49670 [] Herr Wäggerlin [] Herr Emmanuel Wäggerlin träumte schwer. Gestern Abend hatte er in seiner Zeitung halb schaudernd, halb freudig erregt (denn er war überzeugter Demokrat und Pfaffenfeind) von den Kämpfen der portugiesischen Revolution gelesen, und nun wurde er in dieser Morgenstunde mitten in das wilde Treiben hineingerissen. Er kämpfte mit in einem endlosen, unterirdischen Gang, der vom Jesuitenkloster zum königlichen Palast in Lissabon führte, obwohl er genau so aussah, wie der Korridor, der von der Wirtschaft zum Lämmlein, Herrn Wäggerlins Stammkneipe,zur Kegelbahn im Hinterhaus lief. Und seltsamerweise stand Herr Wäggerlin hier mitten unter bombenschleudernden Jesuiten und pulvergeschwärzten Nonnen, die eifrig in den dunkeln Gang hineinfeuerten. Herr Wäggerlin wußte nun gar nicht, wie er, der Freiheitsfreund, in diese reaktionäre Gesellschaft kam, und hatte dazu, wie dies einem ja im Traum öfters vorkommt, das unangenehme Gefühl, seine Toilette sei höchst unvollständig.

Eben wollte er sich aus dem Kampfeslärm etwas zurückziehen, da drangen mit einem Male von allen Seiten her Wie dies in dem engen Raum möglich war, blieb ein Rätsel des Träumens) die revolutionären Truppen auf ihn ein und nahmen ihn samt der ganzen kämpfenden Klerisei gefangen, obwohl er laut versicherte, er sei auch freisinnig und gegen den Proporz. Die Portugiesen schienen ihn aber nicht zu verstehen; er wurde fortgeschleppt vor ein Revolutionstribunal, das kurioserweise in dem lorbeergeschmückten Lokal des Männerchors Eintracht saß und []dessen Präsident, trotz der portugiesischen Uniform, die in Herrn Wäggerlins Traum ungefähr wie die eines Meßäffleins aussah, aufs Haar seinem früheren Jugendfreund und späteren Feinde Wurmlinger glich, der ihn in eben diesem Lokal durch schnöde Intriguen vom Präsidentenstuhl der Eintracht gestürzt hatte. Nun aber war dieser Wurmlinger der Präsident der provisorischen Regierung und verurteilte ohne Wimperzucken den guten Herrn Wöggerlin samt dreiundzwanzig Jesuiten und vierzehn Nonnen zum Tode durch Erschießung.

Das Blutgericht begann sofort. Unter Gewehrgeknatter fiel Mönch um Mönch, Nonne um Nonne. Der unglückliche Herr Wäggerlin erwartete bebend den Schuß, der ihn niederstrecken würde, dabei immer mit dem peinlichen Gefühl,im bloßen Hemde dazustehen. Nun blitzt es auf. Ein fürchterlicher Knall und im Angstschweiß gebadet, zitternd und mit weit aufgerissenen Augen an die Decke starrend,liegt Herr Wäggerlin in seinem sauberen Bette. Er fror;Bettdecke, Teppich und Leintuch hingen über den Bettrand hinunter. Der Stuhl, über den er abends säuberlich seine Kleider gelegt hatte, war umgestoßen, und die Kleider lagen am Boden. Schrecklich hatte die Revolution gehaust; aber Gott sei Dank, er lebte wenigstens noch und war dem schaurigen Blutbad entronnen.

Noch klang ihm das häßliche Gewehrgeknatter in den Ohren. Da was war das?! Eben knallte und knallte es wieder. Schreckensbleich fährt Herr Wäggerlin mit beiden Beinen zugleich aus dem Bette. Ein neuer, noch stärkerer Knalll In einem Satz ist er am Fenster und späht durch die Jalousien. Zwar kann er nichts sehen, aber kurzanhaltendes Räderrollen, ein kleiner Dialog einer männlichen mit einer weiblichen Stimme, ein Klirren blecherner Gefäße verraten ihm, daß der Milchmann vor der Haustür angefahren ist und der Magd Lina den süßen Morgentrank abliefert. Diese Entdeckung läßt Herrn Wäggerlins eben noch angstblasses Gesicht im Purpur des Zornes erglühen. O du vermaledeiter Hallunk du mit deinem Klepfen!“ fährt's []ihm halblaut von den Lippen und grimmig stapft er wieder dem Bette zu.

Freilich mit dem Schlafen ist's aus. In seinem Alter kehrt der einmal verscheuchte Schlaf nicht wieder; aber um so ernstlicher kann nun der wach im Bette Liegende den Dingen und Ursachen seines fürchterlichen Traumes nachsinnen! Wie stand doch in dem Aufsatz, den er neulich beim Coiffeur, als er so lang warten mußte, aus Verzweiflung gelesen hatte, weil eben der, um dessentwillen er warten mußte, kein anderer war als sein Feind, der Stadtrat Wurmlinger, so daß kein Gespräch möglich war? Da schrieb einer im „Universum“ oder der „Woche“ übers Träumen und setzte auseinander, daß ein Geräusch, ein Gefühl von der Dauer einer Zehntelsekunde sich im Traum zu sozusagen stunden- und tagelangen Erlebnissen ausspinne. So war denn nun die ganze fürchterliche Schießerei, der ganze greuliche Revolutionskampf, den er so schauerlich durcherlebt hatte, seine Angst und fast sein Tod nichts als eine solche Ausspinnung des unsinnigen, ruchlosen Peitschenknallens dieses Flegels, des Milchmannes! Zuerst hatte ihm der Kerl den süßen Morgenschlummer in einen wahren Todesschrecken verwandelt und dann ihm noch den kleinen Rest davon geraubt! Herr Wäggerlin stöhnte und schnaubte vor Entrüstung. Hätte er noch gewußt, daß der Heiri Buser mit seinem Klepfen der Auserkorenen seines Herzens,seiner Dorfgenossin Lina, die bei Herrn Wäggerlin seit einigen Wochen diente, fröhlichen Morgengruß und herzhafte Liebesbezeugung zugesandt hatte, das erotische Motiv hätte womöglich seine Wut noch vermehrt.

Indessen hörte er drüben die Lina mit dem Kaffeegeschirr klappern. Er hörte seine Tochter Anna nach ihm fragen. Er sah nach der Uhr und merkte, daß über seiner traumpsychologischen Entrüstungsphilosophie die Aufstehzeit gekommen war. Brummend stieg er aus dem Bett,schimpfend zog er sich an. Denn der Tag war nun einmal bös angetreten, was Wunder, wenn nichts geraten wollte. An den Unterhosen riß ein Knopf, als er schon Hosen und []Stiefel an hatte. So mußte er sich nochmals ausziehen und neue Unterhosen suchen. Daß das seine Laune nicht verbesserte, ist klar, und noch düsterer wurde sie, als das Kragenknöpflein zuhinterst unters Bett rollte, so daß er Lina mit dem Besen zu Hilfe rufen mußte um den Flüchtling wieder zu erhaschen. Brummend und schimpfend ging Herr Wäggerlin zum Kaffeetisch. Annas freundlicher Gruß wurde kaum erwidert. Unwirsch setzte er sich an den Tisch.

„Was hast du denn, Papa, daß du so verdrießlich bist?“fragte Anna mit besorgter Stimme.

„Nichts!“ schnauzte der Herr Papa. „Man kann nicht allweil pfeifen, wie gewisse Leute!“

Der Hieb sitzt. Denn eben geht auf der andern Seite der Straße der junge Dr. Wurmlinger in sein Advokaturbureau, und wenn er in der noch menschenleeren Straße,fröhlich wie ein Bub, ein Motiv aus den Meistersingern pfeift, so bedeutet das für die hübsche Anna nichts anderes als Heiri Busers Peitschenknallen für Lina. Tiefrot ist Annas liebes Gesicht und „Aber Papal“ haucht sie mehr als sie spricht. Aber der grimmige Vater fährt unerbittlich fort:„Mach dir nur keine Flausen, Mädchen! Den Sohn von dem da will ich nicht im Haus haben, verstanden! Da wird nichts draus! Bastal“

„Was hast du nur gegen den Herrn Stadtrat?“ sagt Anna noch röter als vorhin.

„Genug hab' ich gegen ihn, übergenug! Daß er in der Eintracht mich hinausgeekelt hat, der Schulmeister, der verfluchte, das will ich ihm gar nicht nachtragen. Die anderen waren die Esel, daß sie auf ihn hörten! Aber daß der Wühlhuber der, der niederträchtige, dann zu den Roten ging! Natürlich, da konnt' er dann schimpfen und hetzen nach Herzenslust. Da hatte er dann seine „Volkswacht“!Da konnte er dann seine Rolle spielen, der Streber!“

Aber da fährt Anna tapfer auf. „Nein, ein Streber ist der Stadtrat nicht! Als er seine Lehrerstelle aufgab und „Volkswacht“-Redaktor wurde, da haben sie eine Zeitlang böse Tage gehabt, das hat mir der “

10 []Ein Glück war's, daß der Vater sie ihren Satz nicht fertig sprechen ließ. Denn hätte sie es im Eifer verraten,daß ihr Eugen Wurmlinger schon recht viel von seinen und seines Vaters Verhältnissen erzählt hatte, Herrn Wäggerlins Wut wäre grenzenlos gewesen! So fuhr sein Zorn noch rechtzeitig dazwischen: „Was willst denn du wissen, du warst ja noch ein Wickelkind, als ich den Wurmlinger durch und durch kannte! Böse Tage , unsereiner hat auch böse Tage gehabt, als er das Geschäft anfing, und ist nicht Stadtrat geworden!“

Herr Wäggerlin schob energisch die leere Kaffeetasse von sich und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Mit einem Blick voll Zweifel an der sittlichen Weltordnung, den er an die Stubendecke richtete, mit den Händen sich an den Armlehnen festklammernd, als müßte er einen Halt suchen in einer wankenden und untergehenden Welt, stöhnte und grollte er: „Der und Stadtrat! Dieser Hetzer, dieser Sozialdemokrat, dieser Volkswachtredaktor Polizeivorsteher! Und wohnt seit April mir noch gegenüber, daß ich ihn alle Tag sehe und mich ärgern muß!“ Er rang nach Atem. Dabei fiel sein Blick durchs Fenster auf die Straße.Es kam etwas Lauerndes in sein breites, glattrasiertes Gesicht; er spähte, als ob er einen ungeheuren Frevel gewahre.

Wer seinem Blick hätte folgen können, hätte jedoch auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig der Breitmattstraße, an der Herr Wäggerlin wohnte, ein überaus friedliches Bild gewahren können. Eine ältere, schwarzgekleidete Dame kam aus ihrem Häuschen, um den in der Morgenfrühe geleerten Kehrichteimer hereinzuholen und, als eben aus der Tür des Nachbarhauses ein alter Herr heraustrat, errötete sie wie ein junges Mädchen. Der Grund ihrer Scham mochte teils darin liegen, daß sie selbst, die aus D bei dieser Mägdearbeit überrascht wurde, teils auch darin,daß nach den polizeilichen Reglementen die Kehrichteimer schon lüngst hätten hereingenommen werden sollen und daß der herzutretende Herr der gestrenge Herr Polizeivorsteher

1 []selbst war. Doch Herr Stadtrat Wurmlinger war kein Unmensch. Er half der überraschten Pfarrwitwe mit einem freundlichen Scherzworte über die Verlegenheit weg, führte ein kurzes Nachbarsgesprächlein mit ihr, bot ihr schließlich aus einem niedlichen Schildkrot-Döschen eine Prise an, und Frau Pfarrer Heftenbach nahm sie mit altmodischer Eleganz.Herr Stadtrat Wurmlinger war keineswegs die katilinarische Erscheinung, die man nach Herrn Wäggerlins Reden vermutet hätte. Eine kurze, feste Gestalt mit niedlich gerundetem Bürgerbäuchlein, ein kluges, freundliches Gesicht mit vielen Fältchen um die Augen, eine große Glatze, die aussah, als hätte sie ihren Haarwuchs zu andern Zwecken hergeben müssen;denn unter der leicht geröteten Nase trug der Stadtrat einen gewaltigen Husarenschnurrbart, den ausgesparte Teile des Backenbartes in seiner Pracht wirksam unterstützten. Er war einst rot gewesen, war aber nun grau geworden und spielte stellenweise schon ins Weiße. Eine goldene Brille,die seit der Wahl zum Stadtrat an die Stelle der stählernen getreten war, und solide, etwas altmodische Kleider vervollständigten die gut bürgerliche Erscheinung des sozialdemokratischen Polizeivorstehers.

„Da kann er nun herumstehen und alten Weibern Schnupftabak anbieten“, höhnte in der Tiefe seiner Stube Herr Wäggerlin, „aber daß dabei alle Vorschriften übertreten werden, das ist ihm gleichgültig. Eine saubere Wirtschaft! Diese Frau Pfarrer, die kann ihren Mistkübel stehen lassen bis anno Tubak, da ist man der freundliche Nachbar,da drückt man ein Auge zu, beide Augen zu und sagt nichts,selbst wenn man über den Mistkübel stolperte. Aber andere Leute sollen einmal ihren Mistkübel nur eine Minute über die Zeit hinaus stehen lassen, da hat gleich eine hohe Polizei ihre Nase drin, ja wohl!“

„Aber Papa, du übertreibst!“ warf Anna ein, „der Herr Stadtrat hat uns wenigstens noch nie schikaniert und, wo man hört, da heißt's, er sei ein gewissenhafter und guter Beamter!“

2 []Herr Wäggerlin rollte die Augen fürchterlich und maß die Tochter, die den Feind verteidigte, mit einem Blick, in dem Enterbung und Ausstoßung lag. „So, so“, lachte er schließlich höhnisch, „das wird immer besser, ein gewissenhafter Beamter! Ich dankel Ist das gewissenhaft, wenn eine Gesetzesvorschrift von der ganzen hohen Polizei, vom Herrn Vorsteher bis herab zum letzten Nachtwächter, einfach ignoriert wird, einfach ignoriert wird?“

Anna sah ihren Vater erstaunt an: „Was meinst du denn damit?“

Herr Wäggerlin triumphierte: „Du sollst es sehen!“

Er warf die Serviette über den Stuhl, lief ins Nebenzimmer, und man hörte ihn eifrig in Büchern blättern. Anna räumte unterdessen das Geschirr zusammen, gab es Lina zum Hinaustragen und machte sich zum Ausgehen bereit.Während sie vor dem Spiegel ihren einfachen, hübschen Hut aufsetzte und die Haare aus dem etwas bekümmert aussehenden Gesichtchen strich, rief sie ins Nachbarzimmer hinüber: „Papa, es ist höchste Zeit für mich. Du kannst es mir ja mittags zeigen; jetzt findest du es doch nicht gleich.Adieu.“

Damit ging sie hinaus, man hörte sie noch Lina einige Anweisungen geben und dann das Haus verlassen. Sie war Kleinkinderlehrerin und mußte um halb neun Uhr in ihrem Kindergarten sein, wenn die ersten Kleinen anrückten.

Herr Wäggerlin hatte den Abschied der Tochter im Eifer des Suchens überhört und war unangenehm überrascht, sie nicht mehr zu finden, als er mit einem offenen Buch triumphierend ins Zimmer kam. Er ging in den Gang,in der Hoffnung, sie dort noch zu finden. Als ihr Jakett und ihr Hut nicht mehr am Kleiderrechen hingen, schlug er wütend erst die Tür zum Gang zu, durchmaß das Wohnzimmer in grimmigem Schritt und schleuderte die Tür,durch die er in seinem Zimmer verschwand, mit einer Wucht ins Schloß, daß ein kräftiger Peitschenknall sich zu dem Geräusch verhielt wie eine Knallerbse zu einem Büchsenschuß. Hier in seinem Studierzimmer aber, wie er mit Stolz

2 13 []diesen Raum nannte, konnte er sich nicht versagen, die der Tochter zugedachte Vorlesung wenigstens sich selbst zu halten. Mit Nachdruck, Silbe um Silbe betonend, las er:„Paragraph 341, Lemmanc. Außerdem ist das Peitschenknallen in den Straßen der Stadt untersagt. Zuwiderhandelnde werden mit einer Polizeibuße von fünf Franken, eventuell einem Tag Haft, im Wiederholungsfall bis zu zwanzig Franken, eventuell vier Tage Haft,gestraft.“„Da steht's und wie geschieht's?“ fügte Herr Wäggerlin mit Grabesstimme hinzu, ergriff auf dem Schreibtisch einen Rotstift, strich damit 8F 8341, Lemmate am Rande kräftig an, legte einen Papierschnitzel als Zeichen in den Band und schob ihn wieder in das Büchergestell, da wo die Gesetzessammlungen des Kantons neben zwanzig Jahrgängen der Tabak-Zeitung standen. Den Schaft darüber füllten fünfundzwanzig Bände einer Schweizer-Geschichte, noch ein Stockwerk höher, für Herrn Wäggerlins kurze Gestalt nicht ohne Schemel erreichbar, thronten in nicht oft gestörter Ruhe Schillers sämtliche Werke und Zschokkes „Stunden der Andacht“, in denen seine selige Frau besonders gerne gelesen hatte. Herr Wäggerlin für seinen Teil griff lieber in den untern Schaft, wo sämtliche Sherlock Holmes-Geschichten und eine Reihe von Kriminalromanen standen. Neben dem Bücherschaft hingen rechts und links in Rahmen, die großer ODelgemälde würdig gewesen wären, zwei schön gedruckte und kalligraphierte Diplome. Rechts erteilte der Verband für TabakIndustrie und Zigarrenhandel Herrn Emmanuel Wäggerlin in Anerkennung fünfundzwanzigjähriger hingebender Tätigkeit im Vorstand die Ehrenmitgliedschaft,und links drückte der Bürger-Bund Herrn Emmanuel Wäg-gerlin für langjährige eifrige Arbeit in der Sache des Gewerbe und Mittelstandes, insbesondere für getreue Besorgung der Geschäfte als Bundes-Kassier, seinen heißgefühlten Dank aus und ernannte ihn ebenfalls zum Ehrenmitglied.

414 []Wenn Herr Wäggerlin diese beiden Zeugnisse seiner beruflichen und bürgerlichen Tüchtigkeit ansah, so richtete sich sonst seine kurze Gestalt einen Zoll höher auf. Aber heute achtete er so wenig darauf, als auf das große Gruppenbild des Männerchors Eintracht, das über dem Sopha hing und auf dem er, Emmanuel Wäggerlin, in jugendlicher Kraft mit der Vereinsfahne im Mittelpunkte stand, das Haupt geschmückt mit einem kleinen Strohhütlein, das von zwei gewaltigen Straußenfedern in den Kantonsfarben ganz verdeckt wurde. Eine Figur des Bildes freilich war aufs schnödeste verunstaltet, das Gesicht ausgekratzt, die Gestalt von zwei dicken Tintenstrichen überkreuzt. Das war der damalige Lehrer, jetzige Stadtrat Wurmlinger, der kurz nach der Aufnahme des Bildes vom Verein mit großer Mehrheit zum Präsidenten war gewählt worden. Zwar war es dabei in aller Ordnung zugegangen; man hatte den jovialen Wurmlinger dem etwas herrschsüchtigen Wäggerlin vorgezogen. Aber der entthronte Präsident, der natürlich sofort aus dem Verein ausgetreten war, konnte seinen Fall nur den teuflischen Intriguen seines Nachfolgers zuschreiben und haßte ihn fortan gründlich. Doch waren sie einander seither kaum mehr persönlich begegnet. Auch war Wurmlinger zu gutmütig und zu sehr mit Wichtigerem beschäftigt gewesen, als daß er die Feindschaft des einstigen Sangesbruders nur verstanden, geschweige denn sie erwidert hätte. Seit er nun gar noch in Herrn Wäggerlins nächste Nähe gezogen war, war dieser jeder Begegnung mit dem verhaßten Nachbarn ängstlich ausgewichen und umso tiefer wühlte sich der Groll in ihm ein, von dem der arglose Feind nichts ahnte.

Herr Wäggerlin ließ sich jetzt seufzend am Schreibtisch nieder und starrte gedankenlos auf das fast lebensgroße Bild der seligen Elise, das über dem Schreibtisch an der Wand hing. Es war eine billige Vergrößerung einer Photographie. Steif und ehrbar schaute Frau Elise Wäggerlin,geborene Hasenfratz, in die Welt. Eine talergroße Brosche schmückte ihren kurzen Hals. Diese Brosche, sowie die Ohr

15 []ringe, die Uhrkette, die über den stark hervortretenden Brustpanzer herabhing, und den Ehering an der lieben,rundlichen Hand, die eben am untern Rand des Bildes noch zu sehen war, hatte die Vergrößerungsanstalt, um an dem Bild ein übriges zu tun, dick vergoldet, so daß jedermann sehen mußte, daß die selige Frau Wäggerlin eine wohlsituierte Person gewesen war.

Nach einer Weile glitt der Blick des Mannes, der einst diese Frau sein genannt hatte, abwärts auf einen andern Gegenstand. Das war ein rotes Buch mit Goldschnitt, das genau ausgerechnet in der Mitte des Schreibtischaufsatzes lag, zwischen einer Photographie seines ehemaligen GeDD Zigarrenkiste. Auf dem Rücken des Buches aber stand in goldener Schrift, groß und deutlich: Emmanuel Wäggerlins ausgewählte Werke.

Nicht, daß Herr Wäggerlin sich je dem unsoliden Berufe des Dichtens und Bücherschreibens hingegeben hätte.Das Buch war sogar nicht einmal ein Buch, sondern eine Schachtel. In dieser witzigen Form hatte er einst, auf den Rat eines weitgereisten Kommis, der ähnliches in Berlin wollte gesehen haben, seinen besten Kunden als Neujahrsgeschenk zwei Dutzend Zigarren auserlesener Marken zugesandt. Zwar hatte ihm der Einfall von Seiten einiger schnöder Freunde Spott eingetragen; da aber der Inhalt seines Buches gut gewesen war, hatten sie es gnädig gemacht. Nun aber barg das seltsame Schachtelbuch keine Zigarren mehr, sondern seine Aufschrift begann nun auch in anderem Sinne wahr zu werden.

Es lagen darin wirklich Herrn Emmanuel Wäggerlins Werke, die allerdings erst in etwa anderthalb Dutzend kleiner Zeitungsausschnitte bestanden, die sorgsam auf steifem Papier aufgeklebt waren. Denn seit sich Herr Wäggerlin vom Geschäft zurückgezogen hatte, war er wirklich unter die Schriftsteller gegangen und schrieb in die Zeitung.Das Spegzialfach, das er sich ausgewählt hatte, war allerdings weder der politische Artikel, noch der kulturhistorische

16 []Essay, noch die bunte Welt des Feuilletons, sondern die kleingedruckte, aber vielgelesene Rubrik, die den Titel führt:Briefkasten des Publikums.

Hier tat Herr Wäggerlin eine überraschend vielseitige Begabung kund, die aber doch einen einheitlichen Grundzug aufwies, die Tendenz, in der mannigfachsten Weise und auf jedem möglichen Gebiet das verehrliche Publikum vor der Lässigkeit oder dem Uebereifer der Behörden zu schützen.Wenn an einem Frühjahrssonntag die Trambahn ins Lustwäldchen den Ausflüglerverkehr nicht bewältigen konnte und kinderreiche Familien halbstundenlang an ihrer Einsteigstelle jammernd einen besetzten Wagen nach dem andern vorübersausen sahen, so war es sicher, daß Herr Wäggerlin in der MontagAbendnummer der Stadtzgeitung sich zum Anwalt der Unglücklichen machte und an die städtische StraßenbahnVerwaltung die vorwurfsvolle Frage richtete,ob die Straßenbahn um des Publikums oder das Publikum um der Straßenbahn willen da sei.

Wenn im heißen Sommer die Breictmattstraße sich von den städtischen Sprengwagen vernachlässigt fühlte, in Herrn Wäggerlin erstand ihr ein Rächer, der in beredten Worten die Millionen Bazillenschwärme schilderte, die im Staube auch der Breitmattstraße so gut wie in dem bevorzugterer Stadtteile hausten, und mit dem Trumpfe schloß,es werde wohl erst besser werden, wenn sich der Herr Vorsteher des Polizeiwesens, der ja seit kurzem auch in der Breitmattstraße wohne, in eigener Person an seinen Kollegen im Sanitätswesen wende, da man ja auf die Klagen einfacher Bürger in höhern Regionen nicht zu hören pflege.

Wenn im Herbst ein Obstbaum in einem der Baumgärten vor der Stadt von Gassenjungen geplündert wurde,so erhob im nächsten Abendblatt Herr Wäggerlin die höhnische Frage, wo in diesem Momente die Polizei gewesen,und fügte bedauernd einige Worte über die zunehmende Verrohung der Jugend bei.

Besonders der Winter aber war die beutereichste Zeit für Herrn Wäggerlins scharfes Auge, das auf dem Pub[]likum angetanes Unrecht, auf Lässigkeiten der Behörden und andere Uebel im Staatswesen fahndete. Da gab es Knaben, die unaufhörlich auf den doch zum Verkehr bestimmten Bürgersteigen Schleifen antrieben und benützten, Schlittschuh liefen, Schneeballschlachten lieferten, und die Polizei tat nichts, sage und schreibe nichts, um diesem Unfug zu wehren; ja, Herr Wäggerlin hatte sogar einen Schutzmann gesehen, der lächelnd, die Hände in den warmen Manteltaschen, dem Treiben zusah. Der Entrüstungsartikel, den Herr Wäggerlin damals geschrieben, war fulminant. Da war ein Vortragslokal überheizt, dort ein Konzertsaal dafür eiskalt geblieben, die Notausgänge im Theater waren ungenügend beleuchtet, in der Neujahrsnacht war ein unerträglicher Radau auf den Straßen gewesen,der jeden ernsten, stimmungsvollen Uebergang ins neue Jahr verunmöglichte, immer war Herr Wäggerlin auf dem Posten und machte sich zum Organ, das die Notschreie der breiten Oeffentlichkeit den kompetenten Behörden im Briefkasten des Publikums übermittelte.

Seine täglichen Ausgänge wurden wahre Spürjagden für seine schriftstellerische Tätigkeit,. und wenn er mit Vorliebe Sherlock Holmes-Geschichten las, so geschah das keineswegs aus bloßer Neugier und Sensationslust, sondern zur Schärfung des Spürsinns, den er in seiner Eigenschaft als freiwilliger Volkstribun des armen Publikums nötig hatte.

Man denke aber ja nicht, daß Herr Wäggerlin als ein leichtfertiger Skribent seine Artikel bloß so hingeschrieben hätte. Er war vielmehr ein gewissenhaft arbeitender Künstler in seinem Fach. Er hatte ein eigenes Entwurfsheft, und wer darin hätte blättern können, der hätte für einen kurzen BriefkastenArtikel oft fünf oder sechs Entwürfe finden können, einer pointierter, ausgefeilter als der andere, bis schließlich ein kleines Kunstwerk an Schärfe und Jronie,oder auch wenn nötig an fast tragischem Pathos der Entrüstung entstand. Eben deshalb, weil Herr Wäggerlin seine schriftstellerische Tütigkeit als ein Künstler auffaßte, suchte 18 []er auch von andern zu lernen. Er war ja nicht der Einzige in der Stadt, der dieses Gebiet der Literatur pflegte; es gab andere, die (Herr Wäggerlin gab dies bescheiden zu) ihn in der Kunst, ihre Entrüstung zu zeigen und die Behörden zu interpellieren, noch übertrafen, und er war bereit, bei diesen Meistern noch in die Schule zu gehen. So schnitt er denn alle BriefkastenRotizen aus. Die eigenen kamen in die ausgewählten Werke, die fremden in eine besondere Mappe und Herr Wäggerlin hatte es nun in der Kennerschaft schon so weit gebracht, daß er die ja immer anonymen Artikel nach ihrem Stil dem oder jenem Meister zuweisen konnte,wie ein Kunstverständiger auch Gemälde ohne Signatur nach der Malart bestimmt und einer berühmten Malerschule oder gar einem einzelnen Künstler zuschreibt.

Wenn nun Herr Wäggerlin selbst einen Notschrei schreiben wollte, so holte er erst sein Mäpplein hervor,durchsah es, ob etwa derselbe Stoff schon einem Meister zum Vorwurf gedient habe, und trachtete dann danach, ein eigenes Kunstwerk zustande zu bringen, das sich neben dem fremden Vorbild sehen lassen durfte. So griff er denn auch heute zu seiner Mustermappe und durchstöberte sie nach Notschreien über das Peitschenknallen in den Straßen. Nicht weniger als sieben Exemplare der gewünschten Spegies fanden sich in seiner Sammlung, darunter eines, das den Namen eines Prachtexemplars verdiente.

Mit innigem Behagen und Kennerblick ließ Herr Wäggerlin seine Augen über das kurze Artikelchen hingleiten,das er doch gewiß schon hundert Mal gelesen hatte. Die schönsten Stellen las er sogar halblaut sich selber vor. als wollte er sich an ihrem Klange berauschen.„Man wird kaum eine Stadt finden, in welcher so unaufhörlich, so zwecklos und so wollüstig mit der Peitsche geknallt wird.“„Und so wollüstig,“ wiederholte Herr Wäggerlin mit heiligem Zorn und innerer Befriedigung über den treffenden Ausdruck des ihm unbekannten Meisters. Wol[]lüstig sind sie, diese heillosen Peitschenknaller; zu ihrer frevlen Lust hauen sie auf die Gehörnerven ihrer Mitmenschen ein! Ohne den schlichten und durchaus normalen Liebesgrund zu ahnen, der den guten Heiri Buser heute morgen seinen, Herrn Wäggerlins, Schlummer hatte stören lassen, war der grollende alte Herr geneigt, den kräftigen Bauernburschen mit allen Greueln der Wollust in Verbindung zu bringen, die er aus den Detektivgeschichten seines unteren Bücherschaftes kannte. Aber sein Gemüt war doch zu gesund, um länger solchen Gedanken nachzuhängen.Lieber genoß er das Kunstwerklein, das er vor sich hatte,weiter, langsam und schluckweise, wie ein Kenner ein feines Weinlein aus dem Glase nippt.

„Schon am frühen Morgen rasselt der erste Milchwagen mit Peitschengeknall durch die stillen Straßen“ tief ergriffen nickte Herr Wäggerlin bei diesem, ach nur zu wahren Satz „und zerstört dem armen Kranken, der die ganze Nacht nicht hat schlafen können, den leichten Morgenschlummer.“ Herr Wäggerlin fühlte sich bei seinen siebenundsechzig Jahren noch leidlich gesund, aber ein tiefes Mitleid füllte bei diesen Worten sein Herz, und zugleich eine hohe Bewunderung für den Mann, der es so verstand,die edelsten Gefühle in der Menschenbrust zu wecken „und der letzte Droschkenkutscher, der nach Mitternacht die Gäste von einer Hochzeit heimführt, weckt mit seinem brutalen Peitschenknallen die Schläfer wieder aus der Ruhe.“ Welche Meisterschaft der Darstellung! Wie war da von Künstlerhand der ganze Tageslauf der armen Gehörmärtyrer vom ersten bis zum letzten Peitschenknall, der ihrer Seele wehe tat, in einen Ring zusammengefaßt! Und welch lebendige Schilderung!l Sah man ihn nicht förmlich den vom Kutscherwein benebelten hochzeitlichen Rosselenker, der seinen Rausch in die nächtliche Stille hinausknallte, als ein Symbol menschlicher Rücksichtslosigkeit, die in der eigenen Freude das Leid und die Not der anderen mit Füßen tritt! Wie fein war das, nicht einen beliebigen nächtlich heimkehrenden Droschkier zu schildern,

20 []sondern gerade den nach dem Leben gemalten Hochzeitskutscher!

Fast verklärten Antlitzes fuhr Herr Wäggerlin fort zu lesen; doch seine Blicke verdüsterten sich wieder, und seine Stimme wurde dumpf grollend, als er an die Stelle kam:„Und doch gibt es merkwürdiger Weise einen Paragraphen,der das Peitschenknallen in den Straßen der Stadt verhietet und unter Strafe setzt. Aber kein Mensch kümmert sich darum. Auch die Polizei nicht! Sie kennt entweder diesen Paragraphen gar nicht oder sie ist immun gegen diesen Unfug.“ Großartig, einfach großartig! Dieser Hieb!Dieses lapidare: Auch die Polizei nicht! und dann dieses entweder oder, dessen beide Teile gleich vernichtend waren für die pflichtvergessene Behörde. Mußte nicht dieser Wurmlinger förmlich zusammenbrechen unter der Wucht dieser Anklage! Aber freilich, der Kerl war imstande und las nicht einmal ein anständiges, bürgerliches Blatt! Kümmerte sich nur um die „Volkswacht“, in der Parteischmeichler ihn umwedelten, und pfiff auf das, was in der StadtZeitung stand!

Und nun dieser Schlußsatz: „Man möchte wünschen,daß einmal irgend einer höhern Persönlichkeit· Herr Wäggerlin legte einen unglaublich höhnischen Ton in diesen Ausdruck „von diesen ewig die Peitsche schwingenden Fuhrleuten ein edlerer Körperteil möchte verletzt werden, sonst wird's offenbar nicht besser.“

„Ja, ja, das würden sie dann merken, diese höhern Persönlichkeiten, die die Stimme der einfachen Bürger verachten!“ sprach Herr Wäggerlin und sandte einen giftigen Blick durchs Fenster auf die andere Seite der Breitmattstraße.

Es war dort freilich still geworden. Frau Pfarrer Heftenbach war mit ihrem Kehrichteimerchen längst im Hause verschwunden, und Stadtrat Wurmlinger saß schon seit geraumer Zeit in seinem tadellos ordentlichen Polizeibureau im Rathaus und erledigte seine Geschäfte, nichts ahnend von

21 []dem Haß, mit dem ihn eben einer seiner Untertanen bedachte.

Herr Wäggerlin nahm sein EntwurfHeft vor und tunkte die Feder ein. Nach einer Weile aber legte er sie wieder hin und erhob sich seufzend. Großer Gott, es war schwer, sehr schwer, diese Vorlage zu übertreffen. Vor allem,welcher Trumpf ließ sich nach diesem Schlußsatz, in dem schon der dem Regierenden zugedachte Peitschenhieb lag,noch ausspielen! Das ließ sich mit Worten nicht überbieten,da konnte höchstens die Tat noch etwas sein.

Wie ein zündender Blitz fuhr der Gedanke in Herrn Wäggerlins ergrimmtes und verärgertes Gemüt. Die Tat,die Tat! Wenn man das ausführen könnte, was der große Unbekannte hier schrieb! Herr Wäggerlin las immer und immer wieder den Schlußfatz durch und schritt wie ein gefangener Leu in seinem Zimmer auf und ab. Er zitierte laut, was er einmal in der Zeitung gzitiert gelesen hatte:„Der Worte sind genug gewechselt, nun laßt uns endlich Taten sehn!“

Er rechnete in unerbittlicher Ehrlichkeit mit sich und seiner Schriftstellerei ab; er durchging im Geist alle seine siebzehn Notschreie, die er seit drei Jahren in der Zeitung ausgestoßen hatte, und prüfte sie auf ihren Erfolg. Bei zweien, nur bei zweien konnte ein wenigstens teilweiser Erfolg festgestellt werden; die übrigen fünfzehn waren wirkungslos verpufft, ungehört verklungen vor den tauben Ohren der Behörden, abgeprallt an der ehernen Stirn der Machthaber, die vielleicht nicht einmal lasen, was er mit so viel Mühe schrieb! Eine tiefe Erbitterung erfaßte ihn.Es mußte anders werden!

„Wer nicht hören will, muß fühlen!“ zitierte er, und da er nun gerade einmal dran war, fügte er mit entschlossener Stimme hinzu: „Not bricht Eisen!“ Aber wie,wie? Das quälte ihn. Sein Zorn schwelte wie ein Feuer im Heu, aber die helle, klare Flamme, in deren Licht er deutlich hätte sehen können, was zu tun war, wollte nicht emporschlagen.

22 []Einen Augenblick erwog er den ungeheuerlichen Plan,selbst abends dem Polizeivorsteher aufzulauern, wenn er vom Stammtisch kam, peitschenknallend hinter ihm her zu schreiten und ihm schließlich eine gehörige über den Glatzkopf zu zwicken! Aber das war nichts. Erstens hätte ein solcher Ueberfall zu ganz bösen Geschichten führen können und zweitens konnte Herr Wäggerlin gar nicht mit der Peitsche knallen. Eine seiner unangenehmsten Jugenderinnerungen wachte in ihm mit all ihrer Bitterkeit wieder auf. Als dreizehnjähriger Bursche war er bei Verwandten auf dem Land gewesen am Sonntag Nachmittag; da hatte sein drei Jahre jüngeres Bäslein ihm die Peitsche in die Hand gegeben, er solle einmal recht klepfen. Er hatte es probiert, aber es nicht über einige schwächliche Tönchen hinausgebracht, zur unsäglichen Erheiterung des Bäsleins und einiger herbeigelaufener Nachbarbuben. Er wolle ein Bub sein und könne nicht einmal klepfen, hatte das Marieli höhnend gerufen, ihm die Peitsche aus der Hand gerissen und damit geklepft wie der geübteste Fuhrmann, daß es ihm, dem Männi Wäggerlin, schon damals in den Ohren weh getan hatte und ihm das Peitschenknallen von jener Stunde an widerwärtig war. Was der Männi nicht gekonnt hatte vor vierundfünfzig Jahren, konnte der Herr Emmanuel jetzt noch viel weniger.

Nein, dieser Plan war nichts; es mußte anders angefaßt werden. Aber wie? Umsonst zermarterte er sein Gehirn, nichts dämmerte ihm auf, und da sich seine Wut immer mehr in den Plan verrannte, je weniger sein Verstand eine Möglichkeit der Ausführung entdeckte, so hätte die Sache gefährlich werden können, wenn nicht eben Lina als zweites Frühstück ein gedämpftes Nierlein vorgesetzt hätte,wozu sich Herr Wäggerlin noch ein Schöpplein weißen Landwein aus dem Keller holte.

Diese andersartige Tätigkeit stillte ein wenig die hochgehenden Wogen seines Gemüts, und während er sich das Nierlein schmecken ließ, reifte in ihm der Entschluß, seinen gewohnten Morgenspaziergang anzutreten. Er tat's und []trug seinen dumpfen Groll ins Freie. Jedes Fuhrwerk, selbst wenn sein Lenker die Peitsche ruhen ließ, erweckte wieder seine Tatenlust, die keinen rechten Weg fand. Nichts vermochte ihn abzulenken.

Herrn Wäggerlins täglicher Gang ging zum Marktplatz, zu dem Haus, an dem in goldenen Lettern geschrieben stand: Zigarren und Tabake. Em. Wäggerlin Nachf.

Nicht die Sehnsucht nach dem aufgegebenen Geschäft führte ihn dorthin; denn er war herzlich froh, die Plage seines alten Berufes los zu sein. Vielmehr war es der uneingestandene, aber starke Trieb, täglich zu konstatieren,wie die Blütezeit des Geschäfts vorbei war, seit er, Emmanuel Wäggerlin, nicht mehr an der Spitze stand. Das Schaufenster war zwar viel moderner geworden; der seine Pfeife rauchende Neger war verschwunden und hatte unzähligen eleganten Zigarettenetuis und Bildern pikanter Dämchen Platz gemacht, und im Laden selbst waltete ein nicht minder elegantes Ladenfräulein, wo einst Hern Wäggerlins biedere Erscheinung gestanden oder die selige Elise ihren Strickstrumpf gehandhabt hatte. Aber trotz dieser Anpassung an die neue Zeit, die Herrn Wäggerlins Nachfolger für nötig erachtet hatte, beobachtete der alte Herr jebdesmal mit innerer Befriedigung und äußerer Betrübnis den merklichen Rückgang des Geschäftes.

Aber heute versagte auch diese tägliche Erheiterung seiner Seele. Denn eben als er aus dem Laden trat, wo er wie jeden Morgen mit leisem Bedauern im Ton dem eleganten Fräulein einige Zigarren abgekauft hatte, trat aus dem Rathaus Stadtrat Wurmlinger, kam mit strahlend freundlichem Gesicht auf den Zigarrenladen losgesteuert und schien nicht abgeneigt, mit dem frühern Besitzer ein Gespräch anzuknüpfen. Er grüßte schon von weitem. Herr Wäggerlin konnte mit knapper Not sich umdrehen und dergleichen tun,als habe er den Gruß nicht bemerkt. Er hörte noch, wie der Stadtrat in den Zigarrenladen trat und mit lauter, ungemein jovialer Stimme das Fräulein ersuchte, ihm sein 24 []Schnupftabaksdöschen neu zu füllen. Herr Wäggerlin knirschte: „Sind dagu die Bureaustunden da, sich Schnupftabak zu holen?“

Dann schlug er, nur um dem Anblick des Gehaßten zu entgehen, sich in eine Seitengasse, die sonst nicht zum eisern innegehaltenen Plan seines Morgenspagierganges gehörte.Neues Aergernis: sein Blick fiel auf das Geschäftshaus der sozialdemokratischen „Volkswacht“, in dessen Schaufenster die neueste Nummer des Blattes ausgehängt war.Sonst wäre Herr Wäggerlin mit Bürgerstolz an dem Hetzblättchen vorbeigeschritten; heute fühlte sein geärgertes Gemüt sich wie von einem dunkeln Drang getrieben, neue Nahrung für seinen Zorn zu finden. Er fand sie: gleich der Leitartikel trug die Ueberschrift: Ein Triumph des Genossenschaftswesens. Und Herr Wäggerlin wußte, daß Wurmlinger bis zu seiner Wahl als Stadtrat die Seele des starken Lebensmittelverbandes gewesen war, dessen neueste Leistung, ein stolzer Neubau für das Milchgeschäft, hier in begeisterten Tönen gepriesen wurde, wobei auch mit dem Lob seines Feindes nicht gespart war. Gleich im ersten Abschnitt hieß es:„Wie unsere Leser wissen, war es noch Genosse Wurmlinger, der als Präsident des Lebensmittelverbandes den genialen Plan faßte, dem sich riesig ausdehnenden Milchgeschäft ein neues, seinen Dimensionen angepaßtes Heim zu geben. Wir bedauern es geradezu, daß Genosse Wurmlinger durch seinen Eintritt in den Dienst unseres Klassen und Bourgeois-Staates dem persönlichen Wirken in der Genossenschaftsbewegung entzogen worden ist und so die Ausführung seines Planes nicht mehr selbst durchführen konnte.“Herr Wäggerlin war von seinem Haß zu sehr eingenommen, als daß er den Stich gefühlt hätte, den das zielbewußte Parteiorgan seinem früheren Redakteur mit seinem Bedauern zu versetzen gewillt war. Er ärgerte sich nur darüber, daß von einem genialen Plane seines Feindes gespro

25 []chen wurde, und ging verdrossen weiter, ohne den Artikel fertig zu lesen.

Es geschah auch heute manches vor Herrn Wäggerlins Augen, was herrlichen Stoff zu einer BriefkastenEntrüstung gegeben hätte. Er war heute blind dafür. Ein Gedanke allein bohrte in seinem Hirn. Wie ließe es sich in die Tat umsetzen, daß einer höhern Persönlichkeit von einem stets die Peitsche schwingenden Fuhrmann ein edlerer Teil verletzt würde? Daß diese höhere Persönlichkeit keine andere sein durfte als Wurmlinger, war ja klar und ebenso klar, daß eine solche Propaganda der Tat gegen das Peitschenknallen wirksam sein mußte. Aber wie, wie? Verdrossen stapfte Herr Wäggerlin heimwärts; der Vormittagsspaziergang hatte die gewünschte Frucht nicht getragen.Schon als er mit dem Hausschlüssel ins Schlüsselloch fuhr,kam von innen her Lina gestürzt und öffnete mit an ihr sonst ungewohnter Raschheit die Tür. Ihr ganzes Gesicht strahlte von neugieriger Freude, als sie Herrn Wäggerlin zuflüsterte: „Es ist ein Herr da, der schon seit einer halben Stunde auf Sie wartet.“

Herr Wäggerlin war erstaunt; denn er, der seine Freunde beim Kaffeejaß und am Stammtisch zu sehen pflegte, erhielt eigentlich nie Besuch; besonders da er über das Alter hinaus war, in dem der Mensch den Versicherungsagenten als Jagdbeute gilt. Das höchst überraschte Gesicht ihres Herrn veranlaßte die gute Lina zu weitern Enthüllungen.

„Es ist der junge Herr, der hier irgendwo in der Nähe wohnen muß“ und mit pfiffigem Schmunzeln über die eigene Schlauheit, die schon in drei Wochen so etwas gemerkt hatte, fügte sie flüsternd hinzu: „Der, der unser Fräulein immer so freundlich grüßt. Er hat den Zylinder aufl“

Nun wußte Herr Wäggerlin genug. Das kam seinem Zorn gerade recht. Er stieß das geschwätzige Dienstmädchen bei Seite und trat, ohne Stock und Hut abzulegen, in sein Zimmer.

Wirklich, es war Dr. Eugen Wurmlinger, der sich von seinem Sitz erhob und ihn höflich begrüßte. Der junge Ad

26 []vokat hatte auf der Schlittschuhbahn des letzten Winters Anna Wäggerlin kennen gelernt und sich rasch in ihre zierliche Gestalt, ihr liebes Gesicht und ihr freundlich-lustiges Wesen verliebt. Aus ihr seine Frau zu machen, sobald es ihm die Verhältnisse erlaubten, stand ihm fest, und ihres Einverständnisses glaubte er sicher zu sein. Mehr meinte er auch gar nicht zu brauchen. Ihren Vater grüßte er auf der Straße tief und achtete kaum darauf, daß sein Gruß nur sehr mürrisch und widerwillig erwidert wurde. Da Eugen Wurmlinger nicht im Wirtshaus zum Lämmlein verkehrte und Sonntags lieber einen Berg bestieg, als im Lustwäldchen zu promenieren und einzukehren, hatte er auch nie Gelegenheit gehabt, Herrn Wäggerlin näher zu treten. Von seinem eigenen Vater hatte er den alten Herrn zwar gelegentlich als kuriosen Kauz erwähnen hören; aber viel gesprochen war von ihm nicht worden, denn Stadtrat Wurmlinger wußte von den Plänen seines Sohnes nichts, und dieser war fest davon überzeugt, daß ihm der Vater nicht dreinreden werde, wenn er sich verlobe. Darum hatte auch er nicht nötig gefunden, lange Erörterungen anzustellen.Der Entschluß, just heute um Annas Hand zu werben,war rasch in ihm aufgetaucht. Als er morgens in sein Bureau gekommen war, hatte er eigentlich unerwartet das beträchtliche Honorar für seinen ersten großen Prozeß erhalten. Da hatte er den Tag zum Vrivatfeiertag erklärt,das Maschinenfräulein heimgeschickt, einen Bummel in das herbstliche Land gemacht und sich vergnügt unter eine Birke um Waldrand gelegt, die ihn mit ihrem fallenden Laub bestreute. Er pfiff und sang, sah in den blauen Himmel hinein,dachte an Anna, strich sich mit der Hand über die Brusttasche,in der der Check seines dankbaren Klienten steckte, und als nun ein frischer Wind eben wieder einen ganzen Regen gelber Blättchen über ihn warf, kam es ihm vor, als müßte sich von nun an stets ein goldner Regen über ihn ergießen,ein frisches Lüftlein durch sein Leben gehen, ein blauer Himmel sich über ihn wölben. Er sprang auf, rief laut ins Tal hinein: „Nun erlauben es die Verhältnisse!“ und schritt []trällernd und pfeifend mit Riesenschritten stadtwärts. Als er den Gehrock angog, dachte er nur an Annas erstauntes Gesicht, wenn sie mittags aus ihrem Kindergarten heimkommen werde und ihn mit der Einwilligung ihres Vaters als ihren Bräutigam begrüßen durfte; denn ihrer freudigen Zustimmung war er sicher.

Freilich schon das halbstündige Warten in Herrn Wäggerlins Studierzimmer mit seinen Diplomen und seiner Frau Elise ernüchterte den jungen Draufgänger bedenklich.Und nun trat Herr Wäggerlin selbst ein und maß ihn mit so feindseligem Blick, daß Eugen Wurmlinger erschrak.

„Was verschafft mir die Ehre, Herr Doktor?“ fragte Herr Wäggerlin mit vernichtender Kühle. Der Freier, der unter der goldenen Birke so siegesfreudig und zuversichtlich gewesen war und dem es sonst vor Gericht und im Freundeskreis an Beredsamkeit nicht fehlte, wurde in dieser Atmosphäre verlegen und brachte sein Anliegen etwas unsicher vor. Herr Wäggerlin dagegen, dem die Rache, die er so seinem Feinde antun konnte, unsäglich wohltat, bekam immer mehr Haltung und Sicherheit. Mit der Grausamkeit einer Katze, die mit der Maus spielt, ehe sie sie frißt, lehnte er nicht gleich ab, sondern fragte nach den äußern Verhältnissen, auf die der Herr Doktor seine Werbung stütze; er müsse eben doch gewisse Sicherheit haben für das Los seines Kindes; man sei eben doch noch nicht im Zukunftsstaat, wo Geldfragen keine Rolle mehr spielten, konnte er nicht unterlassen noch dranzuhängen.

Da wurde Eugen Wurmlinger noch verlegener: vom ersten größern Honorar konnte er doch wohl nicht reden,vom Goldregen des Herbstwaldes noch weniger, der jugendliche Uebermut seines Unternehmens fiel ihm mit einem Mal schwer auf die Seele, er konnte nur in sehr allgemeinen Wendungen versichern, daß er glaube, doch so ungefähr imstande zu sein, eine Frau zu ernähren,; aber freilich die gewünschten nähern Auskünfte “

Herr Wöggerlin betrachtete den Unglücklichen höhnisch,boshaft und tat einen Schritt gegen die Tür: „Ich glaube,

28 []es ist besser, Herr Doktor, es ist besser, Sie machen sich keine falschen Hoffnungen; ganz abgesehen von Ihren recht unbefriedigenden Auskünften über Ihre äußere Stellung « er streifte ihn mit einem verächtlichen Blick, der deutlich genug war und erhob nun die Stimme drohend:„sind schon Ihre und Ihres Herrn Vaters politische Ansichlen “ Da sah ihn Eugen Wurmlinger mit geradezu entsetztem Gesicht an; daß die Politik sogar in seine Liebesgeschichte hineingreifen könnte, daran hatte er noch gar nicht gedacht! Er wurde rot vor Zorn und Verlegenheit,näherte sich aber bereits auch der Tür und wagte noch einen Anlauf: „Aber Ihre Tochter “

„Meine Tochter denkt ganz wie ich,“ erklärte Herr Wäggerlin sehr bestimmt und öffnete die Tür. Da senkte Eugen Wurmlinger den Kopf, murmelte einen unverständlichen Gruß und wurde von Herrn Wäggerlin an die Haustür begleitet.

Herr Wäggerlin hatte gelogen, mit vollem Bewußtsein gelogen; denn daß seine Tochter nicht wie er dachte, wußte er genau. So siegesfreudig und überlegen er den abgewiesenen Freier hinausgeführt hatte, sobald die Tür ins Schloß gefallen war, wurde ihm doch jämmerlich zu Mute, und er brachte es nicht zu einem rechten Triumph. Sein Gewissen,sein gutes braves Ehrenmanns- und Bürgergewissen hatte sich von Haß und Aerger überwältigen lassen, solange er den Sohn seines Feindes, der dazu seinem Vater noch ziemlich glich, vor sich hatte, nun meldete es sich zur Stelle, und Herr Wäggerlin schritt kaum weniger kläglich in sein Zimmer zurück als Eugen Wurmlinger heimwärts. Was sie beide fürchteten, war die Begegnung mit Anna, und sie entgingen ihr beide nicht.

Eugen traf noch fast unter der Tür mit der Heimkehrenden zusammen, grüßte tief und wurde dunkelrot,was Anna, die sofort den Zusammenhang erriet, mit ebenso dunkler Röte erwiderte. Doch war der peinliche Moment nur kurz; schwieriger wurde für Herrn Wäggerlin die Auseinandersetzung mit der Tochter. Sollte er davon anfangen?

29 []Sollte er ihr alles verschweigen? Die Fragen quälten ihn,als er wieder in seiner Stube saß. Er sollte bald Antwort finden. Als Anna ins Zimmer trat, sah er ihrem Gesichte an, daß sie um den Besuch Eugens wußte, und er konnte ihrer stummen Frage nicht ausweichen. Er beschloß, sich mit Grobheit durchzuhelfen, die so oft dem bösen Gewissen als guter Panzer dient.

„Er war also da, der “

Aber Anna ließ ihn sein Ziel nicht erreichen, sie schnitt ihm das böse oder verächtliche Wort rasch von den Lippen ab: „Vater, was hast du ihm gesagt?“

Nun war Herr Wäggerlin verlegen. „Nun, eben, halt,ich habe ihm gesagt ich dächte, es wäre meiner Meinung nach besser, seine und meine Ansichten harmonierten nicht zusammen...“

„Vater, ich möchte wissen, was du ihm von mir gesagt hast?“

Da wagte es Herr Wäggerlin wieder: er sammelte alle seine väterliche Autorität und sprach mit Würde und schlechtem Gewissen: „Ich habe ihm gesagt, du dächtest wie ich!“

Anna wußte genug. Sie setzte sich aufs Sopha, barg ihr Gesicht in den Händen und weinte laut. Das konnte Herr Wäggerlin nicht ertragen. Er versuchte sie zu trösten;aber seine täppischen Tröstungen wurden von dem wortlosen Jammer des Nädchens weggespült wie ein schwaches Dammwerk von der hereinbrechenden Hochflut. Er stand machtlos da und machte sich am Schreibtisch zu schaffen.

Als sein Blick auf die BriefkastenNotiz fiel, die ihm den Morgen verbittert hatte, wurde ihm der ungelöste Racheplan zum Rettungsbrett, auf das er sich flüchtete, um seiner Scham und seinem Mitleid mit dem Kinde zu entgehen. Die zurückgedrängte Frage, wie ließe sich die Tatpropaganda gegen das verruchte Peitschenknallen durchführen, erschien ihm wie ein Ausweg aus den jetzigen Gedanken. Er wandte sich wieder energisch ihr zu.

Der Uebergang wurde ihm dadurch erleichtert, daß Anna mit einem Mal aufstand, die Tränen trocknete und 30 []hinausging. Man hörte sie bald darauf den Tisch im Nebenzimmer decken. Herr Wäggerlin atmete erleichtert auf. Er hatte gedacht, lange Szenen durchmachen zu müssen, und doch regte sich in ihm bereits gebieterisch der Wunsch nach dem Mittagessen, das er gewohnt war, punkt halb ein Uhr einzunehmen. „Nun,“ dachte er, „wenn's Anna nicht schwerer nimmt!“ und hörte mit Befriedigung das Klappern der Teller. Es schien ihm, als werde sein gut bürgerliches Blut,das auf regelmäßige Lebensgewohnheiten hielt, die doch höchst romantische Liebelei mit dem Sohne des Feindes überwinden; er lobte bereits im Stillen sein tapferes Töchterlein und, als er dem Wohnzimmer zuschritt, herrschte in seinen Gedanken bereits wieder die Idee des von der Peitsche empfindlich gezwickten Polizeivorstehers vor und war die erbärmliche Szene mit dem jungen Wurmlinger schon in den zweiten Rang gerückt.

Doch verlief das Mittagessen noch reichlich ungemütlich und gedrückt. Denn Annas scheinbar rasches Einlenken war nur von dem Wunsch verursacht gewesen, das Dienstmädchen nichts von der Sache merken zu lassen. Indes kam ihr bei der tapferen Selbstbeherrschung und der Arbeit doch auch der Mut wieder. Sie war entschlossen, nicht ohne Weiteres auf ihre Liebe zu verzichten, und begann sich bereits auf den Weg zu besinnen, den sie gehen wollte. Dabei blitzten die hübschen Augen sehr lebhaft und energisch, und Herrn Wäggerlin war es nicht wohl unter dem Kreuzfeuer ihrer Blicke.So beeilte er sich sehr vom Mittagessen weg zum Kaffeejaß ins Lämmlein zu kommen. Aber auch hier, in dieser sonst so trauten Freundschaftsstunde, sollte ihm heute keine Ruhe vergönnt sein. Drogeriebesitzer Häfeli, sein treuester Freund, brachte ahnungslos das Gespräch auf den von dem jungen Wurmlinger gewonnenen Prozeß: „Ein gescheiter Donner, das Advokätlein! der bringt's noch zu etwas, wenn er so weiter macht!“ und die ehrsamen Bürger, für die einer, der Erfolg hatte, ein beliebter Gesprächsstoff war,waren von dem jungen Wurmlinger nicht mehr abzubrin

41 []gen, so sehr sich Herr Wäggerlin bemühte, die Rede auf Anderes zu lenken. Als schließlich einer, halb um ihn zu foppen, dessen Feindschaft gegen den Stadtrat man kannte,halb im Ernste sagte: „Das gibt einen feinen Schwiegersohn, Männil Es heißt, er stehe sich ganz gut mit deinem Anneli“, da hieb Herr Wäggerlin wider seine sonstigen manierlichen Gewohnheiten mit der Faust auf den Tisch,daß die großen Kaffeegläser tanzten und ein kleines Kirschgläslein umfiel, schrie den guten Freund an: „Dummes Zeugl Der kommt in mein Haus nicht mehr!“ und schied im Unfrieden aus dem Lämmlein.

Heimgehen mochte er nicht, weil er Anna fürchtete; so wanderte er denn plan und gziellos durch die Straßen seinen ärgerlichen Gedanken nach. So wütend er im Lämmlein geworden war über das unvernünftige Loben und Herausstreichen des jungen Wurmlinger, jetzt stach ihn das Gehörte doch in die Nase. Der Tausend, wenn der Kerl so gescheit war, wie sie sagten, so konnte ers noch zu etwas bringen! Diese Advokaten streichen ja gute Honorare ein!Dazu gute Konnexionen, der Vater Stadtrat; man wußte ja, wie es in den höhern Regionen zuging mit Vetternwirtschaft ꝛc. Herrn Wäggerlins Zorn erhielt bei diesem Gedanken wieder frische Nahrung. Aber trotzdem der Erfolg,die möglichen Aussichten des abgewiesenen Freiers ließen ihn nicht los und es begann ihn tief innerlich zu wurmen,daß er ihn gar so sehr hatte abblitzen lassen. Er war ja doch eigentlich recht bescheiden gewesen, gerade wie er, Herr Wäggerlin, es an jungen Leuten so sehr liebte.

Wer weiß, wohin seine Gedanken noch geraten wären,wenn nicht eben ein peitschenknallender Fuhrmann eines Schnapphkarrenzügleins sie in ihre alte Bahn zurückgeführt hätte. Der alte Groll wachte wieder auf. „Er ist halt doch ein Wurmlinger und der Alte muß eins über den Kopf kriegen,damit er weiß, was Peitschenknallen ist!“ fauchte Herr Wäggerlin grimmig und stieß den Spazierstock so energisch auf den Asphalt des Trottoirs, als könnte er damit seinen Feind treffen.

32 []Er war in seinen Gedanken aus den krummen Gassen der Altstadt in die schnurgeraden der neu entstandenen Quartiere gekommen, zuerst in die saubern der behäbigen Bürgerwelt mit den kleinen, wohlgepflegten Vorgärtchen,dann in die trostlosen Kasernenzeilen des Industriequartiers, wo statt der Blumen Dutzende von spielenden Kindern vor den Häusern zu sehen waren. Nun war er schon dahin gelangt, wo sich unter den Mietkasernen hie und da noch ein altes, gemütliches Bauernhaus seltsam genug ausnahm,wie ein Mütterchen vom Land, das in eine Sozialistenversammlung geraten ist, und bald lag die Stadt hinter ihm und er war in Freudenloch, dem Vorortdorf, in das freilich die Stadt auch schon ihre Eingriffe machte mit Italienerbehausungen, Velohandlungen und Wirtschäftlein an Wirtschäftlein.

Herr Wäggerlin schritt an all dem achtlos vorbei; er bohrte wieder, ebenso fruchtlos wie am Vormittag, an seinem Racheplan herum, und merkte eigentlich erst, wie weit er gekommen war, als hinter dem Dorf der kühle Herbstwind ihm übers freie Feld weg schärfer um die Nase zu pfeifen begann. Da blickte er erstaunt auf und konstatierte auf seiner gutgehenden Uhr, daß es vier Uhr war, was der etwas heisere Glockenschlag des Dorfkirchleins eben bestätigte. Nun stand Herr Wäggerlin vor einer neuen Frage.

Regelmäßiges Leben war eins seiner Grundprinzipien,und er verstand darunter vor allem, jeden Tag zu den gewohnten Zeiten etwas zu essen und zu trinken. So wenig als das zweite Frühstück am Morgen, so wenig konnte er einen bescheidenen Imbiß um vier Uhr nachmittags vermissen. Sollte er nun ins eben durchschrittene Dorf zurück und dort einkehren? Der Gedanke behagte ihm nicht; zwar waren ja Wirtschaften genug, aber auf welche Kundschaft die meisten unter ihnen reflektierten, das zeigte der Umstand, daß bei allen, neben den deutschen Aufschriften, noch zu lesen war: Ristorante, Vino, Birra. Herr Wäggerlin war nun zwar kein Fanatiker des Germanentums, hegte aber gegen die Tschinken doch eine starke Abneigung und führte

33 []den ihm so unsympathischen Sozialismus vor allem auf die lavoratori mit ihrer lärmenden Art zurück. Dazu hatte er seit kurzem einen Kriminalroman zu lesen begonnen, der in den Kreisen der Maffia und ihrer amerikanischen Ableger spielte und ihn mit noch tieferm Mißtrauen gegen alles italienische Wesen erfüllte. So leuchtete ihm ein anderer Plan mehr ein. Vorwärts statt rückwärts. Noch ein halbes Stündchen und er erreichte ein zweites Dorf, Wieslingen, dessen behagliches Wirtshaus zum goldenen Rößli ihm wohl bekannt war. Da winkte ihm auch ein gutes Weinlein und jedenfalls ein viel geruhigeres Abendbrot als in einer der Arbeiterkneipen des Vorortdorfes. Diese Aussicht wog den Gegengrund wohl auf, daß dadurch die gewohnte Zeit um ein halbes Stündchen hinausgeschoben wurde.Also tapfer vorwärts! Es war der erste vergnügte Augenblick dieses bösen Tages, als die Hoffnung auf ein trauliches Stündlein im goldenen Rößli Herrn Wäggerlins Schritte beflügelte. Er bemerkte eigentlich erst jetzt,daß es recht schönes Wetter war. Das Tal lag so friedlich und still; hier pflügte ein Bauer mit einem Paar schnaubender Rosse, dort heimste eine Familie die letzten Kartoffeln ein, und die gefüllten Säcke standen feierlich wie Ratsherren im Ackerfeld. Die Birken am Bach glichen lauterm Gold an silberweißem Stamme; Kuhgeläute klang über die Matten, und lieblich waren die Räuchlein anzusehen, die von den Feuern der Hüterbuben und von dem auf den Kartoffeläckern verbrannten Kraute aufstiegen. Herr Wäggerlin hatte freilich keine Zeit für all die Herbstpracht, denn er mußte eilen, nicht allzuspät zum erhofften Weinlein zu kommen, aber all die Schönheit wirkte doch beruhigend auf sein bewegtes Gemüt, und noch vergnügter wäre er geworden, hätte er geahnt, daß dort im goldenen Rößlein die Frage, die ihn seit dem frühen Morgen quälte, ihre Lösung finden sollte.

Zuerst schien es freilich, als sollte auch hier ihn nur Aergernis erwarten; denn als er in die Wirtsstube trat.

24 []saßen hier in Rauchwolken gehüllt einige Bauern in blauen Blusen und siehe da, unter ihnen kein anderer als Heiri Buser, der Räuber von Herrn Wäggerlins kostbarer Morgenruhe. Ein Zornblitz fuhr über das Gesicht des alten Herrn, als er ihn gewahrte, und er besann sich, ob er wirklich eintreten solle und sich dahinsetzen, wo dieser Flegel und Rohling saß. Aber der Gaumen und Magen Herrn Wäggerlins protestierten energisch gegen jeden Gedanken an schmachvollen Rückzug. Dazu, hatte nicht das goldene Rößli wie jedes rechte Dorfwirtshaus ein Herrenstübli für Gäste, die nicht in den Dunst der gewöhnlichen Wirtsstube tauchen mochten?Entschlossen schritt Herr Wäggerlin, den übrigens Heiri Buser, der Frevler aufs freundlichste grüßte, auf das Stüblein zu, das ihm Einsamkeit zu verheißen schien. Neues Unglück: im Herrenstübli war Ueberschwemmung, die Stühle standen auf dem Tisch, und Frau Trümpi, die stattliche Wirtin, kniete am Boden und reinigte ihn gründlich.Sie war ebenso unangenehm überrascht, daß gerade heute,wo sie hier aufwusch, ein Herr ins Stübli wollte, als der unerwartete Gast es war, als er auch dieses Asyl verschlossen fand. Doch Frau Trümpi wußte sofort Rat. „Der Herr kann ja ins Läubli sitzen; es ist dort noch schöner als hier und gar nicht windig!“Sie wischte die Hände an der Schürze ab und führte Herrn Wäggerlin ins Gastzimmer zurück und durch die hintere Tür in ein kleines Läublein, das mit rotem Weinlaub umsponnen, mit einem alten Eichentisch und geschnitzten Holzstühlen möbliert und einem Bild General Dufours geschmückt ein urgemütliches Trinkplätzchen bot. Hier setzte sich Herr Wäggerlin und war bald damit beschäftigt, einer ansehnlichen Scheibe duftigen Käses und einem Fläschlein alten Weins den Garaus zu machen. Das Kuhgeläut drang von den Wiesen herauf und aus der Wirtsstube hörte man das immer lauter werdende Gespräch der trinkenden Bauern.

35 []Als Herr Wäggerlin Hunger und Durst gestillt hatte,wurde es ihm erst recht wohl; er streckte die Beine aus,holte eine vortreffliche Zigarre aus der Brusttasche, entzündete sie und ließ sich von Frau Trümpi das Fläschlein wieder auffüllen. Es schien, als könnte er alle schweren Erlebnisse und Gedanken des Tages in den schönen Abend hinauspaffen, wenn nicht immer wieder Heiri Busers kräftige Stimme ihn an seinen Plan erinnert hätte. Der Bursche schien eben heftig auf seine Zechgenossen einzureden: „Und ich sage, wir müssen etwas tun; da hilft nichts anderes mehr!“, ein bekräftigender Faustschlag dröhnte hinterher.

Herr Wäggerlin spitzte die Ohren. Die Aehnlichkeit dieses Kraftspruches mit seinen Gedanken frappierte ihn.„Was mag wohl diesen Kerl zum Aussprechen solch tiefer Wahrheit veranlassen,“ dachte er und erinnerte sich seines Tatendranges. Wie erstaunte er, als drinnen der Heiri eben wieder in wilder Wut aufbrüllte: „Dieser Wurmlinger, der Sozi, der verdammte! Wenn ich dem einmal eine gehörige übers Zifferblatt ziehen dürftel“ und wieder ein Faustschlag,daß die Fenster klirrten. Herr Wäggerlin schnellte vom Stuhl empor; fast wäre er hineingeeilt vor Freude; doch begnügte er sich vorerst, die Tür etwas weiter aufzustoßen,so daß er nicht nur hören, sondern auch sehen konnte, was in der Stube vorging.Ein Zeitungsblatt ging am Tische herum. Eben las ein älterer Mann in schülerhafter Betonung einen Artikel daraus halblaut; Herr Wäggerlin erkannte den „Volkswacht“Triumphgesang über das Milchgeschäft des Lebensmittelverbandes und merkte, daß es die Milchhändler von Wieslingen waren, die sich über die starke Konkurrenz des Vereines hier beim Weinglas empörten. Er, das Ehrenmitglied des Bürgerbundes, empfand sofort das innigste Mitgefühl mit den bedrängten Mittelstands-Existenzen, die er vor sich sah. War nicht die Bekämpfung des Lebensmittelverbandes und seines Präsidenten Wurmlinger jahrzehntelang das gewesen, was neben dem Geschäft seine Seele füllte?

36 []Entschlossen nahm er jetzt sein Fläschlein beim Kragen,trat ins Zimmer und setzte sich mit einem erklärenden: „Es wird kühl draußen“ ohne weiteres an den Tisch der Bauern.Sie waren erst über diese plötzliche Annäherung etwas verblüfft, da Herr Wäggerlin vorhin Heiris Gruß kaum erwidert hatte; aber als der Stadtherr die Zigarrentasche herausnahm und herum bot, war der Schrecken überwunden.Die Leichtsinnigen steckten sofort die guten Zigarren in Brand, die Vorsichtigen und Genauen verbargen sie sorgfältig in der Tasche und schmauchten an ihren Stümpen weiter.

Das Gespräch war bald wieder da, wo es Herr Wäggerlin haben wollte, auf dem Lebensmittelverband und seiner Tätigkeit. Die biedern Milchmänner klagten in beweglichen Worten, wie ein Bäuerlein nach dem andern durch dieses Großunternehmen an die Wand gedrückt werde, wie jeder für sie doch so notwendige Milchaufschlag einfach unmöglich sei, ohne daß sie dabei die Kunden an den Verband verlören. Auch sei jetzt, besonders seit dieser Wurmlinger im Stadtrat sei, eine Lebensmittelkontrolle eingeführt, die einem die Nase bis in den Stall hinein, überhaupt in Alles stechke, was sie nichts angehe. Besonders Heiri Buser, dessen Stall nicht viel sauberer sein mochte als seine Sprechweise,schüttete eine solche Zornesschale der unflätigsten Schimpfreden über das Haupt der Regierenden, speziell des verhaßten Sozialdemokraten im Stadtrat aus, daß Herr Wäggerlin bereit war, den Frevel des Morgens zu verzeihen, in der Hoffnung auf das, was von diesem Kerl zu erwarten war.

Der AltKassier des Bürgerbundes berichtete nun seinerseits den ergrimmten Milchmännern, daß der Gewerbeund Mittelstand der Stadt, besonders der Kleinhandel, nicht weniger als sie unter der furchtbaren Konkurrenz des Lebensmittelverbandes zu leiden habe, und es war selbstverständlich, daß dieser Wechselgesang der Klage nicht mit trockenem Halse geführt wurde. Herr Wäggerlin hatte die große Zweiliterflasche von Frau Trümpi mit dem Weine auffüllen lassen, den er trank. und sie neigte sich bereits

47 []wieder dem Ende zu. Immer heißer wurde der Zorn der Tafelrunde, immer wilder und lauter die Reden.

Heiri Buser schlug Herrn Wäggerlin mit wahrhaft zerschmetterndem Wohlwollen auf die Schulter und schrie ihn an, als ob er stocktaub wäre: „Verhungern lassen wollen uns die roten Siechen!“ Ein Faustschlag. „Nicht mehr Meister sein sollen wir in unserm Haus und Stall!“ Ein neuer Faustschlag und ein kräftiger Schluck. Dann rückte er dicht neben Herrn Wäggerlin und flüsterte ihm zu (wenigstens glaubte er zu flüstern, in Wirklichkeit war es nur die normale Sprechstimme, auf die er sein Gebrüll dämpfte):„Ihr werdet den Wurmlinger auch nicht mögen, Herr Wäggerlin, wenn er schon fast Euer Nachbar ist! Ich sag' Euch,wenn ich den einmal erwische, der erfährt etwas!“

Da begann Herr Wäggerlin zu zischen wie die Schlange im Paradies, als sie Eva verführte. Seine Aeuglein blinzelten, und die Haare seines Hauptes zitterten vor Erregung.Er beugte sich zu Heiri Buser hin und flüsterte: „Ein Napoleon sollte mich nicht reuen, wenn “, ein haßerfüllter Blick und eine Handbewegung machten den Satz so deutlich, daß der Milchmann verständnisinnig nickhte.

Eben schlug es sechs Uhr; die meisten der Trinkenden erhoben sich, bereinigten mit Frau Trümpi die Zeche und schritten heimwärts zur Abendarbeit im Stall. Heiri Buser blieb sitzen und griff wieder nach der „Volkswacht“, um mit dem Blatte die Schande seiner Trägheit zu verdecken, aus der ihn heute selbst die eiserne Arbeitsgewohnheit nicht zu reißen mochte. Sein Auge fiel auf einen Artikel, in dem eine Genossin vom australischen Frauenstimmrecht erzählte und mit der Frage schloß: „Wann wird einmal in unserem alten Europa die entrechtete Hälfte des Volkes fordern, was ihr zukommt?“ Da ergrimmte Heiri Busers Mannesstolz; er schob Herrn Wäggerlin, der über sein Glas hinträumte, die Zeitung zu und schrie ihn an: „Da wollen die verdammten Sozi noch den Weibsleuten das Stimmrecht geben! Ich sag', die Weiber gehören ins Haus und “

38 []Er wurde von Frau Trümpi unterbrochen, die eben wieder ins Zimmer trat und als gute Bauersfrau zu ihrem Gaste sagte: „Heiri, du mußt jetzt heim zum Füttern; es ist Zeit.“„Ach was, den Stall besorgt die Mutter, wenn ich nicht da bin!“ antwortete der Heiri sorglos.

Es war auch so. Die fünfundsechzigjährige Witwe Buser molk, mistete, fütterte und tränkte daheim wie ein Knecht,während ihr Sohn sich anschickte, im Rößli Herrn Wäggerlin einen längeren Vortrag zu halten über die Unfähigkeit der Weibsleute in allen Angelegenheiten der Männer, insbesondere in der Politik.

Doch Frau Trümpis Mahnung, die ihn nicht störte,hatte Herrn Wäggerlin aufmerken lassen. Er sah auf die Uhr. Viertel nach sechs.

Zu Hause wurde ein Viertel nach sieben zu Nacht gegessen. Der Weg bis zur Breitmattstraße betrug mindestens fünf Viertelstunden. Dazu war es Herrn Wäggerlin nach dem reichlicher als sonst ausgefallenen Abendtrunk nicht sonderlich ums Gehen. Auch dunkelte es schon stark. Um die Zeit kamen auch die Italiener von der Arbeit und das Vorortdorf war voll von ihrem lauten Gespräch, das wie erregtes Streiten klingt, auch wenn's ganz friedlich gemeint ist. Herr Wäggerlin dachte an den Maffiaroman, der daheim auf dem Tisch im Studierzimmer lag, und überlegte,wie er nun wohl heim kommen könne, ohne sein teures Leben den Messern der Verbrecher auszusetzen, ohne seine Beine allzusehr anstrengen zu müssen und ohne die Mehlsuppe, die nach alter Gewohnheit die Einleitung seines Nachtessens bildete, erkaltet oder nachgewärmt vorzufinden.

„Frau Trümpi, können Sie das Chaislein anspannen lassen? Ich möchte heimfahren.“ Aber Frau Trümpi bedauerte unendlich; das Chaislein wäre schon da; aber der Mann sei mit den Rossen ausgereist, um Wein zu kaufen, und komme erst abends spät heim. Herr Wäggerlin fragte, ob man nicht sonst ein Roß auftreiben könne; er werde es schon recht zahlen.

39 []Heiri Buser fuhr bei diesen Worten auf aus dem Schläflein, in das er versunken war, seit Herr Wäggerlin ihm das tolle Gespinst seines Redewerkes nicht mehr abnahm; er fragte, was man wolle, erklärte sich auch gleich bereit, sein Roß zu holen und im Chaislein des Rößliwirts den Herrn heimzufahren. Wäre Herr Wäggerlin selbst noch ganz klaren Kopfes gewesen, so hätte er sehen müssen, daß bei Heiris Zustand eine Fahrt mit ihm leicht gefährlicher werden könnte als die Schrecken, vor denen er sich fürchtete; aber er merkte eben vom unsichern Gang des Milchmannes selbst nichts mehr. Wohl aber war Frau Trümpi besorgt um den Ausgang der Sache. Sie meinte, Heiri solle nur einmal das Roß holen, fahren könne dann ihr Knecht schon. Aber da begehrte der Heiri schön auf; er lasse nicht ein lumpiges Knechtlein mit seinem Roß fahren, er fahre oder keiner mit seinem Roß.

Frau Trümpi mochte mit dem Manne keinen Krakeel haben oder auf die ernüchternde Wirkung der frischen Luft hoffen. Sie widersprach nicht mehr und Heiri zog ab. Als er nach einer guten Weile mit seinem Pferde wiederkam, schien auch wirklich die Aufgeregtheit sich gelegt zu haben. Er spannte ordentlich ein. Herr Wäggerlin rechnete mit Frau Trümpi ab und bestieg das zweiplätzige Chaislein, in dem sein Rosselenker schon saß. 4

„Könnt Ihr mich in einer halben Stunde heimbringen?“

„Will's meinen,“ antwortete Heiri und zwickte leicht über das Rößlein hin, das scharf zu traben begann.

Das schnelle Fahren und die Abendkühle ließen kein rechtes Gespräch aufkommen; erst als das Chaislein in etwas langsamerem Tempo durch Freudenloch fuhr, fand Heiri die Sprache wieder. Und wieder, als ob er seines Fahrgastes Gedanken erriete, sprach seine Zunge kecklich aus, was in Herrn Wäggerlins Herz als dunkles Gefühl lag: eine Mordgeschichte nach der andern über die Italiener,die man in den Wirtschaften sitzen sah, und deren fremde Laute auf die Gasse drangen; keinen Frevel gab's, den der biedere Landmann den fleißigen Fremden nicht zugetraut

10 []hätte; der Klagen furchtbarste und der stete Refrain des Liedes war, daß sie alle Sozialdemokraten und Anarchisten seien. Herr Wäggerlin stimmte bei und gab allerlei aus dem MaffiaRoman zum Besten.

Als die Italienerbaracken längst hinter ihnen lagen,waren Bauer und Bürger noch beim selben Gesprächsstoff,nur ohne die Beziehung auf die Italiener; sie sprachen eifrig über die Gefährlichkeit und Verworfenheit der Sozialdemokratie. Da nun der menschliche Geist einen starken Trieb hat, vom Abstrakten zum Konkreten überzugehen,so nahm auch für Herrn Wäggerlin und Herrn Buser das rote Gespenst die Gestalt des Stadtrats Wurmlinger an.Der Milchmann begann wieder auf die Stallinspektion und über die Konkurrenz des Lebensmittelverbandes zu schimpfen und bekräftigte seine zornigen Worte, wie im Wirtshaus mit Faustschlägen, so jetzt mit energischem Peitschenknallen. Das weckte auch in Herrn Wäggerlin wieder beides,den Haß gegen den Stadtrat, und den Plan zur Tatpropaganda gegen das verwünschte Knallen. Er trug es nun grimmigen Herzens; aber er hoffte, die beiden Gegner, den wütenden Milchmann und den gehaßten Wurmlinger, so aneinander zu bringen, daß sie den Schaden und er den Erfolg haben sollte.

Er war nicht mehr klar genug, das Gefährliche seines Schlachtplans zu empfinden, und doch noch nüchtern genug,ihn nicht offen zu verraten. Er verbarg seine Abneigung gegen das Peitschengeknall und fing an, mit heuchlerischen Worten Heiris Kunst zu loben. Für jedes Kompliment quittierte dieser mit einem noch kräftigeren Knall und seine vom Weinrausch funkelnden Aeuglein blickten selig. Da warf Herr Wäggerlin so beiläufig hin: „Ist's Euch noch nie passiert, daß Ihr beim Klepfen jemand getroffen habt? Es kommt mir vor, man würde es spüren, wenn man dabei gezwickt würde.“

Glaub's schon,“ lachte Heiri, „wollt Ihr's probieren!“

„Danke bestens, aber einen wüßt ich, dem tät's ganz gut, wenn er einmal zufällig eine bekämel“

41 []„Kann mir denken, wen Ihr meint, den Herr “

„Ich will natürlich nichts gesagt haben,“ lenkte Herr Wäggerlin ein, „aber Spaß tät's mir machen, zu hören,was ein gewisser Herr sagen würde, wenn er einen so recht kräftigen Klepf auf der Glatze oder im Gesicht hätte! Ha,ha, ha! Das könnte doch zufällig einmal passieren, oder nicht! Der Spaß! Einen Napoleon wollt ich mirs kosten lassen, den Spaß!“

Er schwieg, um abzuwarten, wie Heiri auf den ausgeworfenen Haken anbisse, und die verschmitztesten Erwägungen zogen durch das weinerleuchtete Gehirn des alt-Zigarrenhändlers! War nicht eben halb acht Uhr die Zeit, da sein Feind vom Bureau kam? Könnte ihm da nicht gerade der heimkehrende Heiri begegnen? Wenn er jetzt recht einheizte,wer weiß, ob der angetrunkene Tölpel nicht dreinschlug?Freilich tauchte da doch wieder eine Art Bedenklichkeit auf;aber Herr Wäggerlin hatte nicht umsonst im Traum der Morgenfrühe an der Seite der portugiesischen Jesuiten gekämpft: es fanden sich auch in seinem freisinnigen Herzen der Kniffe genug, die Bedenklichkeit seines ehrsamen Gewissens zu übertäuben. Konnte man ihm etwas vorwerfen?Hatte er etwas Bestimmtes ausgesprochen? Nur einen Namen genannt? Nur einen Satz, der zu dem Attentat aufforderte, ganz ausgesprochen? Und wenn auch? Geschah die Tatpropaganda nicht aus gutem Grund? zu edlem Zweck?Die Behörden auf das Gesetz aufmerksam zu machen, das Publikum vor dem heillosen Peitschenknallen zu bewahren? Kurz, Herr Wäggerlin hatte Gründe genug, sich als sein eigener Beichtvater zum voraus zu absolvieren, und blinzelte zu Heiri hinüber, ob er sich wohl zum Werkzeug seines Planes brauchen lasse. Der brütete vor sich hin; man sah ihm an, daß er über etwas nachdachte.

Das Rößlein, ohne Leitung ganz sich selbst überlassen,wollte die gewohnte Milchmanns-Rundfahrt antreten und eben in die Schwanallee einbiegen, statt in die Breitmattstraße; Heiri merkte es nicht. Herr Wäggerlin mußte ihn aufmerksam machen. Nun lenkte der Bursche stillschweigend

12 []in die richtige Straße ein und nach einigen Minuten sprachs,wie aus seiner innersten Tiefe dumpf heraus: „Den Napoleon, den, den will ich mir schon “

Doch Herr Wäggerlin ließ ihn auch jetzt nicht ausreden:„Haltla, da sind wir ja daheim!“ Der Wagen hielt. Herr Wäggerlin stieg ab, drückte dem Heiri einen guten Fuhrlohn in die Hand und blinzelte dabei bedeutsam. Dann schritt er durch das Vorgärtlein zur Haustür und suchte den Schlüssel. Dabei bemerkte er den Briefträger, der eben auf das Haus zukam und im selben Moment Stadtrat Wurmlinger,der aus dem Bureau heimkehrte, und wie er in sein Haus wollte und wie er stillstand, um den Briefträger zu erwarten.

Heiri Buser kehrte eben mit dem Wagen um, fuhr dabei bis an die andere Seite der Straße, rief noch ein schallendes „Gute Nacht, Herr Wäggerlin!“ herüber, in dem der Begrüßte einen wilden freudigen Triumph zu hören glaubte, und nun erlebte Herr Wäggerlin, während er dem Briefträger die Post abnahm, was er sich den ganzen Tag gewünscht hatte. Ein fürchterlicher Peitschenknall ließ ihn aufsehen. Drüben Stadtrat Wurmlinger, den er deutlich erkennen konnte, weil er im Schein der Laterne stand, die vor seinem Haus (natürlich vor seinem Haus, pflegte Herr Wäggerlin zu sagen) leuchtete, Stadtrat Wurmlinger blickte auch auf und schien dem Peitschenschwinger etwas zurufen zu wollen. Da, im selben Augenblick fuhr ein furchtbarer Hieb über sein Gesicht, sein Hut fiel zu Boden, er selbst taumelte und wäre wohl gefallen, hätte ihm nicht das Gitter des Vorgärtchens einen Halt geboten. Sein Schmerzensschrei wurde übertönt von neuem Peitschenknallen und dem Rasseln des rasch sich entfernenden Wagens.

Das war alles im Nu geschehen. Herr Wäggerlin trat ins Haus und sah durch das Gitterwerk der Türe noch, daß der Briefträger, der rasch über die Straße eilte, den Stadtrat am Arm ergriff und ins Haus führte, nochmals heraussprang, den am Boden liegenden Hut aufhob, eilends hineintrug und wenige Minuten darauf mit seinem kleinen Laternchen weitereilte.

43 []„Also war der Hieb nicht gefährlich,“ sagte Herr Wäggerlin vor sich hin und freute sich dabei über seine eigene, an Detektivromanen geschulte Beobachtungsgabe; „wäre die Sache gefährlich gewesen, so hätte der Briefträger rasch zum Arzt und zur Polizei laufen müssen!“

Der scharfsinnige Beobachter übersah bei dieser Schlußfolgerung freilich, daß der städtische Polizeivorsteher gewiß mit dem ihm untergebenen Amt durch das Telephon verbunden war; aber das schadete nichts, die Beobachtung an sich freute ihn. I

Er trat ins Eßzimmer und bemerkte, daß für ihn allein gedeckt war. Ein fürchterlicher Gedanke fuhr durch sein erhitztes Gehirn. „Wo ist die Anna?“ Die Antwort des Dienstmädchens lautete zum Glück sehr beruhigend: „Das Fräulein ist in den gemischten Chor; es sei eine Extraprobe für das Konzert am Sonntag; am acht Uhr komme sie heim.“

Da ließ sich Herr Wäggerlin am Tisch nieder und vertiefte sich in die Mehlsuppe, vertilgte dann noch einige Reste des Mittagessens und trank dazu zwei Gläser Flaschenbier.Das alles aber doch nicht mit der tiefen Befriedigung eines Mannes, der einen Tag lang sich mit einem scheinbar aussichtslosen Wunsche abgequält und nun am Abend doch noch seine Erfüllung erlebt hat. Auch nicht mit dem kolossalen Spaß, den er sich versprochen hatte, als er den Heiri verführte.Offen gestanden, die Sache hatte ihn enttäuscht. Es war so schnell gegangen. Er hatte sich den Hergang dramatischer gedacht und zugleich doch auch wieder harmloser, humoristischer, weniger roh, als er in Wirklichkeit war. Er suchte sich über das Gefühl der Enttäuschung, dem bereits etwas wie Scham und auch wieder wie Angst beigemischt war, wegzuhelfen: „Wenns nur wirkt, das ist die Hauptsache! Gefährlich ist's ja nicht gewesen, kann's nicht gewesen sein!“

Aber er fuchte noch andere Ablenkung. Er griff zur Zeitung. Er konnte sie nicht mit dem Genuß und der Gründlichkeit studieren, wie sonst. Immer kamen seine Gedanken auf seine Tat zurück. Seine Tat? Er wollte sich einreden.

14 []es sei ja Heiri Busers Tat, nicht seine. Je nüchterner er wurde, desto mehr erschien es ihm doch als seine Tat. Dann mußte er sich wohl auch auf die Folgen gefaßt machen. Der Gedanke war entschieden unangenehm. Er wollte ihm entgehen; deshalb nahm er sein Glas und noch eine Bierflasche und zog sich ins Studierzimmer zurück.

Dort machte er sichs behaglich, zündete die Lampe an,hüllte sich in seinen Schlafrock, steckte eine Zigarre an und nahm vom Schaft das Buch, auf dem in blutigroten Lettern stand: „Im Banne der Maffia“. Er setzte sich bequem zurecht, nahm das Lesezeichen aus dem Buch, es war eine Quittungskarte für den Mitgliederbeitrag des Vereins zur Bekämpfung der Schmutzliteratur und war nun wirklich im Banne der Maffia. Was da an Freveln und Verbrechen nur auf einer Seite stand, wog freilich sein Untätchen hundertfältig auf.

Es wurde dem guten Herrn Wäggerlin ganz heiß beim Lesen all der Greuel, an die er zu allem hin noch aufrichtig glaubte. Er öffnete das Fenster ein wenig und griff wieder zum Buch. Eben las er, wie Giovannina, die wunderschöne Heldin der Geschichte, ihren Geliebten warnen will vor der Rache ihres Vaters, des MaffiosenHäuptlings, wie dieser dazwischen tritt und das Paar auseinander reißt, um den Jüngling vor den Augen der Tochter zu erdrosseln: „Addio,addio, hauchte Giovannina erblassend“ da tönte es von der Straße herauf heiter und fröhlich von einer merkwürdig bekannten Stimme: „Addio, mia caral“

Herr Wäggerlin sprang auf und spähte durch die Jalousien. Tatsächlich, da stand der junge Wurmlinger, und wer ihm eben die Hand drückte und den romantischen Abschiedsgruß mit einem schlichten und heitern „Gute Nacht,Eugen!“ erwiderte, das war Anna, seine Anna, von der er noch heute Mittag demselben Herrn Doktor feierlich erklärt hatte: „Meine Tochter denkt wie ich!“

Er schloß wütend das Fenster; so setzte das saubere Pärchen fröhlich und unbekümmert seine Liebelei fort und kümmerte sich um ihn keinen Pfifferling! Da wollte er

15 []doch! Er ahnte den Zusammenhang; Eugen Wurmlinger hatte Anna offenbar nach der Chorübung abgeholt, denn er selbst sang nicht und nun waren sie fest entschlossen, ihm zu trotzen!

Eben hörte er Anna drüben ins Zimmer treten und das Dienstmädchen ruhig nach dem Vater fragen. Das wagte sie noch! Er wollte sie gerade hereinrufen, um ihr gehörig die Leviten zu lesen, dachte aber dann doch an das Dienstmädchen und beschloß, zu warten. Da trat die Sünderin selbst unbefangen herein, grüßte ihn vergnügt, fragte, wo er nachmittags gewesen und ob er den schönen Herbsttag recht genossen, und das alles so heiter, als ob sie nichts zu verbergen hätte.

„Ich habe etwas mit dir zu reden,“ sagte Herr Wäggerlin im feierlichsten Ton zu ihr und schob alle ihre Fragen verächtlich bei Seite. Aber ein so unverwüstliches Glück blühte im Herzen des Mädchens, daß es die Feierlichkeit des Vaters nicht einmal merkte, sondern fröhlich antwortete: „Laß mich erst der Lina noch einen Augenblick in der Küche helfen, dann steh ich ganzg zu deiner Verfügung.“ Und hinaus war sie.

Ganz verdutzt setzte sich Herr Wäggerlin wieder in seinen Stuhl und griff nach dem Buch, in dem der alte Andrea eben eigenhändig vor den Augen der Tochter ihren Geliebten erwürgte. Seine Anna hätte sich das wohl nicht so ohne weiteres gefallen lassen. Woher sie wohl den harten Kopf hatte? Aber während er darüber nachgrübelte und sein und der seligen Elise Wesen mit dem ihres Kindes verglich, trat dieses, eine heitere Melodie als Erinnerung an die Chorübungen summend, ins Zimmer: „Was willst du von mir. Vater?“

Herr Wäggerlin legte Buch und Zigarre ab, erhob sich gravitätisch, runzelte die Stirn und fuhr die Tochter an:„Was unterstehst du dich eigentlich, noch mit diesem ?“

Weiter kam er nicht; die Haustürklingel töute scharf und grell dazwischen; man hörte Lina öffnen und laut und deutlich fragte Eugen Wurmlinger: „Kann ich Herrn Wäg

48 []gerlin rasch noch sprechen?“ Zu Annas maßlosem Erstaunen erbleichte ihr Vater und fiel wie gebrochen in seinen Stuhl:„Geh hinaus und laß ihn herein!“ Doch schon klopfte Eugen,der das verdutzte, zu jeder Antwort unfähige Dienstmädchen beiseite geschoben hatte, an die Tür. Anna mußte „Herein!“ rufen; Herr Wäggerlin war nicht imstande dazu.

„Entschuldigen Sie die späte Störung, Herr Wäggerlin, aber ich muß Sie unbedingt etwas fragen.“ Er sah dabei so entschlossen und zornig aus, daß Anna entsetzt fragte:„Ums Himmels willen, was ist denn geschehen?“

Eugen wandte sich aber nur an ihren Vater: „Sie haben vielleicht gehört, oder noch selbst gesehen, daß mein Vater von einem Betrunkenen geschlagen worden ist.“

„Ist's gefährlich?“ stammelte Herr Wäggerlin.

„Nicht sehr. Ein Striemen übers rechte Auge herunter und eine kleine Wunde an der Backe von der Brille, die dabei zerbrochen ist. Der Vater macht nicht viel draus, aber ich möchte wissen, welcher Flegel den alten Mann so mißhandelt hat.“

Nun fuhr Anna zusammen, hatte Eugen ihren Vater im Verdacht? Sie kannte ja die Feindschaft, aber solches durfte doch niemand ihrem Vater zumuten! Sie wurde rot vor Zorn und blitzte den Geliebten scharf an aus ihren hellen Augen. Eugen merkte es, und sich nun halb zu ihr wendend, setzte er hinzu: „Mein Vater sagt, es sei der Kutscher eines Chaisleins gewesen, den er wegen seines Peitschenknallens habe zurechtweisen wollen.“

Herr Wäggerlin faßte wieder Mut; man hatte also doch nicht schon ihn im Verdacht; er richtete sich wieder auf und warf im Tone aufrichtigen Bedauerns ein: „Ja, dieses heillose Peitschenßnallen. Ich habe es schon immer gesagt,das gibt noch einmal ein Unglück, nicht Anna?“

Doch die Gefragte hatte nicht Zeit zur Antwort. Der junge Advokat nahm statt ihrer das Wort: „Ein Unglück,kann sein, vielleicht auch etwas anderes. Mein Vater hat schon so manchen Drohbrief bekommen, daß ich vermute,es könnte nun einer im Rausch die Drohung ausgeführt

17 []haben. Drum möcht' ich wissen, wer der Kerl war. Mein Vater “

„Ja, wie können denn wir wissen, wer deinen Vater geschlagen hat?“ rief Anna dazwischen, in ihrer Angst es zu spät merkend, daß sie sich mit der Anrede vergessen hatte. Aber der Vater schien es zum Glück auch nicht bemerkt zu haben und Eugen fuhr fort: „Mein Vater hat gesagt, der Kutscher habe Ihnen noch ‚Gute Nacht' zugerufen; möglicherweise kennten Sie ihn. So bin ich zu Ihnen gekommen um Aufschluß. Wissen Sie, wer der Kerl ist?“

Herr Wäggerlin rutschte verlegen auf seinem Sitz herum: „Wer er ist? Wie er heißt? Sie meinen das heißt Sie glauben .“ Er suchte Zeit, um mit seinen Ueberlegungen ins Reine zu kommen. Was war jetzt gefährlicher,den Namen des Attentäters zu nennen, oder ihn zu verleugnen? Ob nun wohl Wurmlinger nur Heiris Gruß gehört oder auch gesehen hatte, daß er, Herr Wäggerlin, vorher im Chaislein gesessen hatte? Darauf kam es an, aber wenn man das nur wüßte? Er entschied sich für den Weg der Wahrheit, immerhin mit dem Plan, ihn vorsichtig zu wandeln und nicht die ganze Wahrheit preiszugeben: „Es war wohl der Bauer, der mich heimgeführt hat. Ich war über Land. Es tut mir leid, daß ich solch einen Flegel dazu erwischt habe. Schon den ganzen Weg hat er so unsinnig geklepft.“

Wahrhaftig, da zog der junge Advokat ein Büchlein heraus, um sich Notizen zu machen. Herr Wäggerlin kam es vor, er sei vor Gericht. Mußte er sich in seiner Stube ein Verhör gefallen lassen? Durfte er nicht sein Hausrecht wahren? Dem unverschämten Frager die Türe weisen?Hatte er nicht sonst noch genug mit ihm abzurechnen? Er beschloß, selbst zum Angriff überzugehen.

„Uebrigens, Herr Doktor, weil Sie nun da sind, möchte ich doch nach unserm Gespräch von heute Morgen bitten,sich gegenüber meiner Tochter einige Reserve aufzulegen,Reserve aufzulegen. Ich verbitte mir jeden intimeren Verkehr!“

48 []Anna wurde blaß, Eugen sah den Alten verdutzt an,ließ sich aber von seinem Weg nicht abdrängen: „Davon ein andermal, Herr Wäggerlin. Darf ich fragen, wo Sie waren?“ Das sagte er mit solcher Bestimmtheit und sah den alten Herrn so inquisitorisch an, daß der ganz verschüchtert antwortete: „In Wieslingen“ und auf einen weitern Blick noch dazu fügte: „Im Rößli“.

„So wird Ihr Kutscher wohl der Wirt oder sein Knecht gewesen sein?“

Herr Wäggerlin schwankte; aber er sagte sich doch, daß,wenn Wurmlinger das wußte, was er ihm gesagt hatte, er noch mehr erfahren werde; also half lügen nichts.

„Nein, es war ein anderer; wenn ich nicht irre, der Bursche, der uns morgens die Milch bringt “

„Aha, ein Milchmann, das stimmt. Wegen des Milchgeschäfts im Lebensmittelverband hat mein Vater ein ganges Halbdutzend anonyme Briefe vom Land gekriegt!“Und Eugen Wurmlinger schrieb etwas in sein Büchlein.Herr Wäggerlin wollte ein wenig verwischen, was er gesagt hatte. „Nun, ob's ein Milchmann oder nur ein Knecht ist, weiß ich nicht. Der Kerl mag auch ein wenig zu viel gehabt haben; ich hab's schon während der ganzen Fahrt gedacht, wenn er so klepfte.“

Die Stimme Herrn Wäggerlins war etwas unsicher;doch merkte es Eugen nicht, sondern erwiderte nur zornig:„So, mildernde Umstände hat er sich auch noch gerade ansaufen wollen, der Flegel! Macht nichts, seinen Teil muß er doch haben!“

„Ach, Herr Doktor,“ wagte sich nun Herr Wäggerlin wieder hervor, „beabsichtigt wird doch die Sache nicht gewesen sein! Dieses heillose Klepfen ist Schuld daran. Das mußte einmal ein Unglück geben.“

„Sie meinen?“ antwortete der Jurist und sah Herrn Wöggerlin sehr skeptisch an, so daß dieser wieder sehr erschrak. Doch faßte er sich und wagte einen neuen Vorstoß:„Verbieten sollte man den Unfug! Das habe ich immer gesagt, nicht Anna?“

49 []Anna nickte stumm, obwohl sie kaum auf die Frage geachtet. Das unsichere Wesen ihres sonst so bestimmt auftretenden Vaters fiel ihr auf. Was konnte das für einen Grund haben, daß er, der sonst so viel polterte und schalt,sich von Eugen abfragen ließ wie ein Schulkind und seine Antworten so zaghaft gab. Schärfer als der junge Advokat sah sie; denn sie kannte ihren Vater. Es mußte in der Sache etwas nicht in Ordnung sein; das spürte sie.

Doch Eugen erhob sich nun, reichte Herrn Wäggerlin freundlich die Hand und verabschiedete sich. „Besten Dank für Ihre Auskünfte. Entschuldigen Sie die späte Störung,aber Sie begreifen. Gute Nacht, Herr Wäggerlin, gute Nacht.An Fräulein Wäggerlin.“

Er ging; sie begleitete ihn an die Haustür, war aber zu erregt, ein Wort hervorzubringen; kaum daß sie sein zweites weniger formelles Gute Nacht erwiderte. Dann eilte sie in die Stube; der Vater saß noch ganz blaß in seinem Lehnstuhl. Nun ergriff er die Bierflasche, schenkte sein Glas voll und nahm einen Schluck, der nur noch ein schäbiges Restlein darin ließ.

Anna kannte das Zeichen. So rasch trank der Vater nur, wenn die Wut in ihm kochte. Und wirklich, nun sprang er auf, sein Gesicht wurde rot, und er stieß grimmig hervor:„Der Kerl, der Bub! Mich in meiner eigenen Stube abzufragen wie ein Verhörrichter! So eine Unverschämtheit.“

Er durchmaß das Zimmer in raschem Schritt wie ein Menagerietiger vor der Fütterung seinen Käfig. Anna griff ihm freundlich unter den Arm und führte ihn zum Stuhl zurück. „Bitte, Vater, reg' dich doch nicht so auf. Du weißt doch, daß der Argt dich vor aller Aufregung gewarnt hat.“

Der Erregte ließ sich wirklich in den Stuhl fallen und leerte den Rest seines Glases. Dann schaute er so trüb und verzweifelt vor sich hin, daß Anna Angst um ihn bekam und ihn mit zitternder Stimme fragte: „Was ist denn eigentlich an der Sache, daß sie dich so aufregt! Es wird ja doch nicht so schlimm sein.“

30 []„Nichts ist dran, gar nichts!“ schnauzte Herr Wäggerlin, dementierte seine Antwort aber gleich, indem er wieder aufstand, durchs Zimmer lief und vor sich hinredete: „Verfluchte Geschichte!l ganz verfluchte Geschichte!“

„Ums Himmels willen, sag mir doch, was geschehen ist,“ rief Anna ganz verzweifelt.

„Nichts, gar nichts! Ins Bett will ich jetzt. Gute Nacht!“Und damit war der Vater in der Schlafstubentür verschwunden. Es blieb Anna nichts übrig, als auch ihr Zimmer aufzusuchen; denn daß sie aus dem Vater nichts herausbringen konnte, stand nun ganz fest. Sie hoffte auf den nächsten Morgen.

Herr Wäggerlin ging zu Bett. Noch eine halbe Stunde waren seine Gedanken hinter ihm her wie die Hunde hinter einem Häslein. War er nun verraten? Würde nun wohl Heiri Buser, der ohne Zweifel erwischt wurde, ihn als Anstifter seiner Tat angeben? Ließ sich die Sache, wenn sie vor Gericht kam, so drehen, daß der fatale Schlag, den Herr Wäggerlin nun so sehr verwünschte, wie er ihn noch vor ein paar Stunden gewünscht hatte, lediglich als Folge des Peitschenknallens hingestellt werden konnte? Das kam darauf an, wie betrunken der Milchmann gewesen war. Aber mußte bei dieser Feststellung nicht herauskommen, daß er,Herr Wäggerlin, den Wein im Rößli gestiftet hatte? Es hing doch alles ganz entsetzlich fest aneinander. Herr Wäggerlin fühlte die Kette, aus der sich kein Glied entfernen ließ, an seinem Halse hängen, und es war ihm, als wollte sie ihn erdrosseln.

Wenn zur Abwechslung die Gedanken einmal vorwärts liefen statt rückwärts, so sah die Zukunft nicht rosiger aus.Ein Prozeß fatalster Art, eine gesalzene Strafsumme,wenn's gut ging; ein Schmerzensgeld an Wurmlinger! Der Kerl stiftete es dann gewiß in die Pensionskasse der Angestellten des Lebensmittelverbandes oder in die Hilfsfonds für Arbeitslose oder für ein sozialdemokratisches Jugendfest oder die Maifeier! Herr Wäggerlin stöhnte bei diesem Gedanken.

31 []Und wenn das alles wäre! Aber die Blamage, die dabei herauskäme. Wie die „Volkswacht“ das ausbeuten würde gegen ihn und den Bürgerbund bei den bevorstehenden Kantonsratswahlen! Und das Geschwätz und die nächste Fastnacht! Herr Wäggerlin schauderte bei dem Gedanken.Ein Trommler und Pfeiferkorps in Milchmänner-Blusen,eine Laterne, auf der sein Bild riesengroß prangte, ein ganzer Zug höhnischer Gestalten zog an seinem Auge vorbei, und er glaubte einen langen schmalen Zettel in der Hand zu haben, auf dem die ganze Begebenheit in Versen erzählt war.

Doch in dieser Bedrängnis kam mit einem Mal ein tröstlicher Gedanke: Wenn's soweit kam, so war wenigstens der dummen Liebesgeschichte zwischen Anna und dem jungen Wurmlinger ein Ende gemacht. Als eben der geplagte Mann auf diesem Gedanken ein wenig von den vorherigen Schrecknissen ausruhen wollte, kam ein anderer Tröster über ihn, ein fester, traumloser Schlaf. Die Ermüdung des aufregenden Tages war zu groß gewesen. Als Anna in der Sorge um den Vater nochmals aus ihrer Stube herunterkam, tönten ihr schon, als sie leise die Wohnzimmertür öffnete, sehr beruhigende Schnarchtöne aus der Schlafstube entgegen. Da suchte auch sie ihr Lager auf.

Wie am gestrigen Morgen weckte der Milchwagen Herrn Wäggerlin, doch diesmal ohne Peitschenknallen. Mit erschreckender Deutlichkeit stand schon im ersten Augenblick des Erwachens das Erlebnis des vorigen Tages vor Herrn Wäggerlins Seele. Wieder wie gestern fuhr er mit einem Satz aus dem Bett ans Fenster, riß es auf und lauschte durch die Jalousieläden, ob Heiri Buser etwa von seiner gestrigen Untat etwas sage. Doch hörte er nur, daß Lina mit einiger Enttäuschung im Ton fragte: „So, fahrt Ihr heute mit der Milch, Frau Buser?“ Worauf eine energische Frauenstimme antwortete: „Ja, der Heiri, der Lump, hat gestern wieder einen Rausch heimgebracht, daß er jetzt noch im Nest liegt wie ein Sack! Wenn er doch einmal Vernunft annähme, alt genug wäre er dazul“

39 []„Wie ists denn wieder zugegangen? Es war doch gestern nichts besonderes?“

„Doch eben; er hat gestern Abend noch einen Stadtherrn heimgefahren, den er im Rößli getroffen (Herr Wäggerlin atmete tief, als er dabei seinen Namen nicht hörte)und statt dann gleich heimzufahren, ist er noch in einer Pinte gehockt bis zur Polizeistunde. Geschnarcht hat er auf dem Wagen, als er heimkam. Wenn der Kohli nicht so vernünftig wäre und seinen Stall selbst gefunden hätte, es hätte können das größte Unglück geben.“

Lina seufzte und dachte, so Lumpereien müsse sie aber dem Heiri austreiben, wenn er einmal ihr Mann sei. Frau Buser aber, der es offenbar wohltat, ihren mütterlichen Zorn vor einer teilnehmenden Seele auslassen zu können,fuhr fort:

„Die tollste Gugelfuhr kam aber noch, als ich ihn wach und aus dem Wagen ins Haus bekommen hatte. Da hat er getan wie lätz. Er habe in der Stadt einen Napoleon verdient (Herr Wäggerlin erbebte hinter seinem Fensterladen)und wisse nicht mehr, von wem und für was. Geheult hat er wie ein Kind deswegen. Er heult immer, wenn er zuviel hat. Es ist ein Elend mit dem Bubl“

Herr Wäggerlin atmete erleichtert auf und pries im Stillen sein Geschick wegen der glücklichen Lücke in Heiris Gedächtnis; doch erschrak er aufs neue, als die energische Mutter noch beifügte: „Aber, wenn's wahr ist, was er da faselt, ich bring's schon heraus, wer ihm den Napoleon schuldig ist. Das kann unsereiner nicht laufen lassen. Da haben wir's zu nötig. Adieu, Lina.“

Der Wagen rasselte weiter; die Haustür fiel zu. Herr Wäggerlin verließ seinen Posten und kleidete sich an. Was er erlauscht hatte, war so schlimm nicht. Der Attentäter hatte also den Namen seines Anstifers vergessen, und wenn seine Mutter auch erfuhr, wie er den Napoleon verdient hatte, würde sie wohl nicht so unklug sein, Lärm zu schlagen.Von dieser Seite war also keine Gefahr. Aber freilich,nützte das viel? Und dabei fiel die Meute der Gedanken

3*[]von gestern Abend wieder über ihr Opfer her und schlang sich die festgeschlossene Kette wieder um seinen Hals. Er seufzte tief auf und verwünschte den ganzen gestrigen Tag.

Mit einem Leichenbittergesicht erschien er zum Frühstück und fürchtete sich vor Annas Forschen. Doch blieb er verschont davon. Anna hatte sich die Sache überlegt; sie wußte, daß mit Fragen bei ihrem Vater nicht viel anzufangen war. In ein paar Tagen längstens würde er selber von der Sache zu reden anfangen; dafür kannte sie ihn gut genug. Dazu wollte sie erst einmal mit Eugen gehörig über die Sache reden, um von ihm alles Nötige zu wissen,ehe sie den Vater weiter befragte. So tat sie ganz unbefangen, als ob sie das trübselige Gesicht Herrn Wäggerlins nicht bemerkte, obwohl er sie herzlich dauerte deswegen,sprach vom schönen Wetter, von der gestrigen Gesangsprobe, in der sie ein neues, ganz famoses Chorwerk einer jungen Stadtberühmtheit einübten, schwärmte einiges über ihren Dirigenten, an dem sogar die Grobheit liebenswürdig war, und suchte so den Vater auf andere Gedanken zu bringen.

Das gelang ihr freilich nicht. Herr Wäggerlin war sehr einsilbig und starrte lauernd durchs Fenster auf die Straße.Als drüben Eugen Wurmlinger aus dem Haus kam und den üblichen Morgengruß pfiff zu Annas Fenster hinguf,fuhr ein Zornblitz über sein Gesicht, während Anna errötend sich in ihre Tasse vertiefte. Doch wich der Zorn gleich wieder der heimlichen Angst. Der Kerl pfiff ja ganz triumphierend, als wollte er ihn höhnen; der wußte gewiß schon mehr, der hatte sich gestern Abend nur so gestellt, als sei er ganz unaufgeklärt! Anna erhob sich, verabschiedete sich und ging in ihre Schule.

Herr Wöggerlin begab sich in sein Studierzimmer. Aber der MaffiaRoman blieb unberührt. Auf dem Schreibtisch lag noch aufgeschlagen das Mäpplein mit den fremden Briefkasten-Kunstwerken; zu oberst das Aufsätzlein, das Herrn Wöäggerlin zu seiner unseligen Propaganda der Tat gereizt hatte. Er fühlte einen Moment eine wilde Lust, es in hundert Fetzen zu reißen; dann aber erwachte der Künst

14 []ler in ihm wieder und verhinderte die Vandalentat des Zornes. Sorgfältig, aber mit einem tiefen Seufgzer, versorgte Herr Wäggerlin das Mäpplein und stellte sich dann ans geöffnete Fenster, um durch die Ladenjalousien zu beobachten, was draußen vorging, vor allem drüben bei Wurmlinger. Ob er wohl selbst aufs Bureau gehen konnte?

Es war acht Uhr. Nichts regte sich drüben. Doch, da ging die Haustür. Aber es trat nur das ältliche Dienstmädchen heraus, das seit Frau Wurmlingers Tode dem Stadtrat und seinem Sohn den Haushalt führte. Frau Pfarrer Heftenbach, die eben wieder ihr Kehricht-Eimerchen herein holte, schien mit bedauerndem Gesicht etwas zu fragen. Herr Wäggerlin spitzte die Ohren, aber er konnte die Antwort des Dienstmädchens nicht verstehen. Immerhin, was er befürchtet hatte, trat auch nicht ein; die Sprechenden deuteten weder mit dem Zeigefinger herüber, noch schenkten sie überhaupt der andern Straßenseite einen Blick; also jedenfalls redeten sie nicht davon, daß er bei der Sache beteiligt sei.Befriedigt registrierte Herr Wäggerlin die Beobachtung. Die Straße wurde wieder still.

Um halb neun Uhr hielt ein Wagen vor Wurmlingers Haus. Dr. Kellermann stieg aus und ging hinein. Nach kaum fünf Minuten öffnete sich die Tür wieder; Stadtrat Wurmlinger mit verbundenem Kopf begleitete den Argt an die Tür; sein joviales Lachen zeigte dem Beobachter, daß die Sache nicht schlimm sein konnte, daß Dr. Kellermann offenbar nur vorgefahren sei, um sich nach der Nachtruhe des Verletzten zu erkundigen. Noch von der Tür des Vorgärtchens rief er zurück: „Also ein wenig Hausarrest, Herr Stadtrat, aber arbeiten dürfen Sie schon, wenn Sie's nicht lassen können!“ Herr Wäggerlin ärgerte sich darüber, ohne recht zu wissen warum; es war doch eigentlich gut, daß es nur eine Bagatelle war, da konnten die Folgen auch nicht so schlimm ausfallen.

Um neun Uhr läutete der Sekretär des Polizeiwesens mit einer dicken Aktenmappe am Haus des Stadtrats. Herr Wäggerlin erschrak: Holla, nun wurde gewiß ein Versol

55 []gungsplan ausgeheckt. Wer ihn nur kennte, daß er ihn parieren könnte! Die Gedankenmeute kläffte wieder ungebührlich laut. Nach einer Stunde verließ der Sekretär das Haus wieder; die Aktenmappe hatte er nicht mehr bei sich.Das konstatierte Herr Wäggerlin mit Freuden; denn mit dem letzten Ruf Dr. Kellermanns ergab sich daraus, daß Wurmlinger sich seine Aktenbündel aus dem Bureau hertelephoniert hatte; vielleicht hatte sichs also doch nicht um seine Sache gehandelt.

Von weitern Beobachtungen hielten Herrn Wäggerlin das zweite Frühstück, es war diesmal nach Annas Anordnung ein scharfes Ochsenmaulsalätchen und der Einlauf der Post ab. Eine Vorladung vor den Untersuchungsrichter war nicht dabei. Sonst interessierte ihn heute nichts.

Sollte er nun wie gewöhnlich seinen Morgenspaziergang machen? Das Attentat auf Wurmlinger war gewiß schon Stadtgespräch; sollte er sich dem aussetzen? Man würde von ihm Auskunft haben wollen, weil er so nahe bei Wurmlinger wohnte. Was sollte er dann sagen? Ihm graute, mit irgend jemand darüber zu reden. Wer weiß,was der junge Wurmlinger schon angestellt hatte? Ob man nicht schon mit Fingern auf ihn wies? Ob er nicht vielleicht schon den rachsüchtigen Insulten von Wurmlingers Parteigenossen ausgesetzt war, wenn er sich zeigte. Die Gedanken an seinen MaffiaRoman fingen an in ihm zu spuken. Nein,es war besser zu Hause zu bleiben. Aber ob er sich nicht dadurch erst recht dem Verdacht aussetzte? Vielleicht würde er auch draußen etwas von dem Herumstudieren an der dummen Geschichte befreit. Er erinnerte sich daran, daß er gestern Morgen ausgegangen war, um dem Herumstudieren am Plan des Attentates zu entgehen; nun wars das Gleiche mit den Folgen. Er mußte schier lachen darüber.

Er trat seinen Spaziergang an. Aber nicht wie gewöhnlich wanderte er dem Marktplatz zu, sondern er folgte dem Ring von Anlagen, der, die frühern Stadtmauern ersetzend, im Bogen die innere Stadt umgieht und von den neuen Quartieren trennt. Sein einziges Bestreben war,

56 []keinem Bekannten zu begegnen; selbst Unbekannte, die seinen Weg kreugten, waren ihm nicht ganz geheuer. In einem höchst harmlos aussehenden jungen Mann, der eine Zeitlang vor ihm herging, dann mit einem Mal stehen blieb,ihn vorübergehen ließ und dann zwangig Schritte hinter ihm sich wieder in Bewegung setzte, glaubte er in seiner an Kriminalromanen geschulten Phantasie sicher einen zu seiner Beobachtung aufgebotenen Detektiv zu sehen und machte nun die wunderlichsten Anstalten, ihm zu entgehen.Ein langer Aufenthalt in einem der Wellblechtempelchen, die hie und da ihre klassischen Giebel über das sie diskret umhüllende Gebüsch der Anlagen erheben, befreite ihn von dem lästigen Beobachter.

Als Herr Wöggerlin, erleichtert und erfreut über die gelungene Täuschung des Gegners, weiterschritt, sah er auf einer Bank einen Mann sitzen, der in der „Volkswacht“las. Ob wohl in dem morgens erscheinenden Blatt bereits etwas von dem Attentat des gestrigen Abends stand? Ob womöglich schon sein Name mit der Sache in Zusammenhang gebracht war? Er mußte es erfahren; aber wie war das zu machen? Er, der langjährige Kassier des Bürgerbundes, den doch, wie er glaubte, jedermann kannte,durfte nicht einfach die neueste Nummer des Sogialistenblattes kaufen, wenn er nicht auffallen und dadurch Verdacht auf sich lenken wollte. Ebenso unmöglich wars unter jetzigen Umständen, die Zeitung in einer Wirtschaft zu lesen.

Ein Plan dämmerte in ihm auf; er war ja ganz in die Nähe des Bahnhofs gekommen. So setzte er sich etwas abseits in den Anlagen auf eine Bank, rief einen Buben, der in der Nähe spielte, herbei, gab ihm Geld und bat ihn, ihm in der Bahnhofbuchhandlung die heutige „Volkswacht“ zu holen. Der Junge verschwand mit dem Geldstück im Bahnhof; aber eine Viertelstunde verging, er kam nicht wieder.Herr Wäggerlin wartete mit Ungeduld; nach einer weitern Viertelstunde konstatierte er, daß das Bürschlein einfach durchgegangen sei.

37 []In gewöhnlichen Zeiten wäre die traurige Erfahrung das Samenkorn einer schönen und wehmütigen Briefkastenklage geworden, nun weckte sie ganz andere Gefühle in Herrn Wäggerlins Brust. Wie wäre es, wenn er auch durchbrennte? Einfach verreiste, irgendwohin, bis die leidige Sache vorüber wäre! Doch es war auch damit nichts. Was VV Grund eines so plötzlichen Entschlusses angeben sollen? Und mußte er nicht daheim bleiben, schon damit sie nicht die dumme Liebelei mit dem jungen Wurmlinger fortsetzte? So begrub er traurig den Fluchtgedanken und sandte wie Noah nach dem ungetreuen Raben ein Täublein aus, das gewünschte Blatt zu holen; ein hübsches, blondes Mäödelchen,das er herbeirief, tat ihm willig den kleinen Dienst.

Eilig barg Herr Wäggerlin die Zeitung in der Tasche und begab sich so schnell wie möglich heim. Dort schlug er das Blatt auf und durchmusterte die Spalten. Richtig, da stand unterm Lokalen die Spitzmarke:

Ein netter Agrarier. „Wie wir eben vernehmen, ist Genosse Wurmlinger, Stadtrat, gestern Abend von einem Bauernburschen roh mißhandelt worden. Der offenbar nicht übel verhetzte Landbewohner schlug den verdienten Magistraten, der ihn wegen seines unsinnigen Peitschenknallens zur Rede stellte, derart ins Gesicht, daß wohl längere Arbeitsunfähigkeit die Folge sein wird. Da Genosse Wurmlinger wegen des von uns im gestrigen Leitartikel erwähnten großartigen Unternehmens, des neuen Milchgeschäfts des Lebensmittelverbandes, mit Drohbriefen reichlich bedacht worden ist, so ist wohl auch dieses freche Attentat als Racheakt unserer Agrarier aufzufassen. Dem geschätzten Genossen sprechen wir unsere Teilnahme aus; die verehrliche Bourgeois-Presse wollen wir wieder an diese edle Tat exinnern, wenn sie von Hetzerei spricht. Wer hetzt eigentlich?“

Herr Wäggerlin ließ das Blatt sinken. Es war ja nicht so schlimm, wie er gefürchtet. Kein Name, keine bestimmie Tatsache genannt. Aber doch dieses infame Gerede von

58 []Hetzerei, diese Erwähnung der Drohbriefe, von denen doch auch der junge Wurmlinger gesprochen. Was steckte da dahinter? Das war ja doch eben das Fatale, diese Ungewißheit. Wüßte man doch wenigstens, woran man wärel Er warf das Blatt auf den Tisch, ging im Zimmer auf und ab,stellte sich ans Fenster, warf sich dann wieder in den Armstuhl und begann von Neuem das Hin und Her im Zimmer;alles ohne Bewußtsein, daß er es tat, immer die Gedankenmeute hinter sich, die Kette böser Folgerungen um den Hals. Es war wie eine Erlösung, als er Annas Stimme draußen hörte und bald zum Essen gerufen wurde. Und wieder wie beim Frühstück tat sie dergleichen, als sähe sie des Vaters kummervolles Gesicht gar nicht; sie plauderte,erzählte, lachte, scheinbar ohne zu merken, daß er gar nicht auf ihre Munterkeit einging. Freilich, hätten ihn nicht die Gedanken so sehr geplagt, so hätte er wohl sehen müssen,wie sie sich zwang, vergnügt zu scheinen, wie sie ihn zerstreuen wollte. Aber er aß stumm und fast bewußtlos.

Schweren Schrittes und ohne ein Wort zog er sich in sein Zimmer zurück und brütete über seiner Trübsal. Nach einem Viertelstündchen trat Anna ein, und Herrn Wäggerlins Blick erhellte sich; denn sie trug ein Brettchen mit SchwarzKaffeeGeschirr und der geschliffenen Kirschwasserflasche.

„Vater, wenn du heut nicht zum Kaffeejaß gehst, so können wir den Schwarzen auch daheim trinken.“ Herr Wäggerlin war gerührt, daß sie daran dachte. Denn mit allen schweren Nöten seines Verbrechertums mischte sich in seinem Herzen die Sehnsucht nach dem gewohnten Nachmittagstrunk und ins Lämmlein konnte er nun doch unter keinen Umständen. So betrachtete er mit wahrer Andacht,wie zierlich sie die Täßchen vollgoß und neben das seine das Gläschen Kirsch stellte; er mußte sich auch bald sagen, daß das Getränk, das ihm seine Tochter bot, edlerer Qualität war, als was im Lämmlein schwarzer Kaffee hieß. Dann bot sie ihm aus dem Kistlein vom Schreibtisch gar noch eine Zigarre an, obwohl er wußte, daß sie trotz ihrer Abstam

33 []mung das Rauchen nicht sonderlich liebte. Ganz erstaunt fah er zu ihr auf. Sie verstand den Blick und lachte.

„Umsonst ist der Tod, Vater, aber Kaffee, Kirsch und Zigarren gebe ich dir so wenig umsonst wie die Kellnerin im Lämmlein. Ich habe einen Wunsch.“

Herr Wäggerlin erschrak. Er wollte Schlimmerem vorbeugen und antwortete mit gezwungenem Lachen: „Wieder Bücher? was für teure Schmöker muß ich denn jetzt wieder berappen, daß du mich so köderst?“

„Nein, soweit geht's diesmal gar nicht. Ich möchte nur wieder einmal, du kämest mit mir spazieren. Ich habe heute meinen freien Nachmittag und sonst gar nichts vor, und es ist heute so schön draußen.“

Herr Wäggerlin machte ein nicht gerade freudiges Gesicht. Obwohl ihn der Wunsch Annas um Vieles erleichtert hatte, ums Spazierengehen war's ihm doch gar nicht.Aber Anna ließ nicht ab. Nach einer Weile begann sie wieder: „Weißt du, wenn du das letzte Mal mit mir ausgegangen bist? Da sieh, ich hab's in meinem Kalender als Seltenheit vermerkt. Am 30. März war's, und heute ist der 30. Oktober. Ist das von deiner väüterlichen Liebe zu viel verlangt, daß du wenigstens zweimal im Jahr mit mir spazieren gehst?“, und sie verschwand bereits und kam wieder ins Zimmer in Jacke und Hut, den Ueberzieher des Vaters so vor sich hinhaltend, daß er nur hineinzuschlüpfen brauchte.

„Meinetwegen, Quälgeist!“ brummte Herr Wöggerlin,und ließ sich mitführen. Es war ein seltsames Spagiergängerpaar. Der Alte so bitter und grämlich, als wandle er hinter dem Sarge seines Lebensglücks her; das Mädchen frisch wie ein Herbstlüftchen und seelenvergnügt über die gelungene List. Denn das wußte sie, daß nirgends so leicht als auf einem solchen Spagiergang der Vater ihr sagen werde. was ihn drücke. Ihre Rechnung stimmte.

Als sie erst in einem hübschen Landwirtshäuslein den unentbehrlichen Abendimbiß verzehrt und dann den hübschen und leicht erreichbaren Aussichtspunkt erstiegen 50 []hatten, auf den sie von Anfang an losgesteuert hatte, und nun vom Bänkchen auf dem Felsvorsprung hinsahen über das Tal und den Strom, über die qualmende, dunstige Stadt, auf die in herbstlicher Farbe prangenden Waldhöhen und die fernen, feinen Schneespitzchen am blauen Himmel,als kein Mensch sie störte und alles so still war, da konnte Herr Wäggerlin dem leise fragenden, sorglichen Blick seines Kindes nicht widerstehen. Er stieß seinen Spazierstock tief in den Rasen, er schlug sich mit der Faust vor die Stirn und seufzte tief.

„Eine Dummheit habe ich gemacht! Eine bodenlos dumme, eselsmäßig verrückte Dummheit!“ so begann die Beichte. Und nun erzählte er der staunenden Anna alles,von dem fürchterlichen Traum und Heiri Busers Klepfen bis zu dem unglückseligen Attentat auf Stadtrat Wurmlinger, und daran schloß sich eine Aufzählung aller der furchtbaren Folgen, die diese Dummheit haben werde.Sie ließ ihn ausreden; nicht nur, weil sie wußte, wie sehr ihn das erleichtern mußte, sondern auch einfach, weil sie nichts zu erwidern hatte. Die Sache war ja wirklich fatal,höchst fatal, das war auch ihr Eindruck.

Herrn Wäggerlins Beichte war zu Ende; er riß den Spagierstock aus dem Boden und vollführte ein paar so kräftige Lufthiebe, als könnte er damit seine eigene, eben bekannte Dummheit züchtigen, und sah Anna fragend an.

„Ja, weiß man schon bestimmt,“ fragte sie, „daß du mit der Sache zu tun hast? Eugen Dr. Wurmlinger schien doch gestern Abend nichts davon zu vermuten.“

„Freilich weiß er's, natürlich. Wenn nicht gestern schon,so doch heute hat er's erfahren müssen. Und dieser Wurmlinger wird sicher keine Ruhe geben, bis er mich blamiert hat vor der ganzen Stadt, der alte nicht und der junge nun erst recht nicht!“

Herr Wäggerlin fühlte sich dadurch, daß er Anna ins Vertrauen gezogen, so erleichtert, er sah in ihr nun so seine Partei, daß er ganz vergaß, wie sie zu Eugen Wurmlinger stand. Er sah sich und sie auf der einen, die Feinde, Vater

31 []und Sohn, auf der andern Seite. Anna aber errötete tief,als der Vater ihrem Liebsten so schnöde Rachsucht andichtete. und wurde kühn.

„Nein, so ist Dr. Wurmlinger nicht,“ rief sie mit blitzenden Augen. Und ihrerseits vergessend, wie ihr Vater zu ihrer Liebessache stand, fuhren ihr die Worte aus dem Munde: „Morgen red' ich mit ihm davon, und übermorgen ist die Sache in Ordnung.“

Es war laut gedacht gewesen, und sie bereute gleich,daß sie ihren Plan verraten. Denn mit jugendlicher Elastizität schnellte der alte Herr auf und fuhr sie zornschnaubend an: „Daß du dich unterstehst! Kein Wort redest du mit ihm davon! Jawohl, nun hingehen, und bitte, bitte machen, daß sie uns verzeihen! Das gibt es nicht, gibt es nicht!Verstanden!“

Anna sah wie versteinert auf den wütenden Vater.„Aber Vater, etwas muß doch “

„Nichts muß, gar nichts! Was geschehen ist, ist geschehen, und was kommt, das kommt! Jawohl, jawohl, den jungen Herrn, den Buben, der mich gestern in meiner Stube verhört hat wie einen Verbrecher, den jetzt anbetteln, daß er Frieden mache. Damit er dann womöglich noch zum Lohn meint, ich müsse ihm den Korb wieder abnehmen, den ich ihm gegeben. Nichts da, Krieg, wenn's sein muß und wenn sie es haben wollen!“

Herr Wäggerlin stand da, als ob er wie ein neuer Attila in die friedliche Stadt im Tal einbrechen und keinen Stein auf dem andern lassen und nun eben von der Felshöhe den rechten Ort zum Angriff erspähen wollte. Er hatte seinen Zorn und seinen Haß wieder gefunden und damit endlich die blasse Furcht überwunden, die Gedankenmeute verjagt, die schwere Kette der Folgerungen zerrissen.

Stolz trat er den Heimweg an, und ebenso willenlos und stumm ging Anna hinter ihm bergab, wie er hinter ihr vor einer Stunde bergan gestiegen war. Die Rollen waren vertauscht. Das Mädchen ärgerte sich über die eigene Torheit, die ihren Plan verraten haätte, und litt unter dem

82 []Haß, den der Vater gegen Eugen immer noch hegte und der die Zukunft so dunkel machte. Und auch der Vater tat ihr leid, der jetzt wieder so tapfer und fest einherschritt und grimmig, als ging's zum Sturm, das Sempacherlied pfiff.Sie wußte, daß auf seine trotzige Stimmung bald ein Umschlag folgen mußte. Denn eine Aenderung der Sachlage hatte ja der unheilvolle Spaziergang auch für Herrn Wäggerlin nicht gebracht, sondern nur durch die Erleichterung seines Herzens seine Stimmung gehoben.

Freilich heute Abend stiegen Herrn Wäggerlins Aktien noch. Er fand bei der Heimkehr immer noch keine Vorladung vor. Daher glaubte er annehmen zu dürfen, daß die Sache nicht gerichtlich verfolgt werde. Eine weitere Freude war noch größer.

Sein Leibblatt, die „Stadt-Zeitung“, berichtete das, was Stadtrat Wurmlinger geschehen war, sprach höflich und korrekt dem Mißhandelten ihr Bedauern aus und wandte sich dann mit Energie gegen die Deutung, die die „Volkswacht“ der. Sache geben wollte. Mit inniger Befriedigung las Herr Wäggerlin seiner Tochter den schneidigen Passus vor:„Wenn die ‚Volkswacht' aus der Flegelei eines Betrunkenen ein Attentat mit politischen Motiven machen will, von agrarischen Racheakten und verhetzten Landbewohnern spricht, so finden wir das einfach lächerlich.Ein Blatt, das Artikel aufnimmt, wie sie in der , Volkswacht' beim Besuch des Präsidenten von Uruguay in unserer Stadt zu lesen waren, sollte nicht gleich anderen Leuten Attentats-Politik zutrauen. Wer im Glashaus sitzt, darf nicht mit Steinen werfen!“Herr Wäggerlin sah auf: „Der sagt's ihnen! Ganz famos!“ Der gute Herr Wäggerlin war so überaus zeitungsfromm, daß er geneigt war, alles, was er über die Sache aus eigenster Erfahrung wußte, für einen wüsten und unsinnigen Traum zu halten, der ihn gequält hatte, und die Hypothese der „Stadtzeitung“ von der Flegelei eines

A []Betrunkenen als die reine und volle, ausreichende Wahrheit zu nehmen.

Trotz allen Jammers konnte Anna ein Lächeln nicht unterdrücken über den Ton freudiger Gläubigkeit, in dem der Vater das las, was er als Wahrheit wünschte. Aber es war kurz genug, dieses Lächeln, und Herr Wäggerlin merkte es zum Glück nicht. Denn bereits hatte er eine neue Entdeckung gemacht. Im Briefkasten des Publikums stand,was er eben wieder mit erhobener Stimme zu lesen begann:

„Zum Unfall des Herrn Stadtrat Wurmlinger.

Mit herzlichem Bedauern ist heute in der ganzen Stadt die Kunde aufgenommen worden, daß Herr Stadtrat Wurmlinger, den jedermann als Beamten schätzt, auch wer seine politischen Anschauungen nicht teilt, von einem rohen Menschen bübisch mißhandelt worden ist, weil er ihm das Peitschenknallen verwies. Sollte dies nicht der geeignetste Anlaß sein, daß eine h. Regierung dem Publikum, vor allem den Besitzern von Fuhrwerken und ihrem Personal,wieder zur Kenntnis brächte, daß Peitschenknallen überhaupt in der Stadt gesetzlich verboten ist? Auch die Polizeimannschaft dürfte wieder darüber instruiert werden,daß es ihre Pflicht ist, den geltenden Gesetzen mit aller Energie Nachachtung zu verschaffen. Diese Peitschenschwinger sind eben Rohlinge, die nicht mit Sammethandschuhen angefaßt werden dürfen; da tut Energie not.Sollte der an sich so bedauerliche Unfall des Herrn Stadtrats diese wohltätige Folge haben, so dürfte es dem pflichteifrigen Magistraten ein Trost sein, für die Allgemeinheit gelitten zu haben.“

Ganz verklärt sah Herr Wäggerlin nach dieser kurzen Vorlesung aus. Selbst die Komplimente, die der Briefkastenkünstler dem gehauenen Stadtrat zum Trost spendete,riefen nur kurge, spöttische Zuckungen auf seinem Gesicht hervor; er legte sie als diplomatische Ironie aus und freute sich an dem herrlichen Gedanken, daß nun seine Propaganda der Tat samt der nachher ausgestandenen Angst nicht umsonst gewesen war. Einer hatte ihn verstanden und deu[]tete die Tat dem ganzen Volk. Nun mußte die Regierung hören, nachdem sie gefühlt hatte!

Hatte sie nicht vielleicht schon gehört? Es war ja der Tag, an dem wöchentlich der kleine Stadtrat Sitzung hielt.War noch kein Beschluß gefaßt? Gierig durchflog Herr Wäggerlin den Auszug, den die Zeitung aus den Verhandlungen brachte; er fand nichts, als daß der Rat mit Bedauern den Unfall zur Kenntnis nahm, um deswillen der Polizeivorsteher sich entschuldigen ließ. Herrn Wäggerlins Enttäuschung wich bald dem triumphierend ausgesprochenen Gedanken: „Um so besser! Er selbst, der Wurmlinger, der den Hieb gekriegt hat, muß das Verbot gegen's Klepfen erneuern! Kein anderer als erl!“

Diesmal schmeckte Herrn Wäggerlin das Nachtessen wieder einmal von Herzen und nachdem er es recht genossen, zog er sich mit dem üblichen Abendtrunk und der „Stadtzeitung“ ins Studierzimmer zurück, um den ganzen Kuchen, aus dem er bisher nur die Rosinen herausgepickt hatte, sich nun behaglich zu Gemüte zu führen. Denn Herr Wäggerlin gehörte zu den Zeitungslesern, die, nachdem sie einmal das teure Abonnement bezahlt haben, es für Verschwendung hielten, eine Zeile ungelesen zu lassen.

Er las den Leitartikel über die neuerlich sich bedenklich zuspitzenden Verhältnisse in Griechenland mit Hochgenuß,den scharf kritischen Bericht über die letzte KammermusikMatinee mit Befriedigung, obwohl er ohne jedes Verständnis für Musik war, den gefühlvoll geschriebenen Pariser Modebrief mit innigem Vergnügen, obwohl er kaum wußte,was seine Tochter anhatte, und sich sehr unklar darüber war, was für ein Unterschied sei zwischen Moiré und Atlas.Das Zuckerwasser des rührenden Feuilletonromans, in dem die engelhafte Heldin Germaine eben zum Lohn ihrer Tugend einige Millionen ganz unerwartet erbte, trank er so ergeben, wie wenn es der blutigste Verbrecherroman wäre.Vom Jubiläumsartikel zum hundertsten Geburtstag eines norddeutschen Dichters, von dem er noch nie etwas gehört hatte, nahm er mit Interesse Notiz. Die Unglücksfälle.,

35 []Streiknachrichten, Todesstürze kühner Aviatiker, die Kriegsaussichten zwischen Chile und Ecuador, die Epidemien in Süd und Osteuropa erfüllten Herrn Wäggerlins Herz mit angenehmem Gruseln; die diversen Heiratsgesuche erheiterten ihn; die in Riesenlettern eine ganze Zeitungsseite einnehmende Mitteilung, daß Ojawodol alle bisherigen Mittel übertreffe, indem es mit gleichem Nutzen zur Pflege der Zähne und des Haarbodens zu verwenden sei, veranlaßte Herrn Wäggerlin zu bei aller Mißbilligung doch wohltuenden Gedanken über übertriebenes Reklamewesen und unlautern Wettbewerb. Kurgz, alles, was er las, war eben durchtönt von dem Freudengeläut seines Triumphgefühls,von dem Gedanken, daß die gefährlichste Tat seines Lebens für ihn ohne böse Folgen abzulaufen und ihren Zweck zu erreichen schien.

Als er die Zeitung fertig gelesen, holte er aus einem Schubfach des Schreibtisches ein Mäpplein mit gleichmäßig zugeschnittenen Stücken steifen Papiers, eine Schere, ein Gummiglas und ein Schälchen, in dem ein angeseuchtetes Schwämmchen lag. Dann schnitt er genau und sorgfältig die Briefkastennotiz aus, klebte sie sauber auf ein Stück des steifen Papiers, wobei er die Gummitröpfchen, die unter dem Ausschnitt vordrangen, mit dem Schwämmchen gewissenhaft auftupfte. Dann hielt Herr Wäggerlin das Blatt,so daß es sich nicht ktümmen konnte, in die Lampenwärme,und schließlich holte er das Mäpplein mit den Stilmustern heraus und fügte das neue Exemplar der Sammlung ein,nachdem er es nochmals schmunzelnd durchgelesen und sich überzeugt hatte, daß es haltbar und sauber aufgeklebt sei.

Hierauf trank er noch sein Glas aus und begab sich zur Ruhe. Wirklich zur Ruhe; denn diese Nacht schlief er gleich fest und gründlich ein, ohne daß ihn die Gedanken noch plagen durften, und schlief sogar bis tief in den nächsten Morgen hinein.

Der Milchwagen weckte ihn diesmal nicht, sondern erst das Klopfen Annas, die ihm meldete, daß das Frühstück bereit sei. Herr Wäggerlin brummte etwas Unverständ

36 []liches und drehte sich einstweilen im Bette um, worauf Anna rief, sie fange unterdessen an, da sie fort müsse, er brauche ja ihretwegen nicht zu pressieren, wenn er gern noch etwas liegen bleibe. Er schlief nochmals ein wenig ein und wachte erst zum zweiten Male auf, als Anna dem Mädchen die Weisung gab, den Kaffee für Herrn Wäggerlin warm zu stellen. Er hörte Lina noch sagen: „Da ist die Post,“ und Anna darauf erwidern: „Lege sie nur hier auf den Teller, daß der Vater sie gleich findet, wenn er zum Frühstück kommt.“ Dann gingen beide hinaus und bald hörte Herr Wäggerlin auch, daß die Tochter das Haus verließ.Nun trieb ihn die Neugier doch aus den Federn. Was mochte wohl die Post gebracht haben, das drüben auf dem Teller lag? Hätte er's gewußt, er hätte wohl kaum so eilig sich angekleidet. Auf den rosigen Abend von gestern sollte ein um so trüberer Morgen folgen. Doch Herr Wäggerlin ahnte nichts, schritt eilig ins Wohnzimmer hinüber und durchmusterte, was auf dem Teller lag. Ein Katalog der Neuheiten eines Damenkleiderhauses; er warf ihn verächtlich bei Seite. Anna besorgte ihre Toilette ganz selbständig;wenn doch die Leute ihn, den Vater, mit ihren Katalogen in Ruhe ließen! Die fünfzehnte Lieferung des patriotischen Prachtwerkes „Schweizer Helden in Wort und Bild“; die mochte bei ihren Genossinnen liegen, bis die Zahl erreicht war; dann wurden sie in rote gepreßte Leinwand gebunden und kamen auf den Tisch der guten Stube; jetzt hatte Herr Wäggerlin kein Interesse dafür. Eine Rechnung vom Buchhändler Meyer & Ohmgelt; das war falsch adressiert, das ging Anna an; Herr Wäggerlin kaufte seine Lektüre bei einer Firma von weniger gediegenem Klang. Schließlich eine Zeitung unter Kreuzband. von ihm unbekannter Hand adressiert.Es war die neueste, eben erschienene Nummer der „Volkswacht“, offenbar direkt von der Presse zur Post gebracht. Herr Wäggerlin erschrak. Was hatte diese Sendung

27 []zu bedeuten? Zitternd vor Aufregung entfaltete er das Zlatt. Eine Stelle war mit Rotstift dick umrandet.„Die „Stadtgzeitung' findet es lächerlich, daß wir in dem schnöden Attentat auf Gen. Stadtrat Wurmlinger mehr sehen als die Flegelei eines Betrunkenen. Vielleicht vergeht ihr das Lachen, wenn wir solgende uns gestern ohne unser Zutun aus Freudenloch zugekommene Korrespondenz hier einfach wiedergeben:

Wer hetzt? Den Arbeitern, die gestern Abend (29.Oktober) von ihrem harten Tagewerk in den dumpfen Fabriken der Stadt heimwärts gegen Freudenloch wanderten, ward ein seltsamer Ohrenschmaus zu teil. Ein Chaislein kam ihnen vom Dorf her in unerlaubt rascher Gangart entgegen. Der bäuerliche Rosselenker wie der neben ihm sitzende Bourgeois schienen sehr aufgeregt zu sein; denn nicht nur knallte der Bursche mit der Peitsche,daß man ein Pelotonfeuer zu vernehmen glaubte, sondern man konnte auch aus all dem Lärm heraus allerlei Liebkosungen für das im Kampf ums Dasein ringende Proletariat hören, von denen wir nur die häufigsten registrieren wollen. Es tönten uns da Kraftausdrücke wie , ChaibeSozi', verdammte Hetzer', MordsTschinken'entgegen. Das mag ein „gebildetes“ Gespräch gewesen sein! In deni Herrn' erkannten wir, beim Schein einer Laterne, eine dem biedern Bürgerbunde sehr nahestehende Persönlichkeit. Wodurch wir Arbeiter den Zorn des ‚gebildeten' Herrn wohl so gereizt haben? Und ob dieses edle Paar nicht im Zusammenhang steht mit dem rohen Attentat auf Genosse Wurmlinger?“

Zu dieser Korrespondenz bemerken wir nur, daß die am Schlusse ausgesprochene Vermutung nach Zeit und Ort wohl stimmen würde. Wie wir vernommen haben,stammt der Bursche, der Gen. Stadtrat Wurmlinger mißhandelt hat, aus Wieslingen. So muß er um diese Zeit durch Freudenloch in die Stadt gefahren sein. Das gerichtliche Nachspiel, das die Roheit hoffentlich haben wird,[]muß dann erweisen, ob wir Recht gehabt haben mit der Annahme der Hetzerei. Die Red. der , Volkswacht'.

Herr Wäggerlin erblaßte und mußte sich am Stuhle halten, als er das gelesen hatte. Nun brach das Kartenhaus vergnüglicher Zuversicht, das er sich gestern gebaut, jämmerlich zusammen. Fast ebenso jämmerlich sank er auf den Stuhl. Die Gedankenmeute war wieder losgelassen und tobte mit doppelter Wut; die Kette der Folgerungen zog schwerer als je. Herr Wäggerlin stöhnte vor Verzweiflung!Wie hatte er nur denken können, daß die „Volkswacht“ sich so zurechtweisen ließe.

Warum war er der Narr gewesen und hatte es versäumt, durch irgend einen Freund, etwa den Kantonsrat Häfeli vom Bürgerbund, der „Stadt-Zeitung“ nahe legen zu lassen, zur Sache zu schweigen? Dann wäre die Geschichte im Keim erstickt worden. Herr Wäggerlin ärgerte sich fast zu Tode, daß ihm dieser Gedanke erst jetzt kam, da es zu spät war! Und die Furcht packte ihn, daß er schlotterte.

Aber es stand ihm noch Aergeres bevor. Lina trat mit dem gewärmten Kaffee ein und ohne auf den Zustand ihres Herrn zu achten, froh, etwas von ihrem Schatz sagen zu dürfen, begann sie gleich: „Der Heiri hat heut Morgen gesagt, wenn er mit dem Milchführen fertig sei, komme er noch einmal vorbei, er müsse mit dem Herrn reden.“ Herr Wäggerlin starrte sie an, als ob sie der Vorreiter des Todes wäre und sein Kommen ankündigte

„Auch das noch, auch das noch!“ jammerte er und fragte schließlich: „Was will er denn von mir, der Heiri?“Ob sie wohl schon alles wußte, die Lina?

Nein, sie wußte es noch nicht, war aber um so neugieriger, als sie antwortete: „Er hat nur gesagt, jetzt wisse er wieder, wie er den Napoleon verdient habe und wolle ihn holen!“ Sie hoffte nun auf weitere Aufklärung, wurde aber enttäuscht; denn Herr Wäggerlin fiel nun über das Frühstück her, brockte die Tasse in rasender Geschwindigkeit voll Brot, schüttete Kaffee und Milch darüber und führte wie ein Heißhungriger die Bissen zum Munde. Er []aß aus Verzweiflung. Er mußte etwas tun, und da er keine Haare mehr hatte, die er sich hätte ausraufen können, so aß er.b Als Lina keine Aufklärung erhielt, wie sich ihr Schatz einen Napoleon verdient habe, zog sie mißmutig wieder ab,wurde aber bald wieder heiter, bei der Ueberlegung, ob sie von Heiri dafür nun eine neue Bluse oder ein Bröschlein erbitten sollte. Bald hörte Herr Wäggerlin, der unterdessen sein Frühstück verschlungen hatte und trüb vor sich hin stierte, sie in den schmelzendsten Tönen singen: „Schatz,mein Schatz o reise nicht von hier“.

Wieder wie gestern fuhr ihm der Gedanke an Flucht durch den Kopf. Er wollte verreisen. Aber dazu brauchte er doch den Handkoffer. Wo der wohl war? Anna mußte es wissen; sie hatte ihn im Sommer gebraucht. Anna, wenn nur die Anna da wäre, so könnte er doch mit ihr sich beraten. Aber er war in solchen Dingen hilflos ohne sie, und der Gedanke, daß er auch ohne Koffer reisen könnte, der kam ihm in seiner trostlosen Stimmung gar nicht.

Er ging mit dem unseligen Volkswachtblatt in sein Zimmer hinüber. Er warf es zu Boden, er trat darauf in der Wut, er hob es auf und zerriß es in Fetzen, die er mit Abscheu in den Papierkorb schleuderte. Hätte er nur die Sache selbst so von sich schleudern können! Ruhelos ging er auf und ab. Sollte er jetzt noch zu Kantonsrat Häfeli, seinem politischen Orakel, ihm alles beichten und ihn um Rat bitten? Es wäre wohl das Beste.

Es läutete. Herr Wäggerlin öffnete das Fenster, schaute hinaus und sah, daß es Kantonsrat und Drogeriebesitzer Häfelis Laufbursche war. Kam der gute Rat schon, sobald er daran dachte? Leider nein, das Billet, das der Bursche abgab, lautete:„Lieber Freund, mit erster Post ist mir die „Volkswacht“ mit beiliegendem rotangestrichenem Artikel Gerr Wäggerlin brauchte die Beilage nicht einmal anzuzusehen; er kannte sie zur Genüge) zugesandt worden.Die Sache ist höchst fatal für uns. Kannst du dir denken,9 []welches Kamel es gewesen sein kann, das dicht vor den Kantonsratswahlen den Roten einen solchen Ja AgitationsStoff liefert? Es ist zum Katholisch-Werden, daß man sich auf die eigenen Leute nicht mehr verlassen kann und muß ich mit dem Dichter sprechen: ‚Gott schütze mich vor meinen Freunden, mit den Feinden will ich schon fertig werden'. Weißt du etwa, wer es gewesen sein könnte, so gib dem Ueberbringer dieses Bescheid; dem Unvorsichtigen will ich die Ohren putzen, daß er sein Lebtag daran denkt. Dein Freund Franz Xaver Höfeli.“

Nun wars Herrn Wäggerlin zum Weinen. Kaum konnte er dem Buben sagen, er komme dann selbst zu Herrn Häfeli. Das hatte er also zu erwarten, wenn er zu seinem besten Freunde kam! Als Frau Elise gestorben war, so trostlos und gebrochen war Herr Wäggerlin nicht gewesen:Da lag wieder vor ihm auf dem Schreibtisch der fürchterliche „Volkswacht“Artikel, den er vorhin so wütend vernichtet hatte, als könnte er ihn ungeschrieben machen, und daneben der Freundesbrief, in dem das Wort stand, das Herr Wäggerlin nun wie ein Irrer vor sich hinsprach: „Kamel Kamel Kamel.“

Durch das Fenster; das er zu schließen vergessen, drang Räderrollen und Heiri Busers laute Stimme, die schon an der Tür des Vorgärtchens fragte: „Ist der Herr daheim?“Lina hatte den Schatz schon unter der Tür erwartet, und ehe noch Herr Wäggerlin den Gedanken fassen konnte, den unwillkommenen Gast abzuweisen, hörte er das Mädchen sagen: „Geh nur dort hinein, die zweite Tür; ich halte einstweilen das Roß.“ Und schon stapfte der Milchmann ohne anzuklopfen herein. Sein Gesicht war gerötet. Die Augen funkelten merkwürdig. Die Peitsche trug er in der Hand.Offenbar hatte er sich zu dem ungewohnten Besuch mit der doch etwas heiklen Forderung Mut angetrunken.

„Guten Tag, Herr Wäggerlin, da wär' ich.“ Er setzte sich ungeheißen. In der Not kam Herrn Wäggerlin der Mut wieder; er faßte den kühnen Plan, sich keineswegs durch ein Eingehen auf Heiris Forderungen zu kompromittieren,

*4 []sondern einfach alles zu leugnen, und rechnete dabei auf Heiris alkoholische Gedächtnislücken. So begann er denn scheinbar erstaunt und in sicherm Ton:

„So, was wollt Ihr? Hat die Milch abgeschlagen oder braucht Ihr einen Rat von mir?“

„Nein, den Napoleon will ich holen!“

„Den Napoleon, welchen Napoleon? Ich bin Euch doch nichts schuldig.“

Da starrte ihn Heiri an, als ob er einen Geist sähe und stammelte: „Ihr mir nichts schuldig? Und den Napoleon,den Ihr mir versprochen habt, wenn ich “

„Ich hätte Euch etwas versprochen? Einen Rausch habt Ihr gehabt, sonst könntet Ihr nicht solche Dinge behaupten,Buser.“

„Ja, das ist wahr, einen Rausch hab' ich gehabt, und habe dabei ganz vergessen, wie ich mir den Napoleon von Euch verdient habe. Aber es ist doch gut, daß es Zeitungen gibt, ich hab's wieder gelesen.“ Dabei hob Heiri die Bluse und suchte in der Westentasche, brachte schließlich einen Zeitungsausschnitt hervor und hielt ihn Herrn WägA0 wacht“ über seine Heldentat. .

Herr Wäggerlin las das Popierchen mit gut gespieltem Erstaunen, gab es dem Burschen wieder und meinte: „Da steht, daß Ihr dem Herrn Stadtrat eine gehauen habt, aber davon, daß Ihr dafür von mir einen Napoleon verdient habt. steht nichts da.“

Nun wollte Herr Wäggerlin der Sache ein rasches Ende machen. Er erhob sich und sagte in scharfem Ton: „Ihr habt mir schon Aerger genug gemacht mit Eurer Dummheit; es ist genug, daß man mich im Verdacht hat, ich sei Euer Kumpan. Jetzt macht, daß Ihr fortkommt.“

Aber er kam an den Unrechten, wenn er meinte, Heiri einschüchtern zu können. Der Milchmann erhob sich auch,sein Kopf wurde noch röter und er schrie: „So, solls so gehen? Da steht nichts, daß Ihr mich aufgestiftet habt, dem Wurmlinger eine zu hauen? Aber da stehts!“

72 []Und nun riß er aus dem Hosensack eine zusammengeknitterte Zeitung und warf sie auf Herrn Wäggerlins Tisch. Es war die neueste „Volkswacht“-Nummer mit der Freudenlocher Korrespondenz. Herr Wäggerlin erblaßte,als er zum dritten Mal heute das Blatt sah, und als Heiri Buser nun auf ihn eindrang und die Peitsche höchst bedrohlich anfaßte, verschanzte er sich vorsichtig hinter seinem Schreibtischstuhl. Aber der wütende Bauer, den die Trunkenheit alle Klugheit vergessen ließ, packte ihn vorn am Rock und brüllte: „Gebt mir jetzt den Napoleon, oder ich hau Euch noch ganz anders als den Wurmlinger und hol mir den Lohn dann da drüben,“ setzte er mit wildem Lachen dazu.

Er hätte auch seinen Vorsatz ausgeführt, wäre nicht ganz unerwartet Hilfe für Herrn Wäggerlin gekommen.Lina nämlich, die nicht umsonst sich anerboten hatte, Heiris Roß zu halten, hatte durchs offene Fenster die Unterredung gehört und als sie drohend wurde, rasch überlegt, daß es für Heiri nur bös gehen könnte, wenn er ihren Herrn im eigenen Zimmer halbtot schlüge. So ließ sie nun den Kohli Kohlt sein, fuhr in großen Sätzen ins Haus und Zimmer und riß den ungeberdigen Schatz höchst kräftig zurück, als er eben Herrn Wäggerlin der sich ängstlich duckte und totenbleich aussah, mit dem Peitschenstock einen Hieb versetzen wollte.Der Heiri machte kein besonders gescheites Gesicht, als ihm die Liebste die Peitsche aus der Hand riß und ihn anschrie: „Du Kalb, dummes, laß den Herrn Wäggerlin in Ruhe und mach, daß du heim kommst!“

Dann aber wandte sie sich zu dem Geretteten, der sie nicht weniger verdutzt anstarrte, und sagte, die festen Arme in die Seiten gestemmt: „Und Sie, Herr Wäggerlin, geben Sie ihm den Napoleon, sonst gibts doch noch ein Unglück!Versprochen werden Sie es ihm wohl haben, sonst wär er nicht auf die Idee gekommen, es zu heischen; der wär zu dumm dazul“ setzte sie hinzu, als ihr Herr ein bedenkliches Gesicht machte.

73 []Dieser Logik konnte sich Herr Wäggerlin nicht entziehen, auch war er durch den Ueberfall so geängstigt, daß er froh war, den wilden Gläubiger los zu werden, koste es,was es wolle. Er zog mit Seufzen ein Schublädchen des Schreibtischs auf, nahm ein Goldstück heraus und streckte es stumm dem Attentäter hin. Hatte sich dieser bisher von seinem Staunen über Linas energisches Eingreifen noch nicht erholt und ihre recht ehrenrührigen Bemerkungen wie ein Lamm über sich ergehen lassen, so zog nun, als er die glänzende Münze sah, ein verklärtes Grinsen über sein Gesicht; er nahm sogar den Hut ab und sagte: „Dank auch schön und nichts für ungut.“

Als er aber das Goldstück umständlich in seiner Schweinsblase bergen wollte, riß es ihm Lina aus der Hand und sagte: „Das behalte ich einstweilen, sonst gibts doch nur einen Rausch draus, bis du heimkommst. Ich bring dirs dann am Sonntag.“

Dann nahm sie den verdutzten Geliebten am Aermel,bugsierte ihn zur Tür hinaus, half ihm sogar auf den Wagen und hieß ihn fahren. Und er tats; wortlos und kopfschüttelnd und mit der dumpfen Empfindung, die Lina sei doch eine sehr resolute Person.

Herr Wäggerlin aber saß ebenso wortlos und kopfschüttelnd in seinem Stuhl und überlegte sich, daß er sich durch die Zahlung des Blutlohnes zwar selbst aus großer Not gerettet, für den kommenden Prozeß aber seine Lage bedenklich verschlimmert habe. Er zitterte noch am ganzen Leib vor Schrecken über die ihm angetane Gewalt und fühlte sich schwach an Leib und Geist.

Da trat seine Retterin ein, brachte ihm ein Hirnli zum zweiten Frühstück und holte ihm sogar selbst den Wein dazu. Sie mußte ihm sogar zum Essen zureden, so mitgenommen war er von den Erlebnissen dieses Morgens. Er gehorchte und aß; und es tat ihm gut, daß er sich stärkte für das, was ihm noch bevorstand.

Kaum hatte Lina das Geschirr wieder abgeräumt, so erscholl die Hausglocke draußen wieder. Was mochte jetzt

74 []kommen? Herr Wäggerlin lauschte mit geheimer Angst.Was er mit Entsetzen vernahm, das war die breite, joviale Stimme Stadtrat Wurmlingers, die fragte, ob der Herr Wäggerlin zu sprechen sei. Zornig zuckte es bei dieser Wahrnehmung in Herrn Wäggerlins trübseligem Gesicht.Er biß die Zähne zusammen und richtete sich auf. Das konnte ja schön werden, wenn nun Wurmlinger selbst kam.Aber er sollte wenigstens von seinem Elend nichts merken,stolz und feindlich sollte er ihn finden. Schon das Herein auf das Klopfen des Gastes klang kalt und gemessen.

Stadtrat Wurmlinger trat ein, rasch und lebhaft wie immer. Sein Gesicht strahlte von Gesundheit und Lebenslust, obwohl das rechte Auge noch durch eine Binde verdeckt und die Wange mit einem Pflaster verziert war. Die Brille (es war wieder die stählerne) saß durch die Binde etwas schief gerückt; die Augenfältchen zwinkerten und aufreichte, so wurde es auch in Mitleidenschaft gezogen und leitete die vergnüglichen Zuckungen übers ganze Gesicht. Der Mund lachte, das Bäuchlein wackelte; die Arme und Hände hielt der Stadtrat ausgestreckt, fast als wollte er Herrn Wäggerlin umarmen, und schon unter der Tür rief er im jovialsten Ton: „Männi, ich muß mit dir reden!“

Herr Wäggerlin erhob sich und grüßte mit Nicken:„Herr Stadtrat? ...“ Doch Wurmlinger achtete gar nicht auf die Kühle dieses Grußes. Er suchte etwas in allen Taschen und konnte es nicht finden. „Ich habs doch sicher eingesteckt, sicher.. . Wo ist denn jetzt... das Blatt nämlich mit der dummen Geschichte ...“

Da bemerkte er auf dem Tisch die „Volkswacht“, die Heiri Buser hier hatte liegen lassen. „aAh du hasts ja auch schon natürlich, so Sachen kriegt man immer prompt. Also Männi, es tut mir wirklich leid, daß die Sache so aufgebauscht worden ist. Ich habe heute Morgen gleich an die Redaktion telephoniert und ihnen die Leviten gelesen, daß sie solche Dummheiten aufnehmen... Also hör, daß der Kerl mich gehauen hat, war ja minder ange

75 []nehm, das kannst du dir denken. Aber nun eine Geschichte draus zu machen, einen Staatsprozeß mit politischem Geschmäcklein, da behüt' mich der Himmell Die Freude gönn'ich meinen Gegnern nicht und an der Fastnacht möchte ich auch nicht kommen. Freilich, der Eugen, mein Advokätlein,war gleich fuchswild und wollte dem Kerl an den Kragen, ich habe es ihm förmlich verbieten müssen, Lärm zu schlagen. Und, Männi, das wollt ich dir also sagen: es ist mir unangenehm, daß du unnötig in die Sache hereingezogen worden bist. Ich kann mir auch absolut nicht denken, wie du darauf kommen solltest, mich von einem Bauern durchhauen zu lassen, da wir doch jahrelang miteinander in der Eintracht nebeneinander im Baß gesungen haben.Nein,. so kann doch alte Freundschaft nicht ...“Das alles hatte Wurmlinger hervorgesprudelt mit einer Herzlichkeit und Schnelligkeit, die den guten Herrn Wäggerlin gar nicht zu Worte kommen ließ. Da, mit einem Mal schnappte die Rede des Herrn Stadtrat ab, wie wenn die Feder eines Uhrwerks gebrochen wäre. Er hatte, als er auf den Gesangverein Eintracht zu reden kam, unwillkürlich die Photographie an der Wand ins Auge gefaßt und darauf die Figur bemerkt, deren Gesicht ausgekratzt,deren Leib mit zwei dicken Tintenstrichen durchkreuzt war.seine Figur.Mit offenem Munde staunte er dieses Zeugnis eines ihm unbegreiflichen Hasses an. Inzwischen tat Herr Wäggerlin mit Würde und Stolz den seinen auf und sprach:„Herr Stadtrat. Sie begreifen nicht. warum ich...“Aber Wurmlinger ließ ihn nicht ausreden: „Ists möglich, menschenmöglich! Das hast du mir nicht vergessen können!“ Und mit einem Mal fuhrs wie Zorn durch sein Gesicht: „Also darum habe ich den Hieb abgekriegt, weil sie mich statt dir in der Eintracht zum Präsidenten gemacht haben vor vierzig Jahren! Männi, für so rachsüchtig hätte ich dich nicht gehalten, das ist gering.“ Und leiser fügte er hinzu: „Pfui Teufell!“

76 []Herr Wäggerlin war in kurioser Lage. Wohl durfte er behaupten, daß etwas anderes die direkte Ursache des Attentats gewesen war; aber eine Stimme in ihm sagte doch,daß der alte Groll auch mitgewirkt habe. Und dessen schämte er sich nun, da er aus Wurmlingers ganzer Art, aus dem selbstverständlichen Du alter Freundschaft, das er brauchte,aus der Entschuldigung wegen des „Volkswacht“Artikels,deutlich erkannte, daß Wurmlinger seine Feindschaft nicht geahnt und darum auch nicht erwidert hatte.

So zog er nun hastig das Mustermäpplein aus dem Schreibtisch und blätterte darin. Etwas unsicher und seinerseits schon das stark betonte „Herr Stadtrat“ weglassend,sagte er: „Nein, die alte Geschichte in der „Eintracht“ wars nicht, sondern das da trieb mich zur Tat!“

Damit überreichte er Wurmlinger den Notschrei des unbekannten Briefkastenkünstlers über das Peitschenknallen! Erstaunt begann der Stadtrat zu lesen, immer lebhafter wurde das Spiel der Augenfältchen, je weiter er kam, und als er den Schlußsatz gelesen, geschah, was Herr Wäggerlin nicht erwartet hatte. Wurmlinger ließ sich schwer aufs Sopha fallen und lachte. Er lachte laut und dröhnend; er schlug sich auf die Schenkel vor Freude. Er lachte, daß sein Bäuchlein nur so auf und nieder wippte;er lachte, daß die Tränen aus seinem linken Auge schossen und er das verbundene mit der Hand bedeckte, weil es ihn schmerzte vor Lachen.

Dieser riesenhafte Heiterbeitsausbruch kränkte Herrn Wäggerlin! So nahm ihn Wurmlinger gar nicht ernst! Er legte sein Gesicht in sehr grämliche Falten und sagte gedehnt: „Herr Stadtrat, es ist mir Ernst!“

Ein neuer Lachanfall war die Antwort; dann allmählich fand der heitere Mann die Worte wieder: „Verzeih,Männi, wenn ich so fürchterlich lachel Aber die Idee ist zu köstlich! Die reine Charade über das Sprichwort: Wer nicht hören will, muß fühlen! Weil wir Stadttyrannen die Gesetze nicht achten, wird ein ehrsamer AltBürgerbundskassier []zum Revolutionär und dingt einen Menschen, der ein Attentat auf den Polizeivorsteher ausübt. Die schönste Propaganda der Tat, wie sie kein Anarchist besser liefern könnte, angestiftet von Männi Wäggerlin! Merkst du denn nicht, wie urkomisch das ist?“Herr Wäggerlin fand es noch immer nicht komisch,sondern wiederholte mit erhobener Stimme: „Herr Stadtrat, es ist mir Ernst!“Da zuckte Wurmlingers Gesicht wie von einem plötzlichen Entschluß, der ihm Spaß machte. Er sprang auf,packte Herrn Wäggerlin am obersten Knopfe und fuhr ihn an: „Herr AltZigarrenhändler, jetzt wirds mir auch Ernst.Jetzt hab' ich genug von dem dummen Herr StadtratSagen!“Dabei blitzte er den Erschreckten aus seinem unbedeckten Auge so an, daß dieser nicht anders glaubte, als sein Feind wolle sich für den empfangenen Hieb tätlich rächen.Aber der Stadtrat fuhr nur drohend und langsam fort:„Entweder oder! Entweder, wir bleiben Feinde, wenn der Herr AltZigarrenhändler es so will und es ihm Ernst ist, dann aber muß ich, wenn ich auch nicht wollte, ebenfalls Ernst machen und die Sache um meiner Stadtratswürde willen vor Gericht ziehen; das könnte dann fatal für dich sein und deiner Partei sehr unangenehm.“

Er ließ Herrn Wäggerlin einen Augenblick Zeit, dann fuhr er in weniger scharfem Tone fort: „Oder, Männi, du bist wieder der Männi und ich der Nagi wie vor vierzig Jahren; du begräbst die ganze dumme Feindschaft, die dir nur Aerger und Schwulitäten bringt, dann soll auch für mich das Geschehene nur ein Unfall sein und das, was du damit gewollt hast, sollst du erreichen, so weit ich dazu helfen kann.“Als er das sagte, fuhr über das verängstete Gesicht Herrn Wäggerlins ein so verklärter Hoffnungsstrahl, daß über Wurmlinger ein ganzg toller Geist kam. Er sprang

78 []einen Schritt zurück, setzte den rechten Fuß vor, drückte die Linke aufs Herz und reckte die Rechte großartig gen Himmel, und in dieser Haltung eines altmodischen Schauspielers deklamierte er mit unsäglich feierlichem Pathos:„Beschworen sei es dir, Emmanuel, bei allem Hohen,Daran gesetzt wird meine ganze Herrschermacht,Daß nimmermehr ein roher Knall dein Ohr verletze,Noch sonst du hörest, was dein Herze stört.Zusammenrufen will ich alle meine Mannen Und ihnen künden mit gewalt'gem Wort,Daß also schwer kein Frevel, kein Verbrechen,In unsrer Stadt soll gelten als der Peitschenknall.Greif zu! Nimm hin! da hast du mein Versprechen!Schwer wird gebüßt die Tat auf jeden Fall!“Die tolle Szene hatte Herrn Wäggerlin Zeit gegeben,über das Entweder-Oder sich zu besinnen. Er wußte doch nicht recht, ob die Prozeßdrohung nur Spaß sein sollte.Jedenfalls wurde es ihm katzangst dabei; besonders da sein Blick wieder auf den Brief Großrat Häfelis fiel. Wars nicht doch besser, auf das Oder des Stadtrats einzugehen, wenn dadurch sein Zweck erreicht wurde? Zwar wußte man ja auch nicht, wie weit das Versprechen Ernst oder Scherz war!

Die spaßhafte Art aber, in der Wurmlinger sein Versprechen herdeklamierte, konnte Herrn Wäggerlin nicht mehr empören, weil sie ihn an längst vergangene Jugendzeiten erinnerte. Durch seine Gabe, über die geringfügigsten Dinge in den hochtrabendsten Tönen, oft in schauerlichen Versen, sich gewaltig zu ergehen, war der junge Lehrer Wurmlinger einst der Spaßmacher des Männerchors Eintracht gewesen und hatte mehr als einmal den bedroh'en Vereinsfrieden durch ein gesundes Gelächter gerettet. Dieser Gabe hatte er im Grund auch die Wahl als Präsident zu verdanken gehabt. Sein Pathos, das er bald im großen Ernst, bald auch in vollem Bewußtsein seiner Komik brauchte, hatte ihm auch in seiner politischen Laufbahn manchen Redeerfolg gewonnen.

79 []Nun stand Wurmlinger da und hielt dem alten Gegner seine breite Hand hin. Zögernd und mit verlegenem Lächeln bot Herr Wäggerlin die seine: „Du bist doch noch genau der gleiche Hanswurst wie vor vierzig Jahren, Nazi. Meinet-wegen, da hast du meine Hand.“

Wurmlinger schüttelte sie kräftig und meinte lachend:„Der gleiche Hanswurst, ja, dem es zuweilen gelingt, mit seinen Späßen etwas in Ordnung zu bringen, wenn andere Leute Kleinigkeiten gar zu ernst nehmen und damit sich und andere ärgern. Uebrigens in allem Ernst, ich will der Polizeimannschaft Instruktion geben, den Peitschenkünstlern etwas schärfer auf die Finger zu sehen. Wenn einmal ein halbes Dutzend Lärmmacher gebüßt sind, wird's wohl stiller werden auf der Straße.“

Dann zog er Herrn Wäggerlin aufs Sopha und sagte:„So, Männi, jetzt könntest du mir eine deiner berühmten Zigarren anbieten und etwas zu trinken holen, damit wir der begrabenen Feindschaft ein Totenopfer bringen und auf das neue Leben anstoßen können.“

Herr Wäggerlin tat, wie er wünschte, und als nun die beiden alten Herren einträchtig bei den Gläsern saßen und rauchten, hätte niemand gedacht, daß des Einen verbundenes Auge von einem Peitschenhiebe herrühre, den ihm der Andere hatte zukommen lassen.

Sie tranken und rauchten eine Weile still; der Stadtrat, weil er selten ein so gutes Kräutlein rauchte und ein so gutes Säftlein trank, wie es Männi Wäggerlin bieten konnte; dieser, weil er sich immer noch an den Gedanken gewöhnen mußte, daß nun Ignaz Wurmlinger, der Stadtrat und Sozialdemokrat, in seiner Stube saß, seine Zigarren rauchte, seinen Wein trank und sein Freund sein sollte,wie wenn die letzten vierzig Jahre nicht gewesen wären. Ungern hatte er die ihm fast mit Gewalt aufgedrungene Versöhnung angenommen; aber wenn er daran dachte, was eine hartnäckige Weigerung gebracht hätte, so schüttelte ihn ein Grauen. Was wohl Anna sagen würde, wenn sie uns so zusammen sitzen sähe!

30 []Da fiel ihm mit einem Mal Annas Liebschaft mit Eugen Wurmlinger ein, an die er im Sturm der Ereignisse kaum mehr gedacht hatte. Da war's nun wohl auch aus mit dem Widerstand; war er mit dem Stadtrat wieder gut Freund, so blieb wohl nichts übrig, als auch die Verbindung der Kinder zuzugeben. Der Gedanke fiel ihm schwer; er seufzte.

Der Stadtrat sah auf und, als ob er erriete, was Herr Wäggerlin dachte, begann er: „Männi, da wir nun durch die komische Geschichte wieder Freunde geworden sind, könnt's bald geschehen, daß wir noch mehr würden Gegenschwäher nämlich.“

Er seufzte auch: „Mein Eugen will heiraten. Er könntemeiner Meinung nach auch noch ein paar Jährlein warten.Aber er hat einen Steckkopf und will einfach. Und zwar niemand anders als dein Anneli. Du hast ihm ja nun neulich die Mucken vertreiben wollen und hast nein gesagt,aber “ Wurmlinger schaute Herrn Wöggerlin verschmitzt an „mir scheint, dein Töchterlein kümmert sich um deinen Willen, wie mein Advokätlein um den meinigen. Es hat auch einen Steckkopf und will einfach. Was sollen wir beiden Alten tun?“

Es war Herrn Wäggerlin sehr tröstlich, daß Stadtrat Wurmlinger so sprach. Er hatte erwartet, es komme eine kecke, zuversichtliche Werbung für den Sohn. Der bedenkliche Ton gefiel ihm nicht übel; aber freilich, was sie tun sollten, wußte er auch nicht recht; der Hinweis auf die väterliche Feindschaft fiel ja jetzt auch weg. Herr Wäggerlin besann sich und nahm bedächtig einen Schluck. Schließlich meinte er verlegen: „Ja, dein Sohn ist aber doch wohl noch nicht imstand, eine Familie zu erhalten, oder?“

Der Stadtrat zuckte die Achseln: „Wie mans nimmt.Sein erster großer Prozeß hat ihm ein Stümplein Geld XE steckt auch schon in ein paar neuen Sachen drin, die nicht viel weniger abwerfen. Dazu hat er keine luxuriösen Bedürfnisse; dein Anneli, so viel man ihrem Aeußern ansieht,

31 []auch nicht; deswegen brauchte man um die jungen Leute keine Sorgen zu haben.“

In Herrn Wäggerlin wachte auf, was er im Lämmlein vorgestern über die Aussichten des jungen Advokaten gehört hatte. Hatte ihn das damals schon in die Nase gestochen, so war es jetzt, da der alte Haß als Gegengrund wegfiel, noch erwägenswerter. Er überlegte sich die Sache.Seine Tochter brauchte ja auch nicht nackt und bloß in die Ehe zu treten; er konnte ihr etwas Ordentliches mitgeben.Doch davon verriet er nichts; er rechnete bloß.

Unterdessen hatte der Stadtrat einen Schluck genommen und ein paar Wölklein in die Luft geblasen und begann wieder: „Wenn ich dem Eugen sage, er solle noch warten mit Heiraten, so fragt er mich, wie alt ich gewesen sei, als ichs tat. Dann muß ich schweigen. Denn ich war vierundzwanzgig und hatte sechzehnhundert Franken Gehalt an meiner Landschule, und er ist siebenundzwanzgig und kann, wenn das Jahr das rechte Prozeßwetter bringt, zehnmal so viel verdienen.“

Herr Wäggerlin sagte in Erinnerungen verloren: „Ich war auch siebenundzwanzig, als ich die Elise nahm, und sie drei Jahre jünger, als Anna jetzt ist.“ Dann kam mit einem Mal der Mut über ihn; er dachte an all das, was er heute schon durchgemacht hatte; die Verlobung Annas war das Schlimmste nicht. „Meinetwegen,“ rief er und schlug auf den Tisch, „so sollen sie heiraten, wenn sie wollen; mir ist jetzt alles gleich!“ Er leerte sein Glas mit einem langen Zug

Ueber all den Ereignissen war es Mittag geworden;die sonst so stille Breitmattstraße scholl von den Schritten all der Schüler, Schülerinnen, Commis, Ladenfräulein,Lehrer, Beamten und Geschäftsinhaber, die alle rasch und hungrig aus den Schulen und Bureaux der innern Stadt dem Mittagessen zueilten. Stadtrat Wurmlinger trat ans Fenster und sah hinaus. Plötzlich öffnete er, beugte sich hinaus und sagte: „Eugen, du kannst das Fräulein gerade hereinbegleiten; ich bin auch hier.“

327 []Der Eindruck, den seine Worte auf den jungen Advokaten und Anna machten, belustigte ihn so, daß er sich lachend in Herrn Wäggerlins Armstuhl fallen ließ. Doch erhob er sich gleich wieder, schloß das Fenster und empfing,als eben sein Sohn hinter Anna eintrat, die beiden mit dem ernstesten Gesicht.

Die jungen Leute waren so erstaunt, die Väter beisammen zu finden und zwar bei Wein und Zigarre, daß sie erst sich dann die Alten mit den verwundertsten Gesichtern betrachteten. Aber schon ergriff Stadtrat Wurmlinger das Wort: „Ihr wundert Euch, Ihr Beiden, daß wir hier beisammen sind. Wißt, daß wir uns über Euren beidseitigen Ungehorsam und Trotz gegen den väterlichen Willen bitter beklagt und beschlossen haben, Euch exemplarisch zu bestrafen. Wir verurteilen Euch kraft unserer väterlichen Gewalt zu sofortiger Verlobung und lebenslänglichem Ehestand und werden ohne Erbarmen auf der Durchführung unseres Beschlusses bestehen, selbst wenn Ihr ..“

Doch er kam nicht weiter in seiner Rede; denn schon hing ihm Anna am Hals und Eugen drückte unterdessen Herrn Wäggerlin, der neben dem Freund gar nicht zu Worte kam, dankbar die Hand.

Der Stadtrat prustete und schnaubte unter den Küssen Annas: „Ich will dich ja gar nicht, dummes Mädchen, der da will dich!“ und schob sie zum Sohne hin.

J

5

So wurden Eugen Wurmlinger und Anna Wäggerlin ein Brautpaar; der alte Wurmlinger aber nahm sein Glas,stieß mit Herrn Wäggerlin an und sprach: „Es lebe die Propaganda der Tat!“

Ein halbes Jahr später war die Hochzeit. Eine gemütliche, lustige Hochzeit in kleinem Kreis. Morgens gegen vier Uhr half Stadtrat Wurmlinger Herrn Wäggerlin in die Droschke, die die beiden Herren an die Breitmattstraße heimführen sollte, und stieg dann zu ihm. Herr Wäggerlin

9 []war überaus redselig und munter. Der Kutscher wollte auch zeigen, daß er nicht schlafe auf dem Bock. Er nahm die Peitsche und klepfte ein, zwei, drei Mal. Da stieß Wurmlinger den Freund an und sagte: „Du, der klepft ganz gesetzwidrig und stört die Nachtruhe.“ Herr Wäggerlin aber lächelte selig und sprach: „Laß ihn klepfen, Nazi, ich täts auch, wenn ich könnte!“ Der Kutscher klepfte weiter und Stadtrat Wurmlinger lachte.

Ende.

34 []Ahnen-Spinat [] Die Eysenstuckh sind eine Familie aus gutem altem Bürgerstand. Zwar mit dem eigentlichen Stadtpatriziat,das Jahrhundertlang das Regiment geführt hat, mit den berühmten „sieben Geschlechtern“ der von Aeberhardt, von Hochenstuel, Scheuchleder, Gambini, Rothagen, Geelfus und Benjamin, deren Wappen im Ratsaal hangen, können sie sich nicht messen. Aber immerhin dreihundertundfünfzehn Jahre sind es doch, seit der Leinweber Lorenz Eysenstuckh in der Stadt einzog und schon nach kurzer Frist Bürger wurde. Und in den drei Jahrhunderten hat das Geschlecht Wurzel geschlagen im Boden der Stadt, hat sich ausgedehnt,hat geblüht und Frucht getragen, reiche Früchte zu Ehren seiner Heimat. Freilich zunächst hielt es sich hundert Jahre in ehrbarer Bescheidenheit und bürgerlichem Fleiß in den wenig geachteten Niederungen der Leinweberzunft, dann aber zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts nahms einen Aufschwung.

Johann Martin Eysenstuchh kam 1712 als Zunftmeister der Weber in den Rat, warf sich vom bescheidenen Handwerk auf den angesehenern Handel und hatte darin so schönen Erfolg, daß er die Vorstadt, in der sein Geschlecht bisher gehaust, verließ und sich am sogenannten innern Graben ein stattliches Haus bauen ließ, über dessen Portal noch heute das Wappen mit dem schweren Geschützrohr und dem Stern darüber zu sehen ist. Aus diesem Haus gingen dann die zwei Linien hervor, die, so verschieden sie von einander sind, doch zusammen die eine große Familie Eysenstuckh bilden. Eigentlich wären es drei Linien gewesen,aber die Nachkommenschaft des jüngsten Sohnes des Zunft

I8 []meisters und Handelsherrn kehrte schon in der zweiten Generation wieder in die alte Niederung zurück, und hielt so wenig auf sich, daß sie sich sogar in der Schreibung des Namens dem Wandel der Zeiten anpaßte. Emil Eisenstuck,ihr jetziger Vertreter, hauste mit einer zahlreichen Kinderschar auf der nicht sehr angesehenen Wirtschaft zur krummen Linde in der äußern Vorstadt. Umsomehr hielten die Nachkommen der ältern Söhne Johann Martins auf ihre Familie und schrieben ihren Namen stets und stolz mit einem Ypsilon in der ersten Silbe und einem H hinten.Der Familienchronist, Dr. Olaf Eysenstuckh, hatte auf die dreihundertste Wiederkehr des Einbürgerungstages ihres Ahnherrn eine Festschrift verfaßt und einen Stammbaum entworfen, der in hübscher, farbiger Wiedergabe in allen EysenstuckhHäusern prangte.

Da konnte man schön die beiden Linien sehen, die von den ältern Söhnen Johann Martins ausgegangen waren.Die eine, die blaue, wie sie im Stammbaum und Familienbuch hieß, nahm ihren Anfang bei Thaddäus Eysenstuckh,juris utriusque Doctor und Rechtskonsulent der Stadt,und hielt sich durchaus auf der einmal erreichten akademischen Höhe: Rechtsgelehrte, Pfarrherren, Aerzte eysenstuckhischen Blutes hatten der Stadt Nutzen und Ehre gebracht. Ja, mehrere Glieder dieses Zweiges hatten dem Namen ihrer Heimat in fernen Landen Ansehen erworben.Philippus Eysenstuchh war 1762 königlich schwedischer Leibarzt und Professor der Medizin in Upsala geworden,hatte aber doch im Alter seine Vaterstadt wieder aufgesucht, und seit ihm tauchten in den Familien dieser Linie mehrfach nordische Namen wie Olaf und Svanhild auf.Wenns daneben aber auch einen Ettore gab, der eine allerdings auswärts verheiratete Schwester Gioconda hatte, so lebte in diesen Namen die Erinnerung an die Kinder des Herrn Hans Franz Eysenstuckh weiter, der Oberst im Königreich Neapel gewesen und wie sein Vetter Philippus mit seiner ausländischen Familie in die Heimat zurückgekehrt war.

88 []Heute sind die Blauen oder die Thaddäer vertreten in dem schon genannten Herrn Olaf, Geschichtsprofessor am Stadtgymnasium, in seinem Bruder Dr. Ettore Eysenstuckh, einem beliebten Kinderarzt, und in Herrn Hans Franz, ihrem Vetter, der außerordentlicher Professor an der Hochschule und ein bedeutender Forscher auf dem Gebiet der Nahrungsmittelchemie ist. Sind die Thaddäer unter sich, so sprechen sie gern von ihrem Familienzweig als dem idealistischen und sehen ein wenig auf die grüne Linie der Jakober herab.

Diese, von Jakob Friedrich Eysenstuckh abstammend,führten in ihrem Hauptstamm das Geschäft Johann Martins weiter; nur daß der Leinwandhandel hinter dem Tuch handel im Allgemeinen immer mehr zurücktrat. Der heutige Inhaber der bald zweihundertjährigen Firma Eysenstuckh pflegt besonders die Einfuhr kostbarer englischer Seidengewebe und orientalischer Teppiche. Dieser Herr Jakob Friedrich Eysenstuchh (die Vornamen waren in diesem Zweig ebenso erblich, feststehend und schlicht, wie in der blauen Linie wechselnd und farbig) treibt seinen Handel mit Luxusstoffen auch fast wie eine Liebhaberei, ohne darum geschäftlich untüchtig zu sein. Die schönsten Teppiche,die ihm seine Aufkäufer im Morgenland sandten, schmücken die Wohnräume seines Hauses, und die feinsten Seidenstoffe aus seinem Geschäfte tragen seine Frau und seine Tochter.Was sein Vermögen angeht, so wird darüber gestritten, ob es die Million bald erreiche oder sie schon überschritten habe. Nicht zweifelhaft ist letzteres bei seinem Bruder Carl,dem Direktor der Rentenbank, und auch ihre Vettern, die Brüder Fritz und Eduard Eysenstuckh sind als Inhaber der ersten Kohlenimport-Firma am Platze recht wohlhabend.Ihre Ehefrauen konnten die Herren des grünen Zweiges bei ihrem Reichtum sogar aus den Kreisen des Patriziats holen.

Der früher etwas locker gewordene Zusammenhang zwischen den beiden Linien, der blauen und der grünen, ist seit der dreihundertjährigen Familienjubelfeier enger geworden; vierteliährliche gemeinsame Familientage vereini[]gen beide Linien, während jede unter sich ihre monatlichen Zusammenkünfte hat. Die schwarze Linie, ohne y und h, ist zwar damals, um der geschichtlichen Wahrheit willen auch eingeladen worden. Es war aber der Bildungs- und Standesunterschied doch so peinlich, daß weitere Berührungen von beiden Seiten nachher nicht mehr gesucht wurden und die bessern Linien ihren Verkehr aufeinander beschränkten.Das Familienbuch Onkel Olafs wird in jedem EysenstuckhHause aufbewahrt und die jungen Leute belustigen sich damit, festzustellen, wie vorsichtig der Chronist über die paar dunkeln Punkte, die auch in dieser Familiengeschichte nicht fehlen, weggleitet. Da ist z. B. in der blauen Linie ein Ambrosius Eysenstuckh verzeichnet, dessen ganzer Lebenslauf lautet: „wurde geboren 1811, lebte leichtsinnig und starb 1848 auf Jamaica.“ Gar zu gern möchte man da wissen, worin das leichtsinnige Leben des Urgroßonkels Ambrosius bestanden und wie er nach Jamaica geraten sei; aber Onkel Olaf setzt allen verblümten oder deutlichen Fragen ein eisiges Schweigen entgegen.

Ein Punkt aber, der den gewissenhaften Geschichtsschreiber der Eysenstuckh selbst mehr plagt als dieser dunkle Ambrosius, ist der Umstand, daß es ihm trotz allergenauester Forschungen nicht gelungen ist, die Familie in Verbindung zu bringen mit dem stolzen Jerg Butz zum Eysenstuckh, der am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts als Geschützgießer, Maler,Dichter und Führer des Zunftaufstandes gegen das Patriziat der berühmteste Mann der ganzen Stadtgeschichte geworden ist. Jedesmal, wenn er am ehernen Standbild des großen Mannes auf dem Marktplatz vorbeigeht, wenn er sein Wappen sieht mit demselben schweren Geschützrohr,nur daß darüber statt des Sterns eine Katze sitzt, so wurmt es ihn, daß er die Linie nicht zu entdecken vermocht hat, die von dem Haus- und Beinamen des Stadthelden, des ersten nichtpatrizischen Bürgermeisters, zu ihrem Familiennamen hinüberführt, hinüberführen muß, umso sicherer, als ein Sohn des Jerg Butz in den Reformationswirren just in den Flecken ausgewandert war, aus dem hundertundzwanzig

90 []Jahre später Lorenz Eysenstuckh wieder in die Stadt zog.Aber eben von diesem ausgewanderten Frischhans Butz führte keine urkundliche Spur weiter und von Lorenz Eysenstuckh ebensowenig eine zurück.

Was aber dem idealistischen Forscher aus der blauen Linie nicht gelungen war, die Verbindung der guten alten Familie Eysenstuckh mit der noch bessern und ältern der Butz zum Eysenstuckh, das setzte einer der realistischen Geschäftsleute des grünen Zweiges in kecke Tat um. Jakob Friedrich Eysenstuckh und seine Gattin Eleonore geborene Geelfus hatten sich vor kurzem die Ehre gegeben, die Verlobung ihres Sohnes Johann Martin mit Fräulein Ellen Butz zum Eysenstuckh anzuzeigen.

Der Familientag dieses Vierteljahrs galt zugleich als die zweite Verlobungsfeier des jungen Paares (eine erste war in engerm Kreis begangen worden) und zugleich gewissermaßen als Triumph über die endlich gelungene Allianz der beiden Geschützrohrwappen, des mit der Katze und des mit dem Stern.

In der Halle seines schönen, vor wenigen Jahren gebauten Hauses an der Schwabenwallstraße, im besten Wohnviertel der Stadt, erwartete Herr Jakob Friedrich seine Gäste, indeß Frau Eleonore die schön gedeckten Tische noch einmal musterte. Den der Erwachsenen im großen Speisezimmer, den der Kinder im Gartensaal, der vom Speisezimmer durch das Rauchkabinet des Hausherrn getrennt ist.In diesem Rauchzimmer weilte auch eben das Brautpaar,aber nicht in stillem Kosen, sondern Herr Johann Martin in sehr bequemer Stellung im Ledersessel, während seine Braut mit dem jungen Schwager Edi am Fenster stand, wo er ihr die zu erwartenden Verwandten, namentlich die der blauen Linie mit allerlei lustigen und giftigen Bemerkungen beschrieb; die des grünen Zweiges waren ihr schon alle bekannt.

„Weißt du, Ellen,“ dozierte der Zwölfjährige eben, „der Onkel Olaf ist gar kein übler Typ. Zwar die Großen im Pennal, die bei ihm Geschichte haben, fluchen elend und

*1 []sagen, er sei mordslangweilig. Aber als Onkel ist er oft ganz gerissen. Nur meint er eben, jeder Eysenstuckh müsse in seiner Klasse Primus sein und dabei sinds nicht einmal seine eigenen Söhne, weder der langweilige Philipp, noch der noch blödere Lorenz. Da kann ers doch von mir gar nicht verlangen. Das ganze Pennal ist mir ja doch Wurst.Ich komme, wenn ich einmal konfirmiert bin, doch zu Onkel Carl ins Geschäft.“

„Du magst scheints die Vettern nicht besonders?“ fragte Ellen das vorlaute Bürschlein.

„O, ich will nichts gesagt haben. Aber sie habens von ihrer Mutter. Die Tante Justine ist nämlich greulich. Sie war einmal vor x Jahren in Rußland Ergieherin bei einem Fürsten oder so was, und nun fängt sie jeden Satz an: „In Rußland, wo ich früher war“ und dann kommt immer etwas Saublödes. Aber, gute Zigaretten hat sie; das schöne Laster hat sie aus Rußland gottlob mitgebracht.“

Edi schnalzte in Erinnerung an die erstohlenen Genüsse aus der Tante Zigarettenschachtel so innig, daß Ellen nicht anders konnte, als aus ihres Bräutigams Etui sich und dem kleinen Schwägerchen eine anzustecken.

„Du bist senkrecht, Schwägerin,“ lobte der Junge, den neuen Namen und das feine Rauchzeug gleich genießend.„Uebrigens,“ fuhr er fort, „so öd die Vettern sind in ihrer Brapvheit, so lustig sind die Mädel. Mit der Sus kann man balgen wie mit einem Bub und die Adel schlittelt und skit herrlich. Der Hektor geht noch in die Primarschule, den kenn ich gar nicht!“

Die also geschilderte Familie war unterdessen angerückt und wurde eben in der Halle empfangen, wozu sich das Brautpaar hinausbegab. Edi folgte nach einigen Minuten,die er noch heftigen Studien im Ringlein-Rauchen widmete und kam eben recht, nicht nur Susanne und Adelgund, sondern auch die ankommenen Cousinchen Frikky, Meggy und Doggy zu begrüßen, wie die drei muntern Mädchen des Bankdirektors Carl Eysenstuckh in stadtüblicher Abkürzung genannt wurden. während sie eigentlich Friederike, Mech

92 []tild und Dorothee getauft waren. Edi zog das fünfköpfige,lustig durcheinander kichernde Mädchenwesen gleich in die Rauchstube, um ihnen mit der neuerworbenen Ringleinkunst vorzuprahlen. Lorenz und Philipp begrüßten etwas steif und verlegen die neue Cousine. Tante Justine aber umhalste sie herzlich und rief bewundernd: „Du hast wahrhaftig so herrliche VenezianerSpitzen wie die Prinzeß Maria Iwanowna Simbirsikow, mit der ich in Rußland befreundet war.“Weitere Gäste rückten an: Fritz Eysenstuckh in Firma Gebrüder Eysenstuckh, Kohlenimport, ohne Gemahlin, denn sie weilte zur Zeit im Seebad, aber dafür mit seinen festen zehn und elfjährigen Buben Heinz und Paul, die sofort auf das kleine, blasse Vetterchen Hektor losfuhren und ihm erzählten, sie hätten jetzt einen neuen Hund, „Satan“ heiße er und sei ein richtiger Wolfshund.“

„Eigentlich mehr ein Wolf als ein Hund,“ überschrie Paul den berichtenden Heinz.

„Ja,“ bestätigte dieser, „und er hat heute morgen schon den Briefträger wüst ins Bein gebissen! Nimm dich nur in Acht. wenn du wieder zu uns kommst!“Hektor, der vor allem, was bellte, selbst vor dem winzigen Bologneserchen der Tante Svanhild den tiefsten Abscheu hegte, erblaßte und zitterte von der bloßen Schilderung der Bestie, und das wars, was Heinz und Paul bezweckt hatten.Edi aber stand wieder am Rauchzimmerfenster, neben ihm die zwölfjährige Frikky, die sich auch schon ein Zigarettchen ins rosige Mäulchen schob und nach dem ersten Zug fragte:„Du, Edi, essen Lorenz und Philipp bei uns oder bei den Großen? Der Philipp, der Oedian, hat letzthin gesagt,das Rauchen passe nicht für uns Mädchen. Das sagt er nur,weils ihm selbst noch übel wird, wenn er nur ein Zigarettlein sieht!“

43 []„Du kannst dich beruhigen, Frikky, am Kindertisch sind wir die Aeltesten, mit Tante Svanhilds Ausnahme natürlicht“

„O, Tante Svanhild!“ lachte das Mädchen, „ich freue mich schon, wie sie den Sven wieder streicheln wird!“

„A propos Svenl“ rief Adel vom Sopha herüber, wo sie Meggy von ihrer neuen Frangösisch-Lehrerin vorgeschwärmt hatte, „denkt Euch, er trägt jetzt eine Brille und sieht aus wie ein Alter!“

„Wahrscheinlich älter als sein Vater. Daß Onkel Hans Franz immer noch Schillerkragen trägt wie ein Bub, find ich einfach lächerlich!“ antwortete Friggy.

„Dafür ist Tante Emmys Reformkleid umso lieblicher,das so lose ihre schlanke Gestalt umschlottert!“ höhnte der freche Edi und reizte damit die Cousinen zu endlosem Gekicher. Denn Tante Emmy, die eben mit Mann und Sohn durch den Garten aufs Haus zu schreitet, ist eine etwas zu kurz geratene Helvetia, die ihr silbergraues Samtkleid voll und ganz ausfüllt.

„Onkel Professors sind halt alle Originale,“ sagte Adel,„der Onkel ein halber Naturmensch, trinkt nur Wasser und ißt bloß Spinat und grüne Kräuter, raucht nicht und trägt keine gestärkte Wäsche. Und Tante Emmy, wißt Ihr. was die treibt?“

Adel senkte die Stimme zum Flüstern und raunte den Andern zu: „Sie schreibt Romanel“

„O, das weiß ich schon lang,“ triumphierte Meggy,„aber es muß langweiliges Zeug sein. Mama hafte lang einen davon auf ihrem Tischlein und sagte einmal zu Papa:Ich würde das Gewäsch nicht lesen, wenn man nicht am Familientag so peinlich danach gefragt würdel“

„Und Sven ist “ rief Frikky dazwischen.

Da ging die Tür auf und Sven trat ein, ein magerer,langer Bursch, mit einem für seine elf Jahre schon merkwürdig alten und frühreifen Gesicht, das mit seiner Brille wirklich ganz gelehrtenhaft dreinsah.

94 []„Sven, weißt du einen schönen Namen für meine neue Puppe?“ rief Doggy dem Vetter entgegen und

„Sven, gelt, du kannst nicht Ski fahren?“ höhnte Sus.

„Ich mag auch gar nicht,“ antwortete Sven gelassen zu dem einen Bäschen und zu Doggy sagte er freundlich:

„Hermione ist ein schöner Name, wenn du ihn willst.“

„O. Hermine, so heißt ja unsere Waschfrau,“ lachte Doggy, „das paßt doch nicht für eine Charakterpuppe mit wirklichem Haar!“

Vor dem Gartentor fuhren indessen ein Auto und eine Droschke gleichzeitig vor. Dem Auto entstieg Dr. Ettore Eysenstuchh und Eduard Eysenstuckh mit seiner jungen Frau Rösli geb. Rothagen. Der Vetter Kinderarzt hatte ihr eben wieder einmal versichern müssen, daß ihr drei Monat alter Jüngster kerngesund sei und, als er ihre mütterliche Aengstlichkeit mit seiner ganzen medizinischen Autorität beschwichtigt, hatte er das besorgte Ehepaar in sein Auto genommen und zum Familientag geführt. Im Wagen kamen die eingzigen Gäste, die nicht Eysenstuckhs mit dem Stern waren, nämlich Fräulein Gertrude Butz zum Eysenstuckh, eine feine, siebzigiährige Dame in schwarzer Seide,und mit ihr Herr Stadtarchivar Dr. Hans Georg Butz, der letzte, der das Wappen mit der Katze auf dem Geschütz führte. Fräulein Gertrude hatte an ihm und seiner zwanzig Jahre jüngern Schwester Ellen, der Braut Johann Martins,Mutterstelle versehen, und behandelte den fünfundvierzigjährigen, ledigen Herrn, der ebenso gelehrt als hilflos in allen Dingen des praktischen Lebens war, auch jetzt noch wie ein liebes und pflegebedürftiges Büblein. Sie zupfte ihm eben noch, ehe sie ausstiegen, die Krawatte zurecht,fuhr mit einem Taschenkämmchen durch sein sich bereits stark lichtendes Haar, und legte die eine Strähne, die stets über die Stirn herabfallen wollte, wieder sorgfältig an ihren Platz. Dann stieg der Herr Stadtarchivar umständlich aus, wobei der Zwicker abfiel und sich mit der Schnur im Griff des Kutschenschlages verwickelte, so daß sein unglücklicher Besitzer hilflos wie ein Blinder mit den Händen in der []Luft herumtastete. Fräulein Gertrude brachte mit ihren feinen Fingern das Unheil bald wieder in Ordnung, reichte ihrem Neffen den vergessenen Hut heraus und stieg dann selbst aus, wobei Herr Hans Georg vergebliche Versuche machte, ihr behilflich zu sein. Sie waren noch nicht die letzten Gäste, aber Tante Svanhild, die ledige Schwester Herrn Olafs, war in der ganzen Familie und weit darüber hinaus dafür berühmt, daß sie immer eine Viertelstunde zu spät kam, und es war stehender Brauch nicht auf sie zu warten. Sie nahm das auch nicht im mindesten übel, so wenig als sie je ihr Zuspätkommen entschuldigte; es gehörte nun einmal zu ihr, so gut wie ihre lange, alle weiblichen Maße überschreitende Gestalt sie maß genau 198,5 Zentimeter wie ihre stets schiefsitzende Frisur, von der sie lachend sagte, sie sei ja so hoch oben, daß es dort niemand sehe, ob sie gerade oder krumm sei, und wie schließlich ihre unüberwindliche Scheu vor Katzen.

Man wartete also nicht auf Tante Svanhild, sondern,als Fräulein Gertrude ihre Hüllen abgelegt hatte, erscholl der Gong und öffnete sich weit die Flügeltür des Speisezimmers. Auch die beiden weitern Kinder des Gastgebers,die im Alter zwischen Johann Martin, dem Geschäftserben,und dem GEymnasiasten Edi standen, erschienen nun aus den obern Gemächern des Hauses. Lorly, die zweiundzwanzigjährige Tochter, ein überaus elegant und geschmackvoll gekleidetes Wesen, kam erst jetzt, weil ihr, wie sie oft sagte, die unerträgliche Familiensimpelei zuwider war, und Ernst Ferdinand, der Kunstgeschichte studierte, hatte sich nicht aus einer fast ekstatischen Versenkung in ein kubistisches, in den „Kunstblättern“ wiedergegebenes Bild losreißen können, bis die Gongtöne seinen Geist aus den himmlischen in irdische Regionen hinunterzogen. Er sah in Gesicht und Kleidung genau aus, wie sein Großvater mit zwanzig Jahren auch ausgesehen hatte: ein schmales Gesicht mit tiefliegenden, schwermütigen Augen und blonden Bartstreifchen neben den Ohren; Kinn und Oberlippe glatt rasiert, das Kinn fast auf der gewaltigen, schwarzseidenen []Halsbinde ruhend, die kaum ein wenig von dem hohen Kragen sehen ließ. Der Gehrock über der gestickten Weste in den Hüften bauschend, und die grauen Beinkleider mit Lederstegen waren ebenso gewählt als altväterisch, und der große Siegelring an der langen, schlanken Hand war großväterliches Erbe. Die fünf Mädchen stießen sich kichernd an, als der Vetter an ihnen hoheitsvoll und ohne ihnen einen Blick zu schenken vorbeischritt und im Eßzimmer verschwand, während sie mit der andern Jugend in den Gartensaal einzogen, wo sie unter dem Vorsitz der noch zu erwartenden Tante Svanhild speisen sollten.

Gartensaal war eigentlich nicht die rechte Bezeichnung, die diesem stattlichen Raume zukam. Nur eine gewisse Scheu, sich lächerlich zu machen, hinderte die Besitzer, ihn den Ahnensaal zu nennen, aber eingerichtet war er eher dafür. Schwere reichgeschnitzte Renaissance-Möbel und eine prachtvolle, kassettierte Holzdecke mit dem Familienwappen in der Mitte gaben ihm ein altertümliches Aussehen und über dem hohen Vertäfer hing Bild an Bild, lauter Eysenstuckhs beider Linien, so weit zurück sich eben die Väter und Mütter hatten porträtieren lassen. Bis zu den AllongePerücken reichte es zwar nicht, aber doch bis zu Zopf und Haarbeutel, Jabots und Blumenweste bei den Ahnen und bis zu Reifrock und hoher Frisur bei den Ahnfrauen. Auf dem breiten Kaminsims aber stand seit kurzem, das heißt seit die Annäherung an die Butz zum Eysenstuckh erfolgt war, das feine Bronzemodell, das der Bildhauer Hans Henkeler für das Denkmal des Bürgermeisters Jerg Butz ausgearbeitet hatte. Herr Jakob Friedrich hatte es vom Künstler selbst erworben: es mochte ja als bloßer Schmuck gelten und es war ein wundervoller Schmuck. Es hing nicht als Ahnenbild an der Wand und war ja auch kein Ahnenbild, aber bloß aus Begeisterung für den Stadthelden stands nicht da. Durch die junge Frau, die nun in die Familie einzog, wurde es nun eben doch zum Ahnenbild und deshalb hatte der Hausherr auch den hohen Preis nicht gescheut, den er für das bloße Kunstwerk nie und

37 []nimmer gegeben hätte. Und zu Füßen dieser würdigen Vorfahrenschaft war nun der fröhlichen Jugend vom zwölfjährigen Friggy bis zum sechsjährigen Hektorchen der Tisch gedeckt, den sie stürmisch besetzte. Edi, der als Sohn des Hauses zu unterst sitzen sollte, nahm ohne weiteres den Vorsitz an Stelle Tante Svanhilds ein. Er setzte sich zwar nicht auf den Stuhl, sondern kniete darauf, um so die hohe Gestalt der Abwesenden besser zu kopieren, und gab nun,ihre Stimme und ihren eigentümlichen Tonfall vorzüglich nachahmend, dem Dienstmädchen, das die Suppe auftrug,Anweisungen? den Mädchen Mahnungen zu aufrechtem Sitzen und besonders Sven Emanuel, der Tante Svanhilds XREB mußte, die zärtlichsten und komischsten Kosenamen, wie es die Tante im Brauch hatte. Als er eben dem Vetter liebkosend übers Haar fuhr und flötete: „Pätchen Pastetchen,schmeckts? Nimmst du nicht noch ein Tellerchen Suppel“tat sich die Tür auf und die wirkliche Tante Svanhild stand hochrot vor Eile da. Als sie vernahm, wie prächtig sie da kopiert wurde, brach sie in lautes Lachen aus, stürzte auf Edi los, umarmte und küßte ihn und jubelte:

„Tausendsassa, du mußt zur Bühne! wunderbar hast du das gegeben, laß dich küssen, Zuckerengelchen.“

Ob das Gelächter der Tafelrunde noch der vorherigen Kunstleistung galt oder dem verzweifelten Sträuben, mit dem sich der ertappte Mime gegen die Liebkosungen seines entzückten Schlachtopfers wehrte, ließ sich nicht feststellen.Jedenfalls Edi entfloh, sobald er konnte, an seinen Platz und Tante Svanhild übernahm nun den Vorsitz.

Während so heiter das Mahl der Jugend begann, tafelten die Erwachsenen drüben im Speisezimmer zwar würdig, aber auch recht lebhaft. Zu der vorzüglichen braunen Hirnsuppe wurden allerlei Stadtneuigkeiten verhandelt.Nur Herr Dr. Butz war bereits mit Onkel Olaf in ein historisches Gespräch verwickelt, das er zwar stark stotternd,aber mit größter Heftigkeit führte, da es galt, eine ganz unrichtige Behauptung einer auswärtigen Größe unter den 38 []Geschichtsforschern über die Steuerverhältnisse der Stadt im dreizehnten Jahrhundert zu widerlegen.

„Ich sage Ihnen, Herr Doktor, diese KoKoKoryphäe der Wissenschaft, dieser Gellhausen, dieser ii-intimste Kenner mittelalterlichen Wirtschaftswesens, wie er neulich bei seinem siebzigsten Geburtstag in der Allgemeinen Historischen genannt worden ist, weiß nicht, hat keine Ahnung davon, was Gregorius der Minorit in seiner Chronik über das Ohmgeld unserer Stadt schreibt! Wa-wa-was sagen Sie dazu, Herr Doktor, ist das nicht unerhört?“

Der erregte Stadtarchivar hatte längft den Löffel weggelegt und knetete mit seinem kleinen, weichen Händchen den Arm Dr. Olafs, der sein Nachbar um die Tischecke war.Ja, er war so entrüstet über diese stupende Unwissenheit des großen Gelehrten, daß er sogar in seines Gesprächspartners Aermel hinauffuhr und dort wühlte, ohne es zu merken, daß Tante Gertrude ihm einen schmergzlichen Blick zusandte wegen dieser seiner Unart, die er trotz aller Mahnungen nicht lassen konnte. War er einmal im Eifer, so fuhr er immer den Leuten in die Aermel. Erst als das Dienstmädchen den zweiten Gang auftrug und er sich bedienen mußte, ließ er Herrn Olaf, der nach seiner Meinung Professor Gellhausens Unkenntnis viel zu leicht nahm,wieder los und, da dabei sein Blick auf seine Nachbarin Frau Rösli Eysenstuckh geb. Rothagen fiel, so empfand er nun das Bedürfnis, auch sie ein wenig zu unterhalten. Mit Schoß und Ohmgeld war da nichts zu machen, das fühlte er selbst deutlich genug; aber er war ja auch gar nicht so einseitig, daß er nur über seine Wissenschaft hätte sprechen können. Mit Frauen hatte er einen andern Gesprächsstoff,in dem er ebenso beschlagen war, das war die Küche.

Er war ein Feinschmecker aus eigener Neigung und aus Vererbung. Schon sein berühmtester Vorfahr, der Bürgermeister, hatte durch den Luxus seiner Gastereien in der Zeit der strengen Sittenmandate von sich reden gemacht. Hatte er doch einmal dem venezianischen Gesandten ein Essen gegeben, von dem dieser sogar in seinem diplomatischen

39 []Bericht an den Dogen vermerkt hatte, es sei eines italienischen Gaumens würdig gewesen und die Speisen seien in zehnmal so großer Menge aufgetragen worden als in Venedig und alle verzehrt worden mit gleich großem Appetit der Damen wie der Herren. Diese gewaltige Eßfreude hatte Jerg Butz seinem Geschlecht hinterlassen. Kriegerischen Sinses waren fast alle der Butzen Offiziere und Generäle in fremden Diensten geworden, und jeder hatte, wenn er in die Heimat zurückkehrte, nicht nur Orden und Narben mitgebracht, sondern auch Kochrezepte, ja selbst französische und italienische Köche. Die Koch- und Eßkunst war von ihnen mit Fleiß gepflegt worden. Die fremden Rezepte erbten mit den besten der einheimischen Küche in der Familie fort, und Herr Dr. Butz, der letzte des Geschlechts, hielt das Kochbüchlein seiner Ahnen fast so wert wie die Ehrentafel ihrer kriegerischen Würden und Verdienste. Ja, eigentlich war es ihm noch wichtiger. Denn ihren Kriegsruhm ließ er den Ahnen und machte nicht die geringste Anstrengung,darin ihrer würdig zu werden. Es wäre ja auch bei der Schwächlichkeit seines Körpers, bei seiner Kurzsichtigkeit und seinem Stottern für ihn ganz unmöglich gewesen,Soldat zu sein. Aber als Esser und Feinschmecker kam er ihnen gleich oder übertraf sie noch. Denn wenn jeder seiner Ahnen gern und herzlich genossen hatte, was ihm eben seine Zeit Gutes und Wohlschmeckendes bot, er, der Geschichtskenner, genoß es nicht so schlechthin mit Zunge und Gaumen, sondern, wenn er irgend eines der ererbten Gerichte verzehrte, so wußte er ganz genau und genoß dieses Wissen,woher diese Speise stammte und welcher seiner Vorfahren sie zum ersten Mal kennen und schätzen gelernt hatte. Wenn er einen Kapaun mit Tomatenfüllung verzehrte, so dachte er zugleich seines Ahnherrn Zebedäus Butz, der unter dem Capitano Giorgio Jenatsch für Venedig gefochten hatte, bei einem QueenAnnePudding sah er den Obersten Jacobus Butz mit Malborough in den Erbfolgekrieg ziehen und bei einer süßen Hühnerspeise tauchte vor seinen Augen der holländische Generalmajor Dietrich Butz zum Eysenstuckh

1660 []auf mit seiner Antje van Berghen, die dieses seltsame Gericht aus den Niederlanden mitgebracht hatten. Es war seine Lieblingsspeise und Fräulein Gertrude mußte sie an allen Gedenktagen dieses seines urgroßväterlichen Paares bereiten; an Dietrichs und Antjes Geburtstagen, ihrem Hochzeitstag und nicht minder an ihren Sterbetagen, und jedesmal verzehrte Herr Dr. Hans Georg Butz seine süße hühnerspeise mit Stolz oder Wehmut und stets mit demselben innigen Wohlbehagen. Er erzählte dann seinen Gästen von seinen Vorfahren und stieß mit ihnen auf das Gedächtnis seines seligen Urgroßvaters und der schönen Antje an. Hätte man nun aber den gelehrten Herrn Stadtarchivar, der eben Frau Rösli in die Geheimnisse dieser süßen Hühnerspeise einweihte, wegen seines gastronomischen Ahnenkultes für einen völligen Narren gehalten, so hätte man sich schwer getäuscht. Denn er war gescheit genug, selbst die volle Lächerlichkeit dieses Tuns zu empfinden und darüber so scharf zu spotten, wie es kaum ein Anderer hätte tun können. Aber lassen konnte er es doch nicht; seine Feinschmeckerei und sein geschichtlichgenealogischer Sinn lagen nun eben einmal innig verknüpft in seinem Wesen und erregten bald eine grimmig sich selbst zerfleischende Spottlust, bald eine leise Wehmut in ihm darüber, daß der Letzte des Heldengeschlechts die Ehre der Ahnen nur mit der Feder in seinen gelehrten Arbeiten und mit Messer und Gabel bei Tische zu wahren vermöge. Eben jetzt, da er inmitten dieses,wie es ihm schien, noch jungen und aufblühenden Geschlechtes saß, kam über ihn wieder der stille Jammer über das kläglich-lächerliche Versichkern des Butz'schen Blutes in wissenschaftlichem Kleinkram und Küchengeschwätz. Und er,der gerade noch begeistert und ohne Stottern seiner hübschen Nachbarin zugeflüstert hatte: „Delizios! sag ich Ihnen,diese holländische Hühnerspeise!“ seufzte plötzlich schwer auf und sagte:

„Eieigentlich ist's eine arge DededegenerationsErscheinung, was ich da schwatze. Aaber, wenn man einen Stammbaum hat, der auf den römischen Legaten C. Butius

101 []Rufus zurückgeht, durch ihn auf die Claudier und durch diese wieder auf den pius Aeneas und die meerschaumgeborene Aphrodite, so darf man schon ein bischen degeneriert sein oder nicht, Frau Eysenstuckh?“

Das gute Rösli wußte nichts von den Claudiern, noch vom pius Aeneas, noch von der Meerschaumgeborenen und die süße Hühnerspeise, die aus Brot, Zucker und Herz und Lunge von jungen Hühnern bestehen sollte, kam ihm abscheulich vorl Es wußte wirklich nicht was sagen und war glücklich, daß Onkel Hans Franz über den Tisch herüber das Wort Degeneration, das in sein Fach besonders einschlug, auffing und dem wehmütigen Stadtarchivar zurief:

„Gang recht, Herr Doktor, Degenerations-Erscheinungen, wo wir hinschauen, am allermeisten in unsern alten Stadtgeschlechtern!“

Aber o wehl das arme Frauchen kam vom Regen in die Traufe! Onkel Hans Franz, wenn er einmal an seinem Lieblingsgespräch über die Entartung war, vergaß alle Rücksicht und allen Takt. So fuhr er jetzt fort:

„Achten Sie einmal darauf, wie es in unserer guten Gesellschaft mit dem Kauwerkzeug steht. Alles faul, geflickt,ersetzt lauter Entartungs-Symptome. Da habe ich neulich einmal mit Erlaubnis des Herrn Museumsdirektor Scheuchleder eine Anzahl der Schädel geprüft, die bei dem Umbau der St. Katharinenkrypta aus den dortigen Herrengräbern ins historische Museum gekommen sind. Fast lauter Rothagen, liebes Rösli, deine Vorfahren “

„Ja, ja, ja,“ fiel Dr. Butz ein; „die Rothagen haben anno 1325 den St. Wendelinsaltar in St. Kathrinen gestiftet und dafür ein Erbbegräbnis in der Krypta erworben,das sie bis zur Glaubenstrennung benutzten. Das Wappen,der Stier im roten Feld (denn Hagen heißt bekanntlich der Stier) ist noch am Kryptaeingang zu sehen “

„Also, einer dieser Kerle,“ unterbrach Onkel Hans Franz den Strom von Genealogie und Wappenkunde, der sich aus des Stadtarchivars Mund zu ergießen drohte,„also, ein Benedietus Rothagen, anno 1478 begraben im

102 []Alter von siebenundachtzig Jahren, hat noch eine lückenlose Zahnreihe und keine Spur von Caries zu entdecken; nur ein Vorderzahn scheint oben gewaltsam abgeschlagen “

„Nanatürlich,“ belehrte Dr. Butz eifrig, „diesen Benedietus Rothagen nennt eine Gerichtsakte von 1436 als Teilnehmer an einer furchtbaren Schlägerei, die auf der Hochzeit des Jost von Hochenstuel mit der Yolanthe Scheuchleder entstand und es heißt ausdrücklich: Benedictus cuius in os Joannes ab Altasede poculum jactaverat “

„Also dieser Rothagen,“ übertönte Professor Hans Franz sein Gegenüber, „hat mit siebenundachtzig noch alle Zähne; wo ist heute ein Rothagen, der nicht schon mit sieben Jahren drei Plomben im Mund hat? Rösli, ich frage dich aufs Gewissen, hat euer Amadeus noch keinen ecariösen Zahn?“

Da lachte Frau Rösli laut auf:

„Aber Onkel, Amadeus ist ja erst drei Monat und hat überhaupt noch keine Zähnlein!“

Aber sie war noch nicht entronnen. Denn Onkel Hans Franz fuhr mit Inquisitorenmiene fort:

„Stillst du deinen Amadeus? Wie lang hast du Hertha stillen können?“

Da mußte die arme Mutter errötend gestehen, daß bei ihren beiden Kindern das Schöpplein schon nach sieben Wochen habe genommen werden müssen, versicherte aber,sie seien trotzdem fest und gesund, wie andere Kinder, was Vetter Ettore bestätigen könne, er habe den Amadeus eben gesehen. Der freundliche Arzt, der in lebhafter Unterhaltung mit dem alten Fräulein Gertrude auf das Gespräch kaum geachtet, rief, als er diese Berufung auf ihn hörte, sofort:

„Prachtskinder hast du, Rösli; ich gebs schriftlich und unter Siegel, wenn du willst!“

Doch Onkel Hans Franz schüttelte unbarmherzig sein Haupt, das fett und rot über dem breiten, offenen Schillerkragen aufstieg, und dozierte mit düsterster Stimme:

„Zahnearies und Stillunfähigkeit sind markante Degenerationserscheinungen und finden sich leider in allen

08 []Kreisen unseres Volkes, am meisten aber in den guten Fomilien. Was die Stillfähigkeit betrifft, so möchte ich gerade bei uns Eysenstuckhs einmal eine Aufnahme machen, da die Vollständigkeit unsrer Familientradition einen guten Untergrund der Statistik böte “

„Ums Himmelswillen,“ stöhnte am andern Tischende Frau Eleonore. Dieser Hans Franz war im Stande, jetzt am Familientag ihren Gästen mit der angedrohten Umfrage den Appetit zu nehmen! Taktlos genug wäre er. Einfach shoking war diese Unterhaltung.

Das fand auch Lorly, ihre Tochter, und mit ihrer scharfen. hochmütigen Stimme fiel sie dem Onkel ins Wort:

„Wenn wir denn einmal unsere Entartung feststellen wollen, so kommts mir vor, brauchen wir nicht Kinderstubengeheimnisse an den Eßtisch zu zerren: unsere ganze Familiensimpelei, dieser blöde, chinesische Ahnenkult, den wir treiben, ist degeneriert genugl“

Ein Sturm der Entrüstung erhob sich gegen diese pietätlose Behauptung.

Der Hausherr warf seiner Tochter nur ein entsetztes,strenges: Lorly! entgegen. Onkel Olaf, der sich als Familienchronist ganz besonders betroffen fühlte, sagte in seinem überlegensten Schulton, den er immer anwandte, wenn einer seiner Schüler ihn besonders geärgert hatte und er der ganzen Klasse nun zeigen wollte, wie ein weiser und charakterfester Mann sich zu beherrschen weiß also in diesem Tone voll unterstrichen bewahrter Freundlichkeit sagte Onkel Olaf, seinen Kopf vorneigend:

„Liebe Nichte, du weißt doch gewiß, was Goethe die edelste und reinste seiner Jungfrauengestalten, Iphigenie,sprechen läßt:Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt,Der froh von ihren Taten, ihrer Größe Den Hörer unterhält und, still sich freuend,Ans Ende dieser schönen Reihe sich Geschlossen sieht.

104 []Natürlich kennst du diese herrlichen Worte, die ich mit vollem Bedacht aufs erste Blatt unserer Eysenstuckhschen Familiengeschichte gesetzt habe, und du hast vorhin nur nicht daran gedacht, was einem ja in der Freude am Widerspruch, wie ihn junge Leute oft haben, leicht widerfährt.“

Aber wenn der erfahrene Schulmann meinte, mit der Berufung auf Goethe dieses moderne Mädchen überwunden zu haben, täuschte er sich schwer. Lorly lachte hell auf und unsägliche Verachtung lag in ihrem Tone, als sie rief:

„Pö, Goethe, Iphigenie! Was willst du mit dem sagen,Onkel? Den Herrn Minister von Goethe in allen schuldigen Ehren, aber seine langweilige Iphigenie läßt er doch nur so sprechen, weil er selbst ein Ende ist und kein Anfang!Die letzte, wenn du willst, köstliche Frucht eines alten vergehenden Geschlechtes, einer absterbenden Kultur. Wirklich,was in seiner Familie nach ihm kommt, ist doch nicht mehr viel gewesen. Der arme August und die Enkelchen, o jeh!Gerade dein Beispiel, Onkel Olaf, beweist mir, daß Ahnensimpelei ein Verfallszeichen ist.“

Lorly schaute sich triumphierend um und sah, daß Onkel Olaf eben zur Antwort ausholte und daß ihr Bruder Ernst Ferdinand heftig den Unterkiefer hin- und herschob,ein Zeichen, daß er höchst erregt war, wie immer, wenn seine Schwester so provozierende Aeußerungen tat. Da wachte ihre Kampflust noch lebhafter auf und sie tat einen Hauptschlag.

„Wer ein Anfang ist, wer Zukunft hat, schert sich keinen Deut um die Vergangenheit. Pjotr Stepanowitsch zum Beispiel weiß nicht, was sein Großvater war und wie seine Großmutter hieß!“

Der russische Name wirkte wie eine Bombe. Vater und Mutter riefen zugleich in allerschärfstem Tone: „Lorlyl“Ernst Ferdinand sprang auf, zornrot, brachte aber nichts heraus vor Wut und setzte sich wieder. Tante Justine aber,von dem russischen Namen angeregt, fragte neugierig, wer dieser Pjotr Stepanowitsch sei, ohne in ihrer Kurgsichtigkeit die zornigen und verlegenen Gesichter aller grünen

105 []Eysenstuckhs zu bemerken. Lorly aber sagte trocken und hochmütig:

„Pjotr Stepanowitsch Andrejew ist mein Freund, ein Zukunftsmensch, ein Anfänger!“ und wieder ließ sie einen Blick überlegensten Hohnes über die erstaunte und empörte Tafelrunde gleiten.

Es war so, wie sie sagte. Pjotr Stepanowitsch Andrejew studierte Nationalökonomie und nach einem Vortrag der Freistudentenschaft, den Lorly als Hörerin einiger kunstgeschichtlicher Vorlesungen besucht hatte, war ihr in der Debatte der junge Russe als ein geistreicher und heftiger Kritiker alles Bestehenden aufgefallen. Da sie selbst des langweiligen Lebens eines reichen unbeschäftigten Mädchens herzlich überdrüssig war, hatte sie andern Tags den jugendlichen Befreier schlankweg in seiner Bude aufgesucht und ihm ihre Freundschaft angeboten. Das war unerhört.Aber Herr Eysenstuckh wußte gut genug, daß bei Lorlys grenzenlosem Eigensinn, der von Kind auf ihre eigenste Eigenschaft gewesen, ein Verbot dieses unpassenden Verkehrs das Mädchen gerade dazu angespornt hätte und so ließ er es trotz den Seufzern der Mutter und Ernst Ferdinands Schelten geschehen, daß Lorly den Freund zu Spagziergängen abholte, bei denen der sehr abgerissen aussehende Russe neben dem eleganten Mädchen höchst seltsam sich ausnahm, daß Herr Andrejew Lorly besuchte und ihr Lesestoff brachte, aus dem sie ihr hübsches Köpfchen mit den wildesten Theorien des russischen Nihilismus füllte. Wenn Lorly bei Tisch etwa anarchistische Reden hielt oder ihren festen Entschluß kund tat, wenn Piotr Stepanowitsch sein Studium beendet, so werde sie ihm in freiem Liebesbund natürlich folgen, um mit ihm an der großen Weltrevolution zu arbeiten, so überließ Herr Jakob Friedrich es seinen Söhnen, das rabiate Schwesterchen zu widerlegen, und tröstete seine Gattin nach Tisch damit, daß das Mädchen nun eben für Anarchismus schwärme wie vor einem Jahr für das Golfspiel, als sie in der Sommerfrische den Meisterspieler, Sir Franceis Rowntree, kennen gelernt habe; auch

106 []werde Herr Andrejew seine Studien so bald nicht beendigen, da er sie nach eingeholter Auskunft gar nicht betreibe, und Lorly hänge im Grunde viel zu sehr an bequemem Leben und eleganter Toilette, um auf die Dauer an dem ungewaschenen Apostel Geschmack finden zu können.So solle man sie einstweilen für den Russen schwärmen und mit dem anarchistischen Martyrium kokettieren lassen. Das werde bald genug versurrt sein; dafür kenne er sein Töchterchen.

Vorläufig allerdings warf Lorly ihren Freund und seine wirre Gedankenwelt den Ihrigen noch bei jeder Gelegenheit ins Gesicht und daß sie es nun nicht nur im engern Familienkreis tat, sondern vor der ganzen weitern Verwandtschaft, das ging doch auch dem nachsichtigen Vater fast über die Hutschnur. Aber nun kam ihm und dem entsetzten Onkel Olaf doch Ernst Ferdinand zuvor und stieß heftig hervor:

„Lorly! ich finde es Entartung Entartung schlimmster Art, wenn jemand aus unsern Kreisen an einem so detestablen Menschen wie diesem Herrn Andrejew Geschmack finden kann! Ueberhaupt dieser ganze Refsormmist, dieses geschichts- und kulturlose Revoluzzen und Weltverbessern: Frauenemanzipation, Esperanto, Sozialismus,Abstinenz alle diese langweiligen Versuche, das Leben gleich, platt und öde zu machen, das ist Degeneration!“

Diese im höchsten Zorn hervorgestoßenen Worte gingen nun aber wieder dem guten Onkel Hans Franz an die Ehre. Denn er stand überall zuvorderst an der Spritze, wo es etwas Weltverbesserndes gab, war Vorsitzender der Freilandgesellschaft, Schriftführer der Esperanto Societo, Hauptaktionär des großen vegetarischen Speisehauses, das draußen vor der Stadt neben dem Luft, Licht und Sonnenbad errichtet wurde, und fühlte sich durch die reaktionäre Ansicht des ästhetischen Neffen tief gekränkt.

„Halt, junger Herr, halt! Was soll Entartung sein?Doch nicht Familiensimpelei, wie Lorly meint, obwohl sie darin einiges Recht hat, noch weniger das, was du ge

107 []schichtss und kulturlos zu nennen beliebst, sondern Entartung ist die Summe einer Menge physiologischer Erscheinungen verschiedenster Art, im Volksganzen sowohl, wie bei den Einzelnen. Und gegen diese Degenerations-Symptome richten sich nun eben all die Reformbestrebungen, die du so eben ungetrübt von jeder Sachkenntnis abgetan hast!“

Onkel Hans Franz dozierte wie auf dem Katheder.Wenn er auf seinem Gebiete war, brachte ihn niemand so bald davon ab. Er legte den Zusammenhang des Wohnungsproblems mit dem Alkoholismus als Urquelle der Volksentartung breit und ausführlich dar, und war eben daran, zu beweisen, daß theoretische Zustimmung zu all diesen Gedanken nicht ausreiche, sondern die wirkliche Mitarbeit aller Gebildeten an der Bekämpfung der Degeneration heilige Pflicht sei. Da bot ihm das Dienstmädchen den prächtigen, innen noch blutroten und doch überaus zarten Rindsbraten an. Onkel Hans Franz aber ließ ihn an sich vorbeigehen und schöpfte nur einen wahren Berg von dem begleitenden Gemüse auf seinen Teller; dabei predigte er:

„Weil, um das nächstliegende Beispiel zu nehmen, die übertriebene Fleischesserei unseres Geschlechtes zu seiner Entartung und Verrohung viel beiträgt, habe ich samt den Meinen mich der Pflanzenkostbewegung angeschlossen. Nicht weil mir die grünen Erbsen hier einfach besser schmecken als solch ein blutrünstiges Stück Braten, sondern weil ich nicht mit Schuld tragen will an der Entartung, weil ich ihr entgegenwirken will, weil meine Nachkommenschaft keine EntartungsSymptome aufweisen soll. Deshalb bin ich Vegetarier!“

Nun hatte der Familientag solche Reden Hans Franzens schon oft genug gehört und ein leises Gähnen Onkel Fritzens verriet dies so gut, wie die Bemerkung, die Tante Eleonore Tante Justine zuflüsterte:

„Sein Sven Emanuel sieht trotz allem Spinat doch elend drein und ist beständig kränklich.“

Aber der Onkel war nun einmal im Zug und setzte noch länger und ausführlicher den Eysenstuckhs auseinander,

1144 []daß auch sie schon degeneriert seien und dagegen ankämpfen müßten wie er und die Seinen. Es achtete kaum noch jemand drauf, außer seiner Frau, Tante Emmy, die jeden Satz mit Kopfnicken bestätigte, und Herr Dr. Butz, dem in seinen Archivstudien solche Gedanken ganz fremd geblieben waren und der mit leisem Erschrecken hörte, wie der Fleischgenuß bekämpft und von Vernunft und Gesittung überwunden werden müsse. Sonst glitt das Gespräch sachte in andere Bahnen. Onkel Karl und Onkel Eduard sprachen von Bergwerksaktien, Frau Rösli mit Vetter Ettore über ihren Amadeus, Ernst Ferdinand setzte halblaut seine Auseinandersetzung mit der Schwester fort über den Greuel der Geschichtslosigkeit und die Unkultur ihres Freundes.

Da lenkte der Stadtarchivar in aller Unschuld die ganze, große Tafelrunde wieder der Degeneration zu. Er wollte den die Entartung auch ihrer Familie so heftig beklagenden Professor einigermaßen trösten und stotterte:

„s mag ja sein, daß die Entartung in alten Geschlechtern, wie unserm groß ist und wir müssen es halt hinnehmen. Aaber ich meine, eine noch so kräftige und verhältnismäßig junge Familie wie Ihre, Herr Professor “

Fräulein Gertrude zuckte zusammen über die unbedachte Taktlosigkeit, die ihrem guten Pflegesohn wieder einmal entschlüpft war, und da Herr Butz dies ausnahmsweise einmal sah, so verstummte er jählings und lenkte dadurch erst recht die allgemeine Aufmerksamkeit auf die beleidigende Ahnungslosigkeit seiner Worte.Die Eysenstuckhs allesamt, grüne und blaue, waren empört, sich mit einem Mal sozusagen als Parvenus hingestellt zu sehen. Selbst das geschichts und traditionsfeindliche Lorly fuhr gekränkt auf und wandte sich an den Stadtarchivar:

Herr Doktor, ich finde, alte und junge Familien zu unterscheiden, ist überhaupt Unsinn! Wir sind doch Alle gleich weit von Adam oder vom Pithekanthropos, wie Pjotr Stepanowitsch sagt.“109 []Der verdutzte Stadtarchivar, der merkte, welche Dummheit er begangen, stotterte entsetzlich und brachte es doch nicht heraus, was er mit alten Geschlechtern meine. Seine armseligen Entschuldigungsversuche gingen auch im allgemeinen Redesturm unter. Denn die Eysenstuckhs alle fanden nun, wenn Entartungserscheinungen zu einem alten Geschlechte gehörten, so habe ihre Familie leider deren genug und übergenug aufzuweisen. Herr Jakob Friedrich wagte es zwar nicht auszusprechen, daß ihm Lorlys Eigensinn und nicht weniger das verschrobene Aesthetentum Ernst Ferdinands als Verfallszeichen erschienen, weil die beiden Kinder dabeisaßen, aber dafür sprachen die Eltern der im Gartensaal drüben tafelnden Jugend umso sorgenvoller von ihren Sprößlingen. Frau Bankdirektor Eysenstuckh begann den Reigen und sagte bekümmert, es sei ganz beschämend, zu sagen, aber sie müsse es nun einmal äußern,ihr Meggy habe beständig bald am linken, bald am rechten Auge ein Gerstenkorn genau wie die Kinder ihrer Waschfrau, deren Mann ein gräßlicher Säufer sei, Doggy habe ihre fürchterliche Migräne geerbt und Friggy sei sonst ein furchtbar nervöses Kind; das schienen ihr doch bedenkliche Zeichen, daß es mit der altberühmten Eysenstuckhschen Gesundheit sich dem Ende zuneige. Frau Justine fing den Ball auf und gab ihn weiter; sie müsse ja sagen, Gott Lob und Dank, ihre ältern Kinder Lorenz, Philipp, Susanne und Adelgund seien gesund, aber Hektor, ihr Jüngster, mache ihr schwere Sorge; er sei so blaß schmal und dürftig, genau wie es Sascha Iwanowitsch Simbirskow gewesen, den sie in Rußland unterrichtet und der dann siebzehnjährig als der letzte seines Stammes gestorben sei, an einer winzigen Wunde verblutend, die er sich beim Rosenpflücken zugezogen.Sie schluchzte förmlich in Erinnerung an ihren fürstlichen Schüler und ihr Mitleid ging ohne Weiteres auf ihr armes, kleines Hektorchen über.

„Du vergißt, liebe Justine,“ fiel ihr Gatte ein und ließ einen väterlich kummervollen Blick zu seinen beiden Söhnen am untern Tischende schweifen, „daß unsere ältern 110 []Kinder zwar körperlich gedeihen, aber intellektuell, ich meine in der Schule, längst nicht mehr das leisten, was sie als Eysenstuckhs leisten dürften. Wenn ich an die Reihe von Büchern denke, die ich aufbewahre, weil sie mein Vater selig als Schulprämien Jahr für Jahr heimbrachte “

„Und an deine eigenen darfst du dich auch mit Stolz erinnern,“ fügte die liebevolle Gemahlin ein.

„ so finde ich, daß die heutige Generation der Eysenstuckhs leider von der geistigen Leistungsfähigkeit ihrer Vorfahren viel eingebüßt hat. Einmal, ein einziges Mal ist unser Philipp preisgekrönt von der Schulprüfung heimgekehrt, in der ersten Klasse und seither nie mehr.“

Mit gramumflorter Stimme hatte es Herr Olaf gesagt,und grimmig setzte Onkel Fritz die Feststellung fort:

„Preisgekrönt! ich will froh sein, wenn mein Heinz mit knapper Not befördert wird; bei Paul hab ich, trotz ungegählter Nachhilfsstunden, die Hoffnung ganz aufgegeben.“

„Betrübliche Abnahme der Kräfte,“ seufzte wieder Onkel Olaf.

Onkel Hans Franz betonte, daß der Verfall auch in ihre Familie durch die starke Zahncaries, die mindestens ebenso stark wie bei den Rothagens sich finde, vollauf bestätigt werde, und Frau Rösli und ihrem Gatten fiel es,trotz Dr. Ettores Beruhigung nun doch schwer aufs Herz,daß Hertha und Amadeus schon nach sieben Wochen das Schöpplein bekommen hatten.

„Ja,“ sagte Frau Emmy Eysenstuckh, „die Zahnarztrechnung für unsern armen Sven Emanuel bestätigt furchtbar meines Mannes Theorien. Trotz bester und gesündester Pflanzenkost bleibt der arme Bursch schwächlich und hat fürchterliches bei Dr. Haumöller auszuhalten.“

Und sie, der Schöngeist der Familie, wußte nun geschickt einen literarischen Kronzeugen aufzurufen für die wehmütige Stimmung, die sich des ganzen Kreises im Gedanken an eine entartende und verkümmernde Jugend bemächtigt hatte.

111 []„Ach,“ seufzte sie, „sedesmal, wenn mein armer Sven Emanuel von Dr. Haumöller zurückkommt, fällt mir ein,wie Thomas Mann die Leiden des kleinen Hanno Buddenbrook bei Zahnarzt Brecht schildert. Ihr kennt doch das Buch?“Die Wenigsten kannten es, aber niemand wagte es zu gestehen, sondern es lauschten alle still und wehmütig, als Tante Emmy in ihrem gefühlvollsten Tone nun fortfuhr:

„Ach, wie mich diese Geschichte eines sinkenden Geschlechtes doch ergriffen hat. Die Buddenbrook könnten auch Eysenstuckh heißen. Ach, unsere armen Kleinen drüben! Sie leiden gewiß unter dem Druck der Vergangenheit ihres Geschlechtes mehr als wir Große ahnen!“Sie seufzte dabei so schwer, daß eine seltsame Wehmut sich auf die ganze Tafelrunde legte und Alle nur mit Sorgen an die zukünftige Generation drüben dachten. Nur Fräulein Gertrude wagte einen Einwand.„Ich glaube doch kaum,“ sagte sie lächelnd, „daß die liebe, blühende Jugend drüben sich deswegen Sorgen macht!Wenn ich an meine Kindheit zurüchkdenke , “

„Aber, bestes Fräulein Butz!“ fiel Tante Emmy ein,„heute im Jahrhundert des Kindes weiß man doch, wie überaus sensibel und delikat diese jungen Seelen sind. Viel,viel feiner, als wir es ahnen und nach unsern vom Leben getrübten Erinnerungen an die eigene Jugend es uns vorstellen können. In meinem Schriftchen „Die Kindesseele“habe ich das besonders zu begründen versucht. Ich bin fest überzeugt, das Gefühl, die Letzten eines Geschlechts zu sein,dessen Bilder von allen Seiten auf sie herabschauen, legt sich nicht nur unbewußt als schwerer Druck auf ihr kindliches Gemüt, sondern es wird von Einzelnen wenigstens,wie von meinem Sven Emanuel oder von Eurem lieben Hektorchen zum Beispiel als wuchtende Last der Verantwortung empfunden. Als allzuschwere Last, die jede harmlose Freude unmöglich macht, die eine Quelle schweren, uns Großen vielfach unerkannten Leidens ist, wie es eben

112 []Thomas Mann bei dem kleinen Hanno Buddenbrook so fein und tief schildert.“

„Was war das?! durchschnitt scharf Frau Eleonores Stimme diese Elegie.

Das Dienstmädchen hatte die Tür einen Augenblick offen gelassen und ein seltsames Geräusch drang herüber:ein Klatschen, begleitet von lautem Gejohle und Gelächter.Es wiederholte sich einmal, zweimal. Frau Eleonore erhob sich und schritt rasch hinüber und da nun einmal die Gedanken der gangen Tischgesellschaft sich der armen Jugend drüben zugewandt hatte, so folgte ihr Alles. Sie aber stand einen Augenblick wie ein steinernes Bild unter der geöffneten Tür des Gartensaals und sank dann auf einen der hochlehnigen Polstersessel, der dicht neben der Tür stand.Ein entsetzter Schrei entrang sich ihrem schreckensbleichen Munde: nur drei Worte:

„Kinder! Aber Kinder!“ und zugleich erscholl Onkel Olafs schärfste Scholarchenstimme:

„Wo ist Tante Svanhild?“

Was war der Greuel, der die Hausherrin niedersinken ließ? Wo war Tante Svanhild und was war geschehen?Ja nun, Tante Svanhild hatte würdig und munter die jugendliche Tafelrunde geleitet, hatte ihrem Patensohn Sven Emanuel unter Koseworten den Teller gefüllt, hatte Adelgund zugerufen:

„Gerad sitzen, Adel; bitte so gerad'wie deine Ururgroßtante Svanhild da oben auf ihrem Bild. Ihr wißt doch, wer sie war, diese Ahnfrau, nach der ich getauft bin? Die älteste Tochter des Propst Olaf Thördersen von Upsala, selbst eine hervorragende Gelehrte, dann die Gattin eures berühmten Ururgroßonkels Philippus Eysenstuckh, der königlich schwedischer Leibarzt “

Ein leises klägliches Miau unterbrach die begeisterte Tante. Sie erbleichte jählings und rief:

„Eine Katzel! Tu das abscheuliche Tier hinaus! Sofort,Edil!“

113 []„Ach, Unsinn, Tante. Wie soll eine Katze da sein? Du weißt doch, daß wir Schnucki immer zum Gärtner hinüber tun, wenn du kommst!“ beruhigte Edi, machte sich aber doch gehorsam auf, das Zimmer zu durchsuchen. Als er in die Nähe der Tante kam und unter den Tisch schaute, miaute er ein zweites Mal, ebenso natürlich wie vorhin. Da fuhr Tante Svanhild mit so entsetztem Sprunge auf, daß ihre hohe Frisur, die schon weit auf der einen Seite des Kopfes gehangen hatte, ganz herunter rutschte. Mit beiden Händen suchte die Tante zu retten, war zu retten war, und enteilte,um wieder Ordnung zu schaffen. Dazu brauchte sie aber stets beträchtliche Zeit, ohne doch je damit vollen Erfolg zu haben. So kams, daß die junge Gesellschaft sich selbst überlassen war, als eben das Dienstmädchen ein neues Gericht aufgesetzt hatte und wieder verschwand, um bei den Großen weiter aufzuwarten.

„Pfui, Spinat!“ riefen Doggy, Meggy und Friggy, wie aus einem Munde.

„Daran bist du Schuld, Sven Emanuel,“ schalt Sus, die die Abneigung der Cousinen gegen das Gemüse teilte, über den Tisch.

„Ich? Wieso denn?“ lachte der Angeschuldigte.

„Nun, weil du so ein Jammergestell bist, ist der Onkel auf die verrückte Idee verfallen, dich mit Gras und Kraut zu kurieren! Und weil er solche Schrullen hat, gibts an jedem Familientag eine Badwanne voll Grüngemüse. Verstehst du nun den Zusammenhang, Vetterherz!“

„Recht hast du, Sus!“ lachte Sven Emanuel, „aber zum Glück gibts doch an diesen herrlichen Geschlechtertagen auch noch Anderes, daran sich unsereiner von der ewigen Gemüsefutterei daheim erholen kann. Sie sollen leben, die alten Herren und Damen, um deretwillen wir unsere Familientage halten. Prost Herr Dr. Philippus!“

Er hielt ein mächtiges Bratenstüch, das ihm Tante Svanhild auf den Teller gelegt, an ausgereckter Gabel empor. Friggy aber, die neben ihm saß, schlug mit dem Löffel so geschwind und kräftig gegen die rote Fleisch

14 []scheibe, daß sie sich von der Gabel löste und klatschend dem gemalten Herrn Philippus ins Gesicht fuhr!

Lauter Jubel belohnte den Streich. Edi wurde vom Uebermut gepackt und jauchzte:

„Die guten Großväter haben gewiß Hunger! Sie müssen auch Gemüse haben!“

Er fuhr in die Schüssel mit dem Löffel und patsch!saß ein Schuß Spinat samt einem Spiegelei der berühmten Ururtante Svanhild auf dem weitentblößten Busen. Ein zweiter folgte: Heinz schwang den Löffel und ein saftig grüner Fleck zierte die Perrücke des weiland königlich schwedischen Hofmedikus Philippus Eysenstuckh. Sven Emanuel wollte die Ahnherren der blauen Linie rächen und traf auch den Gründer der Firma Eysenstuckh, also den Berühmtesten der Grünen, schön auf die Nase und erntete damit neuen Jubel. Meggy nahm den Bürgermeister auf dem Kaminsims aufs Korn, schoß aber daneben, so daß ein breiter grüngelber Streifen über die dunkelblaue Tapete lief. Umso besser traf Adelgund; einen gangen Schöpflöffel voll jagte sie dem Stadthelden ins Gesicht, daß es klatschte.Und nun sauste von Doggy dem Ratsherrn August Hektor Eysenstuckh eine grüne Ladung auf den Spitzenjabot, nun von Sus der schönen Adelina Eysenstuckh geb. Piavoli ein wohlgezielter Schuß in ihre klassischen Züge, und wenn der zapplige Paul auch stets nur die Rahmen traf statt der Bilder und der kleine Hektor sogar nur dem Polstersessel bei der Türe auf seinen blauen Plüsch einen grünen Klecks machte, es patschte und klatschte doch ebenso schön und das Fieber und der Jubel hatte Alle so ergriffen, daß sie gar nicht merkten, wie die Tür aufging und die Erwachsenen Zeugen ihres seltsamen Spieles wurden,

Erst der Entsetzensschrei der Tante Eleonore brachte ihnen zum Bewußtsein, was sie getan, und erstaunt ließen sie Stimmen und Löffel sinken und betrachteten den Greuel der Verwüstung, den sie angerichtet. Und entsetzt standen auch die Erwachsenen unter der Türe. Die Väter hatten alle Lust, ihre Rangen zu packen und zu verohrfeigen, und

115 []doch scheute sich jeder vor den Andern, mit so derber Züchtigung zu beginnen. Am empörtesten über den tollen Streich war seltsamerweise Lorly! Abgefallen und weggeblasen war alle Verachtung, die sie noch eben vor allem Ahnenkult ausgesprochen; die rabiate Anarchistin war wie mit Zauberschlag in die auf Wohlanstand erpichte Haustochter verwandelt, die mit Entsetzen den verwüsteten Prachtsraum sah und drohenden Blickes ihren Bruder Edi suchte, in dem sie mit Recht den Urheber des Attentates vermutete. Wer weiß, ob sie nicht an ihm die Rache begonnen und damit die allgemeine Züchtigung entfesselt hätte, wenn nicht eben die ahnungslose Tante Svanhild die Treppe herabgekommen und mit der erstaunten Frage, was denn los sei, sich durch die Zuschauermenge gedrängt hätte. Als sie aber sah, was sich in ihrer Abwesenheit begeben, da sank auch sie in einen Stuhl, schlug die Hände ineinander und rief:

„Kinder, aber Kinderl!“

Dabei brach sie aber in ein so herzliches Lachen aus,daß der Unterschied des Tones, den sie in die gleichen Worte legte, mit denen Tante Eleonore ihren Schrecken kund getan hatte, mit einem Mal auch Onkel Ettore zum Lachen reizte. Und als nun die Hausherrin gereigzt auffuhr: „Du lachst noch, Svanhild!“ und dabei auf ihrem violetten Seidenkleid das Spiegelei samt Spinat sichtbar wurde, in das sie sich achtlos gesetzt hatte, konnte auch Onkel Fritz nicht anders als losbrechen, und da nun drei so kräftige Stimmen lachten, wagten auch die Kinder ihre gesenkten Köpfe wieder zu heben.

Aber nun fuhr wieder Lorlys Stimme so messerscharf dazwischen:

„Schändlich, einfach empörend!“ daß die humoristische Auffassung der Sachlage doch unterlegen wäre, wenn nicht der tolle Streich der übermütigen Jugend eine gütige Fürsprecherin gefunden hätte. Fräulein Gertrude Butz zum Eysenstuckh war als Letzte, von ihrem Neffen geleitet, unter die Tür getreten, und als sie die grüngefleckten Ahnen sah,1146 []da ging auch über ihr feines, gütiges Gesicht ein Lächeln.Sie wandte sich zu dem ergrimmten Lorly und sagte:

„Liebes Lorly, was die Kinder da angestellt haben,kommt mir so empörend nicht vor! Sie haben Ihnen nur gezeigt, wie es aussieht, wenn man das, was Andere hochstellen, fröhlich bekleckst, obs nun grüner Spinat oder grüne Theorien seien, macht soviel nicht aus. So unangebracht es wäre, Ihre Reden von vorhin tragisch zu nehmen, so wenig scheint mir das Tun der lieben Jugend ein Staatsverbrechen!“„Und nicht wahr, liebe Freunde alle,“ sie sah sich dabei so lieb im Kreise um, „wir haben vorhin uns ganz mit Wehmut erfüllen lassen in Gedanken an unsre Jugend.Wie ein welkendes Blatt schien sie uns. Mich dünkt nun doch, die Angst war unnötig. Die Jugend hat noch Lebenskraft genug in sich und ist von der Wucht der Vergangenheit nicht niedergedrückt. Ich wäre drum der Meinung, wir nehmen den tollen Streich als gerechte Strafe für unsre allgemeine Verzagtheit oder nicht, liebe Freunde?“

Und Onkel Ettore schlug seinem Vetter Hans Franz auf die Schulter und sagte:

„Alle Achtung vor deinen Theorien, Vetter. Spinat als Kampfmittel gegen die Entartung unseres Geschlechts. Mit Spinat haben die Buben und Mädels jedenfalls bewiesen,daß sie nicht an übertriebenem Ahnenkultus leiden. Mit Spinat kurieren sie uns von unserer trübseligen Niedergangsphantasie. Es lebe der Spinat, der ächte Eysenstuckhische Ahnenspinat!

„Bravo, Ettore!“ jubelte Svanhild. Die Kinderschaft fühlte, daß sie gerettet war und klatschte Beifall. Der Sieg war gewonnen. Die erzürnte Tante Eleonore hatte, um ihr Kleid zu reinigen, das Feld geräumt. Lorly, über Fräulein Gertrudes Zurechtweisung wütend und doch ihre Wahrheit spürend, war mit ihr verschwunden. Herr Jakob Friedrich Eysenstuckh wollte vor den Verwandten nicht dergleichen tun, als ob ihn der seinem Ahnensaal angetane Schaden reute und schwieg. Die Andern alle fielen ins

117 []Gelächter Ettores ein und lachend zog man sich ins Speisezimmer zurück, um das weitere Essen zu genießen. Tante Svanhild aber teilte den spärlichen Rest des Ahnenspinats,der noch in der Schüssel war, ihren Pflegebefohlenen aus und schalt gemütlich:

„Eine Bande seid Ihr, eine ganz gefährliche, die man keinen Augenblick verlassen kann! Aber wie der Herr Philippus dort oben aussieht, ist zu köstlich!“

An künftigen Familientagen schmausten die Großen im Ahnensaal, die Jugend im Eßzimmer und Spinat wurde trotz Onkel Hans Franz nicht mehr aufgetischt.

Das Geschlecht der Eysenstuckh aber blüht auch seither frisch und fröhlich und es ist Hoffnung, daß es noch lange nicht welke.

1190 []Der Schüler-Rat [] Herr Professor Dr. Olaf Eysenstuckh hob seinen ausdrucksvollen Römerkopf etwas unwirsch von seiner Schreibarbeit auf, als die Studierzimmertür ging. Aber die hohe Stirn entrunzelte sich rasch und das ganze, glattrasierte Gesicht wurde freundlich, als er sah, daß es seine treue Gattin war, die, Zeitungen und Briefe in der Hand, eintrat. Frau Justine hatte bereits ein an sie gerichtetes Briefchen geöffnet und fragte, ob er morgen Abend frei sei, einer Einladung zu Vetter Hans Franz zu folgen.

„Leider nein, du wirst mit den Buben allein gehen müssen,“ war die rasche Antwort und Herr Olaf griff zu seinem neben dem Schreibtisch hängenden Wandkalender.Richtig, da stands ja alles, heute: historische Gesellschaft,morgen: Rechnungsprüfung der Museums-Kommission,Donnerstag: Vorstand des Christlichen Männer-Vereins,Freitag: Vortrag von Kollege Moldauer in der städtischarchäologischen Vereinigung, und Samstags, ja Samstags:richtig, da hatte er ja selbst in der konservativen ParteiVersammlung über die destruktiven Tendenzen der Zeit zu reden. Herr Olaf seufzte und Frau Justine fuhr ihm mitleidig mit ihrer weichen Hand über den Kopf; aber Beides geschah doch recht gewohnheitsmäßig. Der Professor griff bereits nach einem Brief, um ihn zu öffnen, und seine Gattin wollte rasch das Wichtigste in der Zeitung durchfliegen. Nachdem ein erster Blick sie überzeugt hatte,daß unter den Bestattungsanzeigen kein irgendwie bekannter Name stand, flog ihr zweiter auf die Rubrik:Stimmen aus dem Publikum. Was sie hier sah, nötigte ihr einen Ausruf des Schreckens ab:121 []„Was ich lese, Olaf! O Gott, o Gott! Hör doch!“

Erschrocken blickte der Angerufene auf und Frau Justine jammerte:

„Wie in Rußland! Ganz genau wie in Rußland kommts jetzt auch bei uns. Weißt du, lieber Olaf, was hier steht?“ Sie las mit bebender Stimme vor:

„Videant consules -· Auch unsere Herren Gymnasiasten scheinen vom Geist der Zeit erfaßt zu sein. Man hört wenigstens von der Bildung eines Schülerrats an unserm StadtGymnasium allerlei munkeln. Hoffentlich machen unsere Schulbehörden dem Unfug ein rasches Ende. Oder fürchten sie sich etwa gar davor?Ein Bürger und Vater.“

Herr Eysenstuckh lachte laut auf:

„Videant consulesl Wird besorgt, guter Bürger und Vater! Ne quid detrimenti“ er schlug befriedigt mit flachen Hand auf den halb beschriebenen Bogen, der vor ihm lag res publica capiatl Weißt du, was ich hier schreibe, liebe Justine?

Sie verneinte mit erstauntem Kofschütteln.

Herr Olaf lachte wieder zuversichtlich und stolz: „Ein Gutachten über den ganzen Schülerrats-Rummel an unsere Erziehungsbehörden. Unser guter Rektor Friedrich, der so ungern schreibt, hat mich als Konrektor gebeten, ihm den Bericht abzunehmen.“

„Natürlich,“ seufzte die treue Gattin, „du wieder!Als ob du nicht genug zu schreiben hättest. Und daß die ganze unangenehme Sache auf dich fällt. Du bist natürlich wieder gutmütig genug, Alles zu übernehmen.“

„Nun, Beste, Friedrich ist doch schon recht alt und gar zu gutmütig. Da mußte ich's schon übernehmen, das Fünklein auszutreten, ehe es einen Brand stiftet. Dumm ist allerdings, daß der Briefkastenmann mit seiner unzeitigen Anfrage die Sache an die OÖffentlichkeit gebracht hat.“

122 []Er erhob sich und schritt energisch im Zimmer auf und ab. Sein Geist kehrte wieder zu seinem Gutachten zurück und er begann Frau Justine, die die bewundernde Teilnehmerin seines ganzen Geisteslebens war, die Grundgedanken der Arbeit darzulegen.

„Ich greife an die Wurzeln des Übels, liebe Justine.Die Schuld an diesen betrübenden Vorfällen liegt nicht nur daran, daß ein Teil, Gott Lob nur ein Teil, aber leider ein ziemlich großer, unserer Schuljugend vom Zeitfieber der Unbotmäßigkeit erfaßt ist. Die Schuld liegt“ er blieb stehen und sah Justine mit ernstem Blick an „ebensosehr an uns Lehrern. Der gute Friedrich liebäugelt von Jahr zu Jahr mehr mit allerlei pädagogischen Extravaganzen, sprach neulich allen Ernstes vom Self-governement der Klassen. Den Kollegen Schollmeyer kennst du, ein überaus liebenswürdiger Mensch, ein profunder Gelehrter aber kein Lehrer, geschweige ein Erzieher.“

Herr Olaf schüttelte traurig sein Haupt und seine Züge verdüsterten sich bedenklich als er fortfuhr:

„Und nun erst unsere jüngern Lehrkräfte, du lieber Gott. Kann man sich wundern, daß Schülerräte entstehen,wenn Leute wie dieser Dr. Frischmatter, statt brav Mathematik und Physik zu treiben, Wandervogelfahrten mit den Schülern machen, die Pfanne auf dem Rücken und eine Zupfgeige umgehängt.“

Wber unser Philipp schwärmt ja geradezu für diesen Lehrer,“ wandte Frau Justine schüchtern ein.

Natürlich,“ lautete die ärgerliche Antwort, „alle faulen Schüler, zu denen leider Philipp auch gehört,schwärmen für diese Art Pädagogik. Aber gerade das richtet unsere Schule zu Grunde; dieses sich Anbiedern mit den Schülern untergräbt die Autorität. Wo keine Distanz gehalten wird, muß die Jugend respektlos, frech,reif für Schülerräte werden. Das muß gesagt werden und das wird gesagt! Und dann unser Stadtpfarrer Hippler! Trotz seiner persönlichen Würde und Festigkeit 3 []wirkt er eben so subversiv, wenn er im Religionsunterricht seine in allen Farben schillernde moderne Theologie unsern Primanern vorträgt, sie in alle Probleme hineinführt, statt ihnen die alten, kirchlich festgelegten Lösungen zu bieten.Auch das muß gesagt werden und wird gesagt!“

„Aber, bester Olaf, wird das nicht deine Kollegen erzürnen, wenn du so die Hauptschuld bei Euch suchst?Du ziehst dir durch dieses Gutachten nichts als Haß zu bei Schülern und Lehrern, und wer weiß, wie die Behörde es aufnimmt?“ warnte die ängstliche Gattin.

Aber Herr Olaf nahm nun eine wahrhaft heroische Haltung an, Den rechten Fuß etwas vorgestreckt, den Oberkörper zurückgebeugt, die rechte Hand zwischen die beiden obersten Knöpfe des Gehrocks in den Busen gesteckt, stemmte er die Linke auf den Schreibtisch und sein ernstes Gesicht war erst eine Weile schweigend auf die Mahnerin gerichtet, ehe er feierlich sagte:

„Oderint dum metuant.“ Du verstehst es doch, Beste?“

„Natürlich!“ antwortete Frau Justine ein wenig gekränkt, „aber “

„Kein Aber, durchaus kein Aber gegen die Pflicht,Justine. Übrigens, du sagtest, die Behörde! Sie muß einmal Ordnung schaffen, sage ich dir. Freilich‘ hier umdüsterte sich die Stimme wieder „bis der alte Friedrich einmal wegkommt und ein Tüchtiger, Festerer an seine Stelle tritt, wird sie auch nichts tun können.“

Er setzte sich und versank in ein dumpfes Brüten, aus dem nur halblaut klagende Töne drangen.

„Unser Collegium humanitatis, eine Musteranstalt, der Stolz der Stadt durch Jahrhunderte! Könnte sich mit den besten deutschen Gymnasien, mit Pforta und St. Afra in Meißen messen! Und nun dieser Niedergang! Diese Aufweichung! Glücklich die erste Schule im Land, die einen Schülerrat hervorbringt. Aber ich hab's gesagt. Ich sah es kommen; man hörte nicht auf mich!“

Er seufgte tief und wieder trat die gute Frau zu ihm und fuhr ihm tröstend mit der Hand über den Kopf und

124 []wieder, wie in allen gerührten Stimmungen, kehrten ihre Gedanken dahin zurück, wo die Haupteindrücke ihres Lebens lagen.

„Weißt du, Olaf, an wen du mich eben erinnerst,ganz auffallend erinnerst? An Iwan Fedorowitsch Simbirsikow. Genau diesen Gesichtsausdruck hatte der alte Fürst, wenn er von seinem armen, heiligen Rußland sprach. Ein Sehender unter Blinden, wußte und sagte er schon vor dreißig Jahren voraus, was nun gekommen ist.“

Ihr Gatte lächelte durch alle Trübsal hindurch freundlich, denn es war Frau Justines größter Liebesbeweis,wenn sie ihn mit ihrem verehrten Fürsten verglich, aber er ahnte nicht, daß die Besorgte mit dem Vergleich eine weise Absicht verfolgte.

Sie fuhr fort:

„Weil er nicht mit seinem unglücklichen Lande untergehen wollte, zog er nach Paris.“

Und der Ton, den sie in diese Worte legte, war so bedeutsam, daß Herr Olaf erstaunt fragte:

„Was meinst du damit?“

„Nun mach's wie er! Du bist zu gut, lieber Olaf,allein, von Niemand unterstützt, den alten Glanz der Schule zu wahren. Gib's auf und sieh dich nach einer andern Tätigkeit um. Du bist begabt genug, um in unserer Stadt andere Aufgaben zu finden als das mühselige Unterrichten undankbarer Burschen, noch in einem fort im Ärger über Leute wie Frischmatter und Hippler!“

Herr Olaf sprang, wie elektrisiert durch diesen Vorschlag, auf, ergriff einen Brief, den er eben geöffnet und gelesen während die Gattin die Zeitung durchflogen hatte,und reichte ihr das Blatt: „Da lies!“

Sie las, staunte, jauchzte. Die reiche städtische WohlfahrtsGesellschaft machte Herrn Olaf den Vorschlag, ihr gesamtes Archiv neuzuordnen und bei dieser Tätigkeit zugleich den Stoff zu sammeln für eine eingehende Darstellung der Geschichte der Gesellschaft, sowie der damit verbundenen AmadeusBenjaminStiftung, und sie bot ihm

125 []für diesen Posten und diese Aufgabe ein Gehalt, das der bescheidenen Besoldung eines Gymnasial-Professors durchaus nicht nachstand, Frau Justine frohlockte:

„Eine Gottesgnade ist dieser Brief. Ein Ausweg ohne Gleichen!“Und Herr Olaf mußte zugeben, daß der Vorschlag ihn lockte. Schon seine Studien zur Familien-Geschichte hatten ihn auf dieses Gebiet geführt. In den letzten 105 Jahren war mit zwei ganz kurzen Unterbrechungen immer ein Eysenstuckh im Vorstand der Wohlfahrts-Gesellschaft oder in der Rechnungskammer der Amadeus-Benjamin-Stiftung gewesen. Aber, aber, etwas Anderes lockte noch mehr. Unmöglich konnte Rektor Friedrich noch länger als zwei bis drei Jahre sein Amt versehen. Er alterte überraschend schnell. Und dann vom Konrektor zum Rektor wars ja ein kleiner, ganz natürlicher Schritt und Rektor Dr. Eysenstuckh klang doch bedeutend besser als bloß Dr. Eysenstuckh, wie er als Archivar und Geschichtsschreiber der Gesellschaft hieß.

Davon verriet aber Herr Olaf selbst der treuen Gattin nichts. Vielmehr wandte er sich nun mit großer Feierlichkeit ihr zu und sagte ernst und gemessen:

„Ein Ausweg, sagst du, liebe Justine, ich brauche keinen Ausweg, mir genügt der Weg der Pflicht. Mein Beruf ist ein anderer, höherer.“

„Du bist doch Historiker?“ fragte Frau Justine erstaunt.

„Mehr als das: Pädagoge!“ war die stolze Antwort und es klang im Orgelton höchster Begeisterung und tiefster überzeugung, als er nun begann: „Ja, ich liebe die Geschichte, aber nicht das tote Wühlen in der Vergangenheit, sondern ihr lebendiges Wirken auf die Gegenwart, auf die Zukunft. Schön mag's sein, aus alten Archiven Schätze zu heben, schöner, heiliger ist es, junge Herzen für das Große zu entflammen!“

Frau Justine war wie immer hingerissen, wenn ihr Gatte diesen Ton anschlug, aber als er nun fortfuhr: „die 126 []Herrlichkeit der Antike, die Tiefe des Mittelalters, das buntbewegte Leben der Neuzeit den Jünglingsgeistern aufzuschließen,“ da schien ihr doch dieser Schwung etwas gar zu gewaltig durch ihre Zukunftspläne zu fahren und ihr Widerspruch erwachte:

„Ich kenne dich nicht mehr, Olaf. Diese Begeisterung!Und erst gestern klagtest du so bitter über die Teilnahmslosigkeit deiner Schüler bei deinen Geschichtsvorträgen.“

Herr Olafs Gesicht war wie von einer Wolke Ärgers überflogen: „Habe ich?“ Und nun den Wunsch seiner Gattin erratend, setzte er ebenso nüchtern, wie er eben noch begeistert gesprochen, dazu: „übrigens, Beste, abzuweisen braucht man ja das Angebot der Wohlfahrts-Gesellschaft nicht; das geht so gut neben der Schularbeit wie die Familien-Geschichte ging.“

Frau Justine schlug die Hände zusammen und sprach von überbürdung, ohne damit bei ihrem Mann mehr als ein überlegenes Lächeln zu erreichen. Er war ja in seiner Schule so eingearbeitet, daß das für ihn keine Mühe mehr war. Seit dreißig Jahren trug er nach ausgegeichneten und berühmten Heften Geschichte vor, und hätte man ihn Mitternachts aus dem Bette geholt, er hätte über den peloponnesischen Krieg oder die frangzösische Revolution reden können, ohne auch nur auf ein Wort im wissenschaftlichen Vortrag oder in den jeweils eingeschalteten ethisch-pädagogischen Exkursen sich besinnen zu müssen; selbst die recht geistreichen Spässe, mit denen Herr Olaf hie und da den Stoff belebte, waren ein Erbgut langer Jahre, und nur ihr Erzeuger selbst wußte es nicht,daß die Kunde davon ihnen Klasse für Klasse voranging.

Also da war dem erprobten Schulmann nicht beizukommen und Frau Justine wagte es auch nicht weiter,sondern wies nur auf all die Arbeit hin, die ihm das Konrektorat, die Vertretung des alten Herrn Rektors in dieser bewegten Zeit, gegenüber dieser unheimlichen SchülerratsBewegung geben werde.

Aber Herr Olaf lachte auch dieser Besorgnisse:127 []„Aber, Liebste, Beste, was machst du dir für Sorgen!Dieser Schülerrat! Es ist die beste Gelegenheit ein paar faule und schlechte Schüler, turbulente und subverside Elemente, aus unserer Anstalt zu entfernen. Wenn erst ein paar fliegen, löst sich der Schülerrat von selbst auf.“

Frau Justine zweifelte, ob wirklich nur schlechte Schüler sich der gefährlichen Neuerung angeschlossen hätten, und seufzte tief auf, als ihr Gatte ihr deutlich und unwiderleglich bewies, daß dies ganz sicher so sei, für seine guten Schüler bürge er, daß sie solche Dummheiten ließen; die untern Klassenhälften, die könnten etwa dabei sein. Denn ach, ihre beiden Söhne, Philipp und Lorenz, saßen ja beide in den untern Hälften ihrer Klassen. Daß also sie,seine Söhne, im Schülerrat mitmachen könnten, wie nun die besorgte Mutter gar meinte, das nahm Herr Olaf fast als Beleidigung auf:

„Meine Söhne sollten sich unterstehen! Weißt du etwa gar etwas?“

„Ach nein,“ beschwichtigte die Mutter, „ich meinte nur,weil Philipp so ungern zur Schule geht, stets so verschlossen und verdrossen ist, so wäre es doch denkbbar “

„Mein Sohn?“ fragte Herr Olaf entrüstet.

„Nun, Sascha Simbirsikow nicht mein Zögling natürlich, sondern sein Vetter der Sohn des Adelsmarschalls,Sascha Pjotrowitsch war auch Nihilist trotz seinem Vater!“

„Ach, immer deine russischen Geschichten! Wie dieser Sascha Piotrowitsch erzogen war, weiß ich nicht, aber meine von mir erzogenen Söhne habe ich in der Hand!“erwiderte stolz und sicher Herr Olaf.

Und nun kam das Gespräch dahin, wo Herr und Frau Eysenstuckh trotz ihrer glücklichen Ehe immer etwas uneins waren. Der Vater hielt es für undenkbar, daß ein Eysenstuckh der blauen Linie vor der Reife das Gymnasium verlasse und hielt sich für sehr weitherzig, wenn er seine Söhne nach vollendeter humanistischer Ausbildung ihren weitern Lebensweg selbst bestimmen lassen wollte. Die Mutter hätte ihren Liebling Philipp mit seinen praktischen Nei

126 []gungen, die auf einen technischen Beruf hinwiesen, gerne schon jetzt aus der ihm verhaßten Tretmühle des Gymnasiums befreit. Die lebhafte Unterredung darüber führte auch jetzt zu keinem Ziel und wurde dadurch beendet, daß Herr Olaf seine Söhne ins Zimmer rief. Trotz der ausgesprochenen Sicherheit nagte an ihm doch der Gedanke,den seine Frau berührt, auch Philipp und Lorenz könnten vom Empörungs-Bagillus angegriffen sein. Das Verhör mit den beiden Knaben, von denen Lorenz sofort, Philipp nach einigem Zögern und nochmaligem zornigen Rufen des Vaters erschienen war, ergab nicht viel. Philipp schwieg erst verstockt und behauptete dann von der ganzen Schülerratsgeschichte gar nichts zu wissen. Lorenz gestand,daß Viele seiner Klasse dabei seien, daß man ihn aber als Sohn seines Vaters gar nicht zum Beitritt aufgefordert habe, sodaß er auch nicht wisse, was vorgehe und was seine Mitschüler eigentlich wollten. Herr Olaf hätte nun zwar gern mehr gewußt, wollte aber doch seine Neugier nicht verraten und war ja schließlich über seine Söhne beruhigt. Es war ihm aber doch nicht möglich, sie ohne eine ernste Warnung vor dem verbrecherischen Treiben ohne eine väterlich-strenge Mahnung, selbst in der Schule mehr zu leisten, gehen zu lassen. Die Buben hörten die schon oft vernommenen Worte über die Pflichterfüllung, die Familienehre und das eigene Wohl mit trotziger Ergebenheit an und atmeten auf, als das einen Besuch meldende Dienstmädchen die Beredsamkeit des Vaters unterbrach.Er sandte die Söhne ins Nebenzimmer an ihre Aufgaben.Herr Olaf warf einen Blick auf die Karte und sein Gesicht leuchtete auf. Dr. Jost Rothagen, dessen Name er las, war vor etwa zwanzig Jahren einer seiner besten und liebsten Schüler gewesen. Der Sohn einer Familie „aus den Geschlechtern“, aber vermögenslos, hatte er den Lehrerberuf ergriffen und ihn nun seit langem im Ausland ausgeübt. Am amerikanischen College in Konstantinopel. dann an einem deutschen Landerziehungsheim,

12*[]zuletzt wieder an einer höhern Schule in England hatte er unterrichtet, war aber doch stets in so lebhafter Verbindung mit der Vaterstadt geblieben, daß er neuerdings ,„endlich,“ sagten alle seine vielen Freunde) die Stelle des Deutschlehrers an den obersten Klassen des städtischen Gymnasiums erhalten hatte und sie nun antreten sollte.Dr. Eysenstuckh freute sich herzlich, den alten Schüler und neuen Kollegen zu begrüßen und auch Frau Justine empfing den Eintretenden mit größter Herzlichkeit. Bald war eine lebhafte Unterhaltung im Gang. Dr. Rothagen erzählte fesselnd und lustig von seinen Schulerfahrungen im Ausland, besonders hatte es ihm im BlackgroundCollege, seiner letzten Stellung, gefallen, und nur der Ruf der Heimat hatte ihn von dort weglocken können.

„Und nun kommen Sie dagegen hier in so traurige,verworrene und böse Verhältnisse hinein!“ seufgzte voll Mitleid Frau Justine. Erstaunt blickte ihr Gast sie an,sodaß sie sich beeilte, ihm ihre Besorgnis zu erklären.

„Denken Sie, lieber Herr Doktor, an unserm Gymnasium ist ein Schülerrat gegründet worden!“

Sie sagte es so entsetzt und bekümmert, daß Dr. Rothagens lautes, fröhliches Lachen fast beleidigend klang.

„Was, Sie lachen darüber?“ rief Frau Justine erregt und Herr Olaf griff beschwichtigend ein:

Liebe Justine, du siehst, wie unnötig du dich ängstigst!Herr Dr. Rothagen ist wie ich überzeugt, daß dieser Schülerrat ein mit etwas Energie leicht auszurottendes Unkräutlein ist, oder nicht, Herr Doktor?“

Doch der Gefragte kam nicht zur Antwort, denn Frau Justine streckte beschwörend beide Hände aus und rief:

„O, ihr Männer, nehmt solche Dinge alle zu leicht.Ihr wart nicht wie ich in Rußland. Ihr wißt nicht “

Dr. Rothagen unterbrach ihre ängstlichen Worte mit fröhlicher Miene:

„Nein, verehrte Frau Professor, in Rußland war ich allerdings nicht, aber unsern hiesigen Schülerrat kenne

1309 []ich, habe ihn gesehen und gehört und die Erinnerung daran ließ mich auflachen!“

Herr und Frau Professor Eysenstuckh fuhren von ihren Sitzen auf vor überraschung und Neugierde, und ihre Rufe übersprudelten sich:

„Gesehen? Gehört? Sie als Lehrer kennen den Schülerrat sozusagen von Angesicht? Ja, wie ist das möglich? Erzählen Sie! Berichten Sie, bitte.“

Dr. Rothagen kam der Bitte nach und berichtete, wie er in strengstem Inkognito einer Sitzung des Schülerrats beigewohnt hatte. Mit ein paar Fremden hatte er sich gestern Abend in der Wirtschaft zum Bärengrimm getroffen, um mit ihnen die nahende Feier ihres zwanzigjährigen Maturitäts-Jubiläums zu besprechen. Das Programm des einfachen Festchens war bald festgestellt, die Adressen der noch lebenden Klassengenossen waren ermittelt, aber, als es sich nun darum handelte, das obere Sälchen des Bärengrimmes als Ort für das gemeinsame Abendessen zu bestellen, da zeigte es sich, daß es für den in Aussicht genommenen Tag schon belegt war. Papa Heimlicher, der alte Bärengrimmwirt, wollte erst gar nicht herausrücken, von wem und wofür, und verriet erst nach einigen Gläsern Veltliner, daß der Schülerrat bei ihm fast allabendlich sich versammle.

„Was er nun von dieser neuen Jugend,“ fuhr Dr. Rothagen fort, „die bei ihm ihre Verschwörerzusammenkünfte hält, uns erzählte, erregte meine Neugier so sehr, daß ich nicht abließ, bis er mir erlaubte, aus dem Offiee neben dem Sälchen eine SchülerratsSitzung zu belauschen.“

„Wenn Sie entdeckt worden wären!“ rief Frau Justine angstvoll.„War nicht zu befürchten, Frau Professor. Die Jungen kennen mich noch nicht und meine fünfzehn Jahre Landesabwesenheit haben mich stark verändert. Dazu hatte ich Rock und Kragen abgelegt, mir eine blaue Schürze vorgebunden und putzte als Papa Heimlichers neuer Hausbursche auf Tod und Leben Silber und Messer im Office.“

131 []Die Zuhörer lachten laut auf über die Maskerade.

„Was erlebten Sie denn nun?“ fragte Herr Olaf neugierig.

„Trotz Papa Heimlichers Vorbereitung eine der größten überraschungen meines Lebens. Zunächst hätte ich mir nach meiner Erinnerung eine GymnasiastenVerschwörung ohne Anstich eines größern Fäßchens nicht vorstellen können und war einfach platt, als die Kellnerinnen nichts als Tee, Kaffee, Limonade und Sirup in den Saal trugen.“

„Sie kennen eben unsern Kollegen Frischmatter nicht,Herr Doktor. Er nimmt mit seiner überstiegenen AntialkoholPropaganda unsern Jungen alle fröhliche Jugendlichkeit!“ schaltete Herr Olaf finster ein.

„Dann hatte ich mich auf wilde, lärmende RevolutionsRhetorik gefaßt gemacht und hörte eine Verhandlung,die mich wirklich und wahrhaftig an eine recht ernsthafte Lehrerkonferenz erinnerte.“

„Eine Lehrerkonferenz!“ riefen Herr und Frau Professor wie aus einem Munde.

„Ja, denn es wurde erst sehr ernstlich über den Ausschluß einiger fauler und nichtsnutziger Schüler verhandelt.Sie fanden zwar einige Verteidiger, aber der Präsident des Schülerrats hielt eine höchst gediegene Rede, daß die berechtigten Forderungen des Schülerrats nicht durch faule Hühner kompromittiert werden dürften und die faulen Hühner wurden von der Liste gestrichen. Dann berichteten die Vertrauensmänner der einzelnen Klassen, was bei ihnen im Auftrag des Schülerrats getan worden sei. Herr Professor, ich ließ Messer und Putzlappen sinken vor Erstaunen über diese Jugend! der Primus Primae berichtete von zwei freiwilligen GriechischStunden, die er mit seiner Klasse halte, da nach ihrem allgemeinen Urteil bei Prof.

Schollmeyer die Grammatik neben der Poesie der Tragiker zu kurz komme. Eine andere Klasse hatte ein Repetitorium der Chemie, wieder eine QuellenLektüre zur Ergänzung des Geschichts-Unterrichts eingeführt. Herrgott! dachte ich, damit hätte man uns vor zwanzgig Jahren 132 []kommen sollen! Was ist das heute für ein Geschlecht, so ernst, so reif und einsichtig unserer damaligen Kinderei gegenüber!“

Professor Eysenstuckh hatte bei der Erzählung nur den Kopf geschüttelt, nun erhob er sich und schritt erregt im Zimmer auf und ab. Dr. Rothagen berichte weiter:

„Dann kamen die Verhandlungen, ruhig, parlamentarisch. Ein paar Reden etwas überstiegen, pathetisch.Aber gerade die werden von der Mehrheit abgelehnt und die schwungvollste mit Schlußrufen abgehauen.“

Prof. Eysenstuckh stand gerade vor seinem Gast und saßte ihn erregt am Arm:

„Welche Forderungen wurden erhoben? Politische?Es wurde wohl ganz sogzialistisch gesprochen oder nicht?“

„Was ich hörte, war nur schulpolitisch, wenn man so sagen darf. Die Forderungen eines gewissen Mitbestimmungsrechtes der Schüler bei Wiederwahlen der Lehrer,eine Art Selfgovernewent, wie wir es im BlackgroundCollege hatten, und anderes war, wie ich aus dem Protokoll hörte, bereits beschlossen. Gestern wurde hauptsächlich darüber gesprochen, ob man gegen einige Lehrer als Mahnung den Präparations-Streik richten sollte.“

Herr Olaf richtete sich ganz beglückt auf, als er das hörte; er hatte seine Meinung wieder gefunden. Er wußte nun doch, daß er, der bewährte Pädagoge, diesen Rummel besser durchschaut habe als dieser Neuling.

„Also doch, also doch! Das Joch der Hausaufgaben soll abgeschüttelt werden. Faulheit steckt doch hinter Allem trotz der schönen Fassade, durch die Sie sich täuschen ließen,bester Herr Doktor.“

Er triumphierte in Ton und Haltung, als er das sagte.

Dr. Rothagen zuckte leicht mit den Schultern:

„Ich weiß nicht, ob bloß Schülerfaulheit dahinter steckt.So viel ich hörte, hieß es, nur bei Lehrern, die unpräpariert in die Schule kämen, solle auch nicht mehr präpariert werden.“

133 []Herr Professor Eysenstuchh begann wieder hin und her zu gehen. Als er gegen die Tür des Nebenzimmers kam, stutzte er. Lachten die Buben drüben? Seine Söhne?Worüber hatten sie zu lachen? Hatten sie etwa gehorcht?Er wollte just hineineilen, um sie zu überraschen, da hörte er seine Frau fragen:

„Bei Lehrern, die sich nicht vorbereiten? Wurden denn Namen genannt?“

Rasch wandte er sich um, und mit einem schnellen Blick auf Justine sagte er so herzlich wie möglich zu seinem Besucher:

„Nicht wahr, Herr Doktor, wir sind neugierige Leute und halten Sie gewiß auf mit unserer Neugier?“

Dr. Rothagen verstand, erhob und verabschiedete sich.Beide Gatten begleiteten ihn hinaus, und während Frau Justine sich oben an der Treppe empfahl, um ihren Hausgeschäften nachzugehen, ging ihr Mann mit seinem Gast bis an die Gartenpforte.

Ja, Philipp uud Lorenz hatten gehorcht und gelacht.Sie waren beide keine großen Lichter und hätten es doch,wie ihr Vater meinte, von Gottes und Rechts wegen sein müssen. Das gab für sie und ihn ein höchst unerquickliches Verhältnis. Sie waren beide der Schule überdrüssig und sollten doch um jeden Preis sie durchlaufen und zwar mit Ehren durchlaufen. Sie sollten und mußten gute Schüler sein und hatten dazu weder Lust noch Fähigkeit. Ihr Vater wußte das wohl, aber er tat dergleichen, als ob er es nicht ahne und ihre mittelmäßigen Leistungen für bloße Trägheit und Pflichtvergessenheit hielte. So war sein Reden mit ihnen ein stetes Mahnen, Antreiben, Tadeln und erreichte gerade das Gegenteil von dem, was er wollte; Philipp und Lorenz wurden der Schule stets unlustiger. Und wie der Vater ihnen gegenüber seine klare Erkenntnis der Sachlage, weil er sich ihrer schämte, stets verbarg und verhehlte, so hatten auch sie dem Vater gegenüber etwas zu verhehlen, nämlich ihre klare Erkenntnis von Professor Eysenstucks Stellung in der Schule.

34 []Ja, in ihren ersten Gymnasialjahren, als sie noch nicht selbst seinen Unterricht genossen, da hatten sie Beide in kindlicher Ehrerbietung zu ihm aufgeblickt und ihn für den beliebten Musterlehrer gehalten, für den er sich ansah. Je höher sie aber hinaufrückten, desto mehr hörten sie,daß ihr Vater als der Höhepunkt alles Langweiligen,dazu noch als höchst parteiisch galt, und als sie selbst seine Schüler wurden, da hatten sie trotz ihrer mäßigen Begabung bald gemerkt, daß es so war wie gesagt wurde.Sie begriffen mit Schaudern die Unbeliebtheit ihres Vaters und standen doch viel zu sehr unter dem Zwang seiner väterlichen Macht, als daß sie je davon auch nur die geringste Andeutung hätten wagen dürfen. Er war ihnen als Lehrer genau so widerwärtig wie all ihren Mitschülern und doch konnten sie auch ihren Kameraden gegenüber nie darüber ein Wort sagen; denn sie galten eben durchaus als Söhne ihres Vaters, ja, ohne daß sie es im Geringsten waren, als seine Spione und Spitzel und waren darum ebenso unbeliebt wie er und von all den Unternehmungen und Freundschaften ihrer Genossen ausgeschlossen. So sehr die armen Burschen wünschten, selbst das Gymnasium los zu sein, so heiß begehrten sie auch,die Schule möchte ihren Vater los werden, und doch war weder für das Eine noch für das Andere die geringste Aussicht. Philipp rettete sich in dieser verzweifelten Lage in einen stummen, verbissenen Trotz, mit dem er sich den Eltern, Lehrern und Mitschülern gegenüber gleich abwehrend verhielt, und lebte in dieser Schale des Trotzes doch etwas wie ein Eigenleben mit allerlei kleinen, tröstlichen Liebhabereien. Lorenz dagegen, der unglücklicher Weise zu seiner Beschränktheit noch eine gewisse Schläue ins Leben mitbekommen hatte, suchte damit sich anzupassen, schmeichelte dem Vater, so gut ers vermochte,stimmte mit verlegener Frechheit in die Spässe seiner Mitschüler gegen den Vater ein, sprach zum Beispiel auch Philipp gegenüber stets vom Blaffen, wie der Schulwitz Herrn Eysenstuckhs nordischen Vornamen umgewandelt

135 []hatte, wurde dabei in all diesen Bemuhungen ein recht windiger Charakter und hielt sich für einen geschickten und pfiffigen Kopf. Nichts las er lieber als recht intrigante Geschichten von großen Schlaumeiern, Diplomaten,Schwindlern und Verbrechern und der Held eines DetektivRomans zu werden, war sein unausgesprochenes Lebensziel. Seit in der Schule der Schülerrat entstanden war,von dessen Wesen und Wollen sie natürlich nichts Näheres erfuhren, hatte Lorenz doch diesen Gedanken erfaßt und war fest entschlossen, nun hier eine Mine zu legen, die ihrem peinlichen Zustand ein rasches Ende machen sollte.

Eben hatte er, über seinen Cäsar und das Lexikon gebeugt, im Arbeitszimmer den Bruder flüsternd in seinen Plan eingeweiht und sich über seine Schwerfälligkeit geärgert.

Ein Papierchen hatte er ihm zugeschoben, drauf war aus ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben ein Brief, ein richtiger Drohbrief „an Olaff“ zusammengesetzt und unterzeichnet „der Schülerrat“. Lorenz war überzeugt, daß das den Vater einschüchtern, ja vielleicht zum Rücktritt von der Schule bewegen werde, aber er wagte nun eines nicht denn Mut war nicht seine Sache den Brief dem Vater wirklich zukommen zu lassen. Der Umschlag mit der Adresse in verstellter Handschrift steckte schon seit Tagen in seiner Tasche und war schon ganz verdrückt. Und nun sollte Philipp diesen letzten gefährlichen Schritt tun. Er suchte ihm die Sache zu erklären,er stellte es ihm als einfache Pflicht dar, daß er nun auch etwas zur Sache tun müsse, und als auch das nicht verfing, warf er ihm vor, er sei ein Feigling. Das konnte Philipp doch nicht auf sich sitzen lassen. Er riß dem Bruder den Brief aus den Händen und hätte ihn in seiner Einfalt spornstreichs dem Vater gebracht, wenn ihm nicht Lorenz nachgestürzt wäre und ihn noch an der Tür aufgehalten hätte. So hatten sie vernommen, daß drüben vom Schülerrat die Rede war, und horchten, was Dr. Rothagen davon erzählte. Zwar hätte gerade das ihnen

122 []zeigen müssen, wie unsinnig ihr Vorgehen war. Aber Philipp dachte überhaupt nichts und Lorenz hatte doch zuviel Mühe auf das Ausschneiden und Zusammenkleben der Buchstaben gewandt, um nun wegen dem bischen Unwahrscheinlichkeit, das der Sache anhaftete, sie nun noch aufzugeben; dazu dachte er in seiner einfältigen Schnödigkeit, es sei ja Philipp, der nun der eigentliche Täter sei und den die Verantwortung treffe; wenn er kein Bedenken habe, so möge er handeln. Als sie von dem Präparationsstreik hörten, von dem sie genau wußten,daß es keinen andern Lehrer so wie ihren Vater treffe,da hatte Philipp laut lachen müssen, und Lorenz hatte ihn sofort ängstlich an den Aufgabentisch zurückgerissen.

Nun wars drüben still geworden; die Eltern begleiteten den Gast hinaus. Philipp öffnete vorsichtig die Tür und, als wirklich alles leer war, schritt er rasch zu Herrn Olafs Schreibtisch und schob den schmutzigen, zerknitterten Umschlag unter den Briefbeschwerer, der noch mehr uneröffnete Briefe und Drucksachen der heutigen Post barg. Dabei fiel sein Auge auf das offen daliegende Schreiben der Wohlfahrtsgesellschaft. Er las es und winkte den Bruder herbei; der las auch, lachte und sagte:

„Da hat der Blaff doch gleich einen Unterschlupf,wenn wir oder der Schülerrat ihn aus dem Pennal hinausöden.“

Man hörte Schritte.

„Der Alte kommt,“ rief Philipp und beide huschten wieder ins Arbeitszimmer und saßen tief über die Bücher gebeugt, als ihr Vater eintrat, ihre Aufgaben nachsah, in vorwurfsvollem Ton einige Fehler in Philipps übersetzung rügte und Lorenz anwies, seine Vokabeln ordentlich zu schreiben.

Dann schritt Professor Eysenstuckhh wieder zu seinem Schreibtisch, blätterte eine Weile im Manuskript seines Gutachtens, las den Brief der Wohlfahrtsgesellschaft noch einmal durch und erinnerte sich dabei, daß er ja noch gar

77 153 []nicht die Post ganz durchmustert hatte. Das Gespräch mit Justine und Dr. Rothagens Besuch waren dazwischen gekommen. So steckte er sich nun behaglich eine Zigarre an,griff nach den übrigen Briefschaften und öffnete erst das Kreuzband einer Drucksache.

Es war eine philologisch-historische Zeitschrift und enthielt eine Besprechung seines letzten Gymnasialprogramms „über den Begriff der Tugend in der stoischen Philosophie“. Er las sie aufmerksam; sie war recht wohlwollend, erfaßte aber, wie ihm schien, den Hauptgedanken seiner Arbeit doch nicht mit genügender Tiefe, und Herr Olaf begann im Geist bereits ein höfliches Schreiben an den Rezensenten, einen ihm wohlbekannten Gymnasialdirektor der Hauptstadt. Das konnte ein anregender und geistreicher Briefwechsel werden; er genoß ihn bereits im Voraus.Das nächste Schreiben war eine Einladung zu einer Sitzung des Kirchenvorstandes von St. Katharinen; ein Blick auf den Kalender zeigte den bestimmten Abend noch frei, und die Sitzung wurde an der richtigen Stelle notiert.

Was mochte nun dieser schmierige, zerknüllte Umschlag bergen? Dr. Eysenstuckh dachte erst an einen im Trunk zugrunde gegangenen geistvollen Studiengenossen,der ihn und andere Freunde gelegentlich mit lateinischen Bettelbriefen anging, in denen er rührend bat, ihm mit einer kleinen Gabe das unwürdige Leben im Armenhaus einer Bauerngemeinde zu erleichtern. Aber als Herr Olaf den mit gedruckten Lettern beklebten Bogen sah, stutzte er, und als er die Unterschrift erkannte, las er hastig den ganzen Brief. Er lautete:

An Olaff! Sie traurigster aller Knabenschinder wenn Sie nicht binnen 4 Wochen das Feld räumen d. h. unser Gymnasium von ihrer w. Gegenwart befreien, so wird die Sie zu finden wissen. Wirsstehen mit Organisionen in Verbindung die sich nicht

138 []vor der Staatsgewalt fürchten. Sie sind gewarnt! Ziehen Sie die Consekwenzen Der Schülerat.

Herr Olaf erblaßte und war doch Schulmann genug,gleichzeitig einen gerechten Ärger über die vielen Flüchtigkeits und Orthographiefehler des Drohbriefes zu fühlen.Unwillkürlich griff er nach seinem schöngespitzten Rotstift und strich das Wort Organisionen, das doch offenbar Organisationen heißen sollte, dick an. Dann aber warf er den Brief wie eine Giftschlange von sich und begann im Zimmer auf und abzustürmen.

Diese bodenlose Frechheit! Ihn mit einem Schimpfwort anzureden! Wohl hatte er schon vernommen, daß er bei den Schülern allgemein so hieß, aber er wollte es nicht wissen. Er redete sich bestimmt vor, daß nur der Auswurf der Schüler ihn so bezeichne, daß er für die Andern der geehrte, geachtete Professor Eysenstuckh sei.Er glaubte es schließlich trotz seines Wissens, und drum machte es ihn jedesmal ganz wütend, wenn er seinen übernamen hörte. Er begriff nicht, wie sein Kollege Schollmeyer, den die Schüler wegen seiner Beleibtheit den Lehrkörper nannten, meistens von sich selbst nicht anders sprach; er verstand nicht, wie Kollege Frischmatter herzgzlich hatte lachen können, als er erfuhr, daß man ihn Zupfgeigerl getauft hatte; er, Professor Dr. Olaf Eysenstuckh,fühlte sich jedesmal tief gekränkt, wenn ihn etwas an seinen übernamen erinnerte, und deshalb traf ihn nichts in diesem Drohbrief, weder der lächerliche Hinweis auf die schwarze Hand, noch die Bezeichnung Knabenschinder so tief wie die Anrede: Slaff!

Was sollte er tun? Es mußte untersucht werden!Wenn auf eine solche bodenlose Unverschämtheit hin der Schülerrat nicht sofort verboten, die Urheber und übermittler dieses Schandbriefes aus der Schule gewiesen werden, dann ging er ganz gewiß, dann strafte er die ganze Schule durch seinen Rücktritt. Er griff im Vorbeigehen am Schreibtisch nach dem Brief der Wohlfahrts

139 []gesellschaft und las ihn nochmals durch, wobei seine Gedanken allerdings ganz andere Richtung einschlugen. Hatte nicht letzthin Rektor Friedrich im Lehrerzimmer die unsinnige Theorie vertreten, die Orthographie sei im Grund etwas Unnötiges. Ein unorthographischer Brief bezeichne das Wesen seines Schreibers viel besser als ein korrekter,und er hatte als Beispiel gesagt: „wenn Einer, wie neulich einer meiner Sekundaner Konsequenz mit kw statt mit qu schreibt, so habe ich von ihm mehr erfahren, als wenn ers richtig geschrieben hätte.“ Natürlich das war halt wieder solch eine unmögliche Schrulle von Friedrich,dieses Verachten der Orthographie! Aber konnte nicht eben dies sein Beispiel zur Entlarvung des Briefschreibers führen?

Er mußte entdeckt, zum Mindesten aus der Schule ausgeschlossen werden, ganz sicher. Er, Eysenstuckh, konnte doch nicht gehen; das wäre ja gerade das gewesen, was der Frechling, was dieser Schülerrat als Ganzes offenbar wollte. Nein, nun mußte Friedrich, der nie einen Schüler ausschließen wollte, einmal Ernst machen. Er konnte es doch nicht auf seine, des Konrektors, Demission ankommen lassen. Was war er denn ohne ihn? Ein hilfloser Greis.Was war das ganze städtische Gymnasium ohne ihn, Olaf Eysenstuchh? Er dachte es nicht aus, aber er empfand es dunkel, bildhaft: ein Ring, dem der Edelstein ausgebrochen war, schwebte vor seinem innern Auge. Nein,es war nicht möglich, daß er nachgab. Der Schülerrat hatte sich mit diesem Brief sein Grab gegraben; nun lag das vernichtende Dokument vor. Ein wahres Triumphgefühl ergriff den gekränkten Lehrer; sein Beleidiger hatte ihm die strafende Waffe in die Hand gedrückt.

Gleich mußte etwas geschehen. Herr Olaf ging zum Schreibtisch, um sofort dem Rektor von dem Vorgefallenen Kunde zu geben; aber noch ehe der Brief fertig geschrieben,wurde er unnötig.

Das Mädchen meldete den Besuch Rektor Friedrichs und sofort hinter ihm trippelte der alte Herr selbst ins

1406 []Zimmer. Er war ein kleiner, feingebauter Mann mit einem grundgütigen, aber ängstlich-aufgeregten Gesichte.Ein dünner Flaum weißer Härchen war in ständiger Bewegung auf dem Kopfe, weil Rektor Friedrich fortwährend die Stirne in Runzeln zog und mit einer nervösen Handbewegung wieder glättete. Seinen breitrandigen, weichen Filzhut schwenkend, eilte er auf Herrn Eysenstuckh zu und rief:

„Bester Kollege, raten Sie mir! Was soll ich tun?Nun hat sich bei mir telephonisch eine Abordnung des Schülerrats zu einer Besprechung seiner Forderungen angemeldet. Was soll ich da sagen? Ich kann doch ohne Einwilligung der Konferenz, der Erziehungsbehörde nichts zugeben und ändern an unserer Anstalt! Ja, wenn meine Emma selig noch lebte, die hätte mir schon gesagt, was ich tun sollte. Aber seit ich Witwer bin, bin ich zu nichts mehr gut. Sie ahnen nicht, bester Herr Kollege, wie das ist! Ja, das war eine Frau, ich sage Ihnen, Herr Kollege,solch eine Frau findet sich keine zweite. Sie kennen ja mein Buch über althochdeutsche Sprachgesetze; ich sage Ihnen, das Register dazu hat Emma gemacht, Korrektur und Revision hat sie gelesen, die Verhandlungen mit dem Verlag hat sie geführt. Ach, Emma, Emma!“

In Jammer um seine vor drei Jahren verstorbene Frau ließ sich Rektor Friedrich auf den bequemen Lehnstuhl sinken, den Herr Olaf ihm hinschob. Alles Andere,Schülerrat und Welt, hatte er wieder einmal vergessen über seinem Leid, das jetzt immer noch wie am ersten Tage über ihn kam. Alle Bekannten, seine Freunde und Untergebenen kannten das. Man respektierte äußerlich den Schmerz des hilflosen Mannes und lächelte innerlich darüber.

Der Konrektor aber lenkte rasch wieder das Gespräch in seine Bahn.

„Was Sie der Schülerrats-Abordnung sagen sollen,fragen Sie mich, Herr Rektor? Nun ich gebe Ihnen den Rat, den Ihnen wohl auch die selige Frau Rektor ge[]geben hätte: Gar nicht annehmen die Buben! Morgen ein Anschlag am schwarzen Brett, daß alle Zusammenkünfte der Schüler, außer den zwei anerkannten Vereinen,verboten sind bei Strafe des Ausschlusses. Gegen die Rädelsführer jetzt schon energische Bestrafung. Nur fest auftreten, Herr Rektor, so erlischt das Feuerlein gleich!“

Noch mit ferner Stimme, wie aus einem Traum zurückkehrend, antwortete der Rektor:

„Sie glauben? Ach, Emma war so gut. Sie wäre sicher nicht fest aufgetreten; sie hatte soviel Verständnis für die Jugend.“

Und nun wie erwachend fuhr er auf einmal mit lebendig warmem Tone fort:

„Übrigens, Sie wissen, Herr Kollege, ich finde die Wünsche der Schüler gar nicht so uneben. Wir haben ja schon öfters davon gesprochen.“

Rektor Friedrich sprach wie ein feuriger Anwalt für die Forderungen der Jungen; Professor Eysenstuckh wurde immer ärgerlicher über den unreif-jugendlichen Idealismus,den der Rektor an den Tag legte. Immer wieder versuchte er zu einem strengen Eingreifen zu raten, er drückte zuletzt den Drohbrief seinem Vorgesetzten in die Hand und schrie fast:

„Halten Sie Milde solcher Unverschämtheit gegenüber für angebracht? Ein Schülerrat, der einen im Dienste der Schule ergrauten Lehrer so beschimpft, hat kein Daseinsrecht. Ich verlange, ich, verlange allerstrengste Bestrafung, sofortiger Ausschluß des Schülers, der dieses schandbare Schriftstück verfaßt hat. Wird mein Wunsch nicht erfüllt, so gebe ich meine Demission!“

Ehrliches Erschrecken überflog Rektor Friedrichs Züge und er streckte beschwörend die Hände aus. Ohne darauf zu achten, fuhr Herr Olaf fort:

„Ich verlange, ganz bestimmt verlange ich, daß Sie als Rektor auf keine Forderungen dieses sogenannten Schülerrats eintreten, ehe genau untersucht ist, wer im

48

*[]Auftrag dieser ehrenwerten Gesellschaft diesen Drohbrief geschrieben hat.“

Rektor Friedrich ging darauf ein: „Ja, das können Sie schon zuerst untersuchen, Herr Kollege. Wie Sie es freilich herausbringen wollen, weiß ich nicht!“

„Ich? Ich soll die Untersuchung führen? Die Abordnung kommt doch zu Ihnen, Herr Rektor?“

„Ja,“ sagte verlegen der Rektor, „zu mir kommt sie schon, aber ich bin ja nicht zu Hause und habe meiner Haushälterin gesagt, ich sei bei Ihnen. So werden die jungen Herren schon daher kommen!“

Wilde Freude erfaßte Herrn Olaf. Erwünschter konnte ihm jetzt nichts kommen, als daß die Abordnung die Frechheit hatte, ihn den so maßlos Beleidigten noch aufzusuchen.Den Lausbuben wollte er nun die Wahrheit sagen! Wie geschlagene Pudel sollten sie abziehen müssen! Er stellte fich schon die Gesichter vor, wobei ihm unwillkürlich die Züge seiner schwierigsten, liederlichsten, faulsten Schüler vors Auge traten. Den Fritz Ehrsam, die Klassenschande,wie ihn die Lehrer nannten, den Heinz Strohoff, den er nicht leiden konnte, weil er, der Oberwandervogel, auch in seinen Geschichtsstunden stets aus Reisen schien, den unbeschreiblich dummen und frechen Erich Bäuerle, diese drei dunkelsten Punkte des Gymnasiums meinte er schon vor sich zu sehen, und er rechnete bestimmt darauf, einen oder zwei dieser Namen zu hören, als er den Rektor fragte, aus wem denn die Abordnung bestehe.

Wie wurde er überrascht, als ihm Friedrich drei Namen nannte, die zu den glänzendsten der Schule gehörten: Klaus Weber, René Benjamin, Franz Oppengangen, als die Glocke ertönte und die Abordnung den Herrn Rektor und den Herrn Konrektor zu sprechen wünschte.

Herr Olaf thronte wie ein König in seinem SchreibtischStuhl, während Rektor Friedrich auf seinem Sitze nicht stillehalten konnte. als die drei Schüler eintraten.

143 []an sich schon überraschend durch die Verschiedenheit ihres Wesens.

Klaus Weber, der Sohn eines verstorbenen Pfarrers,ein breiter, untersetzter, blonder Bursch in fast dürftigeinfacher Kleidung ländlichen Schnittes, war der Wortführer. Sein ehrlich-offenes Gesicht mit den klugen, blauen Augen hatte so gar nichts Verschwörerhaftes. Und René Benjamin, ein langer, ungemein schlanker Sprößling der vornehmsten Stadtfamilie, elegant vom Scheitel bis zur Sohle, mit einem schmalen, seinen, etwas blasierten Gesicht unter schwarzem, kurzgeschnittenem Haar, war das reine Gegenteil eines Revolutionärs; er sah aus wie die verkörperte Vornehmheit. Einen kleinen Stich ins Katilinarische zeigte nur der dritte Abgeordnete: Franz Oppenheim, das Jüdlein aus der Sekunda, das an Gescheitheit so ziemlich das ganze übrige Gymnasium aufwog. Sein breites mit den Eigentümlichkeiten seines Stammes ausgiebig ausgestattetes Gesicht verriet, daß er nicht nur im Wissen, sondern auch im Erleben guter und schlimmer Dinge seinen Altersgenossen weit voraus war. Ein nervöses Zucken entstellte in regelmäßigen Abständen seine Züge, und Hände und Finger waren fortwährend in Bewegung. Seine etwas entzündeten Augen liefen unstät durchs ganze Zimmer, um den Mund spielte stets ein höhnisches Grinsen.

Klaus Weber wandte sich, nachdem er beide Lehrer höflich gegrüßt hatte, an den Rektor und bat die Wünsche des Schülerrats vorlegen zu dürfen. Er zog einen beschriebenen Bogen heraus und wollte ihn vorlesen. Da unterbrach ihn Herrn Eysenstuckhs scharfe Stimme:

„Weber, ehe Sie uns Ihre Phrasen vorlesen, sagen Sie uns zuerst aufrichtig, ob dieser Wisch im Auftrag Ihres sog. Schülerrats geschrieben ist und von wem.“

Er reichte ihm den Drohbrief. Weber las ihn, wurde rot und reichte ihn seinen Freunden. Benjamins Gesicht blieb unbeweglich, Oppenheim lachte frech. Der Sprecher

144 []wandte sich an Professor Eysenstuckh und sagte, dunkelrot vor Verlegenheit und Zorn:

„Sie nehmen uns so wenig ernst, Herr Professor, daß Sie uns eine solche Dummheit zutrauen können?“

Herr Olaf lachte verächtlich und zornig: „Ich soll Sie wohl ernst nehmen? Das ist zuviel verlangt!“

Oppenheim flüsterte hörbar: „Beruht auf Gegenseitigkeit!“Seine Kameraden warfen ihm zornige Blicke zu;Rektor Friedrich und Dr. Eysenstuckh riefen wie aus einem Munde, der eine entsetzt, der andere wütend:„Oppenheim!“

Oppenheim verbeugte sich lächelnd: „Herr Rektor!Herr Professor!“

Weber setzte wieder an: „Wenn Sie uns sagen können, Herr Professor, wer diesen Drohbrief verfaßt hat,so Herr Olaf unterbrach ihn: „Ich brings heraus, seien Sie sicher! Und verlange Ausschluß des Unverschämten

Benjamin ergriff nun das Wort in seinem müden Aristokraten-Tonfall: „Sie können versichert jein, Herr Professor, daß ein so gemeiner Vogel ausgeschlossen wird aus dem Schülerrat, wenn er überhaupt dazu gehört, was ich sehr bezweifle.“

VProfessor Eysenstuckh lachte höhnisch auf: „Aus dem Schülerrat! Ausschluß aus der Schule meine ich! Dieser Skribent und seine Helfershelfer fliegen oder ich gehe!“Die letzten Worte waren drohend gegen den Rektor gerichtet, der ganz verstört dasaß und die Hände rang, als er das wieder hörte.

Die drei Gymnasiasten aber lächelten; Weber und Benjamin kaum merbhlich, das Jüdlein frech, sein Grinsen mit einem geflüsterten: „Oder Beide!“ erklärend.

Herr Olaf hatte es wohl gehört und fuhr auf. Er schlug mit der Hand auf den Drohbrief, der vor ihm lag,und schrie:

45 []„Dieser Fetzen verlangt unter Beschimpfungen meinen Rücktritt vom Lehramt. Sie leugnen, daß er vom Schülerrat an mich gesandt sei, wollen den Schreiber nicht kennen,bezweifeln, daß er zu Ihnen gehöre! Können Sie aber auch leugnen, daß diese Unverschämtheit in Ihrem sogenannten Schülerrat besprochen, daß meine Entlassung dort verlangt worden ist, daß Sie also doch hinter dem Feigling stehen, der mir den Wisch gesandt hat?“

Herrn Olafs Gesicht glühte; alle Adern an seinem Halse waren angeschwollen, die Hände umklammerten die Stuhllehne und seine Blicke waren so durchdringend auf Weber gerichtet, daß dieser unwillkürlich einen Schritt zurücktrat und mit der Antwort zögerte. Man sah, wie es auf seinem Gesicht kämpfte. Schließlich gab er sich einen Ruck, sah rasch den langen Benjamin an, der wieder dastand, als ob ihn alles nichts anginge, streifte mit schnellem Blick Oppenheims verschmitzt lächelndes Gesicht und sagte entschlossen:

„Nein, Herr Professor, wir können und wollen es nicht leugnen, daß Ihr Rücktritt von Allen erwünscht wäre und daß im Schülerrat davon gesprochen wurde “

Herr Olaf sank dabei in seinen Sessel und schaute Weber, den er für seinen treuesten Schüler gehalten, mit dem gleichen Blick an, mit dem Cäsar sein „Auch du,Brutus“ begleitet hatte. Der neue Brutus aber milderte seine Stimme:

„Aber, Herr Professor, ein Antrag das zu fordern wurde verworfen; denn wir wollen uns doch nicht ins Maßlose verlieren.“

Rektor Friedrich nickte beifällig und schaute seinen Kollegen an, als wollte er sagen: „Sind dies nicht prächtige Leute, diese Jungen!“ Zugleich griff er nach dem Drohbrief, den Herr Eysenstuckh wieder auf den Tisch geschleudert hatte, und las ihn kopfschüttelnd nochmals durch.

Weber aber nahm nun auch wieder seinen Bogen auf und wandte sich an den Rektor:

1405 []„Wir konnten allerdings nicht verhindern, daß im Schülerrat ein anderer Antrag mit großem Mehr durchging, daß nämlich bei den Herren Professoren und Lehrern,die es nicht mehr für nötig halten, sich auf ihre Stunden vorzubereiten, auch die Vorbereitung unsererseits verweigert wird.“

Rektor Friedrich nickte wieder und sagte wohlwollend:

„Ja, ja, mein junger Freund, an sich finde ich Ihren Vorschlag so übel nicht; es ist sicher, daß ein gleichgültiger Lehrer auch Gleichgültigkeit bei den Schülern hervorruft.Das war zu unserer Zeit schon so, wenn wir auch keinen PräparationsStreik organisierten. Wir waren noch etwas weniger organisatorisch veranlagt als Sie, meine Herren.“Er schmunzelte ganz vergnüglich, offenbar in Erinnerung an eigene Schülerzeiten, dann aber wurde er bedenklich und ernst und warnte:

.Die Schwierigkeit ist nur die, wie Sie feststellen, so gründlich feststellen wollen, daß es für eine organisierte Gegenmaßregel genügt, welche unserer Herren es an genügender Präparation fehlen lassen. Welches gefährliche Kontrollrecht maßen Sie sich da an!“

Der gute Rektor Friedrich war selbst so gewissenhaft,daß jede seiner Unterrichtsstunden ein kleines, in sich abgeschlossenes Kunstwerk war, und er doch immer nicht ganz befriedigt war, noch immer meinte, er hätte den Stoff noch besser durcharbeiten, die Form der Darbietung noch besser den Schülern anpassen sollen. So fürchtete er,der am besten Vorbereitete im ganzen Lehrkörper, für sich die den unvorbereiteten Lehrern gedrohte Maßregel und nahm an, es werde allen Kollegen gehen wie ihm. Die Abordnung erriet diese Besorgnis gut genug und Oppenheim,der trotz all seiner sonstigen Frechheit für die wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit und Bescheidenheit Rektor Friedrichs eine wahre Hochachtung hatte, fühlte sich gedrungen,ihn zu beruhigen.

„O, Herr Rektor, das ist so schwer nicht, wie Sie glauben. Unsere Drohung richtet sich übrigens vor allem

147 []gegen einen Herren, und das ist, ich muß es sagen, Herr Professor Eysenstuckh.“

Herr Olaf warx erblaßt, als Weber vom PräparationsStreik begonnen hatte, nun als geradeheraus sein Name genannt wurde, sagte er scharf:

„Das ist eine Frechheit, Oppenheim! Wie können Sie beweisen, daß ich “

Der Jude grinste wieder und sagte:

„O, ganz einfach, Herr Professor! Dadurch, daß ich von meinem ältern Bruder ESie erinnern sich: Julius Oppenheim!) ein Geschichtsheft von vor zehn Jahren geerbt habe.Das stimmt wörtlich mit ihrem heutigen Vortrag, und wo mein liebes Bruderherz an den Rand schrieb: Witz!, genau an derselben Stelle reflektieren Sie, geehrter Herr Professor, auch heute noch auf unsere Heiterkeit. Wir können doch nicht annehmen, daß Ihr seit Jahrzehnten gleicher Vortrag die Frucht stets erneuter Vorbereitung mit stets dem wörtlich gleichen Ergebnis sein sollte. So schwach sind Sie nicht, Herr Professor, und wir auch nicht!“

Oppenheim hatte das Alles so gelassen und ruhig, mit so überlegenem, vernichtendem Hohn gesagt, daß Herr Olaf wieder jäh erblaßte.

Waos er sich selbst mit Absicht stets verhehlt hatte, was er unter gehäufter wissenschaftlicher, kirchlicher, geselliger,politischer, gemeinnütziger Arbeit sich und Andern verborgen hatte, seine seelenlose Routine in seinem eigentlichen Lebensberuf, für den er besoldet war, das lag nun vor ihm,vor seinem Vorgesetzten, der ihn erschreckt betrachtete, vor seinen Schülern, die ihn verächtlich anschauten, offen, aller Hüllen entblößt, ausgesprochen, zum ersten Mal ausgesprochen von einer andern Stimme als der seines stets wieder beschwichtigten Gewissens. Und es war wahr, unbestreitbar, unleugbar wahr!

Aber es war noch nicht genug. Nun wandte sich auch René Benjamin an den Rektor. Er redete nicht frech, höhnisch,überlegen wie Oppenheim, sondern zurückhaltend, bedauernd und bescheiden. Umso vernichtender war seine Anklage:

144 []„Herr Rektor, gestatten Sie mir noch einen Beweis,weshalb wir uns genötigt sehen zu bezweifeln, daß Herr Professor Eysenstuckh sich auf seine Stunden vorbereite.Herr Professor Eysenstuckh gibt in unserer Klasse Deutsch und hätte doch wohl zu bestimmen, was in seinen Stunden getrieben werden soll. Tatsächlich aber muß ich sagen, daß wir bestimmen. Legen wir zu Beginn der Stunde das Lesebuch auf, so haben wir Lektüre und Deklamation, legen wir die Grammatik auf, was seltener geschieht, so gibts Sprachlehre usw. Der Herr Professor hat es wohl noch kaum bemerkt.“

Der Angeklagte starrte seine jugendlichen Ankläger voll Entsetzen an. Nein, wirklich, das hatte er noch nie bemerkt. Wenn er sich seiner Geistesfrische gefreut hatte,mit der es ihm stets gelang, eine, wie er glaubte, anregende Unterrichtsstunde aus dem Aermel zu schütteln, so war er dabei der Spielball seiner Schüler gewesen! Wie ihn das kränkte und verletztel Wie ihn die hilflos verlegenen Blicke Rektor Friedrichs trafen! Aber sie sollten nicht merken, wie er getroffen war, wie er sich schämte, wie seine ganze mühsam aufrecht erhaltene eigene Pädagogenherrlichkeit in sich zusammenrasselte! Er wollte sich noch nicht verloren geben.Er durfte es nicht. Seine Stimme verriet kaum noch etwas von seiner innern Erregung, so bemeisterte er sich, als er nun erwiderte:

„Was die Herren hier vorbringen, soll meine vorgesetzte Behörde, Herr Rektor, untersuchen; ich werde die Beweise für meine gewissenhafte Schulführung vorlegen. Hier gehe ich auf all den Unsinn nicht ein, sondern verlange zu allererst, daß der Name des Schülers, der mich hier beschimpft hat, ermittelt wird, daß der Schuldige ausgeschlossen und die hinter ihm Stehenden ebenfalls angemessen bestraft werden. Das verlange ich, Herr Rektor!Und bevor das geschehen ist, darf auf nichts Anderes eingegangen werden!“

„So sind wir wohl entlassen?“, fragte Weber, „denn bei dieser Untersuchung haben wir nichts zu tun. Ich kann

49 []nur noch einmal sagen, daß uns, den Beauftragten des Schülerrats, gar nichts von diesem Briefe bekannt ist, und daß wir als sicher annehmen dürfen, daß sein Verfasser nicht in unsern Reihen zu finden ist. So dumm ist keiner von uns!“

„Wird sich zeigen, meine geehrten Herren“, sagte Herr Olaf höhnisch, „ich bitte Sie höflichst hier zu bleiben, bis die Untersuchung etwas ergibt; ich nehme an, es gehe Sie dann vielleicht doch etwas an?“

Er wies den drei Schülern, die bisher gestanden,Stühle an. Rektor Friedrich blickte ihn wieder gänzlich hilflos an; er hatte keine Ahnung, wie nun die Untersuchung geschehen solle. Aber Herr Olaf holte nun in ruhigster Art zu einem kleinen Vorträglein aus: „Herr Rektor, wenn es Ihnen vielleicht schwierig scheint, ohne weitere Anhaltspunkte als die negativen Aussagen dieser Herren, die Untersuchung zu einem Ergebnis gelangen zu lassen, so darf ich wohl bemerken, daß ich einen Weg entdeckt habe, der zum Ziele führen könnte. Beobachten Sie,geehrter Herr Rektor, die Orthographie dieses Schriftstücks:gewarnt mit einem h, Konsequenz mit kw. Erinnern Sie sich, was Sie neulich in unserm Lehrerzimmer über Orthographie bemerkten; Sie sprachen da von einem Schüler,der dasselbe Wort in derselben Weise geschrieben habe.Sollten Sie sich etwa an den Namen dieses Schülers erinnern, so wäre wohl die Rätselfrage nach dem Urheber dieses Briefes gelöst?“

Oppenheim lachte; Herr Olaf fragte mit Inquisitorenmiene:

„Was lachen Sie, Oppenheim? Können Sie etwas sagen. so sprechen Sie!“

„Herr Professor, was mir eben durch den Kopf fuhr,kann ich ohne Verdächtigung eines wohl ganz Unschuldigen nicht sagen; darum gestatten Sie mir zu schweigen“. antwortete Oppenheim.

„Konsequenz mit K, w, e, n, tz!“, sagte Rektor Friedrich vor sich hin; „ja so hats einer. in der Sekunda glaub'

150 []ich geschrieben und ich hab' meinen Spaß dran gehabt!Wenn ich jetzt nur noch wüßte, wers war. O, jemine, mein altersschwacher Kopf.“

Er schüttelte ihn, zog die Stirne kraus und glättete sie, als ob er den Namen aus der Hirnschale herausreiben wollte, zog sein Taschentuch, brauchte es umständlich und stieß beim Wiederversorgen des Tuches auf etwas Hartes in der Tasche, so daß er nun erfreut rief:

„Halt, mein papierenes Gedächtnis! Vielleicht, vielleicht find' ichs. Die lustigsten Sachen schreib' ich aufl“

Er kramte ein dickes Notizbuch heraus, blätterte aufgeregt drin herum, fuhr endlich auf einer Seite mit dem Zeigefinger herunter, rief erst ein beglücktes Heurekal“,ließ ihm aber sofort den Schreckensruf: „Ums Himmelswillen!“ folgen, so daß Herr Olaf sich über das Notizbuch beugte, und als er sah, wo des Rektors Finger lag, ebenso erschreckt ausrief:

„Unmöglich, rein unmöglich. Sie müssen sich getäuscht haben!“

Oppenheim beugte sich vor und flüsterte Weber etwas zu, dann erhob er sich:

„Wenn es erlaubt ist, ihren Notizen, Herr Rektor, mit meiner Erinnerung zu Hilfe zu kommen, so wäre der Sekundaner, den sie neulich auf den drolligen Orthographiefehler aufmerksam machten, der einzige Schüler unserer Klasse gewesen, der dem Schülerrat ganz fern steht?“

„Wer ist das?“ schrie ohne im Geringsten zu überlegen Herr Eysenstuckh.

„Ihr Sohn, Herr Professor,“ sagte kühl der Jude.

Nun verlor Herr Olaf fast die Besinnung. Er stürzte zur Tür, rief mit gellender Stimme seine Söhne, so daß mit ihnen die erschreckte Mutter hereinkam und als sie den Rektor und die Schüler sah, verblüfft unter der Türe stehen blieb. Der Vater packte Lorenz am Arm, riß ihn zum Schreibtisch, hielt ihm den Brief unter die Augen und rief in höchster Angst:

„Das hast du doch nicht geschrieben. Lorenz?“

151 []Lorenz schlotterte und stammelte:

„Nein, gewiß nicht, Vater, ich habs der Philipp hat !

Da hatte ihn auch schon Philipp am Hals und ließ einen Faustschlag in sein Gesicht fahren:

„Lügner, elendiger, erbärmlicher Feigling! Jetzt soll ichs gewesen sein! Freilich hast du's zusammengeklebt und mir zum Hinlegen gegeben. Sag, noch einmal “

Herr Olaf sank in den Stuhl und hielt beide Hände vor dem Gesicht. Ein dumpfer Schrei entrang sich seiner Brust.Philipp ließ den Bruder los und beide standen ganz verdattert da. Kaum weniger erschrocken über das Erlebte waren Rektor Friedrich und die Abgeordneten des Schülerrats. Frau Justine eilte auf ihren Gatten zu:

„Olaf! Um Gotteswillen, was ist? was gibts?“

Nach einer Weile erhob sich Herr Olaf. Er war totenblaß, schien um zehn Jahre älter, und seine selbstbewußte Haltung war wie abgefallen. Doch sagte er mit ruhiger,unheimlich ruhiger Stimme:

„Herr Rektor, meine beiden Söhne, Lorenz und Philipp, treten heute aus dem Gymnasium aus. Meine übrigen Entschließungen in dieser Sache werde ich Ihnen demnächst schriftlich mitteilen.“

Klaus Weber, René Benjamin und Franz Oppenheimer erhoben sich, grüßten und verließen das Zimmer,Rektor Friedrich murmelte etwas, das wie „Emma“ klang,suchte ein Weilchen verzweifelt seinen Hut, fand ihn und zog sich in furchtbarer Verlegenheit mit tiefen Verbeugungen zurück.

Drei Tage später stand in der Stadt-Zeitung eine kurze Notiz:

„Wie wir vernehmen, hat Herr Professör Dr. Olaf Eysenstuckh bei der Erziehungsbehörde seine Entlassung von seiner Lehrstelle nachgesucht, um im Auftrag der städtischen Wohlfahrtsgesellschaft die Neuordnung ihres gesamten Archivs zu unternehmen und auf das bevorstehende zweihundertjährige Jubiläum die Geschichte der

152 []Wohlfahrtsgesellschaft und der Amadeus-BenjaminStiftung zu verfassen. Unser Gymnasium verliert in ihm einen seiner bewährtesten und tüchtigsten Lehrer, der es verstand,ganze Generationen unserer Jugend tief in das Wesen der Geschichte einzuführen, und dessen anregenden Unterricht und erprobte Erziehertätigkeit man an unserm Collegium humanitatis schwer vermissen wird. Anderseits können wir dem Vorstand der Wohlfahrts-Gesellschaft nur Glück wünschen, daß es ihm gelungen ist, eine Kraft von der Bedeutung Herrn Professor Eysenstuckhs für die Erforschung und Darstellung der Gesellschafts-Geschichte zu gewinnen.“

Wieder einige Tage darauf tagte im Bärengrimm der Schülerrat des Gymnasiums. Die Teilnahme an den Verhandlungen ließ zu wünschen übrig. Einige Stimmen wurden laut, es habe nun eigentlich nicht mehr viel Sinn,alle Abend zusammenzuhocken und einander anzutönen.Die Hauptsache sei nun erreicht und man könne den Schülerrat auflösen. Der Antrag wurde zwar abgelehnt; immerhin aber statt der nächsten Sitzung ein gemeinsamer Nacht-bummel verabredet. Vom Gipfel des Hochweidenkopfs loderte wirklich in der nächsten Nacht ein gewaltiges Freudenfeuer ins Land, um das wilde Gestalten tanzten. Weitere Sitzungen des Schülerrats fanden in der Folge keine mehr statt.


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TextGrid Repository (2023). Swiss German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-gsw). Herr Wäggerlin / Ahnenspinat / Schülerrat (Erz): ELTeC Ausgabe. Herr Wäggerlin / Ahnenspinat / Schülerrat (Erz): ELTeC Ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001D-4694-B