäger mit Gottfried einen Händedruck getauscht, trat dieser zu seiner Braut, die immer noch halb reumütig, halb trotzig dem Sinnen des Wassers zusah. Ohne ein Wort zu sagen, faßte er sie bei der Hand und sah ihr tief in die dunklen Augen. Elsi seufzte;sie fühlte so gut, Gottfried war hoch, hoch über ihr! Die Lauterkeit ihres Wesens drängte sie zum Bekenntnis; aber wie sollte sie Worte finden? Sie wußte selbst nicht recht,worin eigentlich der Abstand lag; in ihrer Unbehilflichkeit griff sie zum Nächstliegenden.

„Goifried“, flüsterte sie ihm zu, „du bekommst eine böse Frau!“

„So sagt man!“ bemerkte er scherzend.

„Und du hast keine Angst?“

„Geh doch, Elsli! Kenn ich dich nicht und hab ich dir nicht schon früher unzählige Male das Querköpfchen zurechtgesetzt “

„Nein, ich will alles gestehen! Inzwischen bin ich älter geworden, und in den anderthalb Jahren, da ich allein Meister gewesen, hat sich mein Eigenwille noch mehr enlwickelt; ich kann mich nicht mehr fügen wie früher!“

Aber Gotifried gab ihr in aller Liebe zu verstehen, daß sie darum das Nachgeben bei ihm lernen werde. „Du wirst es ja auch bei der Trauung hören, daß ich dein Herr sein soll!“[]75)

2*

Elsi wollte rasch erwidern, daß sie keinen Herrn brauche,als ihr die Antwort einfiel, die sie Ronimus bel seiner Werbung gegeben: „Einen Sklaven mag ich nicht, ich will einen Herrn haben!“ Die hatte man jedenfalls Gol fried hinterbracht.

Das Eintreten des Vormundes machte dem téteàtèts der beiden Brautleute ein Ende. Er hieß sie Platz nehmen, da er noch Wichtiges mit ihnen zu besprechen hätte, nämlich Ort und Zeit der Trauung.

Da erwies es sich, daß Gottfried schon alles bis ins Kleinste ausgedacht und zum Teil schon mit Elsi besprochen hatte. Zögern wollte er nicht länger, denn vor wenigen Tagen war ihm eine Lehrersielle am Gymnasium in Basel übertragen worden, und Herr Simon, sein einflußreicher,väterlicher Freund, hatte ihm, nach Durchsicht seines fast vollendeten Buches, das Zeugnis gab von gründlichem Wissen und außergewöhnlichem Scharfsinn, Hoffnung gemacht auf eine Professur in wenig Jahren.

„Was meinst du dazu, kleine Frau Prosessor?“ flüsterte er seiner Braut ins Ohr. Diese war ganz rot geworden, daß ihr Doktor endlich in Basel Anerkennung fand, und nahm sich vor, noch vieles von ihm zu lernen,um ihm keine Schande zu machen.

Elsis Schwestern hätten gerne die Hochzeit in der Stadt gehabt; aber dafür waren weder Goifried noch seine Braut zu haben.

„Sieh“, sagte Elsi, „mir ists, ich möchte da sein, wo unsere beidseitigen liebsten Erinnerungen sind, wo mein liebster Vater seine letzten Tage zubrachte in der treuen Pflege deiner Eltern, die ihm tkeuer waren, und sich um [221] meine Zukunft sorgie, welche sich nun ganz nach seinem Wunsche gestaltet. Auf dem Mattenhofe, der deine Jugend schirmte und der stille Hafen sein wird, wo das Leben meiner Mutter zu Ende geht, da ist unsere Heimat, von da wollen wir den Weg zur Trauung in der alten Kirche von Rosenthal antreten, und mir wird sein, die unvergeßliche Gestalt des lieben Vaters schreite neben uns und seine Hand geleite uns zum Altar!“

„Und sein Segen wird mit uns gehen ins neue Leben und uns helfen, „Freud zu ertragen, in Leid nicht verzagen“, vollendeie Gotifried, indem er seiner Braut einen Kuß auf die Stirn drückte, während der Präsident, dessen Anwesenheit sie ganz vergessen hatten, sich geräuschvoll schneuzte.

Er war es auch, der geltend machte, wie schwer es sein würde, die ganze Hochzeitsgesellschaft in den zwei Gasthäusern von Rosenthal unterzubringen, wurde aber bedeutet, es solle keine große Hochzeit geben: außer den Eltern Zörnli, Frau Sybilla und den Schwestern Elsis mit deren Familien nur noch der Vormund, Herr Simon und der junge Lehrer, Gottfrieds Freund; dann als Brautjungfern Laura und Thekla, die jüngern Töchter des frühern Pfarrers von Liestal, der inzwischen ganz nahe der Siadt wieder eine Gemeinde und somit eine Lebensaufgabe gefunden hatte. Er selbst hatie es abgelehnt, die Trauung vorzunehmen, obschon Elsi ihn darum gebeten. Er war zwar in seinen Urteilen und Anschauungen viel milder geworden, fürchtete aber, wenn er zur heiligen Handlung bon Liestal nach Rosenthal hätte wandern müssen, so wäre die alle Wunde wieder aufgebrochen und mit ihr Schmerz und Bitierkeit, die sich bei ihm mit der Erinnerung an die

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Revolutionszeit eng verknüpften. So sollte der alte Pfarrer von Rosenthal, der so oft am Philosophentische bei Herrn Manuel gesessen, dessen Tochter den Segen spenden.

Der Hochzeitstag fand nach kurzer Zeit fiatt und der Vetter Pfarrer hielt die Traurede. Von Linde zu Linde waren Blumenbogen gezogen und die Kirche sah im Innern aus wie ein blühender Garten. Aus dem Gasthaus erklang Geigen- und Klarinettenmusik; drinnen wurde getanzt, und in den Gassen drängie sich eine teilnehmende Menschenmenge.

Nur das Brautpaar stieg Hand in Hand den Weg zum Mattenhofe hinan. Oben vor dem neu aufgebauten Herrenhause angekommen, zog Gottfried seinen Hochzeitsrock aus, nahm das bereitliegende Werkzeug und grub eine provisorisch mit den Wurzeln eingeschlagene Linde aus dem Rasen. Mit kräftigem Arme hielt er den jungen Baum in die Höhe und senkte ihn sauft in die geöffnete Grube herab. Elsi ergriff die Schaufel und schütlete damit Erde auf die Wurzeln. Dann trat sie Gottfried fest. Als die Linde gepflanzt war, nahm er die Hände der Braut in die seinigen: „Gott nehme sie in seine treue Hut und bewahre sie, sowie auch uns und unser nachfolgendes Geschlecht!“

Schweigend schritten sie wieder wie Kinder den Berg hinab, nur daß Elsi, als echtes Hausmütterchen, mit dem Spitzentaschentuche die Erde abstäubte, die an des Bräutigams schwarzem Gewande hängen geblieben war.

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Die Linde aber wurde gehegt und gepflegt und gedieh zu aller Freude. Zwei Sommer noch wars der Substitutin vergönnt, im Schutze ihrer grünen Zweige auf das Dorf hinunterzuschauen, die Augen spähend auf den Weg geheftet, auf dem Sonntags immer und zuweilen auch an Wochentagen die beiden Doktorsleutchen aufzutauchen pflegten.Eines Abends hatte sie besonders sehnsüchtig ausgeschaut, sie fühlte sich matt und unsicher. Schon hatte sie die Hoffnung aufgegeben, denn eben läutete die Abendglocke im Dorfe unten. Die Sonne ging leuchtend unter und in ihrem Glanze erblickte sie die zwei vertrauten Gestalten, die ihr von ferne schon zuwinkten.

Da sank ihr Haupt zurück an die Stuhllehne und wie im Traume sprach sie halblaut vor sich hin: „Und der Herr zog vor ihnen her; des Tages in einer Wolkensäule,daß er sie den rechten Weg führete, und des Nachis in einer Feuersäule, daß er ihnen leuchtete, zu reisen Tag und Nacht!“

Nun war auf einmal Trauer eingekehrt in das fröhliche Haus, die aber etwas gemildert wurde, als man nach wenig Wochen im Immengärtlein der jungen Mutter den Erstgebornen in die Arme legte.

Die kräftig sproßende Linde auf dem Mattenhof sah manch junges Reis aus Zörnlis Stamm aufwachsen und erstarken; aber auch Stürme zogen über das stille Tal und entblätterten manch blühendes Leben.

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Unten veränderte sich die Welt: Schienenstränge spannen sich von Tal zu Tal, von Ort zu Ort; rascher pulsiert das Leben, aber der Mattenhof liegt noch still auf seiner Höhe. Früh morgens, wenn der bläuliche Duft wie ein Schleier über den Bergen liegt, oder in lauen Sommernächten der Mondstrahl am Waldessaum dahingleitet, tönt vom Dorfe her dieselbe Glocke, wie zu den Zeiten David Zörnlis, aber nie mehr wild und stürmisch,Bruderzwist und Bürgerkrieg verkündend, sondern Ruhe und Frieden nach bewegter Zeit.


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TextGrid Repository (2023). Swiss German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-gsw). Altfränkische Leut. Eine zahme Geschichte aus bewegten Tagen: ELTeC Ausgabe. Altfränkische Leut. Eine zahme Geschichte aus bewegten Tagen: ELTeC Ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001D-472E-F