2 []Pansli und Pans.Eine wahre Geschichte von Hans Nydegger.

In der Sennhütte zu Milchheim war soeben das Wägen der Sommerkäse beendet. Der festarmige Salzer, der die gewaltigen Stücke auf die Wage und von da, nachdem sie gewogen und angezeichnet, wieder an ihren Platz befördert hatte, wischte sich den Schweiß von der Stirne,während der Käsherr und der Hüttenmeister sich anschickten, das von ihnen in ein besonderes Büchlein mit Zahlen eingetragene Gewicht der einzelnen Käse zusammenzurechnen.

Der Letztere mochte in diesem Fache eben kein besonderer Hexenmeister sein; mit merklichem Seufzer netzte er den Bleistift an den Lippen und sein sonst gar nicht etwa dumm aussehendes Auge starrte noch immer beinahe verlegen auf das vor ihm liegende, mit dicken Ziffern bemalte Papier, als der Käufer bereits die ersten Zahlenreihen addirt hatte.

Da eilte in raschem Laufe ein munterer Knabe von zirka 12 bis 13 Jahren draußen vor der offenen Thüre des Kässpeichers vorüber.

„Heda, Hansli!“ rief aufschauend und sichtlich erfreut der Hüttenmeister, „chum, rechne mer gschwind da d'Chäsgwicht z'säme; du bisch ja so ne g'schickte. Zeig jitz, oh's so gleitig u so guet chönisch, wie dä Herr da. J gibe der e Batze, wenn's zwäg bringsch.“

Der Gerufene war schon bei den ersten Worten des Käsbauern näher getreten und ergriff nun mit freudiger Hast Bleistift und Büchlein,sofort mit Eifer seine Arbeit beginnend, während der Auftraggeber ihm lächelnd zuschaute.

Der Kaäsehandler ließ sich nicht stören, ein flüchtiger Blick nur wn den Knaben gestreift, der ihm im Rechnen die Stange halten

ollte.

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Nach ungefähr zehn Minuten war Hansli fertig und schlug, den Bleistift zwischen die Blätter legend, das Büchlein zu.

„Gang no einisch drüber!“ mahnte der Bauer, „me het si gly bergaloppet.“

„J ha's scho gmacht,“ erwiderte Hansli, „und es ist beidi Mal giych use cho.“

„Henu, so rechne jitz no grad us, was es bringt a zweiesibezig Franke der Zentner, mit sechs Prozent Ygwicht. La gseh, wie flingg geit's?“Im Nu hatte der Knabe auch diese Aufgabe bewältigt und wies sie schweigend dem Hüttenmeister vor, der über den enorm hohen Betrag,den das diesjahrige Sommermolken nach Hansli's Berechnung abgeworfen, nicht vermochte, ein befriedigendes Schmunzeln zu unterdrücken.

Auch der Käsherr war endlich fertig geworden. „Nach meiner Rechnung stnd es 165 Zentner und 42 Pfund,“ sprach er anfschauend.

Der Hüttenmeister wurde bleich und Hansli roth bis in die lockigen Haare hinauf. Doch keck sah er dabei dem freundlichen Herrn in's Gesicht und sagte: „Das cha nid sy; Ihr heit ech wohl öppe überrechnet.“Lächelnd reichte der Letztere dem Knaben sein Büchlein hin und embfing aus dessen Händen däsjenige des Hüttenmeisters.

„Laßt uns gegenseitig unsere Arbeit prüfen!“ meinte er. „wir sind am ersten darauf, wo der Fehler steckt.“

Gesagt, gethan. Bald aber hielt Hansli mit Rechnen inne und ein triumphirendes Lächeln spielte um seinen Mund, ohne indessen den Herrn in seiner Arbeit zu stören.

„Ich bekomme hier dasselbe Resultat wie du,“ ließ sich dieser endlich vernehmen; sollten vielleicht die beiderseitigen Zahlen nicht....“

„Aber ich find's nicht gleich, wie Ihr“, rief Hansli, „schaut nur her, da in der dritten Reihe; da habt Ihr in der zweiten Stelle 124 bekommen, wie ich auch, aber Ihr wahrscheinlich, nachdem Ihr die bier gesetzt, nur zwei behalten und in der folgenden Stelle dazu gerechnet, statt zwölf, und das macht gerade die zehn Zentner aus,um die wir uneins sind. Rechnet nur noch einmal aus, so werdet Ihr's finden und ebenfalls 175 Zeniner 42 Pfund bekommen, wie's dort in meinem Büchlein steht.“[4]„Du hast recht,“ sagte der Käsherr, nachdem er schnell einen prüfenden Blick über die Zahlenreihe geworfen, und klopfte Hansli mit wohlgefälligem Lächeln auf die Schultern. „Du bist ja ein wahrer Künstler im Rechnen.“

„O, nicht nur darin,“ ergänzte Sami, der Hüttenmeister, dem es wieder „gewohlet“ hatte, als sich die Rechnungsdifferenz zu seinem und seiner Gesellschaftsgenossen Gunsten wieder ausglich, „er ist auch in den üͤbrigen Fächern ein Meister und wohl schon jetzt weitaus der Geschickteste in der Schüle. Schade, daß seine Eltern so arme Leute sind, aus dem könnie sonst einmal eiwas Rechtes werden.“

„Wem gehört er a?“ fragte der Käsherr, der an dem Knaben ein fichtliches Interesse zu gewinnen begann.

„Es ist dem Käser seiner,“ entgegnete Sami.

„Ist denn aber der so arm? So ein Käser wird doch sicher auch einen ordentlichen Jahresgehalt haben?“ wendete der Käsehändler ein.

„Es ist wohl wahr,“ versetzte der Hüttenmeister etwas verlegen und mit leiser Stimme, „aber den unsrigen plagen drum noch alte Schulden. Wißt, er hatte früher diese Milch gekauft und in ein paar Jahren schön darauf verdient. Da kam aber vor zwei Jahren der große Putsch, wo die Käsepreise so unvernünftig sanken, und da ging auch unserm guten Christen Spühlibacher sein Verdientes verloren und er konnte überdies die Lieferanten nicht auszahlen; achttausend Franken blieb er uns schuldig, von denen er nun Jahr für Jahr Etwas abverdient. Wir haben viel aus diesem Grunde beschlossen, wieder gemeinschaftlich zu kasen und ihn als Senn anzustellen. In seinem Fache mag ihn Keiner weit und breit, wie ihr den Käsen wohl anmerken könnt,und wir kommen so nach und nach wieder zu unserm Gelde. Ihm ist's auch recht, da er auf diese Weise nicht vergeldstagen muß und für sich und seine Familie doch wenigstens zu essen hat, wenn's im Uebrigen auch immerhin etwas mager zu- und hergehen mag.

„Und was gebt Ihr ihm jetzt für Lohn?“ fragte der Käsehändler weiter.„Fünfhundert Franken jährlich; davon gehen je vierhundert ab zur Tilgung seiner Schulden. Daneben hat er für sich und seine Familie freie Kost und Wohnung; hundert Franken bekommt er, in Baar und was es hie und da noch an Trinkgeldern gibt.“[] 83 Der Käsherr wußte genug; er unterhielt sich noch ein Weilchen mit Hansli, dessen freimüthige und gescheidte Antworten ihm gefielen,und am Ende gab er ihm ein funkelneues Fränkli als Trinkgeld. Den versprochenen Batzen hatte der Bauer vergessen.

Hansli dankte auf's artigste, hocherfreut über das schöne Geschenk,und sprang jubelnd davon, dasselbe der Mutter zum Aufbewahren zu bringen.

„Höre, mein Junge!“ rief ihm der Herr nach, „sage deinem Aetti, er solle nach dem Essen und wenn er in der Hütte fertig ist,hinüberkommen in das Wirthshaus, ich möchte noch gerne Etwas mit ihm reden, der Weinmonatkäse wegen, und ihm eine gute Flasche zahlen.“Dem Salzer drückte er ebenfalls ein Geldstück in die Hand, dann sprach er zum Hüttenmeister: „Also am nächsten Freitag könnt Ihr die bringen und das Geld dafür in Empfang nehmen; auf Wiedersehen und lebet wohl unterdessen!“

Sami war schier verblüfft über diesen etwas mutzen Abschied und daß der Käsherr nicht ihn, den Hüttenmeister und Vertreter der löblichen Sennereigesellschaft zu Milchheim, sondern den Käser zu einer Flasche eingeladen, aber er durfte sich's nicht merken lassen und erwiderte in verbindlichster Weise und mit kräftigem Händedruck den Scheidegruß des Käsherrn. Dann begab er sich nach dem Käsereilokale, allwo sich eine hübsche Anzahl der „gwundrigsten“* Milchbauern schon zusammengefunden hatte, und verkündete denselben mit triumphirender Miene das überaus günstige Resultat sowohl in betreff des befriedigenden Gewichts, als auch der vorzüglichen Qualität der Sommerkäse. Kein einziges Stück war ausgeschossen worden, kein „Gläsler“, „Nisser“,oder gar „Geblähter“ befand sich unter dem ganzen Mulchen.

„Er het's doch use, der Christe, da cha me lang!“ hieß es allgemein; „däscha chäse u soll chäse; he, Spühlibacher, wo bist au?“

Der Gerufene trat aus dem Milchgaden, eine untersetzte, wetterharte Gestalt mittlerer Größe, dessen entblößte, sehnige Arme mit den hervorspringenden, gewaltigen Muskeln eine außerordentliche Kraft verriethen. Auf seinem stillen, glatt rasirten Antlitz lag ein düsterer Ernst, und mehr von Sorgen und Kummer wohl, als wegen vorgerückten Alters mochte er doch seine vierzig Jahre kaum erreicht haben fing schon sein Haar zu bleichen an.[] 6 In seiner trockenen Weise, wie es die Bauern schon längst an ihm gewohnt waren, fast, als ginge ihn die ganze Geschichte nichts an,nahm er die überschwänglichen Lobsprüche auf sein Talent entgegen,und nur ein trauriges Lächeln spielte vorübergehend um seinen Mund,als bemerkt wurde, daß wohl sonst keine Käserei in der Umgegend so viel aus der Milch „nutzge“.

„Hat dir der Bub gesagt,“ fragte ihn schließlich der Hüttenmeister noch, „daß du nach dem Essen hinüber sollst in die Wirthschaft zum Käsherrn, der dir eine gute Flasche bezahlen und wahrscheinlich noch ein Trinkgeld geben will? Als der Handel gemacht wurde, wollte er absolut nichts davon wissen, aber heute ist er, wie mich dünkt, b'sunderbar guet im Lun!“Er verschwieg es, der eigennützige Bauer, daß er selber von einem Trinkgeld kein Wort gesprochen, ja, nicht einmal an ein solches gedacht hatte. Ein möglichst hoher Preis und baare Bezahlung, das waren seine Ideale; allem Uebrigen fragte er nichts nach.

Als die Männer sich entifernt hatten, rief die Käserin, eine noch junge, hübsche Frau, zum Mittagessen, und Christen Spühlibacher setzte sich mit seiner Familie und dem Salzer an den Tisch zum einfachen Mahle.

Hansli betete laut das „Unser Vater“ nach altem, frommen Brauch, bevor das Essen begann. Er war äußerst heiter und glücklich und konnte den guten Herrn nicht genug rühmen, der ihm das schöne Fränkli gegeben. Auch der Salzer, sonst nicht der zufriedenste Bursche,stimmte mit beifälligem Murmeln in des Knaben Lob.

„Solltest du nicht ein anderes Hemd und andere Hosen anziehen,mein Lieber“, frug Frau Spühlibacher nach dem Essen ihren Mann.„wenn du in's Wirthshaus hinüber willst?“

„Ein Hemd wohl“, gab der Käser zur Antwort, „das, welches ich anhabe, ist ganz bachnaß von Schweiß, die Hosen aber sind lang gut. Der Käsehändler wird nicht ob jedem Brämi erchlüpfen.“

In der Wirthschaft wurde Spühlibacher vom Käsherrn trotz seiner rußigen Lederhosen sehr freundlich und zuvorkommend empfangen.

Der Letztere bestellte sofort eine Flasche perlenden Rebensaftes in die Rebenstube, wohin er sich mit seinem Gaste begab, um ungestört und ungehört berichten zu können, und mehr als eine noch wurde []nachverlangt, bevor der Stallknecht Befehl erhielt, einzuspannen, und die beiden endlich mit einander hinaus in's Freie traten.

Aber noch von dem Chaislein herunter reichte der Herr dem Käser die Hand, ehe er abfuhr, und sagte: „Es blybt de derby, wie mer gredt hei, u jitz b'hüet Ech Gott!“

Christen schaute noch eine Weile dem davonsprengenden Fuhrwerk nach, und als er mit der Hand über die Augen fuhr, um besser zu sehen, war dieselbe schier ein wenig naß geworden.

Der Zeiger der Thurmuhr wies schon über Drei, als Christen Spühlibacher heimkam, mit einem so heitern Gesicht, wie es die Seinen seit Langem nicht mehr an ihm wahrgenommeun hatten. Seinem ihm unter der Hausthüre begegnenden Weibchen schlang er ohne Weiteres die Arme um Leib und Hals und gab ihm einen herzhaften, weithinschallenden Kuß.An der nächsten Käsgemeinde kündete zum Erstaunen sämmtlicher Gesellschaftsmitglieder der Senn auf ersten Mai nächstkünftig seinen Vertrag.

„Das werde öppe nicht sein Ernst sein,“ meinte der Hüttenmeister,„oder was er zu klagen habe und aus was für Ursachen er fortbegehre?“

„Das will ich Euch schon sagen“, versetzte der Christen: „Seht,ich kann hier arbeiten, wie ein Lastthier, und verdiene bloß für die Kleider, und dennoch geht es zwanzig lange Jahre, bevor meine Schulden abgetragen sind. die Zinse noch ungerechnet. Wer weiß, ob ich so lange lebe, und wenn, so bin ich ein alter Mann geworden und kommt's den einen oder andern Weg, so weiß ich doch, daß für die Meinen schlecht gesorgt ist.“

„Was er denn im Sinne habe?“ fragte man und die meisten Bauern fingen an, auf ihren Stühlen unruhig hin und her zu rutschen.

„Es ist mir eine Stelle angeboten“, gab er zur Antwort, „in welcher ich nicht nur alle Jahre eine bedeutend größere Summe an meinen alten Schulden abzahlen, sondern auch noch einen Nothpfennig für mich und die Meinigen zurücklegen kann.“

Das war die längste Rede, welche Christen Spühlibacher seit mehr denn zwei Jahren gehalten, obwohl sie eigentlich noch kurz genug war,und sie brachte auch auf seine Zuhörer die entsprechende Wirkung hervor.[8]Eine Kunst wäre es für ihn gewesen, fortzufahren bei dem allgemeinen Sturme, der auf diese Eröffnungen hin losbrauste.

„Ob er meine, sie gäben das zu und warteten so geduldig Jahr um Jahr auf die paar Fränkli, die auch bald genug dahinten bleiben würden?“ schrie ein etwas vorlautes Mannli; „denn so sehr mit dem Sack getroffen seien die Käsbauern denn doch „nadisch“ noch nicht.Dableiben müsse er oder zahlen bei Rappen und Pfennig.“

„Und wenn ich nun keines von beiden thue, was wolltet Ihr dann machen?“ fragte der Käser, der vor Zorn über die unverschämten Worte ganz roth geworden war, aber sich dennoch zum Lächeln zwang:„nehmen könnt Ihr mir nicht viel, aus dem einfachen Grunde, weil ich wenig besitze. Was ich einst besessen, das habt Ihr ja schon, Ihr braucht nur an die theure Milch zu denken.“

Diese Rede bewirkte eine plötzliche Spaltung in der ganzen löblichen Gesellschaft. Die Vernünftigeren zogen mildere Saiten auf, sprachen von Lohnaufbesserung u. s. w., wenn er bleibe, während andere soforlige gerichtliche Eintreibung der Schuld verlangten.

Christen Spühlibacher hörte dem Hin- und Hergerede und dem kleinlichen Streit eine Weile zu, dann aber fragte er plötzlich kurz und entschieden, wie groß der Betrag sei, den er der Gesellschaft noch schulde.

Als hätte auf einmal alle der Schlag gerührt, so wurde es stille unter den Mannen, und beinahe zur Salzsäule erstarrten sie, als nach Nennung der Summe der Käser dem Sekretär eine Quittung zu schreiben befahl, da er gerade bezahlen wolle.

Das geschah denn auch, weil Christen selbst das letzte Hinderniß,den Mangel eines Stempelbogens durch Herbeischaffung eines solchen beseitigte.

Das war nun ein Ereigniß, welches zu reden gab unter den Leuten.Wo er nur so ungsinnet das Geld bekommen? Das war die große Frage. In der Lotterie könne er es nicht gewonnen haben, er hätte es nicht vermögen, Loose zu kaufen, hieß es, und von einer Erbschaft,die ihm von irgendwo her zugefallen, wollte auch Niemand Etwas wifsen. Er aber hielt den Mund zu und seine Frau ebenfalls, so sehr auch, insbesondere bei der Letztern, auf die Aeste geschlagen wurde.

Einige Tage nach der Käsgemeinde kam der Hüttenmeister und ein anderes Gesellschaftsmitglied zu Meister Spühlibacher, um ihn zu bereden, doch auch in Zukunft als Käser bei ihnen zu bleiben; sie []Ar hätten die Vollmacht, mit dem Jahrlohn um ein Beträchtliches hinaufzugehen, sowie ihm, wenn sie mit einander einig würden, für den verflossenen Sommer ein nachträgliches Trinkgeld von hundert Franken zu verabfolgen.

Christen sagte, er wolle sich bedenken, der Winter sei so lang; und etwas boshaft fügte er hinzu, es sei doch kurios, wie er jetzt auf einmal um so viel mehr werth sein solle, als früher, da man ihm stets unter die Nase gehalten, man gebe ihm nur deßhalb diesen großen Lohn, damit er seine Schulden abverdienen könne.

Wie erstaunten aber die Käsereibesitzer und stunden schier auf die Koöpfe, als Spühlibacher ihnen nach einigen Tagen den Bescheid gab,als Lohnkäser dinge er nicht mehr, aber um einen rechten Preis würde er ihre Milch noch einmal zu kaufen wagen.

Und so unwahrscheinlich im Anfang ein solcher Handel auch schien,so kam er doch zu stande, ehe der Mai da war. Christen Spühlibacher war wieder Milchkäufer, und als Bürge unterschrieb der Käsehändler Gutherz. Hansli aber ging jetzt in die Sekundarschule.*Es war drei Jahre nach den vorerzählten Begebenheiten, als der Käsehändler Gutherz, wie er seither jeden Herbst ein oder zwei Mal that, auch wieder nach Milchheim kam. Es hatte sich nicht viel verändert daselbst; nur Hansli, der letzten Frühling ,vom Herren“ gekommen,war ein hoch aufgeschossener starker Bursche, der seinem Vater den Hüttenknecht entbehrlich machte. Ja, vom Monat Juli an mußte ihm derselbe auf Wunsch des Herrn Gutherz, der von der ganzen Kaserfamilie verehrt und geliebt wurde, Kelle und Brecher abtreten.

„Wenn diejenigen Stücke, die der Junge fabrizirt“, hatte der Kasehändler geschrieben, „schlechter ausfallen als die andern, was ich übrigens nicht erwarte, so will ich den Schaden tragen und das ganze Mulchen als gut und fehlerlos bei Festsetzung des Kaufpreises taxiren.“

Dagegen ließ sich allerdings nicht viel einwenden und Hansli nahm mit freudiger Zuversicht den Platz des Vaters am Käskessi ein.

Heute nun sollte es sich zeigen, ob er des Vertrauens würdig,

man in ihn setzte.

In fast feierlichem Zuge ging es nach dem Kässpeicher; selbst die Mutter kam diesmal mit, denn es nahm sie wunder, wie ihres Hanslis frühzeitiges Meisterstück die Probe bestehe.[10]Da lagen sie in Reih' und Glied neben und übereinander auf ihren Bänken, die jüngern noch mit einer Brettunterlage, dem sog.Kasdeckel, versehen, die beinahe zweizentnerigen gelben Käse.

Der Käseherr konnte sich fast nicht satt sehen an den kapitalen Burschen, von denen der Eine ebenso sauber und appetitlich und gleich untadelhaft in der Form aussah, wie der Andere. Der ganzen Front entlang wandernd, prüfte er die schmucke Waare mit kundigem Griff,klopfte wohl auch mit dem hölzernen Heft des Kasbohrers auf Oberfläche und Randseite einzelner Exemplare, und endlich fragte er, sich an den alten Spühlibacher wendend, was er dieses Jahr zu lösen gesonnen sei.

„He“, meinte der Letztere, fast ein wenig „schalus“ werdend,„das chan Ech denk wohl überlah, wie färn u vorfärn“.

„Nu, we der mir das Vertraue schänket, so zahle-neig Ech jitz der höchst Pris, wie-n-er i diesem Amt gilt, d'Chäse möge de innenache usgseh, wie sie wei. J ha zwar durchus kei Bang, daß fie sich bös usnäh, aber luege wei mer doch jitz grad au, u wenn's nume wär für drüber z'cho, weli Hand daß gfeliger sigi, dem Junge oder dem Alte syni.“

Gesagt, gethan. Zuerst wurden zwei oder drei Stück „Mai- und Brachmoneter“ angebohrt. Sie erwiesen sich nach altgewohnter Weise als ausgezeichnet. Der „Böhrling“ zeigte drei bis vier schöne, erbsengroße Augen, war fein und zart im Teig, roch und schmeckte gut und ließ sich, ohne zu zerbrechen, um den Finger biegen. Von „Gläs“oder andern Uebeln also keine Spur.

„Dihr heit's no nid verlernt“, sagte Herr Gutherz zum Alten; „jiß wei mer aber luege, was dem Nachfolger sini Heumoneter derzue säge“.

Groß war die Spannung, als der erste „Böhrling“ herausgezogen wurde. Die Mutter stand auf den Fußspitzen. Endlich ertönte das verhängnißvolle Wort aus dem Munde des gestrengen Käserichters:„Usgezeichnet, er chönnt nit besser si.“ Der junge Käser stieß einen Freudenjauchzer aus, der Alte schmunzelte vor Vergnügen und das a wurde roth vor Wonne über ihren so ausnehmend geschickten Hansli.

Auch die übrigen Stücke, die noch angestochen wurden, erwiesen sich als vollständig tadellos und in Allem denjenigen des Vaters gleich.

„J ha mi nit trumpirt a dir, Junge“ sprach der Käsherr und

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klopfte dem Ueberglücklichen auf die Schulter; „d'Chäsfabrikation hesch los; jitz söttisch aber au no der Chäshandel lerne, wenn'd Gu derzue hesch; es wär schad für dini Schulkenntnisse, wenn sie nid usbütet würde. Chäse cha am End en Andere au, wenn er scho grad süsch e ke Kerli vo Extrabildung isch. Was meinsch, wenn'd afe dä Winter zu mir i d'Stadt chämisch cho probiere? U was säged Dihr derzue?“wandte er sich an die Eltern.Natürlich gab diese Anregung viel zu berichten und zu überlegen in der Käserfamilie und das Endresultat der Berathungen war, daß Hansli auf Anfang Weinmonat, begleitet von der Eltern Segenswünschen und Ermahnungen zu Fleiß, Treue und Redlichkeit, von Hause Abschied nahm und als Handelslehrling in's Geschäft des Herrn Gutherz eintrat.Da kam ihm Manches ungewohnt vor im Anfang, dem einfachen Naturkinde, bei den Commis, die mit ihm im gleichen Bureau arbeiteten und ihren Vorwitz an dem „dummen Landjungen“ ungestraft auslassen zu können vermeinten.

Besser gefiel es ihm in den großartigen Käslokalen, wo die kräftigen, derben Salzer hantirten, bei denen er bald in hoher Achtung stund, und er hatte auch öfters Gelegenheit, sich dort aufzuhalten, so z. B. wenn eine größere Sendung Waare sollte ausgelesen werden,bei welch wichtigem Geschäfte ihn der Herr des Hauses immer beizog und sich auch in kurzer Zeit auf die von ihm getroffene Auswahl ziemlich verlassen konnte.

Der Keller war sein eigentliches Element; da zeigte er sich als Meister und nicht als Lehrling. Aber auch im Komptoir wußte er sich Respekt zu verschaffen. Sein Fleiß und seine Pünktlichkeit erwarben ihm vorab in hohem Maße' das Vertrauen und die Liebe seines Prinzipals, und bei aller Bescheidenheit ließ er sich doch von den ihn umgebenden Kollegen nicht schikaniren, sondern wies dieselben, wenn's nöthig war, sogar handgreiflich in die gebührenden Schranken zurück,so daß er auch hier endlich Ruhe hatte.

Im folgenden Sommer schon begleitete er Herrn Gutherz auf die „Käsjagd“ und war überhaupt sozusagen dessen rechte Hand im Geschäfte geworden, zur größten Freude seiner Eltern, die er bei dieser Gelegenheit einige Tage besuchen durfte.[12]Und als der darauffolgende Frühling kam, da hieß der Käsehändler seinen Lehrjungen eines Tages in sein Privatkabinet rufen und eröffnete ihm daselbst ohne lange Umschweife, daß er gesonnen sei, ihn auf eine Zeit lang zu einem Geschäftsfreund hinüber nach Amerika zu plaziren,mit dem er schon alles Weitere abgemacht habe, so daß nichts mehr nöthig sei, als seine und seiner Eltern Einwilligung.

„Ein rechter Kaufmann, wie ich gerne einen in dir sähe“, schloß Herr Gutherz seine Ansprache, „muß mehr als nur einen Welttheil gesehen haben, und gerade der Einblick in die Verhältnisse Amerika's,dieses großen Landes mit seinen zahllosen Absatzgebieten, ist ganz besonders für den Käsehandel von unberechenbarem Vortheil“.

Mit Freuden ging der strebsame Jüngling auf die Pläne seines Wolthäters ein, wenn auch der Gedanke an die weite Entfernung und das Scheiden von seinen lieben Eltern sich wie eine trübe Wolke auf sein Herz senkte.

Daheim im Vaterhause gab es natürlich viel heiße Thränen bei dieser Nachricht, und bald wäre er in seinem Entschlusse wankend geworden, als er den Schmerz der Mutter sah. Aber sie selbst wollte ihn nicht davon abbringen und der Vater, als ein kluger, ernster Mann, rieth ihm sogar ernstlich, dem Wunsche seines Gönners, dessen Gutmeinen sie alle ja schon in höchstem Maße erfahren, nachzukommen,so weh es ihm auch thue und so groß sein Kummer sei, ihn so weit fort zu lassen.

Und so trat denn der achtzehnjährige Jüngling die weite Reise an.

Drei Jahre blieb er drüben in der neuen Welt und nur Gutes drang von ihm zu Ohren seines Gönners und seiner Eltern, welch'letztere nach wie vor in Milchheim das Käsereigeschäft betrieben und sich zkonomisch wieder so weit aufgeschwungen hatten, daß sie Herrn Gutherz die vorgeschossene Summe zurückbezahlen und die Bauern für die zu leistende Milch längst keine Bürgschaft mehr von ihrem Käser verlangten.

Da traf den Käseherrn unvermuthet ein schwerer Unfall. Auf einer Einkaufsreise, der sog. Käsejagd, begriffen, scheute sein sonst frommes Chaisenpferd und ging mit ihm durch. Das Fuhrwerk warf bei einer Blegung des Weges um und der Insasse exlitt neben verschiedenen, nicht gerade lebensgefährlichen Quetschungen einen doppelten Beinbruch, der ihn auf Wochen, ja Monate an's Bett fesseln

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konnte. Es traf ihn dieses Unglück um so empfindlicher, als es gerade im Anfang der Käsesaison eintrat und sein alter Obersalzer, der einzige Mann im Geschäfte, der die nöthigen Kenntnisse über die Qualität der einzukaufenden Waare besaß, im gleichen Sommer gestorben war.Doch Herr Gutherz war schnell entschlossen, was zu thun sei: er rief den jungen Spühlibacher aus Amerika zurück, welcher der telegraphischen Aufforderung sofort Folge leistete. Es vergingen keine )rei Wochen, so trat er an das Schmerzenslager seines Gönners.

Dieser wäre trotz seines gebrochenen Beines bald aus dem Bette zesprungen, als er ihn sah.

„Potz Blitz!“ rief er aus und schüttelte ihm derb die Hand,„wie Du Dich verändert hast! Bist ja ein wahrer Riese geworden und bärtig wie ein Hinterwäldler. Wirst doch nicht als Trapper auf die Biber- und Bärenjagd gegangen sein? Aber jetzt wird man Dich auch nicht mehr Hansli nennen und „dutzen“ dürfen; der flotte geweste Mann wird nun wohl gar „Sie“ und als „Herr John“ angeredet sein wollen, nicht wahr?“

„Ach“, entgegnete der also Empfangene und erwiderte herzlich den Händedruck des Patienten, „das sind doch wohl nur Nebensachen,aber mir wär's am liebsten, wenn's zwischen uns beim Alten bliebe“.

„Toph, es sei!“ versetzte Herr Gutherz, „ich sage Dir „Du“, wie immer, aber den „Hansli“ will ich durch „Hans“ ersetzen; wie mein seliger Bruder geheißen hat, „Jean“, „John“ oder „Johann“ paßt nicht für Dich.

Lachelnd willigte der Neugetaufte ein und ein kräftiger Trunk herlenden Weines besiegelte die Feier des Wiedersehens.

Ein höchst anmuthiges, liebliches Mädchen, halb Jungfrau und halb noch ein Kind brachte den Wein und grüßte mit freundlicher Schüchternheit den fremden Gast, der höflich und freundlich den Gruß xwiderte.„Ei der Tausend!“ rief da der alte Handelsmann und riß die Augenbraunen in die Höhe, wie er immer that, wenn er Jemand überraschen wollte oder selbst überrascht wurde, „kennt Ihr zwei denn einander nicht mehr, daß Ihr Euch ansehet wie ein Waldspecht und eine Haustaube? Aber nicht wahr, das konnte nur die Veranderung [14]Beider bewirken? Es ist etwas anderes, Hans und Elise, als Hansli und Liseli zu heißen, he“?

Die beiden jungen Leute wurden roth bis an die Ohren, sahen sich gegenseitig erst etwas näher an und es fand auch Jedes mit geringer Mühe bald die alte Bekanntschaft heraus.

Elise war die einzige Tochter des Herrn Gutherz. Sie ging noch in die Schule, als vor drei Jahren Hans Spühlibacher nach Amerika verreiste. Er hatte sich stets, als er noch im Geschäfte war, des kleinen,schwächlichen Kindes angenommen und sich mit vieler Geduld dessen mannigfachen Launen gefügt. Es war ihm dagegeun auch von ganzem Herzen zugethan; Hansli, der gefällige Lehrling, galt bei dem etwas E Vater und Mutter und es hatte sehr geweint vor drei Jahren, als er Abschied nahm und ihm manchen Kuß noch mit auf die Reise gegeben.

Run war er wieder da und so groß und männlich geworden;allein auch sie war nicht mehr das unbefangene Kind wie damals, und die Erinnerung an den innigen, zutraulichen Abschied trieb der sittigen Jungfrau die Rothe der Schamhaftigkeit auf das liebliche Antlitz und ihr Händchen zitterte, als er es zum Willkomm in seine nervige Rechte schloß.

Herr Gutherz hatte sein Töchterlein bald nach Hansli's Abreise einer befreundeten Familie im Waadtlande, die immer deutsche Mädchen zum Erlernen der französischen Sprache, wie zur weitern Ausbildung in den häuslichen Geschäften und für das fernere Leben, bei fich aufzunehmen pflegte, anvertraut. Es war auch dort „vom Herren“gekommen und vor cirka drei Monaten, an Leib und Seele prächtig entfaltet, in's Vaterhaus zurückgekehrt. In einer solchen Pension und bei solchen Pflegeeltern, wie sie Elise hatte, werden die Mödchen nicht verdorben, wie es in einzelnen modernen welschen Treibhäusern und Schnellbleichen geschieht.

Mit Eifer nahm sich nun der junge Spühlibacher, nachdem er den Eltern einen kurzen Besuch abgestattet, der Geschäfte an und sein Prinzipal merkte bald, daß sein Aufenthalt in Amerika nicht ohne Nutzen für seine kaufmännischen Kenntnisse gewesen.

Er war so ziemlich im Stande, die Lücke auszufüllen, die durch den Unfall, welcher Herrn Gutherz betroffen, entstanden war. Sein persönliches Verhältniß zu Jenem blieb ungefähr gleich, wie früher:

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er betrachtete in ihm nicht nur den Herrn und Meister, sondern auch den Gönner und Wohlthäter; sein Dankgefühl war der höchste Sporn zu seinem eifrigen und pflichttreuen Schaffen. Von seinem Prinzipal wurde er hinwiederum mit der gleichen zutraulichen, väterlichen Herablassung wie früher behandelt.

Etwas anders gestaltete sich der Umgang mit Elise, die von Tag zu Tag herrlicher zu erblühen schien. Beider jungen Leute hatte sich eine eigenthümliche Befangenheit bemächtigt. Unbewußt zog es sie zu einander hin, und doch, wenn sie beisammen waren, wurde aus lauter Zurückhaltung kaum ein Wort gewechselt, obwohl es sonst keinem von ihnen am nöthigen Redewerk fehlte. Sie liebten sich, das war das ganze Geheimniß.Das kluge Mädchen wußte es schon nach ein paar Wochen, wie es um Spühlibachers Herz bestellt sei und war unendlich glücklich bei dieser Wahrnehmung. Der bescheidene Käsersohn aber waßte nur, daß er liebe, wie aber hätte er zu denken gewagt, daß die in den glänzendsten Verhältnissen auferzogene Tochter des reichen Käseherrn ihm jemals seine Liebe zu erwidern gesonnen sei. Deshalb verschloß er seine Leidenschaft für das herzige Kind in die innersten Tiefen seines Herzens und suchte in vermehrter Thätigkeit sein herbes Weh zu ertticken.Im Anfang, als er seiner Liebe sich bewußt fühlte, da hatte er den Gedanken, den Gegenstand seiner Sehnsucht zu meiden, wenn nöthig, gar zu fliehen und wieder über Meer zu gehen. Allein zum Entschlusse kam er nicht, geschweige zur Ausführung. Er war am Ende zufrieden, nur in ihrer Nähe sein zu dürfen, hie und da ihre Stimme zu hören und ihr liebliches Geficht zu sehen. Mehr begehrte er nicht.So verstrichen wieder ungefähr drei Jahre; der alte Gutherz war längst wieder auf den Beinen, aber es kam ihm nicht im Entferntesten in den Sinn, seinen jungen Vertrauten wieder weiter zu placiren,und so blieb dieser im Geschäft als dessen rechte Hand, und manche flotte und reiche Bauerntochter, auch manches nette und wohlhabende Stadtjüngferlein hätte sich nicht ungern von ihm zur Frau Spühlibacher machen lassen, wenn er schon eines unbemittelten und einfachen Sennen Sohn war.[16]Allein Hans sah Keine, als seine Elise, die doch nicht die Seine war und, wie er glaubte, es nie werden konnte; so war er doch zufrieden und glücklich in ihrer Nähe, auch wenn er aus ihrem zutraulichen und wenig mehr befangenen Benehmen ihm gegenüber nicht gerade Liebe, sondern bloß schwesterliche Zuneigung zu entnehmen vermochte. Ihn tröstete der Umstand, daß sich auch kein Anderer einer größern Aufmerksamkeit oder Gunstbezeugung mit Recht rühmen durfte, und doch fehlte es sicher nicht an Anbetern und Courmachern aus den höhern und sogar höchsten Kreisen.

Da verbreitete sich plötzlich das Gerücht und niemand wollte wissen,woher es zuerst kam, es werde nächstens ein Bewerber um Elisens Hand aus Amerika vorsprechen, auch sei dieselbe so gut wie vergeben und die Sache abgemacht, da die beiden Alten unter sich schon lange eins wären. Die Anfrage des Bräutigams und Elisens Zusage seien nur noch leere Formalitäten und der Zukünftige sei Niemand anders,als der Sohn des langjährigen Geschäftsfreundes, bei welchem Hans Spuühlibacher während seiner dreijährigen Abwesenheit angestellt gewesen.

Den Letztern traf diese Nachricht wie ein Donnerschlag. Seine Wangen wurden kalt und das Herz wollte ihm stille stehen. Er kannte seinen glücklichen Rivalen, er war sogar befreundet mit ihm und zweifelte darum keinen einzigen Augenblick an der Richtigkeit des herumgebotenen Geredes.

Erst jetzt fühlte er so recht, wie innig lieb ihm das Mädchen war, wie tief hinein in die Seele gewachsen. Ach, und sie sollte ihm auf immer verloren sein, die herzige Maid, und ein Anderer sollte sie besitzen, der sie noch nicht einmal kannte, so wenig als sie ihn, und der, ein kalter, berechnender Geschäftsmensch, im ganzen Körper nicht so viel von Liebe barg, als ihm im kleinen Finger zuckte? Es war zum Rasend werden, zum Verzweifeln.

Aber nur einen Augenblick schwankte der treue Bursche, was er unter solchen Umständen zu thun habe. Freilich war ihm zuerst der Gedanke durch den Kopf gefahren, sich Elisen zu Füßen zu werfen und ihr sein ganzes Herz auszuschütten, sie auch zu fragen, ob sie denn wirklich Willens sei, sich dem unbekannten Manne hinzugeben, der nur des irdischen Gutes willen nach ihrer Hand trachte? Doch ebenso schnell verwarf er ihn wieder. „Denn“, so dachte er, „was will ich [17]dem unschuldigen, unerfahrenen Mädchen durch mein „Nöthig thun“vielleicht Gefühle erwecken, die es mir doch nie und nimmer erzeigen kann und darf, und wodurch es möglicherweise unglücklich würde, wenn es dem ihm bestimmten Bräutigam folgen muß? „Und sollte ich meinen und meiner Eltern Wohlthäter so sehr betrüben, indem ich seinem Lieblingswunsch in den Weg trete? Hans, es wäre undankbar,es ware schlecht von Dir! Ja freilich, wenn die Sache anders läge,wenn ich nicht zu Dir, Du väterlicher Freund, in einem solchen Verhältniß stünde, wollte ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, Leib und Leben wollte ich wagen um Elisens Besitz. Doch nun schweig ttill, mein Herz!“

Es war ein prächtiger Sonntagsmorgen, als Hans Spühlibacher bon seinem Prinzipal in dessen Privatkabinet gerufen wurde. Durch die Fenster des freundlichen Zimmerchens strahlte die lachende Frühlingssonne, als er eintrat, und spiegelte sich auf dem wohlwollenden Antlitz des leutseligen alten Herrn, während das bleiche Gesicht und die leicht gerötheten Augen des jungen Mannes, wie überhaupt dessen ganze Haltung nicht am besten dazu harmonirten. Befand sich doch sein Seelenzustand im vollständigsten Kontrast zu der neuerwachten jubelnden Natur. In seinem Herzen war es Herbst geworden und als Zukunft starrte ihm der hoffnungslose, eisige Winter der Entsagung entgegen.Er hatte Herrn Gutherz brieflich um einen Urlaub zu seinen Ellern ersucht, weil er sich unwohl fühle, und dieser konnte kaum viel dagegen einwenden, zeigte doch sein leidendes Aussehen schon seit einigen Tagen zur Genüge, daß er nichts Unwahres vorbringe.

„Aber Du könntest auch hier der Ruhe pflegen und Dich schonen“,meinte der Handelsmann, „besser als daheim in der geräuschvollen Sennhütte mit ihren dazu noch beschränkten Wohnräumlichkeiten. Auch wäre hier ein guter Arzt eher zur Hand, und ich rathe Dir ernstlich,es nicht zu unterlassen, ehestens einen solchen zu konsultiren.“

Da flog ein schmerzliches Lächeln über Hansens Züge hin und,ich selbst vergessend, seufzte er: „Mir kann kein Doktor helfen!“ Doch schnell sich fassend, setzte er hinzu: „Es wird sckon wieder besser verden.“„Meinst Du wirklich, es werde wieder besser?“ versetzte der Handelsherr, indem er aufstand und seinem Gehilfen ernst in die Augen blickte, daß er sie betroffen zu Boden schlug. „Hans Spühlibacher,[18]sage mir die Wahrheit, Du hast mich sonst noch nie angelogen: warum willst Du fort? Daß Du krank bist, sehe ich Dir freilich an, aber ist das der einzige Grund? Du hast mir keine Antwort auf diese Frage, also muß ich sie selbst verneinen. Hans, willst Du wieder kommen?“

„Ich weiß es nicht“, flüsterte dieser leise.

„Wohl, Du weißt es. Du willst es nicht bekennen, ich sehe es Deinen Mienen an. Hat Dir Jemand etwas zu Leide gethan, daß Du uns verlassen willst, oder was hast Du?“

„Ich darf's nicht sagen.“

„Was, Dummheiten, heraus mit der Sprache!“

Nun denn“, versetzte Hans nach einigem Besinnen, „wenn Ihr es absolut wissen wollt, sollt Ihr alles erfahren. Möget Ihr mich dann auslachen nur zürnen möget Ihr mir nicht!“ Und nun erzähltle er ihm seine ganze Liebes- und Leidensgeschichte und seine inneren Kämpfe und verschwieg ihm Nichts.

Herr Gutherz war sehr ernst und gerührt darüber geworden, so daß seine Augen in feuchtem Glanze zu schimmern begannen, und als Hans geendet hatte, da ergriff er seine Hand und drückte sie mit Warme.

„Das ist brav von Dir“, sprach er, „und ich will Deinem Wunsche nicht entgegen sein; aber warte einen Augenblick hier, bis ich wieder komme!“ Damit verschwand er durch die Thüre.

„Was soll das, und wie meint es der Herr?“ so dachte Hans Spuühlibacher; „er wird mir doch nicht obendrein ein Geldgeschenl machen wollen! Edelsinnig und freigebig genug wäre er schon dazu,zuemn er kann doch nicht denken, daß solches meinen Schmerz lindern

nnte!“Der gute Bursche brauchte nicht lange zu grübeln; sein Prinzipal kehrte sofort wieder zurück, aber nicht allein: an seiner Hand führte er die erröthende Tochter.

„Hans“, sagte er lächelnd, „Du willst von uns gehen, mir zu Gefallen und um Elisens Ruhe willen, nicht wahr? Wolltest Du aber mir zu Gefallen und um Elisens Ruhe willen lieber bleiben,so würdest Du mir ein werther, willkommener Schwiegersohn sein.Hier ist meine Tochter, sage es ihr selber, was Dir auf dem Herzer [19]liegt, frage sie, ob sie Dich gerne ziehen lasse!“ Damit zog er sich, die Beiden allein lassend, durch die Thüre zurück.

Hans wußte fast nicht, wie im geschah. Der so unerwartete und schnelle Uebergang vom tiefsten Leid ins höchste Glück vermochte ihm auf einen Augenblick schier seine Sinne zu verwirren, also, daß er nun zu träumen fürchtete.

Da legte sich eine kleine, weiße Hand auf seinen Arm, liebe,treue Augen schauten durch Thränen lächelnd in die seinigen und eine gar süße und weiche Engelsstimme fragte:

„Hans, willst Du wirklich fort ?“

„Nein, tausendmal nein, wenn Du mein liebes Weib werden willst“! rief der Ueberglückliche, aus seinem Traum auffahrend und die Geliebte stürmisch an seine Brust ziehend. Sie ließ es geschehen.

Doch plötzlich kam er in neues Sinnen und eine leichte Wolke flog über seine Stirne. „Aber Elise“, begann er, „ich kann schier nicht an mein Glück glauben. Und was ist es mit dem Gerede wegen dem Amerikaner? Ich meinte doch ......“

„Du Eifersüchtiger!“ schalt da, mit lachendem Munde ihm in die Rede fallend, das herrliche Mädchen, „das Gerücht hat der Vater expreß ausgestreut, um um ich sollte es eigentlich nicht sagen um um nun, wenn's Dir nicht selber in Sinn kommt,so kannst meinetwegen wundrig bleiben.“

Und Hans fragte nicht weiter; er war durch die unvollständige Auskunft vollständig zufriedengestellt und von seiner Krankheit verspürte er nun auch nichts mehr. Sein holdes Bräutchen war für sein Leiden der beste Arzt.

Hand in Hand suchten die beiden Verlobten den Vater Gutherz auf, der sich leicht finden ließ und mit Freudenthränen in den Augen den beiden Liebenden seinen Segen ertheilte.

In sechs Wochen drauf gab's eine feierliche Hochzeit und das Mahl wurde draußen gehalten im Dorfwirthshause zu Milchheim, und nicht nur der alte Christen Spühlibacher mit seiner Frau, die Eltern des überglücklichen Bräutigams, sondern auch dessen sämmtliche Milchbauern mußten als Ehrengäste daran Theil nehmen; denn der Käsersohn schämte sich seiner Abstammung und seines ursprünglichen Berufes nicht. Als gegen Abend die Stimmung eine etwas gehobenere ward da klingelte der Brautbater, Herr Käsehändler Gutherz, an sein Glas []hielt zuerst einen Toast auf die Brautleute und nachher noch einen auf den schweizerischen Bauernstand und dessen ersten, ergiebigsten Erwerbszweig, die Sennerei- und Milchwirthschaft. Er sprach es offen aus, wie er sich geehrt fühle, einen richtigen Vertreter derselben als Schwiegersohn in seiner Familie aufzunehmen; es sei derselbe nun aber ein Glied des Handelsstandes geworden und symbolisire damit die Zusammengehbrigkeit der beiden, eigentlich grundverschiedenen Gewerbe, von denen aber eines durch das andere gehoben werden könne,was im Interesse unseres Landes viel mehr als bisher in Betracht gezogen werden sollte.

Donnernde Bravos und Hoch erschallten im Saale, als er geendet,und hell klangen die Gläser zusammen auf das Wohl des jungen Paares.

Sami, der Hüttenmeister aber meinte, indem er sich an den Bräutigam wandte: „Ja, ja Herr Spühlibacher, Sie waren immer ein ganzer Fink, schon damals, als man Dir noch „Hansli“ rief; kein Wunder, wenn Ihr als Hans schon ein solches Täubchen heimführen konntet, denn „gedummet“ haben Sie sicherlich seither nicht. Aber an der ganzen Geschichte bin doch eigentlich ich die Ursache: Denn hätte ich Dich damals nicht gerufen, um das Käsegewicht zusammenzurechnen, wer weiß, ob alles so gekommen wäre. Das muüßt Ihr mir doch wohl zugeben, nicht war, Hans?“

Der Angeredete lachte von Herzen über diese etwas sonderbar zusammengesetzte Lobrede, bei welcher der „Halblein“ nach ächter Bernerart so wacker das Feld behauptete, und im nämlichen Styl rief er über den Tisch hinüber als Antwort:

„Sie haben Recht, Herr Hüttenmeister, Ihr seid der eigentliche Begründer meines Glückes, aber den versprochenen Batzen, Sami,bist Du mir zur Stunde noch schuldig.“

Und hiemit sei diese wahre Geschichte von „Hansli und Hans“beschlossen.[]Das KRind der Pexe.Von Karoline Meyer.

Nur eine halbe Stunde von dem Orte entfernt, wo der Rhein aus dem Bodensee fließt, erhebt sich das Schlößchen Hohenklingen auf der Spitze eines mäßigen Berges, den es ziert, wie eine Krone ein ehrwürdiges Haupt.

In alten Zeiten gehörten die Freiherren, deren Eigenthum die kleine Burg war, einem großen und angesehenen Geschlechte an, das viele Güter im Thurgau und Hegau besaß und auch die Hoheitsrechte über das Städtchen Stein hatte, das sich unterhalb des Schloßberges am Rheinufer schon seit uralten Zeiten erhob. Es soll dasselbe schon zum Schutz gegen die Hunnen befestigt worden sein, und als ums Jahr 1000 die Mönche von Hohentwiel einen andern, bequemern und weniger wasserarmen Aufenthalt wüunschten, erlaubte ihnen ihr Schirmherr, der Herzog von Schwaben, ihr Gotteshaus am Ufer des Rheins zu erbauen. Nachdem dasselbe von Kaiser Heinrich II.und vielen umwohnenden Herren und Edeln mit Gütern und Rechtsamen freigebig ausgestattet worden, blühte es innerhalb der Mauern von Stein fröhlich empor, von den Bürgern daselbst fast werth gehalten wie ein Kukuksei, dessen der Vogel im kleinen Neste gar wohl entbehren könnte.

Zur Zeit unserer Erzählung war Stein ein ansehnlicher Ort,wohl befestigt nach den Regeln der damaligen Kriegskunst und regiert von einer Obrigkeit aus den ersten Geschlechtern der Bürgerschaft; aber die Abtei war verlassen von ihren geistlichen Bewohnern, welche in dunkler Nacht geflohen waren, als das Morgenroth der Reformation einen neuen Tag und mit ihm das Ende ihrer Herrschaft verkündigte,und von Hohenklingen schaute keiner der mächtigen Freiherrn mehr hinunter in's Thal, und Keiner war mehr da, der hätte sein Schwert [22]ziehen oder eine Lanze brechen können zum Schutz der einstigen Unterthanen; ihr Geschlecht war vergangen und auf der Burg hauste nun ein Dienstmann des Städtchens und hielt Tag für Tag Wache an den Fenstern des Söllers; sein Horn meldete jeden Reisenden an, der auf einer der Heerstraßen sich zu Roß oder zu Wagen dem Städtichen näherte, und wo irgend ein aufsteigendes Feuerzeichen Noth und Gefahr verkündigte, da rief ein Schuß aus der Lärmkanone auf Klingen die Bürger zur Hülfe auf.

Es war in den trüben und ängstlichen Zeiten, die dem dreißigjährigen Kriege vorangingen, als eines Abends ein junges Weib aus dem Rebgelände, das sich am Schloßberge bis weit über die Mitte seiner Höhe hinaufzieht, nach dem Städtchen zurückkehrte; sie trug eine schwere Bürde gesammelten Reblaubes und eilte sichtlich, um noch vor dem Aufziehen der Fallbrücke an die Stadtmauer zu kommen.Noch ehe sie dieselbe erreicht hatte, sprangen ihr zwei fröhliche Kinder entgegen und begrüßten schon von ferne mit lautem Jubel die heimkehrende Mutter.

„Wart Michael, lauf' nicht so schnell, führe das Schwesterlein!“rief ihnen diese zu; aber der kleine Knabe achtete es nicht und eilte voran, um der Erste bei der Mutter zu sein; das Mädchen trippelte nach und setzte eben seine Füßchen auf die Fallbrücke, als der Thorhüter scheltend aus seinem Stübchen trat.

„Geh' zurück, Kind, es ist Zeit zum Aufziehen. Frau Barbel,kehret ein ander Mal früher heim und seht heute, ob ihr beim obern Thor noch Einlaß findet; ich kann nicht Jedem auswarten, der sich verspätet,“ rief der unwirsche Mann und rasselte schon mit der Kette.Das erschrockene Kind wollte zurückgehen, aber es strauchelte und fiel in dem Augenblick, als die Brücke sich hob, hinab in den Stadtgraben.Ein Schrei der Angst und der Entrüstung entfuhr der Mutter; sie warf ihre Bürde zur Erde und kletlerte nicht ohne Gefahr in den Graben hinunter, wo ihr armes, kleines Mädchen bleich und blutend am Boden lag. Wie eine Löwin, der man das Junge antastet, blickte das Weib wild um sich und erhob die geballte Faust nach der Thorstube;dann bog es sich über das Kind hin und hob es auf, und als es dasselbe bewußtlos, mit schlaff herabhängenden Gliedern, auf den Armen hielt, wich der Zorn dem Schmerz und der Sorge, und aus ihren Augen fielen die Thränen heiß und reichlich hinab auf das Kind.

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„Das ist aber nicht meine Schuld, Frau Barbel,“ rief jetzt der Thorhüter. „Das Kind ist ausgeglitten und hinuntergefallen, ehe ich die Brücke aufzog, und ich will selbst kommen und es euch hinauftragen; aber was treibt ihr denn draußen im Rebberge, daß ihr immer so spät heimkommt?“

Das Weib gab keine Antwort, sundern rief dem Knaben, der weinend am Rande des Grabens stand, zu, nach dem obern Thor zu laufen, und schickte sich dann an, mit ihrem Kinde im Graben längs der Stadtmauer hinzugehen.

„So wartet doch, ich will euch helfen,“ sagte der Thorhüter, der eben unten angekommen war; aber ein wildes: „Rührt mir mein Kind nicht anu!“ war die Antwort des Weibes, das nun davon eilte, so qut Schutt und Nesseln es ihm erlaubten.

„Das hat man für seine Gutmüthigkeit,“ brummte der Thorhüter,stieg hinauf und erzählte den Nachbarn, die sich in der Thorstube gesammelt hatten, den Vorfall. „Daß das Kind hinunterfiel, ist mir nicht recht, aber der Barbel hab' ich einmal die Brücke vor der Nase aufziehen wollen, weil sie immer so viel späler vom Felde heimkömmt als andere Leute, und Niemand weiß, was sie eigentlich noch draußen treibt,“ sagte der Thorhüter am Schluß seines Berichtes.

„Da hast du recht gehabt, Gevatter,“ rief einer der zuhörenden Männer, „mein Weib isi schon seit zwei Stunden aus den Reben zurück und hat seitdem genug zu thun in Haus und Stall, und so würd's die Barbel auch haben, hat sie doch drei kleine Kinder daheim und einen Mann, der keiner von den witzigsten ist und obendrein gern ein Gläschen über den Durst trinkt; darum hätte sie nöthig,zur Zeit heimzugehen und Ordnung zu halten im Hause; da hast du recht, daß du ihr einmal gezeigt hast, was Brauch ist in un serm Orte.“Die Uebrigen stimmten dem Gevatter bei und die arme Frau Barbel wurde in der Thorstube noch härter mitgenommen, als ihr Kind durch den Fall in den Stadigraben.

In einer spätern Abendstunde jenes Tages saß die junge Frau in ihrer kleinen reinlichen Wohnstube am Bette ihres schlafenden Kindes; der bolle Mond warf sein helles Licht in das Gemach und zeichneie die runden Fensterscheiben mit dem Gitterwerk und Weinlaub, das sie umsäumte, auf dem Fußboden ab; aber er beschien

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auch ein bleiches Gesicht, in dem sich ein viel tieferer Schmerz aussprach, als der über den Fall des geliebten Kindes, dessen gerdthete Wangen und regelmäßige Athemzüge bewiesen, daß es keinerlei Schaden genommen.

Das junge Weib war kein Landeskind, sondern aus der Ferne ihrem Manne in seine Heimat gefolgt. Damals träumte sie sich ein Leben voll Friede und Lieblichkeit in dem schönen Gelände am Rheinstrom und zog leichten Herzens mit der kleinen Habe der neuen Heim at entgegen. Wer so aus fremdem Lande eintritt in neue, noch unbekannte Umgebungen, dem geht es nicht felten wie dem Bewohner des festen Landes, der seine erste Meerfahrt macht; seine Tritie werden unsicher,denn der Boden schwankt unter ihm und er findet nicht, wo er festen Fuß fassen kann. Glücklich, wer dann eine Stütze hat, an die er sicher und vertrauensvoll sich anlehnen kann; aber Frau Barbara mit ihrem hellen und scharfen Verstande erkannle bald, daß die Stütze,die fie sich in jugendlicher Unbesonnenheit erwählt hatte, ein Rohr sei,das dem durch die Hand geht, der sich darauf lehnen will. Das war der Schmerz, der an jenem Abend mit erneuter Schärfe durch ihre Seele zog. Arm und verachtet stand sie da in dem fremden Orte,denn sie war das Weib eines schlechten Hauswirthes, dem die Arbeit zur Last, und Spiel und Trunk zur Lust geworden war. Vergangen waren die Träume von einem behaglichen, anständigen Haushalte,bon Liebe, Friede und Glück. Aber wenn ein Weib solche Hoffnungen aufgeben muß, dann zieht in das verodete Gemüth die Bitterkeit ein oder der Leichtsinn, es sei denn, daß der Glaube an die himmlische Liebe das Herz mit neuer Hoffnung und mit der Kraft der Ergebung erfülle.Die fest zusammengepreßten Lippen der armen Frau und die Thränen, die in ihren großen, dunklen Augen glänzten, zeugten von dem Kampfe, den sie eben jetzt mit ihren aufgeregten Gefühlen kämpfte;da knarrte unten die Hausthüre und auf der kurzen Treppe wurden die schweren Tritte des heimkehrenden Mannes laut. „Ist's wahr,daß die Ottilie in den Stadtgraben gefallen ist? Dem Thorhüter,dem schuftigen Kerl, will ich's eintränken, den bläue ich durch, sobald ich ihn kriege!“ so sprach der Seilermichel wie er in der Stadt genannt wurde als er die Stubenthür öffnete. Sein Weib warf einen Blick voll tiefer Verachtung auf ihn: „Ja,“ sagte sie, „bläue ihn [25]durch, sobald du ihn kriegst, es darf ihm um seine Haut sobald nicht bange sein; wärst du ein Mann, du forgtest für deine Haushaltung und schafftest mir Ruhe vor den bosen Nachbarn, die mir feind sind,weil ich eine Fremde bin und andere Sitten und Bräuche habe als sie.“

„Du hast nicht nöthig anders hauszuhalten, als es hier zu Land üblich ist,“ entgegnete der Seiler, „ich will nichts Appartes; was hier gäng und gäb ist, daran bin ich gewöhnt von Kind auf und will's auch also haben in meinem Hause!“ Dabei schlug er heftig mit der Hand auf den Tisch, den gesprochenen Worien größern Nachdruck zu geben; als aber seine Blicke auf die Hausfrau fielen, die vom Stuhle aufgestanden war und ihm, heftig erregt, mit funkelnden Augen entgegentrat, da wurde ihm bänglich zu Muthe; denn er mochte es schon‘ rfahren haben, welche Gewalt des Zornes in dem starken Gemüthe seines Weibes liege, und als die Gewalt in heftiger Rede über ihn losbrach, zog er sich still in die Ecke am Ofen zurück und stellte sich, als wäre er schläfrig. Frau Barbara trat wieder an das Beit ihres Kindes, das indessen aufgewacht war und mit üngstlichen Mienen dem elterlichen Streite zuhörte; sie bog sich über die Kleine, legte sie zurück in die Kissen und drückte ihr einen Kuß auf die Stirne: „Schlaf mein Herz,“ sagte sie leise, „und werde einst glücklicher als ez deine Mutter ist.“ Dann ging sie hinauf in die Kammer, wo ihre beiden Knaben schliefen und öffnete ein Fenster. Das Häuschen stand an der Stadtmauer, zwischen dem untern Thor und dem Rheine. Barbara blicte hinaus auf den ruhig dahingleitenden Strom, dessen Wasser im Silberlichte des Mondes mit glänzendem Schimmer strahlten; in der Natur überall war Friede und Stille, aber in ihrem Gemüthe tobte der Sturm und jagte die schwarzen Wolken des Unmuthes und der Sorge in wildem Wirbel durch ihre Seele.

In dem ehemaligen Klostergebäude, jetzt dem Wohnsitz eines Amtmanns, den der h. Stand Zürich, unter dessen Oberhoheit damals die Stadt stand, zur Verwaltung der reichen Klostergüier hieher gesetzt hatte, saßen an einem heitern Herbstabend des Jahres 1611 zwei Männer in dem schönen Gemache beisammen, das noch jetzt der Rittersaal heißt und mit dem Schmuck seiner Freskobilder und dem kunstreichen Schnitzwerk seiner Decke das Auge manches reisenden Kunstfreundes und Alterthumskundigen erfreut, bis vielleicht auch dieß [26]Denkmal alter Kunst jetzt wenig geschützt und geschont in nicht gar langer Zeit aufhören wird, der Beachtung werth zu sein. Die beiden Männer, der Amtmann und ein besuchender Freund, hatten eben ein Gespräch beendigt, und der Letztere war vom Sessel aufgestanden, um noch einen Gang durch das Zimmer zu machen.

„Man weiß in der That nicht,“ sagte er, „was hier schöner ist,die Aussicht über den klaren, ruhigen Strom hin, den wie ein kleines Juwel das siille Inselchen mit St. Othmars Kapelle ziert, bis zu dem Kranze der Höhen, die die liebliche Landschaft umgeben, oder die Bilder hier im Saale, die von dem Talente und wohl auch von dem Humor des Künstlers zeugen!“ Er betrachtete noch einmal die Einzelnbilder in den Fensternischen, die römische Lukretia und die Hebraerin Judith, den großen Christoph und den gewaltigen Herkules,das zierliche Edelfräulein mit dem Falken auf der Hand und die Zitherspielerin, welcher der Tod über die Achseln schaut. Vor dem größten der Bilder, das den mittlern Pfeiler schmückt, stand er einige Zeit still und betrachtete den Ritter in vollem Waffenschmuck, auf D einen Sprung in die Tiefe zu thun. „Das sei Curtius, sagt Ihr?“ wandte er sich an den Amimann, „jener edle Römer, der sich auf seinem Pferd in den Abgrund stürzte, um die Götter zu versöhnen und sein Volk von der Seuche zu erretten; der Künstler hat die edle Gestalt mit Vorliebe behandelt, sie ist ihm trefflich gelungen.“

„Wer weiß, mein alter Freund,“ sagte der Amtmann, „ob nicht auch für uns wieder solche Schreckenstage im Anzuge sind, wie die waren, die den tapfern Römer in den Tod trieben.“ „Wie meint Ihr das?“ fragte der Freund.

„Noch ist hier im Orte,“ erwiderte der Amtmann, „das Andenken neu an die furchtbare Zeit, da in wenigen Monaten zweihundert Menschen ihren Tod durch die Pest fanden, und in gegenwärtigen Tagen, man mag es sich gestehen oder nicht, schleicht die Seuche schon wieder ein.“

„Was!“ rief der Gast, und wandte sich entsetzt gegen den Sprecher,„ist hier ein Pestfall vorgekommen?“ Der Amtmann lächelte: „Freund,“sagte er, „erschredt nicht so sehr, in einer Zeit wie die gegenwärtige,sollte die Lebenslust nicht allzu stark sein; Krieg und Kriegsgeschrei,Sorge und Noth überall! Ja, es ist wahr, es sind in den letzten [277]Tagen einige bedenkliche Todesfälle vorgekommen, und mir ist bange vor all' dem Jammer, den die ausbrechende Seuche in ihrem Gefolge hat; für mich selbst aber sorge ich nicht; denen geschieht wohl, die zur Ruhe kommen, ehe die Kriegswetter, die sich zusammenziehen, losbrechen werden und vielleicht auch unser Land, in dem so viel Zündstoff ist,mit ihrer Flamme verzehren.“

„Ihr seht zu trüb in die Zukunft,“ erwiderte der Fremde; „noch ist Friede ringgs um uns, und was mir jetzt allein der Besorgniß werth scheint, das ist die Seuche, von der Ihr sagt, daß sie sich hier wieder zeige. So lebensmüde wie Ihr fühle ich mich noch nicht;darum will ich mit Eurer Erlaubniß jetzt hinüber auf mein Zimmer,um mich zur Abreise in der nächsten Morgenfrühe fertig zu machen.“

Der Amtmann bemühte sich vergebens, seinen ängstlichen Gast zum längeren Bleiben zu bereden; dieser eilte davon, um einzupacken,und der Amtmann blieb allein in dem Gemache. Er trat an das Seitenfenster des Erkers, das nach Osten geht. Die untergehende Sonne hatte die fernen Höhen mit röthlichem Schimmer geschmückt und die Dünste des Abends sie als leichte Nebelschleier umgeben; in den Wassern des Rheins spiegelten sich die Wolkengebilde und in der Kapelle des nahen Inselchens wurde die Abendglocke geläutet, deren wehmüthiger Klang dem ernsten Manne heute mehr als gewöhnlich zu Herzen ging. Lange betrachtete er das schöne Bild stiller abendlicher Ruhe; dann weckte ihn das Plätschern eines Ruders aus seinen Gedanken, ein kleines Schifflein wurde sichtbar und glitt leicht und leise an den Mauern des Amthauses vorüber. Der Mann, der es lenkte, zog ehrerbietig sein Käpplein, als er den gestrengen Herrn Amtmann am Fenster erblickte, und dieser, aufgeweckt aus seinem Sinnen,verließ jetzt den Saal und suchte die erheiternde Gesellschaft der Seinen auf.

Von der guten alten Zeit reden die Eltern und Großeltern, wenn fie sich beengt und bedrängt fühlen von dem Treiben der Gegenwart,oder wenn die Erscheinungen der neuen Zeit an ihnen vorüber gehn wie fremde Gestalten, mit denen sie nichts mehr gemein haben. Von der guten alten Zeit redeten schon ihre Eltern und Großeltern und meinten damit wieder eine andere, als die war, die ihre Kinder später so hoch priesen. Wo ist denn diese gute alte Zeit? Ach, es ist für jeden Menschen die goldene, selige, fröhliche Kinderzeit; nach ihr sehnt [28]sich das im Kampfe des Lebens alt und wohl auch hart gewordene Herz zurück, wenn ihm auch nur eine dunkle Erinnerung geblieben ist von ihrem Frieden und ihrem Glück.

Daß die gute alte Zeit nicht weiter rückwärts zu suchen sei als in der Kinderzeit, das lehrt uns die Geschichte. Tage voll Weh und unendlichen Jammers sind über die früheren Menschengeschlechter dahin gezogen, und auch die Zeit, von der unsere Erzählung redet, führt uns Bilder vor die Seele, bei deren Betrachtung wir erschrecken. Nicht umsonst war das Gemüth des Amtmanns zu Stein an jenem Herbstabend von bangen Ahnungen gedrückt worden; die Pest brach bald mit einer Heftigkeit aus, wie nie zuvor. Da war kein Haus mehr,in dem nicht Kranke und Sterbende lagen; der Winfer hatte sein großes Leichentuch über Feld und Fluren gebreitet, und wie auf einem Leichenfelde sah es auch aus in den Mauern der schwer heimgesuchten Stadt. Keine Chronik erzählt uns die ausführliche Geschichte jener schrecklichen Tage; Niemand hat sie aufgeschrieben, die wilden Ausbrüche des Leichtsinns und der Hartherzigkeit, die wie der Schaum der vom Sturm gepeitschten Meereswellen in solchen Tagen aufgähren in dem menschlichen Gemüthe, wenn keine andere Liebe in ihm wohnft, als die zu dem eigenen, armen, werihlosen Leben;aber auch keine Menschenhand hat sie verzeichnet, die Thaten der Barmherzigkeit, der Treue und Aufopferung, die Hausgenossen und Nachbarn da und dort an einander geübet: Die Engel Goltes. haben fie gesehen, ihrer wird gedacht sein im Buche des Lebens.

Auch] an dem kleinen Hauschen des Seilermichels war der Würgengel nicht vorüber gegangen; er hatte sich den ältesten Knaben zum Opfer ersehen; aber auch Ottilie und der Vater lagen an der Seuche darnieder und die Hausmutter wankte selbst wie ein Schatten zwischen den Krankenbetten hin, denn Sorge und Mühe hatten ihre Kräfte verzehrt.Zum ersten Mal seit zehn bangen Tagen erheiterte sich ihr trübes Angesicht, als Ottilie an einem klaren Wintermorgen, da die Sonne eben hell auf ihr kleines Bett schien, das müde Köpfchen aus dem Kissen erhob und von der Mutter etwas Speise verlangte. Barbara hielt das für ein gutes Zeichen und ging schnell in die Küche hinaus,um etwas zu bereiten. Ach, fie hatte in ihrem Jammer Essen und Trinken bergessen und wußte nicht, daß keinerlei Vorrath mehr im Hause sei; erst als sie in der Küche stand, ängstlich nach etwas Eßbarem

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suchte und nichts fand, das sie ihrem Kinde bringen konnte, ging es ihr an die Seele. Doch Mutterliebe ist stärker als jedes andere Gefühl; darum überwand auch Frau Barbara ihre Abneigung, Jemand um Hülfe anzusprechen, und eilte hinüber in das Nachbarhaus, wo sie Brod für ihr Kind zu bekommen hoffte.

„Ja, wenn man nur selbst hätte!“ sagte die Nachbarsfrau, als Antwort auf Barbara's Bitte; „wo soll bei dieser herben Winterszeit,wo Niemand zu verdienen hat, als der Doktor und der Todtengräber,noch Brod herkommen? Wenn ich hätte, ich gäb's Euch, Frau Barbel,schon darum, weil ihr den sauren Gang habt thun müssen. Nun,Keiner weiß, was ihm noch Alles bevorsteht in der Welt; darum isi's gut, nicht hoch hinaus zu wollen, man fällt dann auch nicht tief herab.“Das Weib zog bei diesen Worten einen langen Faden aus dem Hanfe an der Kunkel und ließ die Spindel sich schnurrend am Boden drehen.Barbara wollte eben den Mund zu einer harten Gegenrede öffnen,als der Gedanke an ihr hungerndes Kind ihren Zorn in Schmerz berwandelte und große Thränen aus ihren Augen trieb.

Im Armsiuhl am Ofen saß der alte Großvater und hatte Alles mit angehört. „Frau Nachbarin,“ sprach er jetzt, „folgt meinem Rathe;es ist bald Mittag, da wird im Amthaus das Armenbrod ausgetheilt;zeht hin und bittet darum, Ihr bekommt es gewiß; dann habt Ihr ein ganzes Brod im Hause, und bis das gegessen ist, wird Gott wieder etwas bescheeren. Wenn die Noth am größten ist, so ist seine Hülfe am nächsten; so hab' ich's in meinem langen Leben erfahren und gdlaube darum fest daran, und Beitler sind wir ja Alle vor Gott;darum darf es uns auch nicht so schwer fallen, bei den Menschen zu bitlen, wenn wir Hülfe nöthig haben.“

„Lohne Euch Gott Euere Rede, Nachbar.“ sagte Frau Barbara und eilte schnell aus der Stube, um ihre hervorbrechenden Thränen zu verbergen. Der Alte hatte ihr Herz getroffen. Bisher hatte sie gedarbt und ihre Armuth und Noth vor aller Welt zu verbergen“?gesucht, denn sie war stolz und begehrte von Niemand Hülfe; jetzt hafte sie erkannt, daß Gott den Trotz eines stolzen Herzens zu brechen vermag, und ehe sie ihr Kind wollte hungern lassen, entschloß fie sich kurz,dem Raihe des Nachbars zu folgen.

Der Amtmann Holzhalb stand in dem großen Seitenerker seiner Wohnstube und sah dem Austheilen des Armenbrodes zu, das im [30]Hofe vor sich ging. Nicht mit gleichgültigen Augen betrachtete er die Menge, die sich vor dem Backhause drängte; es that ihm weh, daß so Viele durch die böse Zeit genöthigt wurden, dies Almosen zu suchen.Unter ihnen bemerkte er, neben vielen bekannten Gesichtern, eine noch junge Frau, die er heute zum ersten Mal sah; ungestüm drängte sie Alle zur Seite, die ihr im Wege standen, und bemühte sich ängstlich,eines der ersten Brode zu erhaschen.„Hol der Teufel die Hexe,“ rief ein langer Mann, dem die Haushälterin eben ein frisches Brod hingeboten hatte, und der nun fühlte,wie es ihm durch einen starken Ruck aus der Hand gezogen ward. Die Umstehenden brachen in ein lautes Gelächter aus und der Mann wollte sich durcharbeiten, um dem Weibe des Seilermichels die Beute wieder abzujagen; doch die arme Mutter eilte pfeilschnell von dannen,um das hungernde Kind endlich mit der ersehnten Speise zu laben.Sie hörte wohl nachher die Schimpfreden der heimkehrenden Nachbarn,von denen mehrere das Armenbrod geholt hatten, und welche die Barbel, die sie so wenig liebten, eine Diebin schalten; aber was fragte sie viel darnach, hatte doch ihr Kind sich satt gegessen und fühlte sie fich doch stark genug, den Kampf mit den flinken Zungen der Naqhbarinnen aufzunehmen. Der Amtmann, der ein Zeuge ihres Ungestüms im Hofe gewesen war, erkundigte sich weiter nach ihr, und da er ihre bedrängte Large erfuhr, beschloß er, das Weib, dessen muthiges und entschlossenes Wesen ihm nicht übel gefallen hatte, in seinem weitläufigen Haushalte oft zu beschäftigen, um ihr dadurch Verdienst und Brod zu geben. Als ihre Kranken wieder genesen waren, brachte Frau Barbara manchen Tag im Amthause zu, half in Küche und Garten und jätete das Unkraut aus den Höfen, die das Haus umgaken.Ottilie half ihr oft bei dieser Arbeit, und in den weiten Räumen gefiel es dem stillen Kinde viel besser, als daheim in der engen Gasse mit den geschwätzigen Nachbarinnen; das Amthaus mit seinen Umgebungen war die Welt, in der es sich heimisch fühlte; sollte ihm doch in seinem spätern Leben in diesen Käumen das Glück seines Herzens erblühen!

Alles vergeht in diesem Erdenleben; die Tage der Seuche zogen endlich auch vorüber, nachdem man neunhundert Leichen zu Grabe getragen hatte. Da mag wohl manches Haus verödet und manches Band zerrissen worden sein.[]In dem Häuschen des Seilermichels ging das fägliche Leben nun wieder seinen gewehnten Gang. Wie es einem Garten geht, dessen Zaun zerbricht, ohne daß Jemand ihn bessert, weiß Jeder; da steigen böse Buben hinein, und was sie nicht abreißen, das verderben Katzen und Hunde und die Hühner des Nachbars. Wo in einem Haushalte der Mann und Vater sich dem Mußiggang ergibt und in den Schenken die Zeit vertreibt, da fängt auch der Zaun zu brechen an, der sein Hauswesen umgibt, und durch die Lücken steigen die Sorgen ein und der Unfriede, und ihnen folgt eine ganze Reihe schlimmer Gäste, welche die Schutzengel des Hauses verscheuchen und den Riß immer größer und böser machen.

Wer etwa sieben Jahre später an einem kalten Dezemberabend wieder in das kleine Häuschen hineinsah, der erblickte ein noch trüberes Bild, als das erste Mal. Die damals reinliche und heimelige Wohnstube sah jetzt ärmlich und vernachläßigt aus; ein dampfendes Oellicht erhellte sie mait und warf seinen röthlichen Schein auf Barbara's früh gealterten Züge; wie hatten Gram und Verdruß dieses Antlitz entstellt und ihm einen Ausdruck gegeben, der zu sagen schien: Komm her, wer Lust hat, und greife mich an, ich weiß mich zu wehren!Neben der Mutter saß Ottilie am Spinnrad, aber nicht in fröhlichem Gespräch; sie wußte wohl, daß die Mutter heute nicht geneigt wäre ihr zuzuhören, denn es war schon spät am Abend, das Stübchen kalt, die Küche lerr und der Vater nicht dahein. Das Mädchen warf zuweilen ängstliche Blicke nach der Mutter hin, die, die Hände auf dem Schooß gekreuzt, in trübem Schweigen da saß. Da wurden Stimmen auf der Gasse laut, man höörte Leute gehen, zuerst Einzelne,dann Mehrere. „Mutier, was gibt es wohl?“ sagte Ottilie ängstlich.„Was wird's sein,“ gab diese zur Antwort, „vielleicht bringen sie deinen Vater heim, den sie irgendwo im Rausch erfroren gefunden haben.“ „Muiter, um Gotteswillen sprecht nicht so!“ rief das Mädchen und Thränen traten ihm in die Augen. Barbara stand auf und öffnete das kleine Fenster; da standen die Bewohner fast der ganzen Gasse bei einander und schauten zu dem nächtlichen Himmel empor,an dem winterlich hell, die Sterne funkelten. „Gott steh bei uns,was ist das für ein schauriges Zeichen!“ rief eben ein alter Nachbar,und Barbara sah nun so weit sie konnte aus dem Fenster zum Himmel auf; zwischen den hellglänzenden Sternen stand ein anderer, ein selt[]43*samer, unheimlicher Gast; röthlich, fast blutig, erschien sein Kern, und der lange, helle Schweif, den er nachzog, erschien den erschrockenen Bewohnern wie eine feurige Ruthe.

Es war in den letzten Wochen des Jahres 1618, jenes Jahres,da zuerst die Kriegsflamme aufloderte, die während dreißig langen und blutigen Jahren Deutschlands Glück und Wohlstand verzehren sollte, als die Erscheinung eines Kometen die ohnehin schon geänstigten Gemüther noch mehr mit Furcht und Besorgniß erfüllte. Barbara ging nicht hinab zu den schwatzenden Nachbarn, sie zeigte Ottilie und dem Knaben, der bisher auf der Ofenbank geschlafen hatte, den seltenen Stern, und als die Kinder um seine Bedeutung fragten, sagte sie kurz: „Ich habe immer gebört, solche Himmelszeichen brächten Unglück;meinetwegen! ich habe mein Unglück schon, mir kann kein Stern mehr ein größeres bringen!“ Ottiliens weiches Gemüth ertrug diese Rede nicht, sie schlang beide Arme um den Hals der Mutter und brach in heftiges Weinen aus. „Ach Kind,“ sagte Barbara, indem sie das Mädchen sanft zurückschob, „es gab auch eine Zeit, wo ich meinte die Augen mir ausweinen zu müssen. Was hat es geholfen? sie sind reth und trüb geworden, und nach und nach habe ich das Weinen verlernt. Wäret ihr Beide nicht, du und der Ulrich, so wollte ich,man trüge mich heute noch hinaus in mein Grab; aber um euertwillen will ich noch leben und mich durchschlagen durch die böse Zeit und die noch bösern Menschen. Kommt Kinder, wir Drei haben einander noch lieb; sonst gibt es wenig Liebe mehr auf der Welti; ich wenigstens weiß von keiner.“ Die arme Mutter foßte mit der einen Hand die des Knaben, legte den andern Arm um den Nacken der weinenden Tochter und fühlte sich einen Augenblick lang wieder reich und glücklich in der Liebe.

Die Erscheinung des Unglück verkündenden Kometen hatte die Einwohn er von Stein erschreckt und an den Ernst der Zeit gemahnt.Auf der Kanzel wurde die Nothwendigleit der Buße verkündigt und als ein äußeres Zeichen des bußfertigen Sinnes wurden die fefilichen Mahlzeiten eing estellt, die sonst an jedem Neujahrstag auf den Zünften gehalten wurden. Aber neben dem Senfkornlein der Herzenserneuerung durch den Glauben, das wohl auch in manchem Gemüthe Wurzel gefaßt haben mag, wucherte üppig das Giftkraut des Aberglaubens, und die Furcht vor der finstern Gewalt des Teufels war größer als die

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gläubige Ehrfurcht vor Gott. So war es damals fast überall; darum loderten in deutschen und schweizerischen Gauen die Scheiterhaufen empor, auf denen so viele Unglückliche als Opfer des Hexenglaubens ihr Leben enden mußten, und darum gerieth man auch zu Stein in den Wahn, solche schreckliche, mit der Hölle verbundete Menschen in den eigenen Mauera zu haben.

In den ersten Stunden einer schöͤnen Sommernacht, die auf einen glühend heißen Tag folgte, saßen auf der Bank vor einem Hause, nahe beim untern Thor, die Nachbarn beisammen, um nach der Tageshitze sich an der Kühle zu erlaben. Sie redeten von der glücklich heimgebrachten Ernte, von dem schönen Stande der Reben, dazwischen auch von allerlei Stadtgeschichten und den Kriegsereignissen, soweit man sie kannte. Da huschte die kleine gebeugte Gestalt eines Weibes an ihnen vorüber und bog in das Gäßchen ein, in dem der Seilermichel wohnte. „Helf uns Gott!“ flüsterte eine der Frauen auf der Bank, wie wenn sie einen züngelnden Blitz aus schwarzen Wetterwolken hätte herabfahren sehen.

„Mir läuft die Gänsehaut über den Rücken, wenn ich nächtlicher Weile dies Weib antreffe,“ sagte einer der Männer; „bei der ist's nicht richtig.“

„Hol der Teufel die verdammte Brut!“ rief ein Anderer und reckte seine dürre Gestalt lang aus, indem er aufstand. „Die, welche eben jetzt ins Gäßchen ging, ist nicht die einzige hier; es sind schon biele Jahre vergangen, denn es war zur Pestzeit, da wurde mir im Amthaus das Brod unker dem Arme weggezozen. Dem Weibe, das damit fortrannte, bin ich seitdem immer aus dem Wege gegangen;denn, glaubt es mir, bei der ist es auch nicht richtig.“

„Ha, ha,“ lachte ein Anderer, „das war ja die Seilerbärbel,die war aber dazumal noch zu jung und zu hübsch für eine Hexe.“

„Ich will nichts gesagt haben,“ erwiderte der Lange, „aber ich weiß, was ich weiß.“ Dabei rieb er sich die Hände und ging mit kurzem Gutenachtwunsch nach Hause.

Male den Teufel nicht an die Wand, sonst kömmt er leibhaftig,sagt ein Sprichwort; so ging es auch hier. Während die Nachbarn und Nachbarinnen mit Schrecken und Grausen von dem Fürsten der Finsterniß und seinen Verbündeten redeten, stand er mitten unter ihnen und blies das Feuerlein der Verleumdung zur hellen Flamme 3 [34]an. Keines von ihnen dachte daran, daß sie selbst seine geschäftigen Diener seien, als sie bis tief in die Nacht hinein einander erzählten wie die beiden Schwestern, von denen die jüngere an ihnen vorbeigegangen war, in ihrem kleinen Häuschen ein sonderbares Leben führten,wie Niemand eigentlich wisse, wovon sie sich nährten: denn die wenigen Reben, die ihr Eigenthum seien, könnten ihnen unmöglich das tägliche Auskommen gewähren; wie sie beide vom ersten Frühlingstage bis zum Spätherbste täglich in den Wald gingen und Kräuter heim schleppten,bon denen Niemand wisse, wozu man sie brauche; wie sie allerlei Pflaster und Salben kochten, von denen sie behaupteten, sie hätten die Rezepte noch von ihrem Vater, dem Scherer, her; daneben wären sie wenn ihnen Niemand ins Haus käme, und hätten darum die Hausthüre auch immer verschlossen; bei stürmischen Nächten sehe man oft Licht in dem einsamen Stübchen, und „als mein Mann letzthin ihren Schornstein kehrte,“ fügle des Kaminfegers Frau noch hinzu,„fiel es ihm auf, daß so wenig Ruß darin war; es kam ihm so vor,als wäre er abgestreift worden.“

„Da hätte man freilich ein beachtenswerthes Zeichen,“ sagte einer der Männer, „es lohnte sich der Mühe, weiter nachzuforschen; denn Hexen, nein, bei Gott! Hexen dulden wir nicht unter uns!“ Eben kam der Nachtwächter, die zwölfte Stunde zu rufen.

„Ihr Plaudermäuler, sitzt ihr noch da?“ sagte er, „geht doch hinein; ich habe eben auch Einem den Weg gezeigt, der ihn ohne mich nicht gefunden hätte.“ „Wem?“ „wer war das?“ fragten die neugierigen Leute; „der Seilermichel!“ war die Antwort, und in die ausgestreute Höllensaat' dieses Abends fiel noch als ein ergiebiges Körnlein die Erinnerung an des elenden Trinkers unglückliches Weib.

Die Sommerhitze war den mildern Herbsttagen gewichen und die liebliche Gegend, in der Stein liegt, glich in dem Schmucke ihrer Wiesen und Weinberge, ihrer Gärten und Obstbäume, umgürtet von dem blauen Bande des Rheinstroms, einer schönen, glücklichen Mutter,die lächelnd und Segen spendend unlter ihren Kindern steht. Wer in jenen Tagen oben auf der Höhe von Klingen fland und seine Blicke hinuberschweifen ließ über das schöne Gelände bis zu dem fernen Kranze der Alpen, die den Gesichtskreis begrenzen, der mußte wohl das Wehen des friedlichen Geistes fühlen, der in der Natur waltet. Ja, Friede [] 85 athmet die Schöpfung, aber der Mensch erfüllt fie mit Thränen und Jammer.

Arme, unglückliche Mutter, die du hier in der engen Gasse vor deinem Häuschen stehst, um von dem Häscher fortgeführt zu werden in das Gefängniß und zu noch Schlimmerm!

Zwar die Zunge schweigt nicht, sondern gießt Gift und Galle Fluch und Verwünschungen aus über die Welt und die Menschen,aber aus den Augen spricht das Weh der verzweifelnden Liebe, denn fie können sich nicht abwenden von den Kindern, die voll Jammers sich an die Mutter drängen und ihr folgen möchten auf dem bittern Gange.

Es ist Barbara, des Seilermichels Frau, über die der wohlweise Rath so sonderbare Gerüchte vernommen, daß er, in seinem Eifer,alles Hexengeschmeiß zu zerstören, sie endlich vor Gericht zu fordern und gefangen zu setzen beschloß. Jetzt stand sie noch auf der Schwelle ihres Hauses und sträubte sich, dem Häscher zu folgen.

„Was wollt ihr von mir? Ich bin keine Hexe und thue Niemand etwas zu Leide; hab ich doch genug zu thun, mich der Unbilden zu erwehren, die Andere mir anthun. Laßt mich in Ruhe; habe ich nicht mein Unglück bisher tapfer getragen? Niemand dachte daran, mir zu helfen, da noch etwas zu retten gewesen wäre von Haus und Habe;hätte damals der Rath seine Pflicht an einer armen Hausmutter und ihren Kindern gethan, da wär's am Platze gewesen, und mein Herz hätte sich nicht verbittert gegen die Menschen. Ein armes, um sein Lebensglück betrogenes Weib bin ich, aber keine Hexe, und den Teufel hab ich noch nie anders gesehen, als in der Gestalt der Menschen, die mich haßten und unglücklich machten.“

„Schlagt ihr die Zähne ein, wenn sie noch hat,“ rief Einer aus der zusammengelaufenen Menge dem Häscher zu; und „fort mit der Hexenbrut,“ „weg mit der Hexe!“ schallte es ringsumher.

„O Mutter, Mutter!“ rief Ottilie mit durchdringender Stimme,„ich gehe mit dir, ich lasse dich nicht allein!“ Das Mädchen schlang seine Arme um den Hals der Mutter und der Knabe faßte sie bei der Hind und suchte sie wieder ins Haus hinein zu ziehen.

„Laßt mich los,“ sagte die arme Frau, als sie sah, daß Widerstind vergeblich war; „verflucht seien meine falschen Ankläger, und über ihr Haupt komme mein Blut!“[38]„Blut!“ rief Ottilie wieder in zweifelnden Tone, „o Gott, Niemand wird ja daran denken, dir das Leben zu nehmen, meine Mutter, ich lasse dich nicht!“

Des Mädchens Jammer trieb manchem Anwesenden die Thränen in die Augen, und wäre die Mutter nicht als Hexe verklagt gewesen,so hätten die mitleidigen Steiner schnell ihren Sinn geändert und Erbarmen mit der Unglücklichen gehabt; nun aber war die Hexenfurcht so groß, daß dies Mal das Mitleiden nicht aufkommen konnte.

„Macht, daß ihr fortkommt!“ riefen Die, die ihrer Gefühle nicht ficher waren, und der Häscher faßte sein Opfer am Arme und zog es fort.

Ottilie und ihr Bruder drängten sich durch die nachlaufende Menge und suchten neben die Mutter zu kommen, aber man schob sie zurück.Als sie sahen, das es unmöglich war durchzudringen, faßte der Knabe die Hand seiner Schwester, zog sie zur Seite nach den Häusern hin,und als die Leute vorüber waren, schlichen Beide, müde vom Weinen,in das verödete Häuschen zurück, wo der Vater mit lallender Zunge auf der Ofenbank saß und sich vergebens bemühte, des Rausches Meister zu werden, den ihm die Gefangennehmung seines Weibes zur Hälfte vertrieben hatte.

Unterhalb der Rheinbrücke steht noch jetzt, mitten zwischen stattlicheren Gebäuden, ein kleines Haus, das nicht mehr bewohnt wird;nur die Vergangenheit schaut aus den niedern Fenstern auf die Wasser des alten Rheins, der mit ihr die vorübergegangenen Menschengeschlechter gesehen hat. An jenem Abend, da Barbara gefangen genommen wurde,saß in diesem Häuschen ein betagtes Schwesternpaar in dem engen Stübchen, das der volle Mond mit seinem milden Lichte erhellte,während er mit klarem Silberschimmer die plätschernden Fluthen übergoß, die an den Fenstern dahinzogen. Zu der einfachen, fast ärmlichen Kleidung der Schwestern paßte vollkommen die dürflige Einrichtung ihres Stübchens. Ein großes Himmelbett mit groben Vorhängen nahm fast den ganzen Raum ein; auf einem Brette über der Thüre standen einige wenige Geschirre, und eine starke eichene Kiste barg den haushäblichen Reichthum der beiden Bewohnerinnen. Aber außer diesen wenigen Geräthschaften befanden sich doch noch manche andere Dinge im Stübchen, die, eben weil sie sich in solcher Umgebung zeigten, um so auffallender waren. Der große, oben mit einer steinernen Platie

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gedeckte Kachelofen war überstellt mit Gläsern und Tiegeln von jenen,dem häuslichen Gebrauch ungewohnten Formen, wie wir sie in den Laboratorien der Chemiker und Apotheker zu sehen gewohnt sind, und mitten unter ihnen, auf hölzernem Gestelle, thronte eine große, ausgestopfte Eule und glotzte unheimlich mit ihren gläsernen Augen. An der Wand hingen zwei Kästchen, das eine mit mancherlei Käfern, das andere mit Schmetterlingen gefüllt, in deren Mitte, wie ein ernster Lehrer zwischen flüchtigen und lebensfrohen Schülern, der Todtenkopf seinen Platz hatte. Ueber den Kästchen hingen in großen Büscheln allerlei Kräuter: Baldrian, Melisse, Natterkopf, Königskerze und ein Zweig der geheimnißvollen Mistel.Noch immer saßen die beiden Schwestern beim Mondschein stumm einander gegenüber; endlich brach die eine von ihnen, eine kleine,stark vorwärts gebeugte Gestalt, das Schweigen, und während sie sprach,zeigte ihr vom Alter gefurchtes, sonst ziemlich bedeutungsloses Geficht, einen unverkennbaren Ausdruck von Angst und Furcht. „Anna,“sagte sie, „rede doch mit mir; dies Schweigen und diese Stille schnürt mir die Brust zusammen. Was meinst du, haben wir so Schreckliches zu fürchten, wie der armen Seilerbarbel bevorsteht? Die Leute reden so unheimliche Dinge und weisen mit Fingern auf uns, wo wir vorüber gehen. Habe Erbarmen mit meiner Angst, und sage mir ein Wort, das mich beruhigt; ach, was thun wir denn, daß man uns solche Dinge Schuld gibt?“Die Angeredete, die bisher ihr Haupt in die Hand gestützt hatte,richtete dasselbe empor, heftete ihre Augen fest auf die Schwester,und als sie die Thränen sah, die der Geängsteten über die Wangen liefen, stand sie mit einer raschen Bewegung von ihrem Sitze auf.Sie war von mehr als gewöhnlicher Frauengröße und hatte harte,eckige Formen; aus ihrem bleichen Angesicht mit den scharfen Zügen sprach Geist und Entschlossenheit; aber in den Mundwinkeln zuckte es jetzt schmerzlich, die Thränen der Schwester schienen den eigenen Schmerz wach gerufen zu haben. Sie trat zu der Weinenden hin und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Eva,“ sagte fie „wie gern wollte ich dir Worte der Beruhigung sagen, wenn ich sie hätte! aber ich bin gewiß, daß uns das Loos der Seilerbarbel droht, und mag dich nicht lüuschen.“[] 88 „Barmherziger Gott!“ rief Eva mit durchdringendem Tone, und glitt, vor Schreck wie gelähmt, von ihrem niedrigen Schemel hinab an den Fußboden. Anna nahm sie in ihre Arme, hob sie wieder empor und setzte sich zu ihr auf den schmalen Sitz, sie mit beiden Armen umfassend. „Höre mich an,“ sagte sie, „und sei nicht trostlos; es ist wohl hart, nach einem langen Leben, in dem man Niemand wissentlich Unrecht gethan hat, der Zauberei und des Teufelsdienstes angeklagt zu werden und durch Henkershand sterben zu müssen; aber, wen solch hartes Loos trifft, der muß ihm auch zu begegnen wissen mit Muth und Todesverachtung. Die Leute im Orte können es uns nicht vergeben, daß wir nicht sind wie sie, daß wir nicht mit ihnen zusammen sitzen und schwatzen, ihnen unsere häuslichen Angelegenheiten erzählen und die Nachbarn verhandeln; sie verstehen nichts von den Kenntnissen,die wir aus den kostbaren Büchern des Vaters und Großvaters schöpften;was kümmert sie der Lauf der Gestirne und die Kenntniß der Natur und ihrer Kräfte! Wenn ich Nachts am offenen Fenster stehe und den Lauf eines Planeten beobachte, um darnach zu bestimmen, in welcher Stunde dieses oder jenes Kraut gesammelt, diese oder jene Wurzel gegraben werden muß, um ihre volle Heilkraft zu haben, so meinen die unwissenden Schiffleute, die mich bei ihren nächtlichen Fahrten gewahr werden, ich bereite mich vor, zum Hexentanze zu fahren, und erzählen's daheim ihren Weibern, fluchen über des Scherers Töchter und schwören ihnen Tod und Verderben. So ist das unwissende Volk; ich bin's müde unter ihm zu leben, und weil ich seine Dummheit verachte, so will ich auch die Marter verachten, die es mir bereitet.Könntest du es auch so, Eva, wie froh wäre ich! aber du bist weicher und milder und es ist dreifaches Unrecht, daß sie dich eine Hexe nennen,wie mich und die Barbel. Wie manchem Kranken hast du mitleidig geholfen mit den Tränken und Salben, die ich bereitete, und nun gehen die Undankbaren, und sagen, wir hätten sie krank gemacht mit unserer Zauberei, um sie in die Gewalt des bösen Geistes bringen zu können! Eva, wir haben wohl in der Betrachtung der Natur und in unserm häuslichen Leben manche glückliche Stunde gehabt, und wenn ich mich umsehe in diesem Stübchen, und mein Auge haftet an all'diesen Dingen, mit denen ich mich so viel und so gerne beschäftigt habe, so wird es mir weh ums Herz beim Gedanken, sie bald verlassen zu müssen. Aber wenn ich zurückdenke an mein langes Leben,so oft verbittert durch die Lieblofigkeit der Menschen, so bedaure ich

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nicht, daß es bald enden soll und wär's auch durch Feuer und Schwert.“

Eva sah mit entsetztem Angesicht zu der Schwester auf. „Warum sterben auf so fürchterliche Weise?“ sagte sie, „laß uns fliehen, hinaus in den Wald, wo wir alle Winkel und Wege kennen, und dann in die weite Welt hinaus; lieber betteln als solchen schmerzlichen Tod erleiden!“

„Du bist siebenzig Jahre alt und ich zähle noch mehr! Wie weit würden wir kommen auf unserer Flucht?“ fragte Anna mit leisem Spotte; dann aber, als sie wieder in das von Angst verzerrte Gesicht geschaut hatte, sagte sie langsam in fast mitleidigem Tone: „Eba,ich will dir den Willen thun; fliehen, weit fort von hier, können wir nicht, aber verbergen können wir uns, bis der erste Sturm vorüber ist. Ich weiß ein schickliches Plätzchen in dem dichten Walde, der sich von der Aergeten hinabzieht bis zu den Feldern von Hemishofen;der klare Bach ist in der Nähe und Speise nehmen wir mit, was wir im Hause haben; sei getrost und hilf mir zwei Säcklein füllen mit dem Nöthigsten, was wir bedürfen.“ Eva dankte der Schwester mit einem freundlichem Blick für ihren Entschluß und Beide erhoben sich nun, um ihre Vorbereitungen zu machen, Anna besonnen und kalt,Eva in ängstlicher, unruhiger Hast. Endlich waren sie fertig und wandten sich zum Fortgehen; sie überschritten die Thürschwelle und schlossen ihr stilles, freundliches Stübchen; vorsichtig sich umschauend, DDD zu finden. Es war wirklich nur angelehnt und Anna wollte es eben noch weiter öffnen, da spürte sie Widerstand, und plotzlich erblickte sie das Gesicht eines Mannes, der das Pförtlein von außen gehalten und nun hereinschaute, wer wohl das sei, der so spät noch außer die Stadt wolle. Entsetzt wich er zurück, als er die beiden Schwestern sah, brach aber sogleich in hämisches Lachen aus. „Wohin?“ rief er spöttisch,„nur zurück in euer Nest, man wird euch bald zu einem besondern Tanze rufen.“ Der Mann schlug das Pförtlein ins Schloß und rannte davon, dem Bürgermeister die beabsichtigte Flucht der beiden Hexen zu melden.

„Es ist zu spät,“ sagte Anna mit fester Stimme zu der zitternden, verzagenden Schwester, und führte sie an der Hand in das verlassene Häusschen zurück, von wo sie bald abgeholt wurden, um ihre [40]Wohnung in den Gefängnissen auf einem der Stadtthürme zu nehmen.Dort, einzeln in ihre Zellen verschlossen, kampfte jede der drei unglücklichen Frauen fur sich allein den gewaltigen Kampf mit der Liebe zum Leben,und mit den emporten Gefühlen, die erlittenes Unrecht in jeder Menschenbrust weckt, und die um so stärker sind, je kräftiger das Gemüth ist,in welchem sie wach werden. Unterdessen war auf dem Naderfelde,an der Straße nach Hemishofen, ein gefürchteter Mann mit unheimeliger Arbeit beschäftigt. Dort, auf jenem Felde, erhob sich damals das Hochgericht, dort ging an jenem Tage der Scharfrichter ab und zu,säuberte die Richtstätte vom Unkraut und schichtete Holz auf, um es zur Hand zu haben, wenn die Herxen verbrannt werden sollten.

In der Nacht, die dem 4. Oktober voranging, lag Barbara, des Seilers Frau, schlaflos auf ihrem Lager. Sie gedachte ihrer armen Kinder, und der Schmerz und die Sorge um sie schnitt tief in ihre Seele; sie gedachte auch ihres traurigen Looses als Gattin und Hausfrau, und des Unrechtes, das man ihr angethan, und grimmiger Zorn erfüllte ihre Seele. Da tönte auf einmal durch die Stille der Nacht des Wächters Morgenruf; „No-e-Wil, no-e-Wile!“s) Barbara fuhr auf: „noeWil,“ rief sie, „nore-Wile“ und mein Leben ist dahin;was wird's aber nachher mit mir sein? Um 10 Uhr des Morgens soll mein Haupt fallen; wo werde ich dann sein, wenn um elf Uhr die Mittagsglocke läutet und die Leute der Stadt heimkehren in ihre Häuser und an ihre Tische?“ Die Augen, die lange nicht mehr geweint, füllten sich mit Thränen, und über das verbitterte Gemüth der unglücklichen Frau kam eine weiche, mildere Stimmung. Im Angefsichte des Todes fiel es ihr wie Schuppen vom Auge, sie erkannte die eigenen Fehler, und das Unrecht der andern schien ihr gemildert; sie faltete die mit Ketten belasteten Hände zum Gebet, und ob sie gleich nicht viele Worte machte, so redete sie doch in der Tiefe ihrer Seele mit Gott, und der Vater der Barmherzigkeit schenkte ihr in den letzten Stunden noch Ergebung und Friede.

Als die Glocke zehn schlug, öffnete der Schließer die Gefängnißthüren und die Henkersknechte traten herein, um die verabscheuten Hexen herauszuführen. Als Anna aus ihrer Zelle trat, suchte ihr

) In Stein am Rhein xuft der Wächter beim letzten Rufe des Morgens statt ber Stunde die Worle: „RtoeWil, noe-Wile, welches alte Herkommen einen historischen Grund hat

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erster Blick die arme, furchtsame Schwester; die folgte, gebeugt und stumm, wie ein Lamm seinem Schlächter, ihrem Führer, und nur ihre entstellten Züge, ihre fast erloschenen Augen zeigten, was sie gelitten.Hoch aufgerichteten Hauptes folgte ihr Anna, und die Seilerin schritt hinter beiden, bleich, still, aber nicht mehr mit verbissenem Zorn; sie hatte ihn nun überwunden. Vor dem Rathhause las man den Verurtheilten das Urtheil und warf die gebrochenen Stäbe vor ihre Füße;dann wurden sie zusammen in einen hölzernen Rahmen geschlossen,den an den vier Enden geharnischte Männer trugen. Eine dicht gedrängte Menge folgte nach, und mitten aus ihr erhob sich, hoch zu Roß, der Vogt des Reichs, der nach uralter Sitte im Namen kaiserlicher Majestät den Blutbann zu üben hatte.

Die Häupter der vermeintlichen Hexen fielen unter dem Schwert,und die Leichname verbrannte der Henker und streute die Asche in den vorbeifließenden Rhein; dann wandte er sich an den Reichsvogt mit der Frage: Herr Vogt des Reichs, habe ich recht gerichtet? und erhielt die gemessene Antwort: Du hast gerichtet, wie Urtheil und Recht ergangen ist. Die Neugierde des Volkes war befriedigt, die Menge verlief sfich; bedächtigen Schrittes kehrten die ehrbaren Bürger, unter ihnen auch manche Frau, wieder in die Stadt zurück. „Gottlob und Dank,“ sagte ein langer, spindeldürrer Mann und verdrehte andächtig die Augen gen Himmel, „nun sind wir doch der Hexen los.“ „Der alten wenigstens,“ sagte lachend ein stattlicher Gerber, „jetzt nimm dich vor den jungen in Acht, daß dir keine den Kopf verdrehe, bis dir die Augen im Rücken sitzen.“ Lachend setzten sie ihren Weg fort.Auf dem einsamen Pfade aber, der hinauf führt zu der Höhe des Wolkensteins, und an einzelnen Stellen die Gegend des Niederfeldes übersehen läßt, lagen zwei Kinder weinend und jammernd am Wege;der Knabe schmiegte sich an das Mädchen, und dieses schon fast zur Jungfrau erwachsen, drückte das Haupt in das lange Gras und machte dem unsäglichen Wehe seines Herzens durch schreckliche Klagelaute Luft. Ottilie war's und ihr Bruder, die hier den Rauch aufsteigen gesehen hatten von dem Feuer, das den Körver der geliebten Mutter berzehrte.Ueber Deutschlands Fluren brauste der Kriegssturm, fegte Städte und Dörfer, und knickte so manche Hoffnung, zertrümmerte so manches Glück. Bittere Noth herrschte an den schwäbischen Ufern des Boden[42]sees, wo Wallensteins Völker das Mark des Landes verzehrten und durch Uebermuth und Erpressungen die Bewohner fast zur Verzweiflung brachten. Im Schweizerlande war äußerlich wohl Friede, aber Katholiken und Reformirte standen sich schroff gegenüber und bewachten sich mit mißtrauischen Blicken, ob wohl keine Konfession den kämpfenden Glaubensgenossen in Deutschland Hülfe und Vorschub leiste. Es war eine traurige Zeit, überall Streit und Verwirrung, Jammer und Noth.Aber über all dem Gewirre waltete hehr und still, wie in den Zeiten des tiefsten Friedens, Gottes Geist in der Natur; ein lieblicher Spätsommer erquickte manches gedrückte Gemüth und versprach für den kommenden Winter reiche Gaben des Feldes und der Reben.

Es war ein warmer, sonnenheller Augustnachmittag gewesen.Die Sonne ging unter; wer auf dem Felde gearbeitet hatte, kehrte heim, und auf den Bänken vor den Hausthüren saßen die Bürger,die bereits Feierabend gemacht hatten, der Ruhe pflegend beisammen und warteten auf den Ruf der Hausfrauen zum Nachtessen. Da eilte noch ein kleiner Trupp verspäteter Feldarbeiter der Stadt zu, hastig drängten sich die Leute über die Brücke beim untern Thor: „Zieht die Brücke auf! “riefen sie dem verwunderten Thorhüter zu, „es kömmt Kriegsvolk,“ .und bald ging der Schreckensruf: „Die Schweden, die Schweden kommen!“ durch die Gassen. Rasselnd ging die Zugbrücke in die Höhe, der Zugang zur Stadt war jetzt gesperrt und hinter Wall und Graben fühlten sich die erschreckten Einwohner einigermaßen gesichert. Bald ertönte der Hufschlag daherstürmender Pferde, eine Staubwolke wirbelte empor und das letzte Abendglühen vergoldete die Spitzen blanker Waffen. Im gestreckten Galopp sausten zwei Ritter daher, am Rande des Grabens hielten sie still, mit Mühe die unruhigen Pferde bändigend, und begehrten mit lauter Stimme Einlaß. In einem der ansehnlichen Häuser am Thore hielten einige der geachtetsten Bürger scharfe Ausschau, und als sie außer den zwei Reitern kein weiteres Kriegsvolk sahen, erhielt der Thorhüter Befehl, die ungebetenen Gäste einzulassen. Die schauten sich nicht lange in der fremden Stadt um, sonst hätten ihnen die ängstlichen Gesichter der Frauen und die bösen Blicke der Männer gezeigt, daß fie wenig willkommen seien. Vor dem Hause des Bürgermeisters stiegen sie von den Pferden und stiegen dröhnend die steinerne Treppe hinauf, um ihre Meldung zu machen.[] 48 „Unser gnädigster Herr und Gebieter, der Feldmarschall Horn,entbietet Bürgermeister und Rath zu Stein seinen geneigtesten Gruß und bittet für sein Reitergeschwader um freien, ungehinderten Durchzug durch diese Stadt“ so lautete die Botschaft, die dem Bürgermeister das Blut aus dem Antlitz und in ängstlichen Wallungen zurück zu dem Herzen trieb. Wie die beutelustigen Krieger in unbesetzten,wehrlosen Orten hausten, wußte man hinlänglich aus der deutschen Nachbarschaft, und der Bürgermeister sah im Geiste schon die Schrecken der Plünderung und die Gräuel des Kriegs. Er suchte nach Ausflüchten und gab dem hohen Herrn durch seine Abgesandten zu bedenken, daß in so wichtiger Sache der Rath in Stein nicht für sich allein handeln könne, sondern zuerst die Befehle der Regierung in Zürich einholen müsse, an die er sogleich einen Boten abfertigen wolle.Mit mißvergnügten Gesichtern bestiegen die beiden Reiter ihre Pferde wieder und ritten davon. Die Bürger sammielten sich alle in den Straßen; wer Waffen hatte, nahm sie zur Hand, denn ohne Gegenwehr gedachten die Männer nicht, sich das Ihre nehmen zu lassen;der Bürgermeister eilte aufs Rathhaus, wohin er schnell die Rathsherren hatte entbieten lassen. Die hellen Lichter, die der vorschreitenden Dämmerung wegen waren angezündet worden, beschienen lauter ängstliche, verblüffle Gesichter; man setzte sich zur Berathung, aber schon hörle man draußen Säbelklirren und Sporengeräusch, und unangemeldet, in ächt soldatischer Weise, öffnele ein schwedischer Oberst die Thüre; er verneigte sich flüchtig vor der Versammlung. „Mein Name,werthe Herren,“ sprach er kurz, „ist Schaffelizkt, und ich komme im Auftrag Sr. Excellenz; der Feldmarschall Gustav Horn wird in kürzester Zeit an der Spitze von 8000 Mann die Stadt erreicht haben; heute noch muß das Reiterheer hier über den Rhein gehen, um den Oesterreichern in Konstanz einen unerwarteten Besuch zu machen. Darum haltet nicht auf und laßt uns ungehindert durchziehen; der Feldmarschall gibt euch sein Wort, daß Niemand ein Haar gekrümmt werden soll.“„Laßt uns zur Berathung schreiten, geehrtester Herr, entfernt Euch für kurze Zeit aus dem Gemache“, sagte der Bürgermeister; aber schon trat ein zweiter Offizier ein und sagte dem Obersten einige Worte in's Ohr. Da that dieser einen Schritt vorwärts, legte die Hand an seinen Säbel und sagte mit Nachdruck: „Der Feldmarschall ist vor den Thoren, gebt geneigten Bescheid und wir ziehen eilig und

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in vollster Ordnung durch eure Stadt; wollt ihr's aber anders nun wohl, unser Herr wird mit 3000 Reitern den Weg sich zu bahnen wissen, denn morgenden Tages will er vor Konstanz sein.“

Der Bürgermeister seufzte tief auf, er wechselte einige Worte mit den Nächstsitzenden, dann erhob er sich und sagte, zu Schaffelizk gewendet:„Herr, wir weichen der Nothwendigkeit; möge Niemand uns unlautere Absichten Schuld geben; ziehet in Gottes Namen Cueres Weges und mahnet den Feldmarschall an sein gegebenes Wort.“

Die Schweden gingen und die Rathsherren eilten zu den Bürgern hinab, um sie zur Ruhe und zum Heimgehen zu bewegen. Die Bürger begriffen den Ernst des Augenblicks und zogen sich in ihre Häuser zurück. Die breite Hauptgasse war bald leer, und so wurde denn,wie ein Bericht aus jener Zeit sich ausdrückt, „die Porte geöffnet und dem unaufheblichen Wasser der Gang gelassen.“ Es ergoß sich als breiter Strom durch die Stadt; Reihe an Reihe zog dahin, manch gieriger Blick haftete wohl an den stattlichen Häusern der ersten Schweizerstadt, die die Schweden betraten; aber was der Feldmarschall versprochen, das hielt er genau. In strengster Ordnung hielt das Heer seinen Durchzug, und wenige Stunden nachher war es in der Stadt wieder so still, wie in jeder andern Nacht. Nur in der Erkerstube des Amthauses brannte noch Licht, als der Rathsbote über die Brücke ritt, der den Vorfall in Zürich anzeigen sollte; der Amtmann und der Pfarrherr saßen dort noch beisammen.

„Ja Herr, es ist besser abgelaufen, als ich's in meinen trüben Ahnungen noch fürchtete,“ sprach der Letztere, indem er aufstand und einige große Bücher vom Tische aufnahm. Es waren die Pfarrbücher,die er im ersten Schrecken ins Amthaus hinüber getragen hatte,um sie in einem der vielen Winkel des großen Hauses zu verstecken.

„Ja wohl,“ sprach der Amtmann, „heute sind wir mit dem Schrecken davon gekommen; aber glaubet mir, wir werden noch Unruhe genug davon haben, und ich denke, für meinen dießjährigen Wein werde ich kein großes Lagerfaß brauchen.“

„Mag sein,“ sprach der Pfarrer, „in Nothzeiten, wie die gegenwärtigen, bekömmt Jeder sein Kreuz zu tragen; wir dürfen auch nicht hoffen, ganz verschont zu bleiben.“[] 45 „Ihr habt recht,“ gab der Amtmann zur Antwort, „kommt oft herüber und sprechet mir zu, wenn mich im Laufe der Zeit die Ungeduld anwandeln sollte.“ Er reichte seinem Nachbar die Hand und der Pfarrer trat den Heimweg an.

„Wie geht es dir, Kind?“ fragte er freundlich die junge Magd,die ihm über den Hof leuchtete; sie blickte zur Erde und antwortete nicht. „Siehst du die funkelnden Sterne?“ sprach der Pfarrer., Hebet euere Häupter auf, heißt es in der Schrift, und sehet: wer hat solche Dinge geschaffen und führet ihr Heer bei der Zahl heraus? Der sie alle mit Namen nennt, sein Vermögen und starke Kraft ist so groß,daß nicht an einem fehlen kann. Warum sprichst du denn, mein Weg ist dem Herrn verborgen und mein Recht gehet vor meinem Gott über?“ Die Magd erhob ihre scheuen Blicke, senkte sie aber sogleich wieder und gab keine Antwort. „Gute Nacht und denke an meine Worte,“ sprach der Pfarrer und ging. Das Mödchen schloß hinter ihm das Hofthor, dann blieb es stehen und hob die ernsten dunkeln Augen zu den Sternen auf, die in stillem Glanze funkelten Ja,mein Recht gehet doch vor Gott über,“ preßte es mühsam heraus.„Mutter, Mutter, dir ist Unrecht geschehen vor Gott und Menschen.Du hattest deine Kinder so lieb und Gott ließ so furchtbar dich sterben;darum kann ich Gott nicht lieben, kann nicht glauben an ihn, und kann's doch nicht ertragen, verlassen, ohne Gott in der Welt zu sein.Das ist der Schmerz meines Lebens, darum nennen die Leute mich schwermüthig und weichen mir aus.“ Ein Thränenstrom entstürzte den Augen der Jungfrau. Um sie her war Alles so friedlich; draußen an der hohen Mauer hin floß mit leisem Geräusche der Rhein, und drinnen im Hofe plätscherte der Brunnen; aber das Geflüster der Wasser konnte den Schmerz des armen Kindes nicht einschläfern. Ein stilles und ruhiges Gemüth vernimmt wohl die leise Sprache der Natur,aber über die empörten Wogen des Schmerzes und Kummers muß die Stimme Gottes geh'n, wenn ihr Toben sich legen soll. Das Mädchen, Ottilie war's, ging hinauf in seine Kammer und verbarg das müde Haupt in den Kissen seines Lagers. Die Kammer lag am Ende eines langen Ganges, der durch seinen Namen „Pfaffengang“noch heute an die ersten Bewohner des Gebäudes erinnert. Hier soll es nicht geheuer sein; dicht neben Ottiliens Kämmerchen am Ende des Ganges befand sich eine kaminartige Oeffnung, die in untere [] 48 Räume herab führte. Dies sei das heimliche Gericht des Klosters gewesen, berichtet die Sage; in diese Oeffnung hinab habe man die

armen Verurtheilten geworfen, denen kein Richter habe Recht sprechen

und deren Klagen kein ungeweihtes Ohr habe vernehmen dürfen; in

dunkeln Nächten entsteigen ihre Geister der geheimnißvollen Tiefe, und

Niemand könne die Oeffnung verschließen, weil eine unsichtbare Gewalt allezeit wieder die Arbeit zerstöre. Ottilie kannte die Sage auch;sie ging allabendlich an diesem heimlichen Gerichte vorüber, ohne etwas Besonderes zu sehen und zu hören; sie war zu sehr mit ihren schweren Gedanken beschäftigt, als daß sie sich vor etwas außer ihr gefürchtet hätte; aber heute durchrieselte sie doch kaltes Entsetzen, als sie dicht neben sich in der Stille der Mitternacht ein seltsames Geräusch hörte. Was war's, das sich regte und bald an der Mauer,bald am Fenster wisperte? Ottilie erhob das Haupt und blickte scheu empor. Der Mond war eben zwischen Wolken hervor gekommen und streifte mit unsicherm Lichte das Fensterchen der kleinen Kammer; von diesem Fenster her kam das Geräusch. Oitilie blickte hin und erstarrte, denn eben wurden die Umrisse eines Kopfes davor sichtbar,und eine Stimme rief dumpf und hohl: „Ottilie!“ Ist's der Mutter Geist? dachte das Mädchen, könnte er mich armes Kind mitnehmen in's stille Grab? Tausendmal hatte sie's schon gewünscht, aber jetzi regte sich doch die natürliche Liebe zum Leben. Indessen klopfte die Gestalt draußen an's Fensterlein und rief wiederholt ihren Namen:„Mache mir auf, Ottilie, ich bin Ulrich, dein Bruder.“ Das erschrockene Mädchen wagte kaum das Fenster zu öffnen, durch das von der hohen Leiter, die er angelegt hatte, bald ein junger, rüstiger Bursche ins Gemach stieg. Ottilie schlug Licht, und beim Schein der Oellampe standen sich nun die Geschwister gegenüber, die sich seit dem unglücklichen Jahre, in dem sie die Mutter verloren, nicht mehr gesehen hatten.Kaum erkannten sie sich wieder Ueber Alrichs wettergebräunte Züge ging ein wilder, trotziger Ausdruck, als er die bleiche, schlanke Schwester vor sich stehen sah und in ihren Augen die Bestätigung der Kunde zu sehen glaubte, daß sie schwermüthig sei; und Ottiilie konnte kaum in dem jungen Landsknechte, der im Soldatenrock vor ihr stand, den Bruder wieder erkennen, den die Noth ihres Hauses schon als Knabe in die Fremde getrieben. Sie erschrak fast über sein verwittertes Aussehen und fragte besorgt, woher er denn eigentlich komme.

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„Mit den Schweden bin ich gekommen,“ gab er zur Antwort,„ich diene dem Fußvolk, habe mich aber dießmal bei der Reiterei einzuschwärzen gewußt, als ich hörte, daß der Marsch nach Stein gehe.“„Wo warst du denn bis zu dieser späten Stunde?“ fragte Ottilie.„Drunten im Niederfeld habe ich einen Hasen gefangen und will heut Nacht ein Feuerlein anzüunden, um ihn zu braten.“

„Was willst du thun?“ fragte das Mädchen erschreckt.

„Nun,“ gab Ulrich zur Antwort, „du wirst doch nicht glauben,daß ich umsonst hieher gekommen sei; wie siedendes Pech kochte es mir in den Adern, als ich der Stadt ansichtig wurde. Denkst du nicht mehr an das Feuer, in dem sie die Mutter zu Asche verbrannt haben?Hei, heut Nacht soll ihnen noch dafür warm werden, nur dich wollte ich vorher aus dem Neste heraus holen, dann mögen sie meinentwegen Alle zu Kohlen verbrennen.“

Einen Augenblick lang, aber auch nicht länger, blitzte es wie Freude aus Ottiliens dunkeln Augen; die Rache, schlummernd in jeglicher Brust, war wach geworden und schaute heraus; aber der Schutzengel der Jungfrau bekämpfte die finstere Macht; Ottilie streckte abwehrend die Hände gegen den Bruder aus.

„O, Ulrich, thu's nicht,“ bat sie, „wenn sie dich fangen und hinrichten, so stirbst du nicht unschuldig, wie die Mutter starb, und wenn dich auch Niemand dafür strafen könnte, so wärest du doch ein Mordbrenner und hättest keine Ruhe mehr auf der Welt.“

„Pah, im Kriege lernt man das anders,“ erwiderte Ulxich; „Jeder thut, wozu er die Macht hat, und hier“ er zog mit unheimlichem Lachen ein Büchsschen aus seinem Wamse „hier innen hab' ich das Mittel, den Leuten zu vergelten, was sie der Mutter Uebels gethan;das Sengen und Brennen kann man heut zu Tage bei Schweden und Kaiserlichen gar trefflich erlernen.“ Er zog Schwefelfaden aus dem Büchschen hervor, hielt ihn der Schwester hin und sagte: „Komm,meine Leiter hilft uns über die Hofmauer, außerhalb derselben steht ein Schifflein bereit, und habe ich dich erst ans andere Ufer gebracht,D wird.“„Und der Vater?“ fragte Ottilie, „wilsst du den umkommen lassen? Er lebt im Spital.“[] 489 „Wir haben keinen,“ gab Ulrich zur Antwort. „Und Gott, der dich strafen kann?“ warf das Mädchen wieder ein.

„Der hat sich um uns nicht bekümmert, so will ich mich um ihn auch nicht bekümmern,“ versetzte der trotzige Jüngling.

„Verzeihe dir Gott deine Rede,“ sagte die Schwester schaudernd;„o, wenn du wüßtest, was ich leide, weil ich kein Vertrauen zu Gott haben kann, und doch keine Ruhe finde ohne dasselbe! Ulrich,Ulrich, ein Leben ohne Gott ist schrecklich!“

„Mag sein, aber jetzt komm, die Zeit ist mir kostbar,“ sagte der Bruder und faßte Ottiliens Hand, sie gegen das Fenster ziehend;aber die Jungfrau wich zurück.

„Nein,“ sagte sie, „ich bleibe hier; lieber sterben als leben als Schwester eines Mordbrenners. Der Muiter ist Unrecht geschehen und mir haben Viele weh gethan, wenn sie mich das Kind der Hexe genannt und mich verachtet haben; aber Viele sind auch, die es wohl mit mir gemeint und mir freundlich begegnet sind; ich will mit ihnen umkommen, wenn du dein böses Werk thun willst.“

Vergebens bemühte sich Ulrich, die Schwester zur Flucht zu bewegen; er drohte und bat, aber das Mädchen blieb fest; da wandte er sich endlich zum Fenster und mit den Worten: „So habe ich denn gar Niemand mehr auf der Welt, auch du stößest mich zurück,“ schwang er sich hinaus und das Dunkel der Mitternacht entzog ihn Ottiliens Augen.Noch stand die Jungfrau am offenen Fenster, in ängstlicher Spannung auf die hastigen Tritte des Hinwegeilenden lauschend, bis ssie keine mehr hörte; dann aber ergriff sie heftiges Zittern und unvderkennbare Angst: „Was wird er nun thun, wird er sein böses Vorhaben wirklich ausführen, wird die Flamme bald empor schlagen?soll ich die Leute wecken und warnen, und den Bruder vielleicht aufs Blutgerüst bringen?“

Von Minute zu Minute stieg ihre Angst; ein schwacher, röthlicher Streif wurde am Himmel sichtbar; ist es der Widerschein des ausbrechenden Feuers? „Gott im Himmel verhüte die That!“ rief sie und sank nieder auf ihre Knie, in der Qual ihres Herzens die Hülfe Dessen anrufend, der sich an Keinem unbezeugt läßt und ein Herr ist Himmels und der Erden, groß von Rath und stark von That.[] 4«49 Der Morgen graute, die schreckliche Nacht war vorüber; ahnungslos hatien die Bewohner der Stadt sie verschlafen. Von einer Zentnerlast fühlte sich Ottilie befreit, und zum ersten Mal seit dem Tode der Mutter hob das frohe und selige Gefühl des göttlichen Schutzes ihre Brust. Sie verließ ihre Kammer, schlich leise über den Hof und durchwandelte die stillen Gassen der Stadt; keine Spur war von ihrem Bruder zu finden. Eben ging die Sonne auf und beschien goldig Häuser und Straßen; Ottilie ging wieder unter dem Bogen durch zurück ins Amthaus, da blitzte und funkelte etwas zu ihren Füßen, sie bückte sich und hob einen glänzenden Ring auf. Es war ein breiter, massiver Goldreif, auf dessen innerer Seite Worte in fremder Sprache eingegraben waren; den Ring mußte einer der durchziehenden Schweden gestern verloren haben. Ottilie steckte ihn an ihren Finger; das war nun der einzige Schmuck, den sie besaß; sie hätte kein Mädchen sein müssen, wenn er ihr nicht gefallen hätte.

Wenige Wochen nachher neigte sich ein trüber, neblichter Herbsttag seinem Ende zu; es war einer jener wehmüthigen Abende im Spätjahr, da die stumme Natur ihre Klage anzuheben scheint über das unerbittliche Gesetz der Veränderlichkeit, unter dem die Kreatur seufzt, bis ihr einst die Zeit der Befreiung kömmt. Dick und schwer lag der Nebel auf dem Rhein und hüllte die Mauern und Firste der Stadt in seinen gespenstigen Mantel; einzelne Lichter, die nach und nach angezündet wurden, blickten matt und trübe durch das verhüllende Grau, und raschelnd fielen die verwelkten Blätter der Bäume unter dem Hauche eines frostigen. Windes. Auf den Wällen von Stein machte gemessenen Schrittes die Wache ihre abendliche Runde (denn seit dem Durchzug der Schweden lag zürcherische Besatzung im Orte)und auf dem Schloß Hohenklingen wurde eben das Wachtfeuer für die Nacht angezündet und verbreitete einen seltsamen Schimmer über das Nebelmeer, das den Schloßberg umwogte. Da ertönte das Horn des Wächters am Rheinthor; der einzige, lang gezogene Ton verkündigte ein ankommendes Fuhrwerk, und der Hauptmann der Zürcher,der im Amthaus Quartier genommen hatte, trat rasch an das Erkerfenster des Saales, um einen Blick nach der Brücke zu thun. Durch den dichten Nebel gewahrte er nichts als undeutlichen Lichtschimmer;aber bald trat ein Wachtmeister mit der Meldung ein: „Herr Hauptmann, es istwieder ein Transport aus dem schwedischen Lager angekommen.“

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„Verwundete also?“ fragte der Hauptmann.

„Sie schicken uns noch sogar ihre Todten her,“ erwiderle der Wachtmeister und berichtete weiter: „Auf dem angekommenen Wagen liegt ein schwer verwundeter Offizier und ein Gemeiner, der im Lager erkrankt ist; außerdem steht aber noch ein Sarg darauf; der eine der beiden Reiter, die den Transport eskortirten, wünscht Euch selber zu sprechen.“

„Wohl,“ sprach der Hauptmann, „führe du den Wagen in den Hof und bringe mir den Reiter.“ Bald hörte man den Tritt der Pferde, die langsam, als wüßten sie, welch traurige Last sie hätten den Wagen in den Hofraum zogen, und einen Augenblick später trat mit militarischem Gruß und sicherm Anstand ein junger schwedischer Reitersmann vor den schweizerischen Offizier und überreichte ihm ein versiegeltes Schreiben. Der Hauptmann las es bedächtig durch, faltete es zusammen und sagte zu dem Schweden, der ihn unterdeß aufmerksam betrachtet hatte: „Die beiden Kranken nehmen wir auf, wie alle andern, die Se. Exellenz uns zugeschickt hat; sie sollen eine sichere Zufluchtsstätte und sorgsame Pflege finden. Daß der Feldmarschall uns auch seine gefallenen Helden übergibt, rechnen wir uns zur besondern Ehre an; die Leiche des Herrn Obersten, der wie der Bries hier meldet auf den Wällen vor Konstanz den tödtlichen Schuf erhielt, soll mit allen ihr gebührenden Ehren der Erde übergeben werden Jetzt kommt mit mir, ich will selbst die nöthigen Anordnungen treffen.“Er wollte der Thüre zuschreiten, da trat der Schwede einen Schritt vor: „Herr,“ sagte er, „Ihr erfüllet bereitwillig die Wünsche meines Gebieters, werdet Ihr auch einem einfachen Reiter eine Bitte gewähren?“

„Sagt an.“ „Der Fähnrich, der drunten verwundet auf dem Wagen liegt, ist mein vertrautester Freund,“ sagte der Schwede, und über sein Geficht ging der Ausdruck tiefen Schmerzes; „seit dem heißen Tage bei Lützen, wo wir uns kennen lernten, haben wir fest zusammen gehalten und alle Beschwerden des Krieges mit einander getheilt. O, daß ich auch den Tod mit ihm theilen könnte!“ rief der junge Mann, sich selbst unterbrechend, aus.

„Mein Freund,“ fuhr er dann fort, „ist tödtlich verwundet:gönnet ihm Ruhe hier in diesem Hause und erlaubet mir in seiner Nähe zu bleiben und ihn zu verpflegen.“ Der Haupimann bedachte sich einen Augenblick. „Es sei, wie ihr wünschet,“ sagte er dann

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„im anstoßenden Zimmer, bisher von mir selbst noch bewohnt, möget ihr Beide Platz finden; heißt das Gemach doch die Freiheitsstube,und ist von alter, klösterlicher Zeit her eine unverletzliche Freistätte; so möge denn für jetzt die Freundestreue ihren Sitz darin aufschlagen, fie ist auch oft eine Vertriebene unter den Menschen.“ Der Schwede verneigte sich tief vor dem edlen Manne und dankte mit wenigen,kraftigen Worten. Um den Wagen im Hofe hatten sich die Bewohner des Hauses und mehrere Soldaten gesammelt; ein großes Windlicht warf seinen Schein über den schwarz gedeckten Sarg, auf dem die Waffen des Gefallenen lagen. Der Hauptmann und der Schwede traten herzu. „Laßt uns zuerst für die Lebendigen sorgen,“ sagte der Erstere und gab zweien seiner Leute den Befehl, den kranken Soldaten in dem nahe gelegenen Zunfthause bei der Rheinbrücke unterzubringen.

„Jetzt wollen wir Euern Freund bequemer betten,“ sagte er zu dem Schweden, der schon auf das Rad gestiegen war und dem Verwundeten Worte der Liebe und des Trostes zuflüsterte. Sorgsam hob er, mit Hülfe der Umstehenden, den fast Bewußtlosen aus dem Stroh und den Betistücken heraus und trug in auf seinen starken Armen in das mittelalterliche schöͤne Gemach hinauf, das ihm die Güte des Hauptmanns eingeräumt. Nicht ohne Bewegung sahen die Umstehenden den beiden Freunden nach, von denen der Eine, hülflos wie ein Kind,in den Armen des Andern lag, der seine Kraft nur zu besitzen schien,um damit dem Freunde zu dienen.

„Herr Amtmann, ich konute nicht anders,“ sagte der Hauptmann zu seinem Quartiergeber: „haltet mich ein wenig knapper, daß Ihr des Schadens einkömmt und verzeiht mir den Zuwachs, den ich Euerem Haushalte verschafft habe.“

„Ich hätte an Euerer Statt auch nicht anders gehandelt,“ erwiderte Herr Usteri, „darum seid unbekümmert; ich denke, Küche und Keller im Amthaus werden wohl noch für ein paar weitere Gäste ausreichen.“

Am späteren Abend war reges Leben in der großen Konvenistube;das ehemalige Refektorium der Mönche war in den Tagen der Besatzung in eine Trinkstube der Soldaten umgewandelt worden; Soldaten und Unteroffiziere saßen an langen Tischen beisammen, tranken ihren Wein, und während die Einen das Glück im Würfelspiele versuchten, unterhielten sich die Andern im ruhigen Gespräch über den [52]Krieg, oder wohl auch über Gewerb und Feld, über Weib und Kind daheim im Zürchergebiete.

Der junge Schwede trat auch in die Schenlstube, setzte sich ziemlich unbeachtet in eine Ecke und betrachtete aufmerlsam die Anwesenden.Es waren die ersten schweizerischen Soldaten, die er sah; er vberglich die bunten und oft wilden Scenen im schwedischen Lager mit dem Bilde, das er vor sich hatte, und fühlte, daß er sich hier unter ruhigen Bürgern befinde, trotz ihres soldatischen Gewandes; die altbewährte Tapferkeit der Schweizer erschien ihm um so höher und größer, da er sie mit ernstem und ruhigem Sinne gepaart sah. Nur ein rothhaariger,gemein aussehender Bursche am untersten Ende eines Tisches gefiel ihm nicht; er würfelte ungestüm, und als er bereits den Sold des morgenden Tages verspielt hatte, warf er die Würfel hin und fing nun an,die übrigen Spieler mit derben und boshaften Spässen zu necken. Der Schwede, der seinen Platz in der Nähe hatte, wollte eben aufstehen,um sich eine bessere Gesellschaft zu suchen, als eine junge Magd herein trat und ihm einen Krug Wein brachte. Ein weißes Tuch, unter dem Kinne geknüpft, verhüllte fast ihr ganzes Gesicht, und als sie den Wein hingestellt hatte, wollte sie sich rasch wieder entfernen. Da wurde der unglückliche Würfler ihrer ansichtig. „Ha, hieoh!“ rief er aufspringend, „da kommt das Hexenkind, das soll mir die Zeit nun vertreiben!“ und des erschrockenen Mädchens Hand fassend, wollte er sie mit roher Gewalt an seine Seite ziehen. Ottilie sträubte sich und suchte sich frei zu machen, aber der Bursche hielt fest und griff frech nach ihrem verhüllenden Kopftuche, um es weg zu ziehen: „Laß sehen,“sagte er, widerlich lachend, „wie bei euch die Hexen aussehen, wenn sie noch jung sind.“ Das Mädchen stieß einen durchdringenden Sqhrei aus und im nämlichen Augenblick faßte die kräftige Faust des Schweden den Arm des rohen Menschen: „Laß sie los!“ rief er mit befehlender Stimme, und setzte entrüstet hinzu: „Ist's bei den Schweizern Siüite,ihren Muth im Kampfe mit wehrlosen Frauen zu zeigen?“

„Was will der Fremde? was geht es ihn an, was bei uns Sitte ist, will er uns beschimpfen?“ riefen die Nächstsitzenden durch einander.Die Aufregung, welche die unbedachten Worte des jungen Mannes hervorgebracht, theilte sich auch den Entfernteren mit; es entstand ein Tumult, bei dem die Wenizsten wußten, um was es sich handle.Der Schwede hatte das zitternde Mädchen aus der Gewalt seines [53]Drängers befreit, und wie ein verscheuchtes Reh hatte dasselbe das Zimmer verlassen; jetzt sah er sich genöthigt, einen ungleichen Kampf mit den aufgeregten Schweizern aufzunehmen. Da erschien plötzlich der Hauptmann in der Thüre, und sein gebieterisches „Halt“ that alsbald Wirkung; er vernahm die Ursache des Streites, und nachdem er dem Zürcher sein rohes Benehmen verwiesen, wandte er sich an den Schweden: „Ihr habt gehandelt wie ein ehrlicher Kriegsmann,“sagte er, „aber nehmt Euch in Acht und stört mir als Gast nicht den Frieden des Hauses; der Schweizer ist eifersüchtig auf seine militärische Ehre, und nach einem einzelnen ungerathenen Burschen dürft ihr nicht die Sitten Aller beurtheilen.“

„Herr, verzeiht,“ sagle der Schwede, „verzeiht, daß ich zu weit ging; aber wo ich rohe Gewalt ein Unrecht begehen sehe, da treibt es mir das Blut in den Kopf.“

„Diese Eigenschaft wäre manchem Kriegsobersten in gegenwärtiger Zeit zu wünschen,“ sagte der Hauptmann lächelnd und zog sich zurück.

Der Schwede, seinen Krug unberührt stehen lassend, verließ ebenfalls die Stube; der Vorfall hatte ihn verstimmt; er ging hinauf in das Zimmer, wo sein verwundeter Freund lag. In einer Wandnische stand das Bett desselben; stille war's um dasselbe her, man hörte nicht den leisesten Athemzug. Der junge Krieger neigte sich über den Kranken und fragte mit weicher, zärtlicher Stimme: „Allan,wie geht es dir?“ aber er erhielt keine Antwort, denn der Kranke lag in jenem Halbschlafe, der eine Folge großer Enikräftung ist;nur der leise Hauch, der seinen Lippen entschwebte, verrieth, daß er noch lebte. Der Schwede setzte sich an sein Bett und betrachtete mit sichtlichem Schmerze die bleichen, entstellten Züge des Freundes, der in den reinen, erst vor einer kurzen Stunde frisch angelegten Verbänden einem schon Gestorbenen glich, dessen Haupt mit den Grabtüchern umwunden war. Es war so still in dem dunkel getäfelten,nur von einem schwachen Licht erhellten Gemache, die Freunde so allein,fern von der Heimat. Ueber den Schweden kam es wie tiefe Wehmuth, wie Schmerz des Heimwehs; da regte sich der Kranke:

„Erich,“ sagte er leise, „bist du bei mir?“

„Ja, Allan,“ erwiderte dieser, „wie geht es dir, fühlst du dich besser?“

„Ich träumte von der Heimat, war im Elternhause auf unsern Bergen; im Traum habe ich sie noch einmal geschaut. O, Schott[] 54 land, Schottland, meine leiblichen Augen werden deine grünen Fluren.deine wilden Höhen nicht wieder sehn!“

„Freund, sagte der Schwede, „wir haben, als wir unter die Waffen traten, unser Leben einer heiligen Sache geweiht; wir find Beide nicht in den Krieg gezogen, um Ehre und Beute zu suchen,sondern um den bedrängten Glaubensgenossen zu helfen und unser Leben daran zu setzen, der Sache unseres Glaubens und der protestantischen Kirche den Sieg zu verleihen; fallen wir nun wohl, das hohe Gut ist eines theuren Preises werth.“

„O, Erich,“ sagte der junge Schotte, „ich danke dir, daß du mich jetzt, in dieser Stunde, daran erinnerst. Sehnsucht nach der Heimat erfüllte mein Gemüth und es ergriff mich die Reue, aus derselben fortgezogen zu sein zum Kampfe: mein junges Leben wollte mich dauern, ich gab's nicht gerne hin; aber du hast mir mit wenigen Worten wieder auf den rechten Standpunkt geholfen. Ja, für den evangelischen Glauben sterbe ich willig; wird doch Niemand gekrönt,er kämpfe denn recht, und die Leiden dieser Zeit sind nicht werth der ewigen Herrlichkeit.“

Erschöpft schwieg der Verwundete und sah nur mit seinen schönen,ernst blickenden Augen zu dem Freunde auf, wie wenn er ihn um weitern Zuspruch bitten wollte. Der Schwede zog ein in Leder gebundenes Buchlein aus seinem Koller, und mit gedämpfter Stimme begann er dem Freunde einige jener herrlichen Gesänge des Psfalters zu lesen, worin ein angefochtenes Gemüth seine Klagen und Fragen ausströmt, um nachher mit um so tieferen Zügen aus der Quelle des Trostes zu trinken.

Die Worte fielen wie ein erquickender Thau in die Seele des Kranken, aber noch ein anderes Gemüth nahm sie in sich auf als Saatkörnlein, die in gutem Erdreich aufgehen und Frucht bringen.

Als der Schwede vorhin hinauf gekommen war, hatte sich Ottilie,die weinend im Gange stand, in das kleine Zimmer geflüchtet, das rechts an die Stube der beiden Freunde stieß. Dort saß sie, anfangs bitterlich weinend über die ihr widerfahrene Schmach; dann, als sie die in der Schenkstube so stolz und gebieterisch klingende Stimme des Schweden vernahm, wie dieselbe jetzt weich und mild zu dem Freunde sprach, horchte sie auf, und was die Beiden mit einander sprachen,erschloß ihr eine ihr bis jetzt unbekannte Welt des innern Lebens.

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Zum ersten Mal dämmerte es vor ihrer Seele auf, daß der christliche Glaube nicht bloß ein Kleinod sei, womit wir uns dann und wann schmücken sollen, um es nachher im Schrein zu verschließen, sondern eine lebendige und seligmachende Kraft, die das Herz neu gestaltet,die Verhältnisse des Lebens heiligend durchdringt und über Schmerz und Leid die Seele empor hebt zur ewigen Wahrheit. Ruhiger wurde ihr aufgeregtes Gemüth, es war ein Lichtstrahl in dasselbe gefallen,der eine lange Dunkelheit zu erhellen begann.

Am folgenden Morgen, schon sehr früh, trat Erich wieder in die Konventstube, um sein Frühstück einzunehmen, ehe einer der zürcherischen Soldaten zugegen wäre; er hatte fich vorgenommen, ihnen heute aus dem Wege zu gehen. Ein alter Hausknecht war mit Aufräumen beschäftigit, als der Schwede eintrat, und ging dann dem frühen Gaste das Morgenessen zu holen. Während Erich aß, fuhr der Alie in seiner Arbeit fort, säuberte Tische und Bänke und stellte die am Abend gebrauchten Gläser und Kannen auf den Kredenztisch, der achteckig die Säule umgab, die im Mittelpunkt des Zimmers der gewölbten Decke als Stütze diente; dazwischen warf er manchen verstohlenen Blick auf den Schweden, der ernst und schweigsam beim Essen saß. Der alte Mann war gesprächiger Natur und liebte solch stummes Beisammensein nicht.„Heut wird euer Oberst mit großen Ehren begraben werden,“sagte er endlich, das Gespräch eröffnend; „die ganze Besatzung soll ausrücken, wie ich gehört habe, und der wohlweise Rath wird sich in corpore einfinden; ist viel Ehre für einen Fremden; aber freilich ein Oberst! War er schon alt?“

„Nein,“ erwiderte der Schwede, „nicht viel älter als der Haupt-mann hier, und ein tapferer Mann, Alter, der wohl ein ehrenvolles Begräbniß verdient.“

„Glaub's, glaub's, aber à propos, wißt ihr auch, wer das Mädchen ist, dem ihr gestern beigestanden ?“ fragte der Hausknecht,geraden Wegs auf sein Ziel lossteuernd.

„Nein,“ war des Schweden kurze Antwort.

„Helf uns Gott, ihre Mutter ist vor Jahr und Tag als Hexe verbraunt worden und dem Kinde scheint es der Böse auch angethan zu haben; sie ist immer trübsinnig, noch Niemand hat sie lachen sehen öder ein Späßchen von ihr gehört. Nehmt Euch in Acht; ist Euch die [36]Hand nicht geschwollen, mit der Ihr sie gestern von dem ungeschlachten Burschen los machtet?“Lächelnd streckte der Schwede dem Alten die rechte Hand hin;„seht selbst,“ sagte er, „meiner Hand hat es nichts geschadet und das Mädchen hat auch nicht ausgesehn, als ob es so gefährlich wäre, ihm einen Dienst zu erweisen.“„Und doch hätt's nicht Jeder gethan,“ sagte der Alte kopfschüttelnd;„das Mädchen ist zwar fleißig und brav, Niemand kann ihr was nachreden aber der Apfel fällt nicht weit vom Stamme, und die Mutter war eine Herxe und ein bös und rachsüchtig Weib schon lange vorher.“Brummend ging der Alte hinaus.„Ottilie!“ rief bald darauf eine Stimme in der anstoßenden Küche,„hast du den Dienstleuten den Tisch schon gedeckt? die Morgensuppe ist fertig.“ Einen Augenblick nachher trat das Mädchen ins Zimmer,das der Schwede gestern Abend im Tumulte kaum recht gesehen haite.Sie erschrack, als sie seiner ansichtig wurde, aber bald gefaßt, trat sie näher zum Tische, stellte die große Schüssel, die sie trug, hin und sagte, zu dem jungen Manne aufblickend: „Ich bin euch großen Dank schuldig; ihr habt euch einer armen Magd angenommen, um die sich sonst Niemand kümmert; Gott lohne euch dafür.“ Erich bot dem Mädchen die Hand, er fürchtete nicht, daß sie ihm aufschwellen werde;das Kind der Here, das hier vor ihm stand, anspruchslos und demüthig,aber mit dem Ausdruck ruhiger Festigkeit in den feinen Zügen, gefiel ihm so wohl, daß er nicht begreifen konnte, wie Jemand Böses von ihr denken möge. „Mich freut, daß ich euch helfen konnte,“ sagte er freundlich, aber im nämlichen Augenblick fiel sein Blick auf den Ring, den das Mädchen an der Hand trug, die er mit der seinen gefaßt hatte. Fast erschrocken ließ er die Hand los und starrte betroffen den goldenen Reif an, der ihm so wohl bekannt war. Wie kam der Ring. den ihm die eigene Mutter beim Abschiede gegeben, der ein Erbstück seiner Familie war und von dem die Sage ging, daß ihn die Ahnfrau aus einem Kruzifixe habe machen und durch einen heiligen Einfiedler mit Wasser aus dem Jordanflusse besprengen lassen, dieser Ring, den er beständig am Finger getragen und erst vermißt hatte,als er im Lager vor Konstanz die Zelte aufschlagen half, wie kam der an dieses Mädchens Hand?[] 57 Die eintretenden Dienstleute hinderten den jungen Mann an weitern Fragen, und da auch bereits mehrere Soldaten sich im Hofe zeigten, so verließ er das Zimmer mit dem Vorsatz, sich bei erster Gelegenheit Aufschluß zu verschaffen.

Die Leiche des schwedischen Obrists wurde Nachmittags feierlich mit allen kriegerischen Ehren der Erde übergeben; aus dem Lager waren Freunde und Waffengefährten des Verstorbenen gekommen, ihm das letzte Geleite zu geben, wie denn überhaupt in den Tagen der Belagerung von Konstanz, nach einem Berichte aus jener Zeit, in Stein „ein beständiges Von- und Zureiten von Fürsten, Grafen, Obristen,Offizieren und Soldaten war, das nicht zu beschreiben ist.“

Erich war auch wieder heimgekehrt von dem Begräbnisse; er saß am Bette seines Freundes und erzählte ihm, wie seit gestern Abend unter den Schweden das Gerücht gehe, daß die Belagerung aufgehoben werde, weil ein kaiserliches Heer unter General Altringers Befehl zum Entsatze heranrücke. „Ich werde nicht mehr mitziehen, wenn die Schweden diese Gegend verlassen,“ sagte der Schotte, und Erich wagte nicht zu widersprechen und die Lebenshoffnung in einem dem Tode Verfallenen neu anzufachen; „ich bleibe bei dir,“ sagte er bleß, „und müßte ich mir diese Gunst von dem Feldmarschall selber erbitten.“Der treue Freund pflegte mit fast mütterlicher Sorgfalt seinen Kampfgeführten, mit dem ihn nicht nur jugendliche Freundschaft, sondern vielmehr Gemeinschaft des Glaubens und der innersten Herzensüberzeugung verband.

Tag um Tag verstrich und Allans Lebenskraft schwand immer mehr; so brach endlich der sechsste November an. Erich stand schon früh wieder neben dem Freunde und wartete auf dessen Erwachen.„Weißt du, welchen Tag wir heute haben?“ fragte er, als Allan endlich die Augen öffnete. „Wohl weiß ich es“ sagte dieser, und seine sonst so matten Blicke leuchteten freudig auf, „heute ist es ein Jahr, seitdem wir auf dem Schlachtfelde bei Lützen im heißen Kampfe standen; damals sah ich dich zuerst wie einen grimmigen Löwen mit den wilden Kroaten um die Leiche unsers großen Königs kämpfen.Damals wußte ich noch nicht, daß du neben dem Löwenmuth einen so milden und frommen Sinn habest; aber mein Herz zog mich zu dir hin, von deinem Muth entflammte sich der meine, und mit frischer Krast hob ich die Fahne empor. „Gott mit uns!“ rief ich begeisiert,[58]ob auch mein Herz mir blutete über des Königs Tod. O Erich, heute möchte ich sterben, an diesem Tage wäre mir's leicht.“ „Wie Gott will,“ sagte der Schwede und küßte die Stirne seines Freundes; dann redeten sie noch zusammen von den Ereignissen der Schlacht, vor Allem aber von dem Tode des Königs. „Ach, er, für den unsere Herzen so warm schlugen, für den jeder von uns sein Leben gelassen hätte,mußte getrennt von seinen Getreuen sein edles Leben verhauchen;warum wohl so?“ sagte Allan. „Wie manches Warum,“ erwiderte Erich, „liegt uns in der Seele, und die Antwort wissen wir erst, wenn das Dunkel dieser Zeit erhellt wird vom Lichte der Ewigkeit.“

„O, sagt es noch einmal, dies Wort,“ sprach hier eine weibliche Stimme. Erstaunt blickte Erich auf und auch Allans Blicke suchten die Sprecherin; es war Ottilie, die in der leise geöffneten Thür stand,ein Glas mit kühlendem Tranke für den Kranken in der Hand haltend.

.Was ist Euch?“ fragte Erich, und seine Stimme klang ernster als sonst, wenn er mit dem Mädchen sprach, mit dem er seit jenem Morgen manch' freundlich Wort schon gewechselt und seinen verlorenen Ring längst wieder zurück erhalten hatte; heute, in dieser Stunde.ließ er sich ungern von ihr unterbrechen.

„Zürnt mir nicht,“ sagte das Mädchen in bittendem Tone, „in meiner Seele heißt's auch: Warum, warum so? und Niemand ist,der mir Antwort gibt auf meine Frage. Warum mußte mir die Mutter, die uns Kinder so lieb hatte, die so viel für uns litt und ertrug, eines so furchtbaren Todes sterben? warum ist mein Leben so freudlos? warum bin ich von Jugend auf bestimmt, verachtet und verlassen zu sein? Ich habe euch oft zugehört, wenn ihr zusammen sprachet, und habe manches gelernt, was ich früher nicht wußte; wird auch mir einst das Licht der Ewigkeit das Dunkel meines Lebens erhellen?“ So sprach das Mädchen in lebhafter Erregung. Erich wollte ihr antworten, da fiel sein Blick auf den Freund, dessen Züge sich plötzlich zu ändern begannen. „Ihr kommt an ein Sterbebett,“ sagtr er leise zu Ottilien, „so bleibet denn hier, vielleicht gibt der Tod Euch die beste Antwort auf die Fragen des Lebens.“

Während der junge Schottländer noch einen kurzen Todeskampf kämpfte, während Erich mit gläubigem Muthe und ernstlichem Gebete rreu bei ihm aushielt, und Ottilie, im Innersten ergriffen, die edelste Frucht des christlichen Glaubens, die freudige Hoffnung des ewigen [59]Lebens, hier am Todbette reifen sah, zog der Nachtrab des schwedischen Heeres mit großem Geräusche wieder durch Stein: Zeltgeräthschaften und Belagerungswerkzeuge folgten in langem Zuge. Die nordischen Gäste verließen die schweizerische Grenze; nur einige feste Punkte am schwäbischen Seeufer blieben für einmal in ihrem Besiiz.

Düster, kalt und neblig, wie Novemberabende zu sein pflegen,war auch der Abend nach dem Begräbnisse Allans. Erich durchschritt in Gedanken versunken die bereits dunkel gewordenen Räume des Kreuzganges; der Wind wehte kalt aus Norden und durchzog scharf d'esen klösterlichen Raum; morgen schon sollte der Schwede das gastliche Haus verlassen, um in Buchhorn am See bei der schwedischen Besatzung, die dort zurückgeblieben, sich einzustellen. „Was betrübst du dich meine Seele und bist so unruhig in mir?“ klang es in seinem Innern; der Freund lag im Grabe, die Heimath so fern, der Gang des Krieges ein so langsamer und unbefriedigender. Das betrübte seine Seele, und jetzt sollte er scheiden aus dem Hause, darinnen ein Herz schlug, das er gerne sich zu eigen erworben. Seit er mit Ottilien am Sterbebette des Freundes gestanden, war das Mädchen ihm lieb geworden; was sollte er thun? Sollte er, ehe er schied, ihr sagen,was er für sie fühlte, sollte er ein fremdes Geschick an sein eigenes,wechselndes, unsicheres knüpfen? Da vernahm er leichte, geräuschlose Tritie und erkannte bald, trotz dem wachsenden Dunkel, die schlanke Gestalt seiner Geliebten.

„Ottilie, ich bin hier,“ sagte er leise, um dem Mädchen einen plötzlichen Schreck zu ersparen.

“Wie. Ihr? so allein im Dunkeln? was wollt Ihr denn hier?“

„Kommt, daß ich's Euch sage,“ gab Erich schnell entschlossen zur Antwort; er faßte die Hand des Madchens und führte es zu der Steinbank hin, die der Kirchenmauer entlang läuft. Was die Beiden dort mit einander sprachen, das hat der Nordwind verweht, der durch die Gänge pfiff; aber als sie sich endlich von diesem Sitze wieder erhoben,hatten sie die Hände fest in einander geschlagen und Erichs Ring glänzte zum zweiten Mal an Ottiliens Finger. Das Kind der Hexe stand nicht mehr verarmt und einsam unter den Menschen, es hatte ein Herz gefunden, das ihm in treuer Liebe schlug, und einen Arm,stark und bereit zu seinem Schutze.[]Für Ottilie war es endlich Frühling geworden, neu lebte sie auf; was ihr so lange gefehlt, das hatte sie gefunden, und noch viel mehr; sie war erwacht zum Glauben, zur Hoffnung, sie hatte ihren Goit wieder gefunden, menschliche Liebe war ihr Pfand und Bürg-schaft der göttlichen geworden. Jetzt war's Frühling bei ihr, die Knospen öffneten sich, Blüthezeit, Wonnezeit in ihrem Gemüthe! Aber auf den Frühling folget der Sommertag; schwül wird die Luft und drückend die Hitze; nur was rechten Lebenssaft in sich hat, welkt und verdorret dann nicht.

Erich war fern, Tage und Wochen vergingen, ehe Ottilie etwa einmal durch einen Mann, der dem Amtmann zuweilen Seefische brachte, von ihm Kunde erhielt. Hart bedrängt von den kaiserlichen Truppen hielt die Besatzung in dem kleinen Buchhorn tapfer Stand;diesen Punkt wollten die Schweden festhalten, hier Schiffe bauen und ausrüsten, und ss sich zu Herren des schwäbischen Meeres machen.Als nach langen Wintertagen die Feindseligkeiten aufs neue begannen,da wollte oft tödtende Angst sich des liebenden Mädchens bemächtigen;dann rang sie in einsamen Stunden um den muthigen Glauben und um die Ergebung, wie sie Erich besaß. Wenn der Mann mit seinem Fischkorb kam, llopfte höher ihr Herz, bis sie wußte, was er ihr brachte, einen Gruß, die Kunde, daß Erich lebe und wohl sei.

So kam der Sommer. Ottilie war an einem schwülen Nachmittage im Hofe beschäftigt; es schien ein Gewitter im Anzug; die Tauben waren heimgekehrt und badeten sich am Brunnen oder saßen geduckt auf den Stangen vor dem Schlage; dunkle Wolken stiegen auf und der Wind erhob sich mit Macht. Da schritt der bekannte Fischer durchs Hofthor; er schaute fich vorsichtig um und wäre, als er das Mädchen erblickte, gern ungesehen an ihr vorüber gegangen,aber es hatte ihn schon bemerkt und grüßte ihn freundlich.

„Will hinauf in die Küche,“ sagte der Mann, „bringe dieß Mal prächtige Fische.“ Er wollte vorbei; aber dem bittenden, fragenden Blick des plötzlich erschreckenden Mädchens konnte er nicht ausweichen.

„Was ich sagen wollte,“ begann er, „da kommt gestern Abend ein schwedischer Reiter vor meine Hütte geritten: „„Wenn ihr dem Amtmann in Stein wieder Fische bringt,““ sagte er mir, „„o nehmt dieses Päcklein mit, gebt's dem Mädchen, dem ihr schon manchen Gruß ausgerichtet habt, und bringt ihm den letzten ....“[61]„Gott im Himmel, erbarme dich meiner!“ rief Ottilie und hielt sich am Brunnen fest, um nicht umzusinken.

„Dummes Zeug, der Schwede hätte einen Andern schicken können,als mich,“ brummte der Fischer, „muß jetzt doch ausrichten, was er mir aufgetragen.“

„Sagt es mir schnell,“ bat das Mädchen, „daß ich mein Unglück auf einmal erfahre.“

„Bringt ihr den letzten, sagte der Reiter,“ fing der Fischer wieder an; „bei einem Ausfall, den die Besatzung machte, ist ihr Bräutigam mit noch manchem tapfern Reiter gefallen. Nun wisset ihr Alles,zürnet mir nicht; Gott weiß, daß ich ungern genug den Weg hieher gemacht habe, tröste euch Gott!“ Der Mann fuhr mit seiner rauhen Hand über die Augen und ging dann hinauf ins Haus; um seine Fische zu verkaufen. In der Ferne zuerst, dann immer näher und näher rollte der Donner, und die Blitze zuckten durch das schwarze Gewölk. „O daß sie mich träfen, daß ich los wäre dieses armen,mühseligen Lebens!“ seufzte Ottilie und preßte die Hände gegen die Brust, wo stechender Schmerz sich fühlbar machte. Aber das Gewitter zog vorüber und das Leben will ertragen sein, so schwer es oft ist.

In ihrer einsamen Kammer öffnete die Jungfrau das Päcklein,das Erichs Vermächtniß enthielt; drinn fand sie den Psalter, aus dem er einst Allan getröstet, einiges Geld und ein beschriebenes Blatt:

„Weil ich heute zum Ausfall kommandirt bin und eine unerklärliche Angst und Bangigkeit in mir verspüre, so will ich einem zurückbleibenden Kameraden, was ich Werthvolles habe, für dich übergeben. Wenn ich falle, so ergib dich in Gottes Rathschluß und brauche fleißig das Büchlein, das mir in allem Kriegslärm so oft zum Troste geworden. Sei nicht zu traurig und führe dein Leben Gott zur Ehre und den Menschen zum Dienst; nimm meinen Ring mit dir ins Grab und werde nicht irre an Gottes Liebe und Treue. Um das Alles bittet dich dein Erich.“

Als Ottilie dieses Blättchen gelesen, faltete sie es zwar mit thränenden Augen, aber mit entschlossenem Herzen zusammen. „Es soll sein, Geliebter, wie du mich bittest,“ sprach sie fest; „Gott zur Ehre, den Menschen zum Dienst will ich mein Leben verbringen;D [] 62 Es war ein großer Entschluß, den hier Ottilie faßte, bald ausgesprochen in der hohen Erregung des Augenblicks; aber schwer auszuführen in seinen einzelnen Theilen. Das Leben der Frauen ist oft eine Kette von Kleinigkeiten sehr ermüdender Art; Großem zu entsagen, fällt weniger schwer, als täglich sich selbst zu verlaugnen, und eine kurz zu tragende gewaltige Last drückt weniger schwer, als die tägliche kleine, die nie abgenommen wird. Sprudelt nicht im Innern die Quelle des Glaubens, der Hoffnung und Liebe, und erfrischt das Herz mit ihrem lauteren Strom, so wird es dürr in demselben und kein Blümchen der Freude wächst mehr darin, weder für sich nock für Andere.

Ottilie blieb was sie war, eine treue Magd, still und bescheiden;wo sie helfen konnte, that sie's mit Freuden und über ihr Leben bereitete sich der Duft des Friedens mit Gott. So vergingen die Jahre; Deutschlands frommer Sänger hatte bereits die Harfe ergriffen und in die Lande hinaus sein Lied erklingen lassen: „Gottlob nun ist erschollen das edle Fried- und Freudenswort, daß nunmehr ruhen sollen die Spieß' und Schwerter und ihr Mord.“ Der Krieg war zu Ende, die Heere waren aufgelöst und viel herrenloses Gesindel trieb sich in den Landen herum.

Wieder war's Herbst geworden; Ottilie saß am Bette eines kranken Kindes ihrer Herrschaft und ließ, während fie leise am Rocken spann,ihre Gedanken hinaus schweifen in die vergangene Zeit. Sechszehn Jahre waren dahin seit jenem Herbstabend, an dem sie Erich zum ersten Male gesehen hatte; nicht spurlos war die Zeit an ihrer äußern Erscheinung vorübergegangen. Die Furchen ihres Angesichts kündigten das nahende Alter an und die ehemals glänzend schwarzen Haare spielten bedeutend ins Graue. Das Menschenherz ist immer dasselbe,vor zwei Jahrhunderten wie jetzt. Wenn das Leben sich langsam und gleichförmig abspinnt, wenn die Hoffnungen der Jugend gebrochen sind, wenn das Aller vor uns steht, einsam, freud- und freundlos,so beschleicht oft tiefe Wehmuth das Herz, und die Frage taucht auf:Was soll mir den eigentlich das Leben? Ottilie hing ähnlichen Ge nach, als eben eine ihrer Mitmägde kam, um sie heraus zu

rufen.

„Geh' in den Kreuzgang und sieh', was der Mensch will, der dort auf dich wartet,“ sagte ihr die Magd, und setzte hinzu: „mache

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nur, daß er nicht in's Haus kömmt; die Frau Amtmännin würde ein böses Gesicht machen, wenn sie den schmutzigen Kerl sähe.“

Erschrockenen Herzens ging Ottilie hinaus und that einen Schritt zurück, als sie des Fremden ansichtig wurde. In einen zerrissenen Soldatenmantel gehüllt, stand ein Mann vor ihr mit verwildertem Aussehen, das Gesicht mit shwarzen Pflastern bedeckt; unordentlich hingen die Haare über die niedere Stirne und die tief liegenden Augen, aus denen ein verzehrendes Fieber heraussah. Auf Ottiliens ängstliche Frage: „Was wollt ihr von mir!“ sah der Mann sie starr an und sagte in scharfem Ton: „Kennst du mich nicht mehr, oder willst du mich nicht kennen? Gleichviel, ich bin doch dein Bruder und habe mich lang und hart genug durchgebettelt bis in die Heimath jetzt sieh zu, daß du mir eine Unterkunft findest.“ So kehrte Ulrich heim; seinen trotzigen Sinn hatten Krankheit und Elend nicht brechen können; er litt an einem unheilbaren Uebel und fand im „Siechenhäuslein“ Unterkommen und mnothdürftige Pflege; aber sein wilder Sinn bereitete der Schwester viel Sorge und Noth.

Traurig saß Ottilie einst an seinem Beite, das er nicht mehr verlassen konnte; sie redete mit ihm von dem Frieden, den sie im Glauben gefunden und der ihre freudlosen Tage mit mildem Lichte erhellt habe. „Ach, laß' mich in Ruhe,“ sagte der Kranke unwillig „da ich ein kleiner Kaabe war, wollte ich ein Mann werden, so gut,als unser Vater schlecht war; da sie uns die Mutter verbrannten,nahm ich mir vor, mich vor Andern auszuzeichnen und mir Ehre zu erringen, um die Schmach abzuwälzen, die man uns angethan;was bin ich geworden? ein elender Landsknecht, dem man hier auf dem Siechbette das Gnadenbrod giebt; mit mir ist's aus, drum laß mich in Frieden mit deinem Gerede.“

„Hast du irgend eine besondere Schuld auf deinem Gewissen?“fragte die treue Schwester eindringlich weiter; „denke an jene Nacht,da du mit den Schweden hier durchkamst, und an dein böses Vorhaben; hast du irgend eine solche That verübt, so nimm sie nicht unbereut mit dir in die Ewigkeit.“

„Was Ewigkeit!“ sagte der Kranke mit wildem Blick und warf sich unruhig im Bette herum; wen man ins Grab legt, mit dem ist's aus; müßte sonst gar noch in einer andern Welt das Gesicht des langen Uhrmachers sehen, den die Kaiserlichen Anno dreiund[64]dreißig in Wiesholz erschlagen haben.“ Ottilie erschrak im innersten Herzen; sie gedachte wohl noch des Aufsehens, das im Dezember des Jahres, da die Schweden vor Konstanz zogen, die Ermordung eines Bürgers von Stein durch die kaiserlichen Soldaten in dem benachbarten schwäbischen Weiler Wiesholz gemacht hatte. Was hatte ihr Bruder mit dieser Gewaltthat zu thun, daß sie sich an seinem Todbette zwischen ihn und die Ewigkeit stellte?

„Was fiehst du mich so an ?“ rief der Kranke wieder; „hast du denn vergessen, daß der lange, dürre Heuchler die erste Klage gegen unsere Mutter erhob, daß er dabei stand, als fie gefangen genommen wurde, und daß er uns Alle zusammen Teufelsbrut nannte? Den hätte ich zu Kohlen verbrannt, wenn du mich damals nicht gehindert hättest; als ich ihn aber nachher bei den Bauern in Wiesholz sah,wo ich mich unter den Kaiserlichen umhertrieb, da reizte ich einen Soldaten zur Eifersucht, denn der Alte schlich einer jungen Magd nach, und noch vor Abend bekam er seinen verdienten Lohn und lag mit zerschmettertem Schädel am Boden. Ja ich sah ihn seit manchem Jahr immer vor mir und bin froh, wenn ich des Dings einmal los bin.“

Was vermag Menschenwort über ein in der Sünde verhärtetes Herz! Ottilie versuchte es nicht, ihrem unglücklichen Bruder sein Unrecht zum Bewußtsein zu bringen; sfie sank auf ihre Kniee und betete für dies verfinsterte Gemüth-um die göttliche Erbarmung. Der Kranke wandte sich gegen die Wand, heftige Zuckungen erschütterten seinen Körper und eine Stunde nachher lag er als Leiche da.

Die Schwester überlebte den Bruder nur kurze Zeit; an seinem Lager hatte sie den Keim ihrer Krankheit geholt; an einem stillen Wintertage erlosch mit der früh untergehenden Sonne ihr Leben;Die Kinder des Amtmanns, die die treue Magd gar lieb gehabt,standen weinend bei der Leiche und schmückten sie mit einigen Blumen.den Schwedenring nahm Ottilie ins Grab.[]Verein für Ver


Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2023). Swiss German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-gsw). Hansli und Hans. Eine wahre Geschichte: ELTeC Ausgabe. Hansli und Hans. Eine wahre Geschichte: ELTeC Ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001D-4701-0