Erstes Capitel.
Der Sommerabend leuchtete über den See. Lustig rauschte der frische Lstwind daher und blähte die weißen Segel auf, die hier und da über den See geschwommen kamen. An dem Mäuerchcn hart am Wasser sprangen die Wellen hoch auf und spritzten den weißen Schaum bis zum Rand empor, wo zwei Kinder saßen, Mädchen von 10 bis 11 Jahren, die bemüht waren, ihre glühenden Gesichter in dem frischen Schaume abzukühlen. Ringsum im Grase unter den hohen Pappeln und am Rande des Kieswegs saßen die Gruppen der Gespielinnen, sichtlich erschöpft vom fröhlichen Rennen und Jagen, und nun, je nach Anlage und Bedürfniß, still oder laut die wohlthuende Pause genießend. Trüben im dichtbelaubten Gartenhaus saßen die Lehrerinnen, die mit gekommen waren, das Fest zu feiern, eben jetzt aber, ihres Amtes eingedenk, mit ernsten Worten das Wohl der Schule besprachen.
Ein Ferientag hatte die Kinder zu fröhlichem Spiel Verschollen ic. 1 [] versammelt, es war das alljährliche Fest des „Lusrigmacheiis"' wie es genannt wurde.
Tie Freundinnen auf der Mauer hatten schon eine Weile lang schweigend da gesessen, ihre Gesichter waren längst abgekühlt.
Nannt), die kleine, gewandte, mit den etwas struppigen Locken und dem künstlerisch umgeworfenen Jäckchen, folgte den Blicken der neben ihr sitzenden Freundin Hellt); sie waren schon längere Zeit unverwandt auf die hohe Pappel gerichtet, an deren Stamm gelehnt eines der Mädchen in Gedanken versunken stand.
Tie hohe, schlanke Gestalt, der Ausdruck, das ganze Wesen der Staunenden schienen auf ein vorgerückteres Alter hinzuweisen, als das der anderen Kinder, und doch wäre diese Annahme wohl irrig gewesen, da sie alle zu derselben Klasse gehörten, und diese Schülerin unter jüngere, denn sie selbst war, unmöglich konnte eingereiht worden sein.
Das Mädchen schaute mit den dunkeln Augen wie träumend über den See hin. Das reiche, braunlockige Haar spielte um ihr warmes Gesicht und ringelte sich weit über die Schultern herab.
„Hab' ich dir s nicht gesagt, daß sie anders ist als alle Andern?" sagte jetzt Nanny, die Freundin aus ihren: stillen Staunen weckend. Tas war gerade, was Hetty dachte. Den ganzen Abend schon hatte sie mit unermüdlicher Aufmerksamkeit jede Bewegung des Mädchens verfolgt, das sie [] 3 heute zum ersten Mal sah, denn noch war es nicht lange her, daß Olga zu diesem Kreise gehörte, und Hetty selbst war darin nur ein vorübergehender Gast, eingeführt von Nanny, der nahen Freundin, bei der sie oftmals wie auch heute, sich als Besuch aufhielt. Hetty lebte nicht in der Stadt, wohin die Mädchenschule gehörte, ihr Vaterhaus stand draußen im grünen Hügelland.
„Wenn ich nur zeichnen könnte wie du", sagte Hetty, „ich würde jetzt gleich Olga abzeichnen und für mich behalten. Sieh', wie sie dort steht! Sie gefällt mir so gut, da, zeichne sie doch schnell hin!"
Hetty hatte ein kleines Notizbuch hervorgezogen und hielt es Nanny hin.
„Kann man nicht", entgegnete diese mit Kennermiene. „Siehst du, jetzt ist das Gesicht schon wieder ganz anders, und jetzt wieder! Siehst du wohl? Ich will dir sagen, Hetty, wie Olga geht und steht und wie sie die Arme bewegt und den Mund, und wie sie alles sagt, das ist das Netteste an ihr, das kann man nicht zeichnen."
Was das Netteste war. wußte Hetty gar nicht, die ganze Erscheinung hatte einen Zauber, der sie vollkommen fesselte, so daß sie nicht einmal Worte finden konnte für alle die Fragen, die in ihr aufstiegen über dieses unerklärlich fest bannende Wesen. Endlich, vor lauter Fülle, kam die nüchterne Frage heraus: „Habt ihr Alle sie gern in der Klasse?"
„Ob mir sie gern haben", versetzte Nanny ziemlich ent- 1 * [] 4 rüstet, „wir sind immerfort Alle im Streit, wer mit ihr und neben ihr gehen und sitzen dürfe, und wer ihre beste Freundin sei; jetzt bin ich sie aber!" Und Nanny setzte ihren Kopf etwas höher aus im Bewußtsein ihrer Stellung.
Hetty hörte mit größter Spannung die Mittheilungen an. Bis jetzt hatte sie zwar die Stelle der besten Freundin bei Nanny versehen und sich von dieser wiederum dieselbe versehen lassen, doch begriff sie vollkommen, daß, wo Olga eintrat, jede Andere weichen mußte. Indessen mußte dieser Gedanke an die ältere Freundschaft soeben auch in Nanny aufgestiegen sein.
„Weißt du", fügte sie hinzu, „deswegen bin ich doch auch deine beste Freundin geblieben, das kann ich Beides sein."
Hetty war's recht so.
„Und siehst du", fuhr Nanny fort, „alle Menschen müssen sie gern haben. Die Lehrer sind alle partheiisch für sie, und wir werden nicht einmal böse darüber. Sie ist aber auch in Allem geschickt; du solltest nur ihre Aufsätze lesen, und du solltest sie erst deklamiren hören! Du hast keinen Begriff davon!"
Nein, Hetty hatte keinen Begriff davon, nur Staunen und eine wachsende Bewunderung. Immer höher stand vor ihren Augen das Wesen da, das sich drüben an die Pappel lehnte.
„Hat sie auch Fehler?" fragte jetzt Hetty fast ängstlich.
„Nein, nein!" antwortete Nanny beruhigend. „Alles, [] Was nicht schön ist nnd nicht besonders und ganz perfekt, das ist ihr zu gering. Sie zankt auch nie, sie sieht dich nur an, wenn du ihr etwas zu Leide thust und sagt: .Gering!' nnd kehrt dir den Rücken, aber dann für länger." Hctty war außerordentlich froh, daß Olga keine Fehler hatte; das ideale Bild, das vor ihr stand, hätte sie nicht gern durch einen Flecken verdorben gesehn.
Olga war von der Pappel weggegangen und hatte sich in der Gruppe der Kinder verloren, die um einen alten Baumstamm sich gesammelt hatten, den Epheu davon weg- znlösen und Kränze und Kronen daraus zu schlingen.
Hctty hatte sich dem See zugekehrt nnd schaute in die Wellen, die nun leiser nnd leiser heranplätscherten im stiller werdenden Abendwind. Wo das Mäuerchen aufhörte und das Ufer weniger abschüssig war, da stand ein alter Weiden- banm am See; seine langen Zweige hingen tief hinunter bis in's Wasser und wiegten sich auf den sonnigen Wellen.
„Sieh mal, Nanny", sagte nach einer Weile Hetty, „was sitzt dort unter der Weide nnd schimmert so roth, siehst du's?"
„Freilich seh ich's", lachte Nanny, „und das rothe Jäckchen kenn' ich auch. Von hier sieht's aus wie ein Herrgotts- käferchen im Gras, aber es ist das enorm komische Mädchen von da hinten im Lande. Es gehört nicht zur Schule; weil es zu Besuch ist bei einem der Mädchen von der Klasse, ist es mit eingeladen worden.
[]6 „Hör' Nanny", sagte Hetty etwas kriegerisch, „nennt Jt Ihr mich auch ,das enorm komische Mädchen', wenn ich nicht dat dabei bin? Ich bin ja auch von da hinten oder doch von In da oben im Lande."
„Ich denke, du wüßtest dich zu wehren, wenn wirwir's probierten", entgegnete Nanny schlagfertig; „aber da kann in ich nicht hclsen, an diesem Mädchen ist Alles komisch von ob> oben bis anten und dazu noch dieser Name! Wer wird dei denn Martine heißen!"
So hieß das Mädchen wirklich, das einsam im rothwthen Jäckchen dort unter der Weide saß.
In Hetty's Herzen stieg eine rege Theilnahme auf fi für den Fremdling. War sie selbst auch nah befreundet mit dt der gescllschaftssichern Nanny und durch sie mit dem ganzcinzen Kreise der kleinen Städterinnen, so hatte sie doch ein Ve Ver- ständniß und ein sympathisches Gefühl für die scheue MaMar- tine, die sich heilte zum ersten Mal unter der lebendigengen Schaar der schmucken Stadtmädchen befand.
Hetty sprang von der Mauer und ging der Weide zi zu. Sie hatte Martine vorher nicht gekannt; nur bei den Spieleielen des heutigen Tages war sie etwa in ihre Nähe gekömmennen, hatte ihr auch, ihrer ganzen Erscheinung nach, gleich das Kinstind vorn Lande angemerkt, das nur vorübergehend zu dem Kreisreise gehören konnte. Als Hetty sich der Weide näherte, bemerkterkte sie, daß Martine, ihren Kops in die Hände drückend, leisleise weinte.
[]„Was fehlt dir, Martine?" fragte Hetty, zu ihr heran- trretend.
„Nichts" war die Antwort.
Der Kops blieb auf den Annen liegen.
Diese Sprache verstand Hetty.
„Nichts", hieß in solchen Fällen ja auch bei ihr, wie beei allen andern Kindern gerade so viel als: Es geht mir soo tief, daß ich's gar nicht sagen will.
Hetty setzte sich neben Martine auf den Grasboden nnd söchaute eine Zeit lang in's Wasser, auf dem die Weidenzweige leeise hin- und herschwammen. Martine weinte fort.
„Hast du Heimweh, Martine?" frug Hetty wieder an.
„Nein."
„Hat dir Jemand Etwas zu Leide gethan?"
„Nein, gerade im Gegentheil."
„So. Etwas zu lieb gethan?"
„Nein, nicht so."
„Was denn gethan?"
„Gar nichts gethan."
Hier gewann Hetty's angeborene Heiterkeit die Oberhand, sffie brach in ein lautes Lachen aus. Erstaunt hob Martine dden Kopf in die Höhe, und plötzlich angesteckt von der Heiterkeit, stimmte sie laut mit ein, während sie noch die Thränen ^wegzuwischen hatte.
„Es ist wie ein Räthsel, Martine, komm, ich will's gleich er- rrathen", sagte Hetty, sich zum Nachdenken in Bereitschaft setzend.
[]8 „Nein, nein!" rief Martine abwehrend, „es ist gar nichts- Lustiges, rathe nur nicht. Ich würde dir's schon sagen„ aber du würdest nur lachen."
Hctty versprach, durchaus nicht zu lachen, auch nicht einmal Lust zum Lachen wollte sie bekommen.
„Und siehst du, Martine", sagte sie überzeugend, „du kannst wohl Zutrauen zu mir haben, ich bin zu dir hierher: gekommen, weil es mir leid that, daß du so allein hier unter der Weide sitzest."
„So will ich dir's sagen", sagte Martine entschlossen.
„Siehst du, diesen ganzen Nachmittag hat mich Olga nicht ein einziges Mal gerufen beim Spiel und nur auch nicht ein Mal den Ball geworfen und mich auch gar nie angeschn, und ich weiß schon warum; sie wird mich auch ihr Leben lang nie ansetzn, und doch wollte ich gern auf der Stelle für sie in's Wasser springen, wenn sie nur wollte; aber sie will Nichts von mir, und ich weiß schon warum."
Martine hielt inne, vor Bewegung hatte sie ganz den Athem verloren.
Hctty war sehr erstaunt. Tiefen Grund der Traurigkeit hatte sie nicht erwartet, noch viel weniger die leidenschaftliche Erregung der stillen, scheuen Martine.
„Aber was kann Llga nur gegen dich haben, wenn du sie doch so gern magst?" fragte Hctty, während ihr Erstaunen theils in Neugierde, theils in Theilnahme überging.
[]„Das will ich nicht sagen, nie und keinem Menschen; frag mich nur nicht mehr." Und Martine kreuzte ihre Arme fest übereinander, als wollte sie den Riegel vorschieben.
Nun fing Hctty's rege Phantasie zn arbeiten an. Was konnte das Ungekannte sein, das Martine nie aussprechen würde und das Olga so gänzlich von ihr abgeschreckt hatte.
„Martine, hast du etwas Furchtbares gethan?" fragte sie mit gedämpfter Stimme, denn drohende Bilder unbestimmter Unthaten schwebten ihr vor.
„Gar Nichts habe ich gethan", antwortete Martine trocken.
„Ja, was ist denn das für ein Geheimniß?" rief Hetty jetzt ungeduldig aus.
Martine gab keine Antwort.
„Nun weiß ich, was ich thue", rief Hetty, „ich laufe hin und frage Olga selbst." Sie sprang auf. Aber auch Martine war aufgesprungen, mit kräftigem Arm hielt sie Hetty fest und sagte in großer Aufregung: „Nein, nur das nicht; lieber sage ich's selbst."
Sie zog Hetty auf ihren Sitz zurück. „Komm, ich will's sagen, aber du sagst Olga nie, nie Etwas von Allem, was wir zusammen geredet haben."
Hetty versprach. Wieder unter der Weide sitzend, kehrte Martine ihren Rücken gegen Hetty und sagte abgewendet: „Darum kann sie mich nicht leiden, weil ich so häßlich bin."
„Ach was", rief Hetty ganz enttäuscht aus, „das ist ja [] 10 gar Nichts! Wie kannst du nur auf solches Zeug gerathen? Komm, laß mich mal recht sehn, kehr dich um!"
Martine gehorchte.
„Tu bist ja gar nicht so häßlich, nur ein wenig chinesisch, aber das schadet ja Nichts, im Gegentheil, es sieht ganz gemüthlich aus.
„Hast du denn nicht gehört, wie oft sie sagt: .Gering', wenn ihr Etwas nicht gefällt und sich ganz abwendet davon?" sagte Martine inimer noch in Aufregung. So denkt sie auch von mir, ich sei gering, und sie hat Recht.
„Das ist nicht so gemeint", rief Hetty, „das kann ich dir sagen, du hast ja Nichts gethan, das ihr mißfiele. Nun komm und sei wieder lustig!" Damit zog Hetty die zögernde Martine vom Boden auf. „Komm, wir wollen auch wieder mitspielen; du hast dir nur Etwas eingebildet, am Ende kannst du noch Olga's beste Freundin werden."
Bei diesen Worten flog ein hohes Roth über Martinens Wangen. Die Sache mußte ihr recht tief gehn; Hetty sah es wohl und die einfache Martine gewann immer mehr Platz in ihrem Herzen.
Die Beiden gingen den Pappeln zu, wo die andern Mädchen längst wieder ihre Spiele begonnen hatten und die Ankömmlinge verwundert begrüßten.
„Ihr seid wenigstens eine Stunde lang fort geblieben", rief eins der Mädchen ihnen zu.
„Eine Freundschaft unter einer Trauerweide! darüber [] 11 kann man ein Trauerspiel schreiben", bemerkte die schnippische Malwine. Eben wallte Hetty ihr eine passende Antwort aufsetzen, als Olga sehr lebendig ausrief: „Das gefällt mir! Das gefällt mir! Eine Freundschaft ist etwas Schönes. Wir wollen auch nicht mehr herumrennen , wir wollen gleich Comödie spielen. Wer spielt mit?"
Der Vorschlag wurde bon allen Seiten mit Begeisterung ergriffen, Comödie sollte gespielt werden.
„Und ich weiß auch schon, was wir spielen wollen, eben habe ich mir's ausgedacht", fuhr Olga eifrig fort. „Wir spielen die Bürgschaft; das Stück wird so schön werden, gleich will ich die Rollen vertheilen."
„Wir wollen doch etwas Lustiges spielen", fiel Malwine ein, „nicht immer solche Sachen, die kein Mensch kennt. Wir wollen das Stück spielen vom Eierdieb und der Frau Wirthin zur goldenen Gans."
„Gering", sagte Olga verächtlich und kehrte der Sprecherin den Rücken zu. „Wer spielt mit mir die Bürgschaft? Ihr Beiden doch?" Olga hatte sich zu Hetty und Martine getvandt.
Beide waren damit einverstanden.
„So kommt!" Olga stellte sich vor sie hin. „Ich will also der Tyrann sein, denn ihr wollt natürlich die Freunde vorstellen. Welcher Freund willst du sein, Hetty?"
„Es wäre besser so", entgegncte diese: „ich bin der [] 12 Tyrann, du bist der mit dem Dolch im Gewände, und Martine ist der Freund. Sie wird viel besser spielen, wenn sie für dich soll erwürgt werden, als für mich."
Ganz erstaunt richtete Olga ihre großen Augen auf Martine. „Warum?" fragte sie! Martine war dunkclrvth geworden, sie stand da wie eine Schuldige und blickte ängstlich nach Hetty, ob diese sie verrathen werde.
„Ich kann mir das schon denken", war Hctty's Antwort.
„Kommt, wir setzen uns dort auf das Mäuerchen und machen aus, was wir zu sagen haben." Damit nahm Olga Martine bei der Hand mit einer Freundlichkeit, die Jedem das Herz abgewonnen hätte. Welchen Eindruck mochte sie auf Martine machen! Nun saßen sie auf der Mauer und Olga schickte sich an, die ursprünglichen Worte der Ballade so gut als möglich zu vervielfältigen, denn treu beim Original bleibend, schien das Stück als Drama etwas knapp ausfallen zu wollen. Olga entwarf, deklamirte, verwarf, erfand neue Dinge und warf Alles wieder über Bord.
„Nein, es ist alles zu gering", rief sie aus, „wenn ich's doch nur sagen könnte, so wie ich es inwendig höre. Wenn ich nur die schönsten Worte wüßte, die es gibt! Ich weiß die Sachen so schön und wenn ich sie in Worten sage, so sind sie gar nicht mehr gleich, es ist, wie wenn ich sie verdorben hätte. Wollt Ihr mir nicht suchen helfen, JhrBeiden ?"
„Ich weiß gar Nichts von dieser Geschichte", sagte Martine schüchtern.
[]13 „Ach so! Tann will ich gleich einmal das ganze Gesicht hersagen, soll ich?" Olga schaute die Beiden fragend an. Wie gern wollten diese es anhören.
Olga begann. Immer wärmer, immer bewegter kamen die Worte aus ihrer Seele heraus; sie erlebte, was sie vortrug.
Als die Hemmnisse kamen, die den Geängsteten aufhielten, sprang sie von der Mauer herunter, sie mußte mit, sie eilte athemlos.
„Da schimmern in Abendrothsglutheu von ferne die Zinnen von Syrakus."
Ihre Stimme bebte vor innerer Erregung; einen Augenblick hielt sie inne; dann in den weichsten Tönen tiefen Mitempfindens hanchte sie die rührenden Worte des Wiedersehns der zum Tode getreuen Freunde und des erweichten Tyrannen hervor.
Jetzt schwieg die Stimme. Hetty saß regungslos da. Der Martine liefen die hellen Thränen die Wangen herab. Olga stand an die Mauer gelehnt, bleich vor Erregung. Keines sagte ein Wort.
Die Sonne war im Untergehn. Ein glühendes Roth ergoß sich über die fernen Schneefelder und warf den hellen Schein auf alle Hügel nieder. Wie flammendes Gold leuchtete es über den See hin; auf allen weißen Segeln schimmerte der feurige Widerschein, als hätte der Himmel all seinen Glanz über die Erde ausgegossen, so lag sie da im [] 14 funkelnden Sonnengold. Es war ein kurzer Augenblick. Die Sonne verschwand, die Berge erbleichten, aller Glanz war erloschen. Aber auf einmal — wollte denn die Sonne zurückkehren ? — Im durchsichtigen Rosenroth erglühten noch einmal alle hohen Schncegipsel; wie in Verklärung standen sie da und schauten, neues Leben verheißend, in das sonnenverlaßne Thal hernieder. Nun war's vorüber. Blaß und kalt standen die Berge, grauer Schatten lag auf dem Thal. Mit mattem Plätschern kamen die Wellen zur Mauer heran, wie leise klagend um des Tages kurze Herrlichkeit.
Die Lehrerinnen hatten sich genaht und suchten ihre Hecrde zu sammeln. Eine von ihnen trat zu den Mädchen heran, die noch auf dem Mäuercheu saßen.
„Minder, wißt ihr, was ihr hier gesehn habt, wie man dies nennt?" fragte sie.
Was die Kinder gesehn hatten, wußten sie, wie man es nennt, wußten sie nicht; das Bedürfniß zu nennen war nicht in ihnen aufgestiegen: „Tics nennt man das Alpenglühen", erklärte die Lehrerin.
Tie Kinder sprangen von der Mauer herunter. Schon hatten sich die Reihen der fröhlich plaudernden Schaar in Bewegung gesetzt. Hand in Hand wanderten die drei neuen Freundinnen, den Schluß des Zuges bildend, der Stadt zu.
Troben stand die goldne Mondsichel, und flimmernde Sterne erschienen nach und nach auf dem dunkelnden Himmels- [] gewölbe. Eine Weile gingen die Drei schweigend neben einander her, Jede in ihrer Weise mit den Eindrücken des Tages beschäftigt. Plötzlich fragte Olga: „Bist du auch schon im Theater gewesen, Hetty?"
„Im großen Theater noch nie", antwortete Hetty mit sichtlich,»! Erstaunen. „Wie kommen dir aber die Sachen so merkwürdig in den Sinn! Eben. dacht' ich, wie schön es heut' war, Eins nach dem Andern und jetzt noch der schöne Mond und alle Sterne, daß man gar nicht heimgehen möchte."
„Gerade an dieß Alles habe ich auch gedacht", sagte Olga, „und so kam mir das Theater in den Sinn. Ihr solltet nur wissen, wie schön es da ist! Alle Menschen sind auch schöner da als draußen, und Alle sprechen so schön und sind viel besser und vornehmer, als sonst die Leute sind."
„Aber weißt du, Olga", sagte Martine etwas zaghaft erst, dann aber Muth gewinnend im Eifer des Redens, „es ist ihnen nicht Ernst, sie thun nur so dergleichen. Ich habe auch beim Fastnachtsspiel manchmal schon unsers Nachbarn Peter gehört seine schönen Sachen aufsagen, aber sonst flucht und schwört er immerfort und haut gleich drein."
„Nein, nein", fiel Slga eifrig ei», so sind nur die Geringen, ich kann dir s sagen, die Rechten sind gerade so wie sie reden, du hättest nur dieses Frühjahr die Dame sehn sollen, die hier stielte als Gast; sie war so, daß ich gar nichts Anderes mehr denken konnte, als nur an sie und [] 16 immerfort wünschte und auch jetzt noch, wenn ich nur so werden könnte.
„Gehst du oft in's Theater, Olga?" fragte Hetty.
„Ja, jede Woche", erwiderte sie, „und oft gehn wir zwei Mal. Es ist meine größte Freude, ich weiß gar nichts Schöneres."
„Aber heut' Abend auf dem Mäuerchen am See war's tzoch auch schön", sagte Hetty.
„O ja, gewiß", rief Olga einstimmend, „wir wollen auch gleich einen Freundschaftsbund machen um dieses Abends willen. Wollen wir? Willst du, Hetty?"
„Gewiß!" und Hetty schlug fest ein in die dargebotene Hand.
„Willst du auch, Martine?" wandte sich Olga freundlich an diese. Ob Martine wollte! Ob sie einen Freundschaftsbund mit Olga eingehen wollte!
Sie konnte kein Wort sagen, aber über ihr ehrliches Ge- !
ficht ging ein völliges Leuchten. Olga mußte es verstanden haben. Mit unvergleichlicher Anmut legte sie einen Arm um Martinens Hals, und den andern ihr hinhaltend, sagte sie: „So schlag ein!"
Treulich hatten die drei Menschenkinder, die sich heute zum ersten Mal gesehen, ihren Bund geschlossen für das Leben; aber morgen schon sollten sie auseinander gehen und Heines wußte, ob sie sich je wieder zusammenfinden würden, [] 17 Keines dachte auch nur daran; der Augenblick, in dem sie mit ihrem ganzen Wesen ausgingen, galt ihnen siir alle Zeit.
Tie Kinderschaar war bei der Brücke angekommen, hier schieden sich die Wege. Rechts und links wurden die Hände geschüttelt und nach reichlichen Ausrufungen von Abschied und Wicdersehn zerstreuten sich die kleinen Gruppen nach allen Seiten. Hetty folgte Nanny über die Brücke nach ihrem gastlichen Elternhanse.
Als Hetty am folgenden Morgen erwachte, lag es ihr ganz sonnig im Gemüthe, es war die Erinnerung an die gestern geschlossene Freundschaft. 'Sie besann sich über Alles und liest noch einmal den ganzen Abend an ihren Augen vorübergehen. Nun sie aber weiter nachdachte, um sich klar zu machen, wo die Freundinnen lebten und was uni und an zu ihrem Dasein gehörte, da fand sie sich ganz im Dunkeln: die Beiden standen für sie wie in der Luft, ohne Boden und Umgebung. Nanny mußte da Bescheid wissen. Sobald diese ihren Kops aus dem Kissen erhob, wurde sie mit Fragen bestürmt: wo stand das Haus, worin Olga wohnte? mit wem lebte sie? hatte sie auch Geschwister? Konnten sie denn nicht dazu gelangen, Llga noch zu sehn an diesem Morgen? Am Nachmittag war Hetty's Abreise festgesetzt, war da keine Möglichkeit sie irgendwo zu finden?
Nanny gab ziemlich lakonische Antworten. Olga lebte mit Vater und Mutter, wie Jedermann, meinte sie. Ge- Vertchollen ic. 2 [] 18 schwister hatte sie, aber viel ältere, sie lebten nicht mehr im Elternhaus, Nanny kannte sie nicht.
Tie Mädchen hatten sich unterdessen fertig gemacht, viel früher, als gewöhnlich, denn Hetty war in der Freude ihres Herzens in aller Frühe erwacht. Nun öffnete Nanny ihr Fenster.
„Kamm hierher, Hetty", sagte sie; „nun will ich dir erklären, wv Olga ist. Siehst du jenes hvhe Dach? Das ist ihr Haus. Nun denk dir unten den See, den kannst du nicht sehn, dort hinaus gehn die Fenster; au einem sitzt die Mutter in einem Lehnftuhl und ist krank immerfort, und hat eine weiße Haube auf und ist ganz weiß im Gesicht und spricht nur mit dem Hauch. Da muß man immer leise thun im Haus und wer nicht eine intime Freundin der Olga ist, der kommt gar nicht hinein. Es ist gar nicht so leicht, dahin zu kommen, wie du dir vorstellst, Hetty."
Daß es gar so leicht sein würde, zu Olga zu gelangen, hatte sich .Hetty eben nicht vorgestellt, nun schivand ihr alle Hoffnung, je dahin zu kommen. Sie schwieg und schaute nach dem Hause hin.
„Aber man sieht ja nur das Dach und vom Hause gar Nichts", sagte sie. „Wenn wir schnell vor dem Frühstück zum See hinüber kiesen und du zeigtest mir das Haus ganz in der Nähe?"
Der Vorschlag gefiel Nanny.
Tie runden Strohhüte auf den Kopf gedrückt; weiter [] 8 / 19 brauchte es Nichts, und die Kinder wanderten in den hellen Morgen hinaus.
„Und wo wohnt denn Martine?" fragte Hetty auf dem Weg.
„Ach, was weiß ich davon!" warf Nannt) hin. „Dort hinten in einem Dorf, wo nie ein Mensch hinkommt."
„Aber wie heißt es denn?"
Nannt) nannte den Namen.
„Oh", rief Hetty erfreut, „ich weiß gut, wo das ist, da komme ich hin, da war ich schon mit meinem Vater. Nun kaun ich Martine jedes Mal besuchen, wenn mein Vater dorthin fährt."
„Mag dir's wohl gönnen", war Nanny's trockne Erwiderung. Die Kinder waren am See angekommen, ein frischer Morgenwind wehte ihnen entgegen; am Ufer waren leichte Barken angebunden, die wiegten sich hin und her auf den Wellen. Das Wasser flimmerte weithin im Morgenglanz. Das .Haus stand nah am See. Hoch an die Mauer hinauf und rings um den Balcon herum schlangen sich dichte Epheuranken und hoben ihre glänzend grünen Blätter der Morgensonne entgegen. Die Thüre zum Balcon stand weit offen, die Sonne konnte tief in's Zimmer hinein scheinen; doch war Alles stille. Niemand war zu sehn.
Hetty war versunken in den Anblick des Schimmerns und Leuchtens von See und Himmel und des grünumkränzten Balcons da droben, wo Olga zu Hause war.
2 * [] 20 „Olga hat's gut", sagte Hetty, sich zu Nannt) wendend, die eifrig den Raupen nachspürte, welche in der hohen Gartenhecke sich finden muhten. „Aber man könnte sich's auch gar nicht denken, daß sie's anders haben sollte, nicht wahr, Nannt)?"
Nannt) nickte bejahend. „Tu mußt aber leise reden, dort ist das Fenster offen, wo Olga's Mutter sitzt, sie schläft nie und hört Alles."
„Fürchtest du dich vor Olga's Mutter?" flüsterte nun Hetty.
„Nicht gerade", antwortete Nannt) in derselben Weise; „aber da ist so etwas Vornehmes um sie herum, und sie thut selbst so leise, du solltest sie nur einmal sehn!"
In diesem Augenblick trat eine große Gestalt in langem dunkeln, Gewände auf den Balcvn heraus. Der Sonnenschein fiel auf das weiße Häubchen und das völlig weiße Angesicht der kranken Frau. Sie trat an die Brüstung des Balcons und schaute in den leuchtenden Morgen hinaus.
Die Kinder hielten den Athem an. Eine unnahbare Hoheit lag über dieser Stirn und die ganze Erscheinung ausgegasten. Nur tvenige Augenblicke blieb die Frau auf dem Balcon stehn, sie schaute noch einmal über den See hinauf, dann trat sie wieder in die Thüre.
„Siehst du wohl?" sagte Nanny leise; „käme es dir in den Sinn, in das Haus hinauf zu laufen, wo die Frau ist, und nach Olga zu rufen?" [] 21 Nein, das kam Hetty keineswegs in den Sinn. Aber sie zögerte nach auf dem Platze, trotz Nanny's entschiedenem Ausspruch: „Nun gehen wir", dem diese sogleich mit der That folgte. Noch immer stand Hetty, dann ging sie einen Schritt, dann stand sie wieder stille. Immer noch hatte sie gehofft, Olga werde irgendwo sichtbar werden, aber vergebens. Schon war Nannt) um die Ecke herum und schritt entschlossen vorwärts, Hetty mußte folgen. Sie konnte sich doch nun denken, wo Olga lebte, wie schön es da war, wie ihre Mutter aussah. Aber manche neue Frage stieg ihr nun wieder auf, diese leidende Mutter betreffend, dann den Vater, dann wieder Olga selbst; aber keine ihrer Fragen und Betrachtungen, die sie noch an Nannt) richtete, fand mehr Gehör bei dieser, sie war zu sehr mit ihren eignen Anliegen beschäftigt. Ihr Weg führte hier, außerhalb der Stadtmauer, an Gärten und Hecken vorbei, und Nannt) war von jeher eine Käfer-, Raupen- und Sommervögel-Freundin gewesen, auch Schnecken und allerlei Würmer regten ihren Forschungseifer an. So hatte sie auf jedem Schritt Etwas zu besichtigen und machte gewöhnlich einen Seitensprung, einem Busch oder einer Hecke zu, wenn^ Hetty eben eine Frage gethan hatte. Sehr unstät wurde dadurch die Unterhaltung, nicht aber Hetty's tiefgehendes Verlangen, das um so stärker einwurzelte, je weniger sie es auszusprechen vermochte, und als am Abend Hetty aus dem hohen Sitz des offnen Landwagens ihrer fernen Heimath zufuhr, da waren ihre Gedanken [] 22 ununterbrochen bei der Weide am See, auf der Mauer im Abcudscheül, unter dem Balcvn mit den reichen Epheuranken und vor Allem und immer wieder bei der wunderbar begabten Olga, die jedes Herz in ihren Zauberkreis hineinzog und mächtig darin fest hielt.
Zweites Capitel.
Hetty's Vater war Landwirth- seine vielfältigen Geschäfte, wie seine Interessen, führten ihn weit im Land umher; überall war der hohe Landwagen mit den kräftigen Braunen bekannt, der fast täglich zu sehn war, wie er, von sicherer Hand geleitet, über die waldigen Berghöhen dahinflog.
Schon länger war die Rede davon gewesen, daß der Vater die große Tour nach dem Torfe weit hinten im Land, wo Martine wohnte, machen sollte. Hetty wußte, daß sie ihn dahin, wie so oft auf seinen Fahrten, begleiten durfte. Sie freute sich in doppelter Weise darauf: Einmal war es ihr eine Freude, die warmherzige Martine wiederzusehn, dann hoffte sie leise, diese möchte ihr irgend welche Nachricht von Olga geben können, denn sie hatte Nichts mehr von ihr in Erfahrung bringen können, seit jenem Sommerabend am See, und doch war nun bald ein Jahr vergangen seither. Hetty war zwar iinmer in Correspondenz geblieben mit Nanny, wie es zwischen ihnen Sitte war, seit sie schreiben gelernt hatten; aber Nanny behielt auch in dieser Thätigkeit ihre [] 24 eigne Weise. Tiefe Correspondenz konnte eigentlich nicht mit Recht so genannt werden, denn sie bestand weniger aus Briefen, die sich gegenseitig antworteten, als vielmehr aus Schriftstücken, welche weiter in keiner Beziehung zu einander standen, sondern ganz unabhängig und unbekümmert aus- sprachen, was jeder der beiden Schreiberinnen gerade am Herzen lag. Hetty's Briefe enthielten Fragen auf Fragen, die sich alle in irgend einer Weise auf Olga bezogen. Nan- ny's Antworten berührten durchweg Gegenstände, die diesen Fragen durchaus fern lagen. Raupenfang und Entwicklung ?u Schmetterlingen, Spießen derselben zur Bereicherung der Sammlung; eine hinten im Hos angelegte Hühnerzucht mit besonderer Berücksichtigung des Gcbahrens der elf Küchlein, waren die Punkte, die Nanny in ihren Briefen behandelte; dennoch verlor Hetty ihren Faden nicht und fragte unermüdet weiter, bis endlich eine Antwort kam, eine Nachricht über Olga, aber welche Nachricht! Nanny wisse wenig mehr von Olga, diese sitze auf der hintersten, Nanny aber auf der vordersten Bank. Ihre beste Freundin war Nanny längst nicht mehr, was ihr aber kein Leid verursachte, denn es war eine neue Schülerin eingetreten, ein vorzügliches Mädchen, mit dem sich Nanny besonders befreundet hatte. Das Mädchen war in vielerlei Künsten bewandert, vornehmlich spielte es hinreißend die Mundtrommel. Tiefes kleine Instrument, das man zwischen die Zähne kneift und dem man, unter Bkitwirkung des Zeigefingers, jedwede Melodie in dumpf- [] 25 schnarrenden Tönen entlocken und dieselbe durch den eingehaltenen Takt erkennbar machen kann, war damals allgemein verbreitet und von den meisten Kindern mit Vorliebe gepflegt, so auch von Hetty; dennoch begriff sie nicht, daß dieser Vorzug oder irgend ein anderer über den Verlust von Llga's Freundschaft trösten könne.
So blieb allein noch Martine übrig, die von Slga etwas berichten konnte, denn daß Jene alle Wege ausfindig machen werde, die zu Olga führte», dessen war Hetty sicher.
Endlich saß Hetty an einem schönen Junitag auf dem hohen Sitze des Landwagens neben ihrem Vater. Die Braunen schnaubten lustig in den Morgen hinaus, es ging nach Martinens Heimatsort. Gegen Bkittag ward der Flecken weit hinten ini Bergthal erreicht. Jni Gasthaus wurde gleich nach Martine gefragt und der zuvorkommende Wirth gab zu der nöthigen Anweisung der Wohnung gleich noch einige Personalien mit auf den Weg.
Martinens Vater habe ein gutes Handelsgeschäft, er sei ein geachteter Blaun im Flecken. Sein Sohn, der bedeutend älter sei als das Töchterchen, gehe ihm schon gut an die Hand. Die Frau sei etwas kränklich, aber gut geartet. Die Leute machen ein schönes Stück Geld in der Baumwolle so gut wie in den Spezereiartikeln.
Hetty's Vater brachte sie bis zu dem Hause mit den rothen Kreuzstücken und der großen Inschrift über dem Laden im Erdgeschoß; dann ging er seinen Geschäften nach.
[]26 Hetty trat in das Haus und schaute verwundert einen Augenblick durch die Glasthüre, die in den Laden führte.
Es war eine unaussprechliche Mannigfaltigkeit von Dingen in dem Lokal sichtbar, denn ein solcher Hauptladen eines größeren Torfes muß Alles enthalten, was zu einem Menschenleben irgendwie erforderlich sein kann. Dann stieg ! Hetty die hölzerne Treppe hinauf und stand vor einer offen stehenden, großen Stube. Sauberkeit, Ordnung und Wohlhabenheit schauten aus jeder Ecke des Zimmers heraus. Es berührte Hetty angenehm, daß Martine so einladend wohnte; sie blieb stehn und schaute mit Wohlgefallen, wie der Sonnenschein auf die Rosen fiel, die im schönen Strauß auf dem Tische standen und die Stube schmückten, als sie plötzlich von hinten gepackt und beinahe rücklings zu Boden gerissen wurde: Es war Martinens freudige Ueberraschung, die sich in dieser Weise äußerte. In der schönen, alten Stube, wo sie nun eintraten, fühlte Hetty sich augenblicklich heimisch und wurde es noch mehr, als auch die Mutter erschien und Hetty durchaus als eine alte Bekannte begrüßte und behandelte. Martine mußte sie gut eingeführt haben bei der Mutter. Diese verschwand indessen bald mit geschäftiger Miene, es mußten Vorbereitungen getroffen werden, den Gast zu feiern.
„Was macht sie, Hetty, was weißt du von Olga?" fragte Martine drängend, sobald die Beiden allein waren und auf den zwei Stühlen saßen, die am Fenster standen.
[]27 Nun kam es denn heraus, daß weder die Eine noch die Andere ein Wort von Olga wußte. Erst waren sie Beide etwas enttäuscht, dann meinte Hetty, sie wollen sich doch den Tag nicht dadurch verderben lassen, sie können doch nun einmal wieder recht von Olga reden, Jedes so viel es wollte, und Jedes wäre Mich sicher, daß ihm das Andere gern zuhöre. Martine sprach gar nichts Anderes die ganze Zeit durch, als sie am Fenster saßen, als die Mutter sie mit Kaffee bewirthete, als sie Hetty durch den sonnigen Abend nach dem Gasthaus zurück geleitete^ Alles, was sie über Menschen und Dinge redete, mündete irgendwie in den Ramen Olga aus. Unter vielen Versprechungen von Wiederkehren und von gegenseitigem Berichterstatten, wenn von Olga irgend Etivas sollte in Erfahrung gebracht werden, trennten sich die Mädchen an der Thüre des Gasthauses. — Wohl zwei Jahre lang hörte Hetty von Olga gar Nichts mehr. Noch einige Male war Jene mit Martine zusammengekommen, aber Keine hatte der Anderen den leisesten Bericht zu geben, ihr großes Interesse betreffend. Während der länger» Besuchszeit, die Hetty jährlich bei der Freundin Nanny zukrachte, war Alles, was sie erfahren tonnte, daß Olga's Mutter immer leidender fest daß keines der Schulkinder mehr in nahem Umgang mit Olga stehe, auch darum, weil sie an andern Dingen Freude habe, als die übrigen Kinder.
Nanny war eine Künstlernatur, sie hatte mannigfaltige und immer neue Interessen und so Vielem nachzugehen im [] Menschen-, Thier- und Pflanzenreich, daß sie nicht recht begriff, mit welcher Zähigkeit Hetty immer wieder auf den einen Punkt zurückkämmen konnte, der Olga hieß. So ließ endlich Hetty ihre häufigen Fragen fallen und suchte nur hie und da auf ihren Streifzügen mit Nanny bei dem Haus am See vorbei zu kommen. Tann schaute Hetty hinauf nach dem Balcon mit den glänzenden Ephenranken. Olga war nie zu erblicken.
Auch die stärksten Eindrücke eines Kinderherzens, wenn sie in keiner Weise Nahrung erhalten, verlieren sich nach und nach, wenigstens für eine Zeit. So berührte es Hetty nur wenig, als Nanny nach Jahr und Tag ihr einmal mittheilte, Olga sei aus der Schule getreten und in das große Mädchen-Institut versetzt worden, das sich unweit der Stadt aufgethan hatte; es wurde aber doch treulich an Martine berichtet.
Einige Zeit nachher wurde auch Hetty in neuen Boden versetzt. Sie lebte nun ganz in der Stadt, um an einer höheren Schulanstalt ihre Kenntnisse zu vervollkommnen.
Eben hatte sie das Schulzimmer verlassen und ging mit halbgeschlosscnen Augen über die blendenden Quadern der Brücke, als sie plötzlich mit lautem Ausruf angehalten wurde und, die Augen aufmachend, Martinens sonne- und freude- glänzendes Gesicht vor sich sah.
„Tu hier, Martine?" rief Hetty erfreut aus.
„Ja, ja", lachte Martine bestätigend, „und du solltest [] 29 nur Alles wissen, Hetty, ich bin der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt."
Das war Hetty eine sehr merkwürdige Nachricht. Sie nahm Martine an den Arm und zog sie mit. Gleich sollte sie erzählen, wie sie zu ihrem Glück gekommen sei mitten in dem heisten Sommer.
In Hetty's kühlem Zimmer, hinter den Jalousien sitzend, fiel Martine mitten in ihre Geschichte hinein, wie Einer, dem es pressiert, die Hauptsache zu sagen.
„Ich bin immerfort mit Olga zusammen und du solltest nur wissen, wie sie jetzt ist!"
„Das konnte ich mir denken, daß dein Glück Olga heiße", fiel Hetty ein, „und wie ist sie denn, und wie kamst du mit ihr zusammen? Erzähl doch vom Anfang an."
Martine berichtete nun, wie sie schon angefangen habe, zu denken, sie werde von Llga nie mehr Etwas hören, vergessen werde sie diese aber doch nie; da kam gerade Hetty's Nachricht, Olga sei in das neue Institut eingetreten. Von dem Tag an habe sie ihrem Vater keinen Augenblick mehr Ruhe gelassen und ihn fortwährend mit Bitten bestürmt, er möchte sie doch auch in's Institut schicken. Erst habe er sie nur ausgelacht und ihr gesagt, sie sei rapplig geworden, aber dann habe sie ihm versprochen, sie wolle so gut rechnen lernen und französisch und Alles was nöthig sei, daß sie nachher den Laden ganz allein regieren könne und er nie mehr fremde Leute anzustellen brauche. Und sie habe ihm [] 30 immer ärger zugesetzt, bis er zuletzt gesagt habe: „So, meinetwegen!" Tann sei sie in's Institut gekommen.
„Was, du bist in dem großen Institut?" rief .Hetty in höchster Verwunderung aus, „nun wirst du unrettbar eine Gelehrte, Martine!" Me, die da sind, werden es, bis auf die Köchin herunter, die soll nur nach lateinischen Recepten kochen.
„So gefährlich ist's nicht, und weißt du, Hetty, bei mir nur gar nicht", sagte Martine mit gemüthlichem Lächeln; „aber lernen muß ich schon allerhand, mit dem ich Nichts zu thun weiß; ich würde aber Alles thun, um da zu bleiben, auch noch einmal einen Aussatz machen .über die philosophischen Jdeeu des achtzehnten Jahrhunderts', wenn ich schon damals, wie ich den machen sollte, eine» ganzen Tag und eine Nacht lang immerfort nachdachte und dachte, was ich doch darüber sagen könnte, so daß am Morgen mir alles Nachsinnen ganz stockte und ich da saß wie Einer, dem man den Kops abgeschnitten hat; nicht einen Gedanken brachte ich mehr zusammen, und um 10 Uhr mußte ich den Aussatz bringen. So fand mich Olga und sah meine bittre Angst. Da setzte sie sich hin und schrieb den Aussatz nur so vorweg und sagte: .Komm, Martine, jetzt kannst du schon Etwas daraus machen.' Das konnt' ich aber erst recht nicht. Ich schrieb Alles ab, Wort für Wort und du kannst mir glauben, ich verstand von Allem Nichts."
„Und die Lehrerin?" fragte Hetty.
[]31 „Tie merkte gleich Alles und ich läugnete gar nicht; sie sagte, mir müsse man's zu gut halten und froh sein, wenn ich das ABC richtig aufsage."
„Und dabei bist du nun so glücklich geworden, Martine?"
„Nicht gerade deswegen, aber ich achte es nicht so stark, denn siehst du, seit fünf Monaten bin ich nun immerfort mit Olga zusammen und sie ist so gut und freundlich und dazu ganz anders, als alle Andern im Institut, Alle haben auch Respekt vor ihr. Wenn Etwas geschieht, das nicht sein sollte und wir Alle durcheinander rufen und es Keins gethan haben will, dann steht Olga ganz schweigend da; die schreit nie mit. Und kommt die Lehrerin, die doch Immer Alle in Verdacht hat; so sagt sie regelmäßig: ,Taß Olga so etwas nicht mitmacht, dessen bin ich sicher.' Und sie kann es auch sein. Aber viele der Mädchen behaupten, Olga sei stolz und kalt und habe kein Herz, denn mit Jedem läßt sie sich nicht ein, und .gering' sagt sie immer noch, viel öfter noch als früher, und gleich kehrt sie den Rücken, wo ihr Etwas mißfällt. Viele fürchten sie auch ein wenig und gehn ihr aus dem Wege."
„Aber du bist doch immer ihre gute Freundin?" fragte Hetty.
„O ja, und was es heißt, sie zur guten Freundin zu haben, weiß ich erst jetzt. Ich bin auch am meisten um sie. Schon am Morgen früh bin ich in ihrem Zimmer. Weißt [] du, wir müssen selbst unsere Zimmer in Ordnung halten, Betten machen und stäuben nnd Alles. Nun denke dir einmal Olga mit einem Wischer in der Hand! Das könnte ja nicht sein. Natürlich geh' ich alle Morgen hinüber zu ihr und bringe Alles in Ordnung und stelle ihr ein paar Rosen aus den Tisch, das hat sie so gern, und du solltest sehn und hören, wie Olga mit mir ist, Hetty, mit mir!"
„Und Olga nimmt dies Alles so von dir an, Martine?"
„Ja, und du weißt nicht, wie gut sie gegen mich ist. Tu denkst wohl, ich wäre ihr zu gering, so nah mit mir um- zugehn, und du hättest schon Recht, aber da siehst du, wie sie ist."
„Nein wirklich, Martine, so dachte ich nicht!" sagte Hetty. „Ich meinte, ob Olga sich auf diese Weise täglich von dir bedienen lasse, ohne es zu viel zu finden."
Diese Bemerkung mußte Martine gänzlich empört haben.
„Was meinst du denn, Hetty?" rief sie in vollem Zorn. „Wofür hältst du mich denn?" Meinst du, ich werde je in meinem Leben Olga vergelten können, was sie für mich ist? Glaubst du, dafür habe ich kein Gefühl? Ich habe ganz andere Gedanken, seit ich sie kenne und besonders seit ich hier mit ihr zusammen lebe, viel bessere, und Alles was ich thue, nehme ich jetzt viel genauer, denn ich muß Alles inwendig vor ihr verantworten, ich dürste sie nicht ansetzn, wenn ich thäte, was ihr verächtlich ist, und früher merkte ich es gar nicht, wenn ich so Etwas that. Sie hat mich wie aus dem Staub [] herausgezogen und thut es noch immerfort, jeden Tag. Oft spricht sie auch so schön zu mir und sagt mir, was ich anstreben soll und ibaS wir thun müssen, um so zu werden, daß wir vor dem Höchsten und Besten, das wir uns denken können, mit uns zufrieden sein dürfen. Ich denke dann, dies habe sie schon erreicht, und sie gehöre selbst zum Besten, das man vor Augen haben könne."
Hetty wollte nun doch auch noch wissen, ob Olga sie ganz vergessen habe und von dem Abend am See Nichts mehr wisse, da sie Freundschaft gemacht hatten. Martine versicherte, Olga erinnere sich an Alles sehr wohl, habe auch nach Hetty gefragt bei ihr, und sie selbst hätte ihr lange schon über Alles Nachricht gegeben, aber sie habe immer auf eine Velegcnleit ^ivartet, Hetty auszusuchen, um ihr Alles recht erzählen zu können.
Run sprang Martine plötzlich auf und nahm eilig Abschied. Sie' hatte vergessen, daß sie mit der Vorsteherin des Instituts zusammentreffen und mit ihr dahin zurückkehren sollte; schon hatte sie fast zu lange bei Hetty verweilt.
Dieses Zusammentreffen war für die beiden Mädchen das letzte auf Jahre. Sie waren immer beim mündlichen Verkehr geblieben, eine Correspondenz hatte sich nie zwischen ihnen angebahnt; so kam es, daß Jahre dahingehn konnten, ohne daß sie Etwas von einander hörten. Ihre Lebenswege trafen auch in keiner Weise zusammen; dadurch trat aber nicht das leiseste Gefühl der Entfremdung zwischen sie, Beide Verschollen ic. 3 [] 34 wußten, daß sie überall und zu jeder Zeit sich unverändert als die Alten wiederfinden würden.
Mit Nannt) war Hettt) in den alten Beziehungen geblieben, durch alle die Jahre waren sie zusammen gewandert in ungestörter Eintracht, trotz aller Verschiedenheit ihrer Anlagen wie ihrer Interessen, Jetzt machten die Mädchen in ihrem neunzehnten Jahre stehn. Es war die Zeit des froheil FrühlingsfestcS, da van allen Seiten her die Schaaren des Volkes der Stadt zuströmten, um die Herrlichkeiten des Festzuges mit anzusehen und zum Schluß in den Jubel der ! Jugend einzustimmen, die sich nm die Freudenfeuer schaarte, welche ringsum von allen freien Plätzen emporstiegen, Hettt) zog mit ihrer Freundin Nannt), bei der sie seit einigen Tagen weilte, durch die bunte Menge dem Platze zu, wo soeben die Flammen von einem der Festfeuer empor schlugen. Die Mädchen standen still und schauten in die lustig auflodernden Feuergarben, als Jemand sich durch die Menge zu Hctty heran drängte, „Weißt dn's schon, Hettt), weißt du's schon?" rief es, ehe diese nur sehen konnte, wer hinter ihr stand; die Stimme erkannte sie freilich sogleich, „O, grüß Gott, Martine!" rief Hettt) erfreut, „gib mir 'mal erst eine Hand, und dann sprich weiter, denn ich weiß es wirklich nicht," ^ „Olga ist nus's Theater gegangen!" stieß Martine hervor.
[]35 „Martine, erzähl' mir doch keine KalendergeschichtenM sagte Hetty halb lachend.
„Was?" rief Martine und machte ihre Augen gerade so weit auf, als es die gegebenen Verhältnisse erlaubten; „glaubst du denn, ich brauche diesen Namen zu Kalender- geschichten? Nein, Hetty, nein, nein: da bist du irrig!"
Hetty sah, das; es Ernst galt. Sie nahm Martine bei der Hand und zog sie aus dem Gedränge weg der hohen Banmallec zu, wo es still war. Hier, unter den alten Linden hin und her wandernd, mußte Martine erzählen, was sie während der Zeit erlebt, da sich die Freundinnen nicht gesehn hatten.
Martine hatte nahezu zwei Jahre neben Olga im Institut zugebracht, als diese nach Hause gerufen wurde; ihre Mutter war kränker geworden. Nun war plötzlich bei Martine aller Wissenstrieb erloschen. Bis dahin hatte sie jeden Monat ihre Eltern flehentlich gebeten, sie möchten sie doch noch fort lernen lassen, nun hatte sie auf einmal genug und wollte gern sojort heimkehren, waS den Eltern ganz erwünscht war. Olga schrieb von Zeit zu Zeit an Martine, nach ihrem Versprechen. Die meiste Zeit, wie sie schrieb, brachte sie im Krankenzimmer ihrer Mutter zu, immer über ihren Büchern sitzend, die ihre Freude waren; dann starb die Bkutter. Von der Zeit an wurden Olga's Briefe knapper und ein Ton des Unbefriedigtseins ging durch sie alle. Es war, als stehe sie ganz allein und unverstanden von denen, die sie umgaben.
3 » 1 [] 36 So verschloß sie sich mehr und mehr in sich selbst, aber ihre reiche Natur war nicht unthätig, sie vertiefte sich nur um so leidenschaftlicher in ihre Gedankenwelt. Da starb ihr Vater. Run trat sie plötzlich vor die Verwandten mit dem Entschluß, auf die Bühne zu gehn. Sie waren Alle dagegen. Man l schrieb auch an die Bruder, die Beide im Ausland lebten, ! sie möchten ihre Einwilligung nicht geben. Es half Alles Nichts, in Olga hatte die Sache lange gereift, sie blieb bei ihrem Entschluß. Man mußte ihr ihren Willen lasten, doch unter der Bedingung, daß sie für immer ihren Familiennamen s ablege uird einen andern annehme, was sie sogleich einging. ! Olga hatte an Martine geschrieben, als sie eben im Begriffe war, nach Dresden abzureisen, wo sie den noch nöthigen Unterricht nehmen wollte, um die Bühne betteten zu können.
Seither hatte Martine Nichts mehr von ihr gehört, sie hatte auch noch keine Adresse au Olga nach Dresden, obschon diese schon seit langen Monaten da war. So konnte Martine in keiner Weise zu ihr gelangen, aber sie war voll guter Zuversicht. „Du kannst Dir wohl denken", sagte sie am Schluß ihrer Mittheilungen, „daß Olga keinen langen Unterricht nöthig haben wird, und dann werden wir bald von ihr hören, dessen bin ich gewiß." Hellst war sehr erstaunt und bewegt von Allem, was sie vernommen hatte. Sollte Olga wirklich diesen Weg gehn können? Sie konnte nicht fassen, wie es möglich war. Hettst schwieg eine gute Weile und [] 37 hing ihren Gedanken nach. „Kennst du den Namen, den Olga angenommen Hai?" fragte sie dann.
„Ja, ich >veiß ihn, aber ich spreche ihn nicht aus, ich habe es Olga versprochen. Uebrigens weißt du, Hetty", setzte Martine eifrig hinzu, „Olga darf nur erst auftreten, so werden die Zeitungen ihren Namen laut genug bringen und so von ihr reden, daß du sie bald erkennen wirst. Glaubst du's nicht auch?"
Hetty war ganz überzeugt davon. Olga mußte Glück machen aus der Bühne. Schon ihre Erscheinung konnte nicht verfehlen, einen durchaus gewinnenden Eindruck auszuüben, und ihre reiche geistige Begabung, vor Allem ihr ungewöhnliches Talent der Darstellung, ließen keinen Zweifel an ihren Erfolgen aufkommen.
„Eigentlich macht mich die Sache recht traurig", sagte Hetty; „wie wird es dieser stolzen und fein fühlenden Natur ergehen auf diesem ungewohnten Boden?"
„Herrlich! Du wirst sehn, welchen Namen sie sich machen wird."
„Soll ich dir gleich schreiben, sobald ich Etwas von ihr höre?" fragte Martine, jetzt vom Wege unter den Bäumen ablenkend, niederwärts dem See zusteuernd, wo sie ihren Bruder treffen sollte, mit dem sie zur Stadt gekommen war. Hetty bat sehr darum, Martine möchte ihr Nachricht geben, wenn sie von Olga hören sollte, bevor ihr Name bekannt würde, als der einer hervorragenden, gefeierten Künstlerin, wie sie Beide mit Zuversicht voranssnhn.
[]38 Wohl drei Jahre mochten dahingegangen sein. Hetty hatte nicht ein Wort mehr weder von Olga, noch von Martine gehört. Endlich schrieb sie an die Letztere, tragend, ob sie noch lebe und ob denn von Olga und ihrer neuen Thätigkeit noch Nichts zu hören sei.
Bald kam die Antwort. Martine war sehr niedergeschlagen, sie »mißte kein Wort von Olga, hatte seit ihrer ?lb- reise keine Spur mehr von ihr gehabt. Seit drei Jahren hatte sie alle deutschen Blätter zusammengerafft, deren sie habhaft werden konnte, und hatte in allen Theaterberichten »räch dem Namen gesucht, der ihr immerdar im Sinne lag, aber sie hatte ihn nie entdeckt. Vor lauter stummer und Verdruß hatte sie nie an Hetty geschrieben, sie wußte ja gar nicht mehr, was sie denken sollte.
In ihrer Häuslichkeit ging es ihr sehr gut. Zwar hatte sie ihre gute Mutter verloren und der Vater war recht alt geworden. Er hatte sich auch ganz aus dem Geschäft zurückgezogen, das sie nun mit ihrem Bruder Joseph zusammen verwaltete. Sie lebten sehr wohl und vergnüglich mit einander und wünschten nur, daß Hetty einmal »vieder bei ihnen einkehren möchte.
Auch Hetty hatte allerlei Lebenserfahrungen durchzumachen um diese Zeit, und wie oft sie es sich auch in Gedanken vornahm, die Tour zu Martine konnte nie ausgeführt »verden.
Nicht lange nachher hatten sich Hetty's Familienverhältnisse so gestaltet, daß sie für immer nach der Stadt übersiedelte, [] 39 ^ imd hier in den neuen Verhältnissen und Beziehungen gingen ihr einige Jahre so rasch dahin, daß sie kaum gewahr wurde, wie lange sie von den alten Bekannten Nichts mehr gehört hatte. Nur daß die nahe Freundin nicht mehr da war, empfand Hetth beständig als Lücke; doch konnte sie sür Nannt) sich nur freuen, da dieser im Ausland die Gelegenheit geboten wurde, sich zu der unabhängigen Stellung heranzubilden, nach welcher sie trachtete. Sehr energisch durch gute ivie durch böse Tage ihr Ziel verfolgend, hat sie es auch vollständig erreicht und im fernen Lande die gewünschte Lebensstellung und eine befriedigende Thätigkeit gesunden. Ihre zoologischen Studien hat sie nie ganz aufgegeben, solche angeborne Neigungen überdauern die Wechsel des Schicksals.
[]Drittes Capitel.
Es war um die Zeit, da die Bäume sich zu entfärben begannen, als Hetty eines Morgens von ihrem Fenster aus nach den alten Linden hinüberschaute, deren Wipfel golden schimmerten. Da sah sie ihrem Hause eine kleine Figur sich nahn, die, wenn auch lange ungesehn, doch immer in frischem Andenken bei ihr stand, es war Martine. Hetty lief ihr entgegen und führte hoch erfreut die alte Freundin in ihr Haus ein.
Martine hatte nie Vorreden gemacht, sie fiel gewöhnlich gleich mitten in die Sache hinein, welche sie bewegte. Heute, nach jahrelanger Unterbrechung des Verkehrs, waren ihre ersten Worte ganz wie eine Fortsetzung von gestern.
„O Hetty, du solltest wissen, was ich Alles erlebt habe", rief sie unmittelbar nach ihrem Eintreten in das Haus. Hetty bewillkommte erst herzlich den seltnen Gast.
„Nun will ich mir auch gleich Alles von dir erzählen lassen", sagte sie dann, indem sie die wohl ausstaffierte Figur einiger Hüllen zu entledigen suchte und sie dann neben sich [] auf das Sopha zog, daß ihr Martine hier in Ruhe alle ihre Erlebnisse mittheilen möchte.
„Ja siehst du", eiferte Martine, ihren Platz entnehmend, „mir ist, als könnte ich gar nicht fertig werden mit Allem was ich dir zu sagen habe, und >veun ich dir gleich von jetzt an bis zum Abend immer fort erzählen würde."
„Tann nehmen wir die Nacht dazu und den folgenden Tag und so immer fort, bis wir durch sind", erwiderte Hetty.
„Nein, Hetty, spaß um nicht, es ist gar nicht zum Spaßen, was ich dir zu sagen habe."
Sicherlich war es Martine sehr Ernst, aber die kleinen, so gemüthlich blinzelnden Augen über dem komisch aufgestülpten Naschen machten ihr den tragischen Ausdruck immer streitig.
„Fang nur auch von vorne an", bat Hetty, „daß ich Alles recht gründlich erfahre. Tu weißt, zuletzt habe ich durch deinen Bries von dir gehört."
Martine wollte Alles der Reihe nach erzählen; es liege ihr ja selbst daran, sagte sie, daß Hetty Alles genau wisse, so als wäre sie selbst dabei gewesen, es könnte ja kein Mensch ihr mit der Theilnahme zuhören nnd Alles so mit ihr nachleben, wie Hetty gewiß thun werde.
Bon jener Zeit,an, da Hetty ihren Brief erhalten, hatte Martine nicht aufgehört, dem Namen nachzuspüren, den sie zuversichtlich endlich als einen der besten und berühmtesten Künstlernamen in den Blättern zu finden hofft«, aber ver- [] 42 gebens. Tieß war ihr großer Kummer. Daneben lebte sie vergnügt mit Vater und Bruder. Nach einiger Zeit verlor sie den Vater. Dem Bruder ging es immer besser in seinem Geschäft, Martine war seine willige und beste Gehülfin dabei. Ihr guter Unterricht von der Instituts,zeit her, besonders ihr Französisch, kamen ihr dabei sehr zu Statten, sie war der Handelscvrrespondent. So ging es mehrere Jahre fort, das Geschäft blühte nnd dehnte sich mehr und mehr aus, und im Ansang des eben verflossenen Sommers erklärte Joseph mit einen. Mal seiner Schwester, er habe einen großen Plan gemacht. Längst wäre er gern einmal nach Paris gegangen, und nun er auch Geschäfte da zu machen habe, wolle er die Sache ausführen, und Martine solle ihn begleiten. Sie war sehr erfreut über den Vorschlag, machte Alles schnell bereit und die Reise wurde angetreten.
Der vorsichtige Joseph hatte sich eingehend erkundigt über alle Lokalitäten, die man in Paris bewohnen könnte, ohne Extrabetrug zu erdulden; bis auf einen gewissen Grad, nahm er an, müsse sich Jeder, der dahin gehe, so Etwas gefallen lassen.
Er fühlte sich sehr erleichtert, als er von einem Bekannten im Torfe hörte, daß,dieser einen Vetter in Würtemberg habe, dessen Base eine Restauration und Pensiop in Paris halte, wo viele Teutsche aus- und eingeht, und wo man wohl versorgt sei.
Eine brave Würtembcrgerin, mit der man ein vernünf- [] tiges Wort wechseln könnte, war für Joseph eine beglückende Aussicht; noch hatte er nie mit französisch sprechenden Menschen verkehrt, und sein heimliches Grauen davor wurde auch durch den großen Wunsch, Paris zu sehn und gute Geschäfte da zu machen, nicht ganz bewältigt. Die Geschwister langten glücklich in Paris an und ließen sich sofort nach ihrer Adresse führen, „Lixson blaue, hieß das Haus, Ruo 8t. ^utoine", erzählte Martine weiter. „Wie wir aber da hineinfuhren, gefiel es mir gar nicht. Himmelhohe Riemen waren die Häuser, eigentlich Alles Ein Haus, aus schmalen, allerhand farbigen Streifen zusammengesetzt, die ganze lange, enge, erbärmlich schmutzige Straße hin. Unten war ein Laden in jedem Haus, da sah es aber merkwürdig aus, Alles lag über einander in den kleinen Räumen, Kartoffeln und Rüben und Käse und Speck und Salz und Seife, und unter den Thüren waren Weiber zu sehn und kleine Kinder mit Haaren und Kleidern, nein, siehst du, bei uns im Torfe gibt's auch Schmutz, aber so schuhdick habe ich ihn nie dort gesehen. Eben wollte, ich zu Joseph sagen, in ein solches Haus gehe ich denn nicht hinein, da hält der Kutscher still, wir sind da. Mein Bruder steigt ab uud will mit dem Kutscher abrcchuen, nun verstehn sie einander nicht, ich suche immer hinein zu sagen, wir wollen anderswo hinfahren, da bleibe ich nicht; aber die Beiden erbosen sich so auf einander, daß sie immer lauter rufen und man gar Nichts mehr versteht. Nun wirst der Kutscher unsern Koffer aus den Boden und macht Kehrtum, [] 44 der Joseph wirst ihm ein Stück Geld aus den Sitz heraus, der Fiaker rasselt davon und wir stehn da in der Straße vor dem abscheulichen Haus. Ich sage zu Joseph: ,Da bringst du mich nicht hinein! Sich den Schmutz an mck> den dunkeln Eingang, da kann man auch noch gemordet werden.' ,Grad nicht', sagt er trocken, da drinnen sei eine Würtembergerin, die thue Einem Nichts zu Leide, und dann rede man da so, daß ein Mensch ein Wort verstehen könne, von dem Französisch habe er schon mehr als genug, und da gehe er hinein, ich könne sagen, was ich wolle. Er gibt mir sonst noch ziemlich bald nach, aber da war keine Rede davon. Schon war er in dem dunkeln Gang drinnen und rief überlaut: ,Frau Wirthin! Frau Wirthin!' Jetzt nahm ich auf beiden Seiten meinen Rock zusammen und stolperte ihm nach. Von weit hinten im Gang, wo es Heller war, kam eine große, breite Figur heran, sie streckte dem Joseph die Hand entgegen und fragte, ob er ein Landsmann sei. Er sagte: »Fast, wenigstens ein Nachbar', und dann schüttelten sich die Zwei die Hände, wie gute Freunde und mir wurde es auch !
etwas besser zu Muth, als ich das ehrenfeste Gesicht der > Frau sehen konnte, denn wir waren nun ganz aus dem dunkeln Gang durch eine große Weinstube, wo die Leute saßen, in eine Hinterstube gelangt, wo es wohnlich und ordentlich aussah, wenigstens so, daß man es eine Zeit lang schon ! da aushalten konnte. Aus den Fenstern freilich, da hatte man einen traurigen Anblick. Was man in Paris für j [] Wäschesetzen aufhängt und was für Gegenstände auf einander geworfen in diesen Hinterhöfchen liegen, davon hat kein Mensch einen Begriff, der's nicht gesehn hat. Ich schaute lieber wieder in die Stube hinein, als aus dem Fenster. Joseph war unterdessen schon tief in's Gespräch gekommen mit unserer Wirthin. Er fragte, ob sie Platz habe, daß wir da bleiben könnten. Sie sagte, Zimmer, die sie ausmiethe, habe sie schon im Hinterhause, aber jetzt sei Alles besetzt, meistens von Leuten, die da wohnen für längere Zeit. Aber Joseph erklärte, er gehe nicht mehr vom Fleck, sie solle nur zusehn, wie sie Platz finde, da helfe Alles Nichts. Die Frau lachte gemüthlich und sagte, wenn es so sei, so werde sie schon Platz schaffen müssen, sie wolle einmal nachsetzn. Bald kam sie denn auch wieder und holte uns ab nach dem Hinterhause, wo sich zwei nette Zimmerchen vorfanden, die sie uns überließ. Sie sagte zu Joseph, die Zimmer seien zwar schon versprochen, aber weil er's durchaus haben wolle, so werde sie eben nachgeben müssen. Nun fing ich an zu ordnen und einzurichten und nach einiger Zeit sah es ganz nett aus bei uns. Nur aus den Fenstern mußte man nicht schauen, da ging's eben überall auf die Hinterhöfe hinaus, und die frische Lust, die man etwa hereinlassen wollte, war sicher Alles eher, als frische Luft. Joseph war so befriedigt von unserm Wohnsitz, daß er am ersten Morgen anderthalb Stunden am Frühstück saß und daim noch eine gute Weile in der Stube auf und ab ging, bis ich endlich sagte: ,Was [] 46 meinst du, Joseph, wenn wir von Paris auch noch etwas Anderes ansetzn würden, als nur die Hinterseite von St, Antoine? Er meinte, erst müssen wir unsere Wirthin befragen, was wir thun sollen und wohin gehn, die wisse Alles am besten, Sie wurde hergerufen und machte uns gleich einen Plan fertig für jeden Tag die ganze Woche durch, Jni Anfang kanten immer die Boulevards und am Ende noch einmal und zwifchenein allerhand Erbaulichkeiten und berühmte Plätze, Tiefe Boulevards sind auch so schön und kurzweilig, wir gingen immer lieber dahin und jeden Abend nahmen wir 'unser Nachtessen in einer von den schön erleuchteten Restaurationen und blieben da oft bis spät in die Nacht hinein; aber immer noch glänzte und flimmerte es ringsum, und die geputzten Leute gingen immer noch aus und nieder, es war gerade wie ein immerwährender, großer Jahrmarkt. Joseph hatte aber viel auszustehn da um des Französischen willen. Nie konnte er die Kellner verstehn, dann behauptete er, sie redeten gar nicht recht französisch, sonst könnte man sie verstehn, und sie thäten es mit Fleiß, daniit sie ihn besser über- vortheilen könnten. Weißt du, er hatte eben sein Französisch bei dem alten Schullehrer erlernt, der sprach es ein wenig anders aus, als die Pariser Kellner. So gab es allerhand Anstöße, aber wir hatten doch viel Freude, und unsere Wirthin wußte für Alles Rath und Auskunft.
„Wenn wir Nachts nach Hause gingen, bogen wir von den Boulevards immer in dieselbe Straße ein, da war das [] 47 Eckhaus ein großes HStel. Unten im sous - terrain mußte die Küche sein, da stieg immer noch ein so kräftiger Lpeisen- damps empor, daß ich mehrere Male zu Joseph sagte, da unten sieden und braten sie sicher die ganze Nacht durch. Ein Mal schon, wenn wir da vorbeigekommen waren, hatte ich bemerkt, daß in der Ecke Etwas eingeduckt, wie zusammengerollt, lag; es rührte sich nicht, ich dachte, es sei eine Katze. Als wir nun eines Abends etwas nahe am Hotel um die Ecke bogen, sah ich, daß das znsammengekanerte Ting sich bewegte, ich zog Joseph näher Hera», und nun sahn wir's, es war ein Büblein, das sich ganz wie in den Boden hinein geduckt hatte. Als wir still standen, sprang es plötzlich ans und davon wie ein Blitz, im Moment war» verschwunden.
„Mehrere Abende nachher kamen wir sehr spät, da war Nichts zu sehn in der Ecke, dann kamen wir wieder früher, da war das Büblein richtig wieder an seinem Platz. Dieß Mal ging ich leise zu ihm hin und sah, wie es den Kopf ganz in die Gitter am Boden hineinsteckte und den Speisen- dampf einsog, der von unten herauskam. Ach Joseph, sagte ich, der arme Kleine hat Hunger. Ich nahm ihn beim Aermchen und fragte ihn, ob er Hunger habe. Er suchte sich los zu machen und mir zu entwischen; aber ich hielt ihn fest. Nun schaute er mir verwundert in's Gesicht, dann sagte er leise: ,Oui, M kaun.' Ja, das konnte man auch deutlich sehn, es war Nichts wie Haut und Bein an dem Kreatürchen. Ich fragte ihn, ob er denn oft Hunger leiden [] 48 müsse, ,^'ai tochonrs kaim', antwortete er. Nun sagte ich zu Joseph, wir wollen doch gleich noch einmal zurück in die Restauration gehn und dem Kleinen Etwas geben lassen. Joseph machte nicht recht Miene, als wollte er's thun; er sah das Büblein etwas zweifelhaft an; es ist wahr, es hatte Nichts als sein Hemd und sein Höschen auf dem Leibe, aber es hatte etwas so Gewinnendes in seinem schmalen Gesichtchen und schaute so erwartungsvoll zu uns auf, daß Joseph nicht anders konnte, er sagte: .Meinetwegen!'. und nun kehrten wir zurück und setzten uns noch einmal an unser Tischchen und den Kleinen zu uns. Die Kellner sahn uns curios an, es half aber Nichts, sie mußten bringen, was wir befahlen. Und nun das frohe Gesichtchen zu sehn hinter dem Teller voll Fleisch und Kartoffeln! Es war schöner, als alles Schöne ringsum und in ganz Paris.
„In einem Augenblick hatte das schmale Büblein den ganzen Teller geleert. Kannst du auch Eierkuchen essen? fragte ich, da ! der Kellner eben ein Prachtstück vorbei trug. ,Oui ülaüawe', sagte das Büblein ganz ernsthaft, aber seine Augen funkelten dabei aus dem bleichen Gesichtchen heraus wie Leuchtkäferchen lind ich sagte: ,Nun sollst du auch davon haben, bis du ganz genug hast.' Erst als er ernsthaft bezeugte, nun sei er satt, verließen wir unser Lokal und gingen nun ein Stück tveit mit dem Kleinen zusammen. Er sollte uns sagen, wem er angehöre und was er thue. Er wußte aber nur zu berichten, daß er krrmyois heiße, daß er bei der mors Sortraäv wohne, [] ! -aß er Kehricht aus den Straßen zusammenlesen müsse und der msrs (lsrtraäe allerhand Dinge thun helfen, hauptsächlich ! Lunipen und Knochen sammeln; daß die msrs Osrtrnäs oft böse mit ihm sei und ihm sage, wenn er nicht immer besser arbeite, so bekomme er gar Nichts mehr zu essen.
„ Bei einem Seitengäßchen, das absolut dunkel war, stand er still und sagte, da müsse er hinein. Ich wäre gern mitgegangen, aber Joseph wollte nicht, doch versprach er mir, einmal am Tage da hinein zu gehn und Fran^ois aufzusuchen; der wußte aber keine Bezeichnung für seine Wohnung.
^ Wir sahn uns das Loch genau an, daß wir's wieder finden würden. Franyois wischte hinein, wie ein Wiesel.
„ Am folgenden Tag kamen wir extra her und gingen da hinein, wo der Kleine verschwunden war; aber'wir fanden keine Spur von ihm. Joseph ließ mich freilich auch nicht hineingehn, wo ich wollte; er sagte, das seien lauter Raubnester, und zog mich fort. Auch wo ich nach dem Buben fragte bei den Personen, die da herum waren, bekam ich ! keine Auskunft; sie wußten nicht, wen ich meine, gaben sie überall zur Antwort, und Joseph sagte, den fünden wir nie heraus, sie wüßten ganz gut, wen wir suchten, ich solle nur H sehn, was sie Alle für pfiffige Gesichter machten; da könnten wir unser Leben lang herumstolpern für Nichts.
! „Wir gingen. Nun konnte ich auch an der Straßenecke meinen armen kleinen Franyois nicht mehr entdecken, es that ^ mir so leid; überall sah ich nach ihm aus, aber vergebens.
Verschollen rc. 4 [] 50 „Fast eine Woche nachher, wie wir uns einmal früh nach Hause machten, hörten wir jämmerlich schreien an unserer Ecke, und wie wir umbogen, sah ich eben noch, wie eine große, feste Person ein paar Mal tüchtig auf einen kleinen Gegenstand losschlug, der am Boden kauerte. Das Licht der Straßenlaterne fiel aus die Figur des breiten, knochigen Weibes, und in der Ecke, wahrhaftig, da hockte mein kleiner Fran^ois und winselte. Ich schoß auf das Weib zu. , Wollt Ihr den Buben gehn lassen!' rief ich, und merkte erst nachher, daß ich deutsch gerufen hatte, vor lauter Zorn. Sie ließ ihn los und schaute mich einen Augenblick verwundert an; dann aber hättest du hören sollen, was kam. Wie in einer Mühle klapperten die Wörter ihr eins über das andere hin, und solche Wörter! Meinen Lebtag hatte ich Solches nie gehört, ich merkte nun, daß es Schimpfwörter waren, einmal für mich und einmal für den Buben; dann sagte sie, er thue Nichts und liege auf den Straßen herum, und sie müsse sich todt arbeiten für ihn. Das sah man ihr freilich nicht an. Der Kleine hatte sich wohl etwas zu früh an sein Plätzchen gesetzt und die Frau hatte ihn da erwischt.
„Und nun das bleiche und ausgehungerte Büblein noch zu prügeln und zu mißl-andrln! Ich war so empört, daß ich ausrief, sie solle mir nur den Buben hergeben, sie brauche ihn nicht mehr so zu behandeln, ich wollte schon einen Weg für ihn finden. So wie ich das gesagt hatte, warf der kleine Franyois sein Kehrichtschäufelchen weg, sprang zu mir her [] 51 und nahm mich an der Hand, so als wäre Alles abgemacht, und schaute mit seinen Augen ganz lustig zu mir auf, wenn schon noch die Thränen daran hingen. Aber es kam anders. Wie ein Drache schoß die Frau auf ihn los und riß ihn von mir weg. Dann ging's aber an, noch viel ärger als vorher: Ob ich denn meine, sie habe so viel ausgestanden für den Buben, daß er davon laufe, sobald er Etwas gelernt habe. Ich könne Besseres thun, als mich in anderer Leute Sachen mischen. Ich solle nur wieder dahingehen, woher ich gekommen sei, und erst französisch lernen, eh ich mit einer Pariserin Streit anfange. Warum ich denn nicht gekommen sei, wie des Buben Vater nach Algier entlaufen sei und die Bkutter im Spital gelegen habe und kein Mensch Etwas von dem Kind habe wissen wollen, als nur sie allein, wenn sie schon nur seine Mutter gekannt habe und ihr Nichts schuldig gewesen sei. Ich konnte kein Wort mehr dazwischen stoßen, so schnurrte ihre Rede fort wie an einem Faden, und Joseph nahm mich muh beim Arm und sagte, er habe nun genug von dem Gerassel. So mußte ich fort, ich konnte nichts machen; aber dem kleinen Franyois steckte ich schnell noch ein paar Sousstücke in die Tasche. Wie wir nun halbwegs die Straße hinunter sind, höre ich den Buben noch einmal jämmerlich aufschreien, ich wende mich um und sehe eben noch, wie die Frau den Kleinen herumpufft und ihm die Tasche umkehrt und das Geld wegnimmt. Er stand da und drückte beide kleine Fäuste in die Augen. Ich konnte es nicht ansehn.
4 * [] 52 Nun fing ich aber mit dem Joseph an und sagte ihm, so könne es doch nicht zugehn mit einem armen Büblein, und wenn er noch ein Gewissen habe, so müsse er mir helfen. Er fing ein wenig zu lärmen an und sagte: Wenn ich alle kleinen Bnben, die in Paris herum flennen, heimkramen wolle, so bekäme ich dann eine schöne Stube voll, und wenn ich mit allen Gasfenweibern Händel haben wolle, so könne ich das Geschäft allein besorgen. Wie er dann aber etwas abgekühlt war, sagte er, der kleine sehe schon zum Erbarmen aus, wir wollen mit unserer Wirthin drüber reden, die wisse schon Rath. Tas thaten wir denn auch gleich noch an demselben Abend und erzählten ihr Alles. Wir meinten, sie könnte den Kleinen etwa im Haus brauchen, die Alte würde ihn wohl hergeben, wenn er Etwas verdienen könnte, ich wollte schon noch Etwas draus legen, bis er größer sei und sich selber helfen könne. Die Wirthin meinte, so leicht würde die Frau den Kleinen doch nicht hergeben, er bringe ihr mehr ein, als sie zugebe, aber so zwischendurch zu einem Nebenverdienst könnte man ihn wohl bekommen, da hätte man ja schon Gelegenheit, ihm manches Gute zu thun und ihm täglich einmal recht zu essen zu geben. Sie selbst wüßte ihn freilich nicht zu brauchen, sie müsse Leute haben, nicht kleine Kinder, meinte die Wirthin; aber unter ihren Pensionären wisse sie Jemand, eine Lehrerin, die schlecht daran sei mit der Gesundheit und nicht viel ausgehe, auch nicht viel bezahlen könne und so etwa in Ver- [] 8/2 53 legenheit komme, wen sie ausschicken sollte, da wäre der Junge gerade recht dazu. Das war ja wie erwünscht. Ich wollte gleich zu der Lehrerin hinübergehn und mit ihr reden. Erst wollte die Wirthin mich nicht gehn lassen, es sei zu spät, die Kranke sei vielleicht schon zur Ruhe gegangen. Aber ich wollte Nichts hören, ich war im Eifer, den armen Kleinen zu befreien so bald als möglich, daß ich es wenigstens probieren wollte, ob ich noch Bescheid bekäme.
„Tie Wirthin beschrieb mir den Weg. Vom Hinterhause ging es in einen Anbau hinüber, dann fünf Treppen hinauf, 'dann waren mehrere Zimmer, sie wußte selbst nicht recht, welche Nummer, aber der Name der Lehrerin stehe auf der Thür. .Dieser Name!' sagte sie und suchte in der Tasche herum, dann zog sie eine zerknitterte Karte hervor. Ich las sie. O Hetty! Da stand der Name, den ich seit Jahren in allen Blättern vergebens gesucht hatte."
„Martine!" rief Hetty in höchster Erregung. „Es ist nicht möglich." Martine schwieg, sie hielt ihr Gesicht in ihren Händen verborgen, die Erinnerung hatte sie mächtig übernommen.
„O weiter, Martine, wenn du kannst", bat Hetty.
Nach einer Weile fuhr Martine fort: „Mir wurde es ganz schwarz vor den Augen und die Kniee brachen mir zusammen. Ich mußte mich niedersetzen, aber nicht für lange.
„Olga, hieß es in mir, Olga nur wenige Schritte von dir [] 54 weg! Mir schlugen alle Pulse, es gab mir auch Kraft. Ich sprang auf, rannte durch das Hinterhaus in den Anbau, die fünf Treppen hinauf, ja, da stand der Name auf einer Thür. Ich klopfe, leise werde ich hereingerufen. Ich mache die Thür auf, da sitzt sie, eine kleine Lampe steht vor ihr und wirft den matten Schein auf ihre Gestalt. Sie ficht auf nach mir, todtenblaß und o, wie eingefallen, aber es ist Olga! Ich stürze zu ihr hin und falle in meine Kniee, ich konnte nicht mehr. Meinen Kopf auf ihrem Schooß, weinte ich laut. Olga war ganz still. Sie legte ihre Hand auf meinen Kopf und streichelte mich lange. Endlich sagte sie: .Martine, so bist du gekommen?' O, das war die alte Stimme, die hatte sich nicht verändert. .Martine, bist du wirklich gekommen?' sagte sie noch einmal. .Sieh, oft wie ich so krank war und im Fieber lag, da sah ich dich hier hereinkommen. Du legtest mir die Kissen zureicht und warst so gut mit mir. Und wenn der brennende Durst kam, da tratst du zu mir heran mit dem klaren Master, nach dem mich so sehr verlangte; aber wenn ich die Hand danach ausstreckte, warst du weg. und Alles war nur ein Traum. Und einmal legtest du mir frische, rothe Rosen auf s Bett, die dufteten so schön! Ich sagte: Hast du sie aus dem Garten am See geholt? Aber ich erwachte an meinen Worten, die schönen Rosen waren weg und du warst ja auch nicht da. Bist du wirklich gekommen, Martine? Wie hast du mich gefunden?"' [] I „ ,Olga! Olga!' rief ich. als ich endlich ein Wort herausbringen konnte, ,wie konntest du mich so lange lassen und mir kein Wort von dir sagen! O hätte ich das gewußt! ^ Hätte ich das gewußt!' Und dann mußte ich sie mischn, ihr so recht in die Augen sehn, ob sie's auch wirklich sei. Es war ja wohl Olga, aber wie sah sie aus! Wie waren diese Augen eingesunken! Und welch ein Zug von Schmerz ^ und Traurigkeit lag um ihren Mund. Das hatte Olga nie gehabt. Ich sing noch einmal zu weinen an, das Leid um ^ sie wollte mir das Herz abwürgen. Olga verstand wohl, j was in mir vorging. Sie nahm meine Hand und sagte, ! ich solle nicht traurig sein um sie, das Schwerste liege lange ! hinter ihr, jetzt sei ihr wohlcr, als ich denken möchte. Und ^ dann konnte sie so herzerfreuende Worte zu mir reden, wie j nun Alles gut sei, weil ich da sei und welch' schöne Tage ! wir nun zusammen haben werden, wie in alter Zeit, daß ich ivieder ganz froh wurde und es gar nicht genug bekommen konnte, ihr zuzuhören und immer wieder mich zu versichern, daß es Olga sei, die mir alle die freundlichen Worte sagte und die gar nicht verändert war in ihrem Herzen gegen mich. Und es war ja wirklich Olga, die wohlbekannte Stimme, die so zu Herzen geht, wie keine sonst. Endlich mußte ich gehn, es war ja lange über Mitternacht, aber morgen und übermorgen und so mancher Tag noch lag vor mir, den ich nun mit Olga verleben konnte. In jener Nacht ! schlief ich aber keine Minute, fort und fort sah ich Olga vor [] 56 mir und hörte sie reden und dachte: Was muß sie erlebt haben! Wie krank muß sie gewesen sein! Ich war wie im Fieber. Früh am Morgen darauf klopfte es an meine Thür, es war die Wirthin. Sie wollte wissen, was ich mit dem kranken Fräulein ausgemacht habe, es sei ihr am Abend zu lange gegangen, mich abzuwarten. Ich glaube fast, die Neu- gierde trieb sie so früh zu mir her; sie sagte freilich, sie gehe nach Einkäufen aus mit ihrem Burschen, da habe sie gedacht, wenn das Fräulein den Buben haben wollte, so könnte sie die Sache für mich abmachen, ihr Bursche fände die Frau schon auf, der kenne sich aus in diesen Löchern und Winkeln. Wir hatten kein Wort von dem Buben geredet, wie Hütte ich noch daran gedacht, da ich Llga fand; aber ich war froh, wie mir nun Alles wieder in den Sinn kam. Jch sagte der Wirthin, ich habe in dem Fräulein ganz unerwarteter Weise eine alte Freundin gefunden, sie solle nur ja den Buben anwerben, daß er jeden Tag zwei Mal herkomme, das Fräulein dürfe nie mehr selbst ihre Sachen besorgen, der Kleine müsse einen guten Lohn haben dafür. Tie Wirthin sah mich hier so zweifelhaft an, daß es mich in's Herz stach. Ich sagte ihr, ich sei bei dem Fräulein in Schulden von früher her, und ich sei mehr als froh, daß ich jetzt Etwas davon abtragen könne, den Buben übernähme ich, sie solle ihn nur sicher herbringen. Sie sagte, jetzt sei's schon recht, dann ging sie. An demselben Abend noch kam der kleine Fran§ois gelaufen mit funkelnden Augen. Ich [] 57 steckte ihn in ein neues Manischen und setzte ihm eine Mütze aus den Kaps, und nun hättest du das schmucke Bürschchen sehn sollen, wie es da stand und andächtig zuhörte bei Allem, was ich ihm vorsagte. Er mußte mir dann versprechen, pünktlich Alles zu halten und je am Morgen und am Abend an die Thüre des Fräuleins zu klopfen und Alles ganz so zu thun, wie ihm geheißen werde. ,Oui Llaäamo', sagte der Kleine unermüdlich auf jedes meiner Worte, und nun zum Beginn sollte er gleich einen Strauß frischer Rosen holen und dann jeden Morgen einen solchen dem Fräulein bringen, wenn er herkomme; das dürfe er nie vergessen, prägte ich ihm ein, dann müsse er auch nicht mehr Hunger haben, sondern von heute an täglich hier sein Mittagessen bekommen, daß er recht satt werde. Nun ging mein Büblein still und voll Pflichteifer davon und ich schaute ihm nach, und wie es ein paar Schritte vom Haus weg war, that es einen großen Sprung in die Luft und jauchzte ganz erstaunlich.
„Fetzt kam eine Zeit, die werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Bon Paris hatte ich genug gesehn, das Uebrige konnte Joseph allein genießen. Vom Morgen früh an bis spät in die Nacht hinein saß ich oben bei Llga in ihrem Dachstübchen. Was waren das für Tage so schön und so voller Freude und wieder so traurig. Skga erzählte mir Alles, was sie erlebt hatte, und ließ mich auch Blätter lesen, die sie geschrieben hatte in einer Zeit, da sie ihr Leben kaum mehr zu ertragen vermochte, wie sie sagte, und keinen [] 58 Menschen hatte, zn dem sie reden konnte. Wie lernte ich jetzt erst Liga kennen! Viel mehr werth ist sie, als ich je gewußt hatte. Was konnte ich von ihr lernen und was würde Jedes hören und lernen können, das mit ihr zu- !
sammcnkäme! O nie in meinem Leben werde ich das j kleine Fenster vergessen, an dem wir da zusammensaßen und über die abscheulichen Höfe hin in lauter schwarze Dächer und Kamine Hineinsahn. Sie saß auf dem alten Strohstnhl und ich auf ihrem Koffer, vor uns stand das viereckige Tischchen von Tannenholz und daneben ihr Bett. Da >var noch ein kleiner, wurmstichiger Kasten, und zwei schäbige, blaue Vorhänge hingen an den Fenstern, Alles so ärmlich! Aber mitten drin saß Llga wie eine Königin, die nicht dahin gehört, die man eingekerkert hat, aber sie sieht nicht darauf, auf ihrer Stirne steht es geschrieben. Sie weiß wohl, bald muß die Thüre ausgehn, und sie wird frei und geht zurück in ihre Herrlichkeit. So war sie, Hetth, so sah sie aus, wenn sie nur erzählte von all dem Leid, durch das sie gegangen war und dann von ihrem Trost und der bleibenden Freude, die sie gefunden hatte." — Hier stand Martine auf, trotz Hetty's mächtigem Widerstand, denn nun sollte ja Llga's Geschichte folgen, die sie kaum erwarten konnte, und gerade da wollte Martine abbrechen, das konnte doch nicht sein. Aber Martine blieb dabei. Ihr Bruder habe ihr auf der Pariser Reise so viel nachgegeben, daß sie ihm nun auch ein wenig zu Gefallen [] leben müsse. Er habe Geschäfte abzuthun in der Stadt, die mehrere Tage in Anspruch nehmen würden; dabei »volle sie ihm, so viel sie könne, behülflich sein. Die Nachmittagsstunden wollte sie bei Hetty zubringen und ihr da Alles zu Ende erzählen.
Martine zog beim Fortgehn noch ein Heftchen Blätter hervor und legte es in .Hetty's Hand, das sollte sie lesen; die Blätter waren von Olga's Hand geschrieben, wohl zu verschiedenen Zeiten, sie lagen lose auseinander.
Ihrem Versprechen gemäß kam Martine die folgenden Tage wieder, und aus ihren mündlichen Mittheilungen, wie aus den geschriebenen Blättern, als lebensvoller Ergänzung, wurde Hetty mit Allem bekannt, was Olga in den Jahren ihres räthselhaften Verschwundenseins erlebt hatte.
[]viertes Capitel.
Endlich hatte Olga das letzte Hinderniß überwunden; bereitwillig war sie auf die Bedingung eingegangen, ihren Namen abzulegen, keinem Bekannten den nun angenommenen zu nennen, noch je einen von ihnen von dem Orte ihres Auftretens in Kenntniß zu setzen. Sie konnte nicht begreifen, daß man so sehr dagegen eingenommen war, sie den idealen Weg betteten zu sehn, den sie vor sich sah und für das Schönste hielt, das ihr das Leben bieten könnte. Sah sie doch darin den direktesten Weg zum Ziel ihres ganzen Stte- bens, zur Veredlung ihrer selbst und aller derer, die ihr nahe kamen, und auf wie Viele einzuwirken wurde ihr in dieser Weise Gelegenheit geboten. Olga kam nach Dresden. In dem Lehrer, der sie erwartete und der sie in die nöthigen Kenntnisse und Vorbereitungen für die Bühne einzufiihren hatte, fand sie den Mann, dessen sie bedurfte. Er regte an, er begeisterte und — was Olga mehr Noth that — er sichtete mit kundiger Hand die gesammelten Schätze ihres Geistes. Die reiche, aber unklare Welt ihres Innern cnt- [] faltete und ordnete er in einer Weise vor ihren Augen, daß ihr selbst erst jetzt klar wurde, was ihr wirklich eigen war und zu ihrem Wesen gehörte. Erst durch die Ausscheidung alles Geringeren trat ihr der reiche Besitz des Vorzüglichen und dessen Kostbarkeit voll ins Bewußtsein und konnte sie denselben nun auch mit der ganzen Kraft ihrer gesunden Natur erfassen und verwerthen. Was je an tiefen und hohen Gedanken die Menschenbrust bewegt, was je die Edelsteu und Besten dieser Welt gelebt und ausgesprochen hatten, das wurde ihr Eigenthum, das sprach, das lebte sie nach. So flogen ihr die Monate wie Tage dahin, es wurde ein Jahr daraus, und schon ging das zweite zu Ende, als ihr Lehrer sie mit der Nachricht überraschte, es stehe ihr eine ganz erwünschte Stelle in Aussicht, für welche er sie vorgeschlagen habe. Seiner Leitung sei sie nun entwachsen und vollständig ausgerüstet für ihren Beruf. Die Anstellung, um die es sich handelte, war an einem ihrem Lehrer wohl bekannten Theater in Prag, wohin sie schon nach wenig Tagen zu einem Gastspiel erwartet wurde.
Nach der alten Stadt Prag zu gehn, leuchtete Olga ein, dazu in der Rolle der Maria Stuart zum ersten Mal aufzutreten, war, was sie nur wünschen konnte. Sie fühlte sich vollkommen sicher in der Darstellung der unglücklichen Königin, hatte sie doch dergestalt in ihr Schicksal und Wesen, ja in jedes ihrer Worte sich hineingelebt, daß es ihr war, als habe sie beim Wiederholen derselben durch die Erinnerungen [] 62 eines eignen, vergangnen Daseins zu gehn. Nach wenig Tagen reiste Olga von Dresden ab, begleitet von ihrem Lehrer, der bei diesem ersten Auftreten seiner Schülerin zugegen sein wollte und der für Olga so väterlich besorgt war, daß er sie nicht allein ziehn und, wie er sagte, nicht allein ihren ersten Contrakt abschließen lassen wollte, da nur er wisse, was sie werth sei.
Der Abend war da. Olga trat auf. Viel tausend Augen und Gläser sah sie auf sich gerichtet, große Schaaren von Menschen saßen stumm und gespannt da und erwarteten ihre Worte. So hatte sie sich's nicht vorgestellt.
Einen Augenblick verlor sie den Muth. Wie konnte sie an diese Menge heran die Worte sprechen, die ihr das Herz bewegten? Aber hatte sie nicht eben jetzt die Herzen dieser Schaaren in ihrer Gewalt? Konnte sie nicht alle zu derselben hohen Bewegung der Seele erheben, die sie erfüllte? Noch einen Schritt trat sie vor, blaß und zaghaft, als träte die leidende Königin wie scheu in das ungewohnte, freie Sonnenlicht heraus. Es war eine lautlose Stille. Ihre Stimme zitterte leise bei den ersten Worten, aber sie fuhr fort: „. . . . Diese Flitter machen die Königin nicht aus. Man kann uns niedrig behandeln, nicht erniedrigen."
diun war sie drin. Die Stimme wurde fester, sie vergaß die Umgebung, sie war Maria. Die Scene im Garten folgte. Hier konnte Olga ihre ganze warme, poesieerfüllte [] Seele in die Worte hauchen, die sie selbst forttrugen in steigender Bewegung. Als sie den Jubel des Genusses der lang entbehrten Freiheit mit den Worten schloß: „Noch mehr! O die brannte Stimme, Schmerzlich süßer Erinnerung voll Ost vernahm sie mein Ohr mit Freuden Auf des Hochlands bergigen Haiden Wann die tobende Jagd erscholl" — da hatte es wie ein elektrischer Schlag durch die Menge gezuckt. Ein überlauter Jubel brach los. Aber die Scene mußte zu Ende geführt werden; der Lärm wurde gedämpft.
Ter Schluß des Aktes kam. Da stand die gedemüthigte, dann schmählich verhöhnte Königin vor ihrer machtvollen Gegnerin. Es mußte Olga leicht werden, hier mit vollendet natürlichem Stolze sich zu erheben und die höhnende Feindin vollkommen und mit solch überlegner Hoheit zu Boden zu schmettern, daß das augenblickliche wie versteinernde Ergriffensein der Menge begreiflich war. Jetzt brach der langverhaltene Beifall mächtig los. Maria mußte erscheinen; wieder und wieder; Blumen und Kränze wurden von allen Seiten zu ihren Füßen geworfen. Mit jeder Scene steigerte sich nun die laute Theilnahme. So tief hatte Olga in keiner ihrer Proben das Schicksal durchgelebt, dessen Trägerin sie heute war. Ob das lebendige Mitgefühl so vieler Menschenseelen dazu beitrug? Sie kam zum Schluß. Noch einmal zitterte ihre Stimme, aber nicht mehr vor Scheu. Sie sah keinen Menschen mehr. Vor ihrem innern Auge stand die [] 64 zum Tode bereite Königin, deren letzte, mildversöhnte Worte sie noch zu sprechen hatte: „Es war der schwerste Kampf, den ich bestand, Zerrissen ist das letzte ird'sche Band.
Ich fürchte keinen Rückfall, meinen Hast Und meine Liebe hab' ich Gott geovfert."
Es kamen die Schlußworte, bevor Maria ihren letzten Gang anzutreten hatte. Die lautlose Stille wurde nur von unterdrücktem Schluchzen durchbrochen.
Das Stück war zu Ende.
Jetzt brach ein Sturm los, wie ihn das Schauspielhaus lange nicht gehört hatte. Das Heraustreten der Maria wurde so lange und immer neu verlangt, daß sie entschieden verweigern mußte, nochmals zu erscheinen, wie laut und stürmisch auch ihr Name noch durch das Haus erscholl.
Jetzt trat ihr Lehrer zu ihr heran, eben als sie sich zum Weggchn bereit machte. Er schwamm vollständig in Entzücken. Er sührte seine Schülerin an den Wagen und brachte sie nach ihrer Wohnung.
„Mehr als man erwarten konnte, mehr als ein Mensch erwarten konnte, und ich erwartete viel!" sagte er wieder und wieder, und seine väterliche Freude machte ihm die Augen naß.
„Das habe ich Ihnen zu danken", versicherte ihm Liga, „und daß Sie dabei waren, ist mir das Liebste am ganzen Erfolg." [] Schon am folgenden Tage trat der Lehrer bei ihr ein mit den Vorschlägen zn einer festen Anstellung am Theater. Sie war mit Allem einverstanden, das Geschäftliche wurde schnell in Ordnung gebracht. Dann mußte eine passende Wohnung gefunden werden, und erst als Olga wohl geborgen und frohen Herzens in ihrer neuen Heimat fest saß, von ihrem treuen Mädchen bedient, das ihr aus Dresden her gefolgt war, verließ sie der väterliche Freund mit dem Ausspruche, er sehe sie als ein selten bevorzugtes Wesen an, da sie, was nur Wenigen gelinge, den Lebensweg gefunden, der ihr nach Neigung und Verlangen, wie nach Begabung und Tüchtigkeit, vollkommen angemessen sei, was allein den glücklichen Menschen mache.
Die Wohnung, welche Olga bezogen hatte, lag nahe bei dem alten, sturmtrotzenden Clam-Galas-Palast, unweit der schönen Karlsbrücke, nach welcher Seite hin sie gleich von Ansang am liebsten ihre Schritte lenkte, um unter den schattigen Platanen am Franzensquai hin und her zu wandern und der ruhig fließenden Moldau nachzublicken, oder über die statuenreiche Brücke hin nach dem hohen Hradschin auszuschauen. Diese hoch thronende Kaiserburg, die ihre Thürme und Zinnen in den Himmel hebt und stolz be- ! herrschend weit über Stadt und Fluß und das Gefilde niederschaut, zog sie vor Allem mächtig an. Kein Tag verging nun mehr, daß sie nicht ihren Gang machte nach der schattenreichen, immer stillen Baumallee, am leise dahin ziehenden Berichollen rc. 5 [] 66 Fluß. Manche Stunde saß sie da auf ihrer Bank unter der vollblättrigen Platane, im Angesicht des thronenden Hrad- schins, der grünen Bergabhänge, die bis zum Fluß herniedcr- steigen und der stolzen Brücke drüben, mit all den steinernen Bildern, die schon so bekannt herübcrblickten. Da war ihr denn in kurzer Zeit, als hätte sie schon lauge hier gelebt, als wäre die alte Stadt ihr längst bekannt und heimisch. Da wollte sie bleiben, ihre wirkliche Heimat hier aufschlagen, an diesem Orte, der beim ersten Anblick sie gewonnen hatte und wo bei ihrem ersten Erscheinen sie eine Freundlichkeit erfahren, die nicht ohne Eindruck aus ihr empfängliches Gemüth geblieben war. Olga war sich ihrer Macht bewußt geworden; sie wollte diese brauchen, die Menschen um sich her zu heben, sie zu begeistern für die edelsten Güter dieser Welt. Ta stand sie endlich an dem lange und mit all ihren Kräften erstrebten Ziel.
Jetzt wurde „Tasso" vorbereitet.
Olga war mit ganzer Seele dabei. In der Prinzessin Leonore hatte sie nicht in eine Andere sich hineinzuleben, es war ihr eignes Wesen, das sie zur Erscheinung bringen konnte, in Worten, die mehr als ihre eignen es vermochten, den wahren, vollen Ausdruck ihrem Sein verlieh».
Ein Strahl der hellen Morgensonne fiel eben in Olga's Zimmer, wo Pauline, ihr treues Mädchen, das lange Lockenhaar der Herrin ordnete.
[]67 „Mach schnell", drängte diese, es mus; wunderschön sein draußen, ich möchte nach der Baumallee hin!
Pantine mochte nach einem Gegenstand suchen, der das Fräulein interessiern könnte, ihr Werk war noch keineswegs zll Ende und sie war damit genauer, als Olga selbst.
„Haben Sie schon den Gast gesehn, Fräulein, der den Tasso spielen soll?" begann sie nun ihre gesnndene Unterhaltung. „Man spricht so viel von ihm."
„So! wer spricht denn so viel von ihm?" fragte Olga.
„O Jedermann, die Leute vom Theater, in den Kaufläden, und Jeder, den man so sieht, Alle sagen, kein Anderer komme ihm gleich. Er war schon einmal hier längere Zeit, dann ging er nach Wien, und hier konnten sie es kaum erwarten, daß er wieder kam. Jetzt ist ein rechter Aufruhr vor Freude, daß er wieder da ist. Alle Leute sind für ihn eingenommen, sogar Alle am Theater, die ich kenne. Drüben ini Kunstladen hängt sein Bild, haben Sie's schon gesehen?"
„Nein, wie sieht er denn aus?"
Pauline meinte, er sehe aus, als wäre er recht ernsthaft, fast traurig und so, als spräche er nie ein Wort und denke nur immer nach. Die Augen lägen ihm so tief und dunkel im Kopf drinnen, und das Gesicht sei so scharf geschnitten, wie das von der Bildsäule in Dresden, bei der das Fräulein immer stehen geblieben. Sie habe auch gehört, er sei sehr groß und gehe immer ganz aufrecht einher. Aber am merkwürdigsten sei die Stimme, die erkenne man unter Hunderten 5 * [] - 68 aus dem Theater, wenn man sie einmal gehört und wenn man auch die Augen zumache.
„Ich bitte dich!" sagte Olga. „Bist du bald zu Ende? Woher hast du alle diese Berichte?"
„O man hört hier ein Wort und da ein Wort", ent- gegnete Pauline, „und jetzt spricht Alles von Herrn v. D., Alle am Theater und wo man hin kommt. Er heißt überall der .schwarze Tasso', weil er so schwarz aussieht, Haar und Augen und Augbraunen und so das Ganze, und weil man ihn in dieser Rolle so gern sieht. Jetzt freut man sich auch recht, daß Sie Beide in diesem Stück neben einander auftreten."
„So. Kann ich endlich gehn?" Olga stand auf, das Werk war wirklich zu Ende. „Und hör, Pauline", sagte sie jetzt mit bestimmten Ton, „laß dir's noch einmal im Ernst gesagt sein, daß du dich mit den Leuten am Theater in keine Plaudereien einlässest, davon will ich Nichts!"
Die Proben waren vorbei gegangen, die Aufführung des Tasso war auf den folgenden Tag bestimmt. Von dem schwarzen Tasso hatte Olga außer den Worten seiner Rolle ivcuig vernommen. Fast die ganze Zeit durch, da er nicht selbst thätig war, hatte er schtveigend, in einer Ecke sitzend, zugebracht und die Andern beobachtet. Daß er sie, die neu Angekommene, besonders scharf sixirte, fand sie ganz begreiflich. Offenbar war er kein gesellschaftlicher Mensch; keiner der andern Schauspieler machte sich an ihn heran, keinem [] 69 näherte er sich. Olga war er immer mit vorzüglicher Höflichkeit begegnet, hatte aber, außer den Worten seiner Rolle, wenig andere an sie gewandt. So wie die Proben zu Ende waren, verschwand er. Der Ton der tief klingenden, melodisch-weichen Stimme hatte Olga sogleich eigenthümlich berührt; auch war ihr der natürlich-schmerzliche Ausdruck des sonst so ruhigen Gesichtes in mancher bewegten Stelle des Stückes aufgefallen, vor allen bei Tasso's wehmüthiger Klage: „O saßt' ich nur noch einmal seine Hand Nur einmal noch zu sagen: ,O verzeiht!'
Nur noch zu hören: ,Geh, dir ist »erziehn!'
Allein ich hör' es nicht, ich hör' es nie!"
Der Sonnenschein fiel mild,-und lieblich auf die golden angehauchten Herbstbäume am Franzensquai. Es war still und menschenleer da in diesen Nachmittagsstunden. Nur hier und da saß ein lahmer Alter aus einer Bank unter den Platanen und schaute geruhlich auf den sonnebeschienenen Boden zu seinen Füßen.
Olga war schon einige Male der grünen Moldau entlang auf und nieder gegangen. Nun setzte sie sich auf ihre lange schon erwählte Bank, und den Rücken der Banmallee zugekehrt, schaute sie dem ruhig dahinfließenden Wasser nach. Nicht lange hatte sie, in ihre Gedanken vertieft, da gesessen, als von der Brücke her, die Allee entlang, eine hohe Männer- gestalt sich nahte. Es war wie eine Fortsetzung ihrer Ge- [] 70 danken. Mit diesem Menschen hatten sie sich eben beschäftigt, und Olga war es, als habe sie erwartet und gewußt, daß der seltsame Tassv daher kommen werde. Er mußte sie von Weitem.schon erkannt haben. Ohne Besinnen schritt er aus die Bank zu und fragte mit großer Höflichkeit, ob er sich neben Olga setzen dürfe, was sie gern erlaubte. Eine Weile saßen sie schweigend neben einander. Olga dachte, ihr Nachbar sei in den Anblick des herrlichen Bildes versunken, das vor ihnen lag.
Jetzt wandte er sich zu Olga; als wären seine Worte nur eine Forsetzung von Ausgesprochenem oder nur Gedachtem, sagte er: „Sollten Sie wirklich den Ausblick auf die steinerne Burg und all die Kirchen- und Klosterthürme dort oben demjenigen vorziehn, der Ihnen im Rücken liegt? Ich kenne nichts Wohlthuenderes, als in diese reichen Baumgipfel hineinzuschauen, wo leise die Sonnenstrahlen durchbrechen und die Blätter alle in grün-goldenen Schimmer tauchen."
Olga war sehr erstaunt.
„Ich freue mich der Aussicht vor uns täglich von Neuem", sagte sie. Nie werde ich müde über die ruhig fließende Moldau hin,- auf nach dem majestätischen Schloßbcrg zu schauen, den eine so erinnerungsreiche Vergangenheit umweht, daß es mir die Seele weitet, darauf zu verweilen."
„Diese Vergangenheit hat viel beunruhigende Töne", be- [] merkte Herr v, D., „das stille Baumleben da drüben nicht Einen."
„So wenden Sie Ihre Blicke immer der Allee zu, wenn Sie hieher kommen? Das hätte ich nicht gedacht", sagte Olga verwundert.
„Das hätten Sie nicht gedacht, mein Fräulein, und warum denn nicht?" fragte Herr v. D. in seiner ruhigen Weise.
„Weil ich geglaubt hätte", erwiderte Olga lebhaft, „dieses großartige, von der Natur wie von des Menschen Hand so herrlich ausgerüstete Gemälde müßte mehr zu Ihrem Wesen stimmen, als solches Stillleben der Natur."
Olga hatte eben vorher ähnliche Gedanken in ihrem Herzen bewegt, jetzt wußte sie aber selbst nicht recht, wie sie dazu gekommen war, diese auszusprechen. Herr v. D. schwieg.
„Sie sind noch nicht lange auf der Bühne", bemerkte er nach einer Weile.
„ Nein, hier in Prag bin ich zum ersten Mal aufgetreten. Sie haben wohl den Neuling bald durchgefühlt", bemerkte Olga.
„Sogleich", sagte Herr' v. D. lächelnd. „Daß nur der Hauch der Alles umgestaltenden Zeit solchen Neuling niemals berühren möchte."
Olga schwieg. Einen Augenblick schaute sie verwundert den Menschen an, den sie so kurz erst kannte, der ihr doch [] 72 vorkam wie ein alter Freund, mit dem sie lange schon zu verkehren gewohnt war.
„Ich hatte den entgegengesetzten Eindruck von Ihrem Spiel", sagte sie dann, das Gespräch wieder aufnehmend. „Sie müssen in dieser Rolle so daheim sein, daß Sie jeden Hauch der Stimme in Ihrer Gewalt haben. Ihr Spiel und Wesen war so ganz Eins, daß mir vorkam, Sie mußten sich selbst kaum mehr von Tasso unterscheiden können."
„Mein Uebergehn in Tasso's Wesen ist mehr Natur als Kunst, das ist ganz richtig", entgcgnete Herr v. D.; „fing doch die Ähnlichkeit unserer Wege so früh schon an! Stur selbst Erlebtes sage ich in jenen Worten: „Und zog die schöne Welt den Blick des Knaben Mit ihrer ganzen Fülle herrlich an, So trübte bald dm jugendlichen Sinn Der theuren Eltern unverschuldet Leid. lind öffnete die Lippe sich zu singen, So floß ein traurig Lied von ihr herab."
„O wie traurig!" rief Olga in reger Theilnahme aus. „Was konnte nur so früh solch' tiefe Schatten in Ihr junges Leben werfen?" Sie erschrak aber ein wenig und fügte schnell hinzu: „Verzechn Sie, mein Mitgefühl trägt die Schuld, zu solcher Frage habe ich ja gar kein Recht."
„Ein wahres Mitgefühl ist besser als ein Recht", erwiderte Herr v. T. in der freundlichsten Weise. „Kann es wirklich Interesse für Sie haben, zu wissen, wo und wie [] 73 ich eine leidcrsiillte Kindheit und Jugendzeit zugebracht habe? "
„ O gewiß, ein großes Interesse", versicherte Olga. „Aber einmal waren Sie doch ein fröhliches Kind. Jeder ist das doch einmal im Leben, nicht wahr?"
„Mancher wohl kurz genug", erwiderte Herr v. D. „Ich erinnere mich Eines ungetrübt frohen Tages meiner Kindheit, meiner ganzen Jugendzeit. Ich ging zwischen hohen Taxushecken und Resedabeeten hin mit meiner Mutter. Sie hielt mich an der Hand. Die Resedablumen dufteten, und Sonnenschein lag aus den Hecken und auf dem grünen Rasen dazwischen. Mir war sehr wohl. Meine Mutter liebte ich über Alles; sie war bei mir, und um uns war Alles Schönheit und sonnige Stille. An jenem Abend trat mir die Freude des Daseins in's Bewußtsein, um nie mehr so wiederzukehren. Von der scheidenden Sonne fielen die Strahlen so auf meine Mutter, daß sie ganz von Goldglanz umflossen neben mir stand. Wie war sie so lieblich!" Herr v. D. hielt inne, er wollte wissen, ob er Olga nicht ermüde; sie bat dringend darum, er möchte fortfahren und recht ausführlich erzählen. Er fuhr fort: „Gleich nachher muß meine Mutter krank geworden sein. Wir wanderten nie mehr im Garten zusammen, ich saß fortwährend an ihrem Bette, da war ich nicht fortzubringen, auch nach dem Garten nicht mehr. Meine Mutter muß eine sehr Poesiereiche Natur gewesen sein, sie sagte mir die [] 74 Menge Lieder und Romanzen vor, wenn ich so bei ihr saß; ''Alles wußte sie auswendig, und wie lebendig wurden die Worte in ihrem Munde!
Wie zitterte ich bei ihrem Erzählen um den Handschuhritter im Löwenzwinger! Wie schlug mir das Herz vor Tank und Freude, wenn der gute Fridolin gerettet wiederkam ! Mit welch' fieberhafter Spannung verfolgte ich erst den Trachcnkampf. Tann mußte Alles dargestellt werden. Schubladen wurden zu Trachenhöhlen, Fensternischen zu Kapellen, das offne Kamin zum Löwenzwinger, alle Stühle zu Kampsrvssen. Ich war die handelnde Hauptperson, die Mutter alle Andern. Das waren herrliche Stunden! Aber oft mitten im Spiel kam ein tiefer Schmerzenszug auf der Mutter Angesicht, sie legte den Kopf zurück und wurde todes- blaß. Eine Weile lag sie dann unbeweglich und sagte kein Wort mehr. Tann kroch ich zu ihrem Bett hin und weinte, und alle Freude war vorüber. Ich glaube, so ging es jeden Tag. So vergingen mir die Kinderjahre. Von der Liebe und der Poesie meiner Mutter genährt und getragen, hätte ich ein schönes Dasein gehabt in unserer Abgeschiedenheit, und Nichts weiter verlangt, aber ihr Leiden trübte mir jeden froh begonnenen Lebenstag." „Doch vcrzeihn Sie", unterbrach sich hier Herr v. T., „ich vergesse mich in der Erinnerung; so lange darf ich Sie nicht in Anspruch nehmen."
Aber Olga bat auf's Neue, Herr v. D. möchte weiter [] 75 erzählen, und recht eingehend, nun sei ja ihr Interesse erst recht rege geworden.
„Sie lebten also auf dem Lande", sagte sie, wieder in die Erzählung einlenkend; „darf ich auch wissen wo? Und Ihr Vater?"
„Ich erzähle Ihnen gern weiter, wenn es Ihnen nicht zu viel wird", fuhr Herr v. D. fort. „Gewiß, wir lebten Sommer und Winter auf dem einsamen Gute, das mein Vater schon als Kind bewohnt hatte und das auf ihn, als einzigen Sohn, übergegangen war, wie es dereinst auf mich übergehn sollte, welcher Gedanke meines Vaters Glück und Stolz ausmachte. Das Gut liegt in Schlesien. Noch sehe ich die fernen blauen Linien der Schneekoppe und des waldigen Kienasts drüben am Horizont über die dunkeln Taxushecken in den Garten hereinschauen. Mein Vater war ein stiller, immer ernster Alaun; heiter sah ich ihn nie, so wie die Mutter manchmal mitten aus ihren Leiden heraus sein konnte.
„Ich glaube, der Zustand meiner Mutter machte ihn immer ernster und schweigsamer. Er war freundlich gegen mich; aber wenn er in das Krankenzimmer der Mutter kam und lange Zeit schweigend und düster in der Fensternische stand, fühlte ich mich gehemmt in meinem schönen Spiel; ein unbestimmtes Gefühl sagte mir, daß mein Vater keinen Sinn für meine Ritter und Drachen habe, die doch mein ganzes Leben erfüllten und mir näher standen, als alle Ge- [] 76 stalten der Wirklichkeit. Tann kam die Zeit, da ein Erzieher in's Haus einzog. Nun ging es an's Lernen. Nur meine Erholungsstundcn konnte ich noch am Bette der Mutter zubringen; das that ich auch treulich, und sie war mein bester Lehrer. An ihrer Hand, angeregt durch ihre warme Theilnahme und ihre lebensvolle Auffassung, wurde ich mehr und mehr mit den Werken unserer Literatur, vor Allem mit unsern Dichtern bekannt. Es war dies das einzige meiner Lehrfächer, das mich fesselte und in dem ich meinem Lehrer Freude machte. Ich war sechszehn Jahre alt, da starb meine Mutter. Mit ihr war mir Alles ausgestorben. Mein Later wünschte nun, daß ich einige Jahre auf einer hohen Schule zubringen und dann zu ihm auf das Gut zurückkehren sollte, uui da zu bleiben. Ohne die Mutter auf diesem Gute, allein niit dem noch schweigsamer gewordenen Vater zu leben, stand mir als das Traurigste vor Augen, das die Erde mir bieten könnte. Ich zog gern auf die Schule, mit Freuden kann ich nicht sagen, Freude kannte ich keine niehr. Ich studierte fleißig, um zu vergessen, was hinter mir lag, um nicht daran zu denken, was mir bevorstand. Aber die Zeit kam, da ich in die gcsürchtete Einsamkeit, in das öde Vaterhaus zurückkehren sollte. Ich brachte es nicht über mich. Es gab einen einzigen Lichtpunkt für mich auf Erden, das Leben auf der Bühne, dahin zog es mich noch. Da konnte sich einmal noch mein Inneres ausschließen, da fand ich alle Poesie, alles Hohe und Begeisternde, das ich im wirklichen Leben [] entbehrte, da konnte ich noch eine Art von Lebensgliick finden. Ich theilte meinem Vater meinen Wunsch mit. Er schrieb mir einen vernichtenden Brief. Mein Wunsch war für ihn ein Schwert, das ihn mitten in's Herz traf. Sollte ich ihn ausführen wollen, so müßte ich mir sagen, ich habe seine letzten Lcbenshoffnungen vernichtet, alle Bande, die ihn noch an dieses Dasein knüpften, durchschnitten, ich habe den sichern Nagel in seinen Sarg geschlagen. Tann sagte er mir einige zärtliche Worte, wie er solche nie vorher an mich gerichtet hatte, daß ich nur noch umkehren, seine stillen Tage mit ihm theilen und mit ihm das Andenken meiner Mutter ehren möchte. Das Andenken meiner Mutter! Ehrte ich dieses nicht!
Alle meine Gedanken waren mit meiner Mutter verknüpft, Alles, was mich hob und begeisterte, das allein mich auf die Bühne zog, hing mit Erinnerungen an meine Mutter zusammen. In meinem verödeten Vaterhause war sie ja nicht mehr, dahin konnte ich nicht zurückkehren. Ich betrat die Bühne. Auf wiederholte Briefe an meinem Vater erhielt ich keine Antwort mehr. Es ging mir gut. Ich wollte mir einen Namen machen und dann meinen Vater zu versöhnen suchen. Da erhielt ich die Nachricht seines plötzlichen Todes. Auch diesen Schatten noch auf meinen Lebensweg! Ich kann es nun versteh», wie dieser schweigsame, aber tief fühlende Mann in solcher Einsamkeit von seinem Gram und so viel quälenden Gedanken hat verzehrt werden [] 78 müssen. Ich war der quälendste sür ihn, das weiß ich nur zu gut."
Herr v. D. schwieg plötzlich. Er schaute vor sich hin und blieb stumm.
Auch Olga hatte lange geschwiegen. Voll warmer Theilnahme sagte sie dann: „Schauen Sie nicht mehr zurück auf die Vergangenheit, blicken Sie vorwärts, machen Sie durch ein schön und edel angewandtes Leben an der Gegenwart gut, was Sie sich vorzuwerfen haben für vergangne Tage. Bieten Sie denen, die leben, von Ihren reichen Gütern, mit denen Sie die Dahingeschiedenen nicht erfreuen konnten. Ihnen ist zu viel Anderem auch noch der schöne Trost geblieben, der für so Viele zum hohen Genusse wird, daß Sie das Wort in vollster Wahrheit sagen können: , Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, Gab mir ein Gott, zu sagen, was ich leide.'
Und in welcher Weise können Sie es sagen!"
Herr v. D. blickte auf. Mit dem weichen Klang seiner tiefen Stimme sagte er: „Es gibt einen Trost, der mir ganz anders wohlthun kann, das ist die Theilnahme eines Menschenherzens, die mir geschenkt wird. Sollten Sie solche für mich empfinden können?"
„Gewiß habe ich herzliche Theilnahme für Sie gefaßt", erwiderte Olga in ihrer gradsinnigen Weise. Sie reichte Herrn v. D. ihre Hand, er hielt sie fest in der seinigen. Jetzt stand Olga aus.
[]79 „Für mich ist es Zeit, nach Hause zu gehn", sagte sie, ihre Hand leise zurückziehend. „ Morgen werde ich unter den Bäumen von Belriguardo wieder mit Tasso zusammentreffen."
Herr v. D. bcgleitetcte Olga schweigend bis zu ihrer Thüre; dann verliest er sie.
Am solgenden Tage sand die Aufführung des Tasso statt.
Unter den Bäumen von Belriguardo trafen Tasso und Leonore zusammen, aber seltsam. Es war als wären sie nur da für sich, als sprächen sie nur zu einander, nicht für die Menge, die da versammelt säst, um zuzuhören. Wie einfache Wirklichkeit tönten die Worte Tasso's an ihr Ohr, die er mit der stillen Wärme sprach, welche nur das lebendige Gefühl aushaucht: „So war auch ich von aller Phantasie Von jeder Sucht, von jedem falschen Triebe Mit Einem Blick in deinen Blick geheilt.
Wenn unerfahren die Begierde sich Nach tausend Gegenständen sonst verlor, Trat ich beschämt zuerst in mich zurück Und lernte nur das Wiinschenswerthe kennen."
Auch ihr flössen die Worte ohne Hinzuthun jeglicher Kunst warm und lebendig von den Lippen: „Wie schön befriedigt fühlte sich der Wunsch Mit ihm zu sein an jedem heitern Abend!
Wie mehrte sich im Umgang das Verlangen, Sich mehr zu kennen, mehr sich zu verstehn!
Und täglich stimmte das Gemüt sich schöner Zu immer reinern Harmonien aus." [] 80 Wie ein schwellender Strom rauschte die erst so gehaltene Rede des schwermüthigen Dichters daher, wie er nun mit flammenden Blicken ausrief: „Beschränkt der Rand des Becher« einen Wein Der schäumend wallt und brausend überschwillt!
Mit jedem Wort erhöhest du mein Glück, Mit jedem Worte glänzt dein Auge Heller.
Ich fühle mich im Innersten verändert, Ich fühle mich von aller Noth entladen, Frei wie ein Gott und Alles dank' ich dir."
Jetzt brach der Beifallssturm, der bis dahin um der Ruhe willen oftmals gedämpft worden war, unaufhaltsam los. Tausendstimmig erscholl der Ruf nach Tasso, auch Leonorens Erscheinen wurde stürmisch verlangt. Es machte keinen Eindruck aus sie. Tos Berauschende des Beifalls, das sie als Maria Stuart empfunden, war gänzlich vorüber. Sie stand ivie träumend an eine Coulisse gelehnt und hörte den Lärm draußen wie Etwas, das sie Nichts anging. Jetzt trat Tasso zu ihr heran, er faßte sie bei der Hand, um sich mit ihr aus der Bühne zu zeigen. Das Haus erbebte von dem Lärm der entzückten Menge.
Olga folgte erst willenlos, dann besann sie sich: „Es gilt ja Ihnen", flüsterte sie beim Eintritt und wollte stehn bleiben. Aber eine feste Hand hielt sie und zog sie leise zwingend mit sich fort. Jetzt schob Tasso sie mit leichter Bewegung voran, Leonore mußte den ersten Freudenstrom für sich gelten lassen. Sie ließ Alles geschehn, sie fügte [] 18/8 81 sich unwillkürlich dem Willen, der so sanft und doch so bestimmt über sie gekommen war.
Das Schauspiel war zu Ende.
Noch einmal stand Olga an Tasso's Hand vor der jubelnden Menge, dann führte er sie zu ihrem Wagen.
„Das war Tasso, der ächte Tasso", sagte Olga beim Einsteigen.
„Nur die ächteLeonore vermag einen solchen zu erwecken", entgegnete Herr v. D.
„Erst seit heute weiß ich, wie Tasso sprach, wie Tasso schwieg", sagte Olga wieder, indem sie ihm die Hand zum Abschied reichte.
„Erst seit heute weiß ich, wie Tasso empfand." Herr v. T. drückte die Hand, der Wagen fuhr weg.
Ueber Olga hatte sich ein Zustand nie gekannter Lebenswonne ausgebreitet. Sie fühlte ihr ganzes Dasein wie getaucht in einen süßen Sonnenschein, der alle Kräfte und Keime ihres Wesens durchdrang und sie zu vollen Blüthen entfaltete.
Ein erhöhtes Leben durchströmte sie. War es doch, als ob Alles, das sie sah und hörte, aus einmal einen viel tiefern Sinn bekommen, als ob jedes Ding um sie her einen höhern Werth erhalten hätte. Jeden Morgen war das erste Gefühl des neuen Erwachens das eines vollkommnen Glückes, wieder einen Tag des schönen Erdenlebens vor sich zu haben.
«erschollen,c.
6 [] 82 Olga wußte, was ihr diese Fülle des Daseins erschlossen hatte. Es war das Zusammentreffen mit einem Wesen, daK ihr im Innersten verwandt war, das mit ihr auf Einem Wege dasselbe ideale Ziel erstrebte, das in allen geistigen Eigenschaften sie so weit überragte, daß jede Stunde, die sie mit ihm verlebte, ihr zum Gewinn wurde.
Und dieser Mann, von dem sie wie von keinem andern Lebenden angezogen war, hatte für sie eine Aufmerksamkeit, wie er solche für keinen Andern zeigte. Er fand sie, wo sie sein mochte, er wußte so gut, auf welchen Wegen sie zu treffen war. Er blieb verschlossen und schweigend, wo er auftrat, bis Olga sich zeigte, dann wandte er sich zu ihr, und nie war er es, der den Faden brach, wenn sie, im Gespräch vertieft, die Stunden unbemerkt an sich vorbeiziehn ließen. Wie wurde ihr Blick geweitet, wie gewann ihr Urtheil an Sicherheit, durch diesen täglich sich erneuernden Austausch der Gedanken mit ihm! Sie wurde von ihm verstanden, wie sie es nie im Leben erfahren hatte, aus halbem Wege schon, und sein klares Verständniß machte ihr das eigne oft erst völlig klar. Führte er sie auf die Wege seiner eignen Gedanken, daß sie auch ihn verstehe, da ging ihr mit jedem Schritt ein neues Licht, ein neuer Blick in die Tiefen des Menschenherzens aus. Aber was sie höher schätzte als all' seine geistigen Gaben und Güter, war, daß sie in ihm gesunden, woran ihr Herz geglaubt, was sie als Höchstes gesucht hatte, einen Menschen, dessen ganzes Wesen das Ideal [] 1 83 _ darstellte, nach dem auch ihre Natur sich ausstreckte unablässig, wie jede Pflanze sich ausstreckt nach dem Sonnenlicht.
Die Tage waren dahingegangen, kaum konnte Olga begreifen, wie ihr der Herbst entschwunden war, als sie entdeckte, daß ihre Bäume an der Moldau entblättert standen und das dürre Laub ihr unter den Füßen rauschte. Länger als gewöhnlich hatte sie an diesem letzten, milden Spätherbsttage draußen verweilt. Es war schon dunkel, als sie in ihre Wohnung trat. Auf der Treppe stand ihr Mädchen in so eifriges Gespräch vertieft mit einer Fremden, daß es die Eintretende erst gar nicht bemerkt hatte. Nun Olga vor ihr auf der Treppe stand, erschrak Pauline, verabschiedete in Eile die vor ihr Stehende und folgte ihrer Herrin. Olga trat ohne Bemerkung ein. Das Mädchen mochte ein Gefühl von Unrecht im Herzen haben; wie sich entlastend sagte es: ,, Ja, Fräulein, wenn man aber auch Dinge hören muß, die man kaum glauben kann! Wer hätte denken können, daß Herr v. D. kein Ehrenmann sei!"
„Was erlaubst du dir, Pauline?" fuhr Olga auf.
„Wenn's aber aus der ersten Hand kommt, fo muß es wohl wahr fein, ich will Ihnen auch Alles erzählen", sagte Pauline eifrig. „ Da ist die junge Sängerin, Fräulein Nina, mit den braunen Augen, die sich abhärmt und ihre Augen verweint, und es ist kein Wunder, wenn man weiß, daß Herr v. D. eine ganze Zeit lang sie immer aus allen Andern heraussuchte und mit ihr spazieren ging und sie be- 6 » [] 84 suchte und dann auf einmal sie vergessen hat und gar nicht mehr sieht und beachtet. So Etwas ist auch von einem großen Herrn nicht schön."
„Pauline", sagte Olga mit zurückgehaltener Aufregung, „du weißt, daß ich dich nur unter der Bedingung mit hierher genommen habe, daß du dich von allen Klatschereien fern hältst, die an jedem Theater vorkommen und gewöhillich aus den geringsten Motiven hervorgehn. Laß es das letzte Mal sein, daß ich so Etwas von dir höre!"
Als Olga allein in ihrem Zimmer saß, stieg ihr das Gehörte wie ein Vorwurf auf, als wäre in ihrem eignen Hause ihrem nahen Freunde ein schweres Unrecht geschehn. Sie wollte es gut machen, sobald sie ihn am nächsten Morgen sehn würde. Nicht daß sie ihn von dem niedrigen Geschwätz in Kenntniß zu setzen dachte, nur ihm mehr als je ihr gänzliches Vertrauen zeigen wollte sie.
Als sie am nächsten Morgen ihren Gang zur Probe machte, traf sie, in das Gebäude tretend, auf die braunäugige Nina.
Zum ersten Mal faßte Olga beim nahen Borbeigehn das Mädchen fest in's Auge und seltsam — das konnte keine Täuschung sein —, auch Nina schaute sie besonders an; ein langer, wie fragender Blick war's, den sie auf Olga gerichtet hatte. Wie ein Stich ging er ihr durch's Herz. Sie fragte sich warum? Zum ersten Mal stieg ein Gefühl von Zweifel, von Verdacht in ihrem Innern auf. Ein eisiger Griff in [] ^85 ihr Herz mochte es stille stehn; dann schlug es wieder, rasch wie nie vorher. Die Probe mußte sie mitmachen, dann eilte sie hinweg.
Jetzt mit Herrn v. D. zusammentreffen, wie sie's gewohnt war, konnte sie nicht. Auf ihrem Zimmer saß sie und staunte vor sich hin, unfähig, sich von dem beunruhigenden Eindruck zu befreien, den sie nicht zum klaren Gedanken zu gestalten vermochte, der als ein unbestimmtes Bangen sie quälend verfolgte.
Jetzt trat Pauline bei ihr ein. Sie konnte nicht ertragen, ihre Herrin so schweigsam und verändert zu sehn. Sie hatte sich gedacht, ihr Schwatzen habe das Fränlein verdrießlich gemacht, und bat um Verzeihung. Sie wollte in ihrem Leben nie wieder plaudern; aber was wahr sei, bleibe doch wahr, versicherte sie.
Olga wollte wissen, wie das Mädchen dazu komme, so fest zu behaupten, es hätte nur Wahres ausgesprochen. Pauline erzählte bereitwillig, die Frau, von der sie Alles wisse, sei die Arbeiterin, die dem Fräulein die hübschen Kleider- broderien liefere. Wenn sie nun hie und da zu dieser in's Haus gegangen sei, um ihr Arbeit zu bringen, dann habe so ein Wort das andere gegeben, und in der letzten Zeit habe die Frau oft gejammert und sich beklagt bei ihr, daß sie solche Sorge um ihre Tochter Mna haben müsse, die sei gar nicht mehr dieselbe, die sie früher gewesen, nicht mehr zu erkennen. Gesundheit habe sie sonst nie viel gehabt und [] 86 nun lasse sie sich noch von Kummer zerfressen, und so habe ihr die Frau nach und nach Alles erzählt, schloß Pauline, und sie habe nicht gedacht, etwas Böses zu thun, als sie die Frau tröstete.
„Was", fragte Olga, mit Gewalt ihre Bewegung unterdrückend, „Alles, was du mir gestern von der jungen Sängerin gesagt, hättest du von ihrer eigenen Mutter gehört?"
Pauline bestätigte nochmals, daß sie die ganze Sache von der Mutter vernommen habe, daß diese es auch gewesen sei, mit der sie sich am vorigen Abend auf der Treppe ein wenig vergessen habe, nachdem ihr die Frau das neue Kleid für das Fräulein übergeben hatte.
Als Olga wieder allein mit ihren Gedanken saß, fing die unbestimmte Qual an mehr und mehr feste Gestalt zu gewinnen. Könnte es sein? Könnte dieser Mensch trügen? Könnte er sie, könnte er Andere hintergehn? Nein, so war es nicht, das wußte sie bestimmt. Aber wie war es möglich? Wie war Alles zu erklären? Klarheit mußte sie haben. Sollte sie hingehn unter die Platanen? Da mußte er jetzt aus- und niedergehn, vielleicht ihrer wartend. Nein, das war sie nicht im Stande. Wie war Gewißheit zu erlangen? Schon ging der Tag zur Neige und noch saß sie an ihrem Fenster, ihre Gedanken wurden immer unruhiger. Drüben am alten Clam-Gallas-Palast blickten die dunkeln Steinfiguren sie immer finsterer an; sonst schaute sie so gern hinüber, jetzt sahn- sie schrecklich aus! Sie stand auf [] 87 und verließ das Fenster. Es gab einen Weg, sich Gewißheit zu verschaffen, sie wollte ihn gehn.
Früh am nächsten Morgen fragte sie ihr Mädchen um die Adresse der besprochenen Frau, sie wollte dieser neue Arbeit bringen. Pauline schaute erstaunt ihre Herrin an: Sollte sie nicht die Sache besorgen können? Olga erwiderte kurz, diesmal wolle sie selbst es thun.
Auf dem bezeichneten Wege fand sie sich leicht zurecht Sie stieg die vielen Treppen des alten dunkeln Hauses hinan Zu oberst angelangt, wurde es Heller. Sie schaute durch das Fenster am Ende des schmalen Ganges, es ging nach dem Franzcnsquai hinaus, gerade auf ihre Bank hin konnte man sehn. Die Thüre wurde ihr von einer Frauengestalt aufgemacht, welche Olga beim ersten Blick als die Mutter der braunäugigen Nina erkannte, wie sehr auch das ehmals schöne Gesicht eingefallen und verwittert aussah. Halb elegante, halb armselige Kleidungsstücke hingen an der Frau. Olga machte ihre Bestellungen und gab dann ihren Namen ab.
„ O", sagte die Frau, „ den Namen kenne ich schon, habe auch schon öfter für die Dame gearbeitet. Die Dame ist am Theater, da habe ich auch meine Bekanntschaften. Die Dame kennt wohl auch meine Tochter Nina?"
„ Wenig, nur von weitem", entgegnete Olga, „ gesprochen habe ich sie nie. Sie sieht zart aus."
„Ja, ja, ist es auch und war es immer", fiel die Frau eifrig ein; „aber blühend wie eine Rose war sie bis zu [] 86 dieser verwünschten Zeit, da sie sich die jungen Augen ausweint und ihre jungen Tage verkümmert, daß sie alle Farbe verliert."
„Was hat das Mädchen für Kummer?" fragte Olga. Die Warte kamen ihr halberwürgt aus dem Halse heraus.
„Ach was sollte es für ein Kummer sein!" sagte die Frau ironisch. „Nichts Neues. Tie Dame kennt ja wohl den Herrn v. D., der am Theater ist, und weiß Wohl, wie der spielt! Es ist auch wahr, er spielt, wie's kein Anderer ihm nachthut, und so ist er im Umgang. Kein Mensch glaubt's, der ihn nicht nah gekannt hat; das habe ich aber» denk' ich. Wie oft kam er hierher in dies kleine Zimmer und saß bei uns und las dem Mädchen Sachen vor und sprach zu ihr, wie nie Einer vorher, und that, als hätte er ein Interesse für ihren hintersten Gedanken. So ging's» bis sie nicht mehr ohne ihn sein konnte, dann blieb er weg und kani nicht mehr. Wenn ich das Mädchen frage, was da vorgefallen sei, so sagt sie, da sei gar Nichts vorgefallen, und wenn ich meine Meinung sage, so thut. sie noch, als wäre ich im Unrecht. Aber seither ist's vorbei mit ihr. Da grämt sie sich herum und sieht aus wie ihr eigner Schatten. Aber ich hab' es ihr zum Voraus gesagt. Nina, sagte ich, wie er das erste Mal kam und ihr Bücher brachte» und es ist wahr, sie hat viel von ihm gelernt, es war ihm an ihr gelegen, aber, sagte ich zu ihr: 'nimm's nicht zu Herzen. Ich weiß, wen ich jedes Mal zu Besuch gesehn [] habe bei der schönen blonden Norwegerin, wenn ich in Geschäften zu ihr kam, so lange sie hier am Theater war."
Olga war ausgestanden. Sie hatte genug gehört, noch mehr anzuhören war ihr unmöglich. Sie entschuldigte sich, daß ihre Zeit nicht weiter reiche. Nun entschuldigte sich auch die Frau, daß sie mit ihrem Erzählen die Dame aufgehalten. es werde ihr aber zu viel, die Sache so allein zu tragen, sie müsse ihre Last etwa ablegen bei einem theil- nehmenden Menschen.
„ Tas Kind ist ja meine einzige Stütze und Hülfe ", schloß sie, halb in Jammer, halb in Zorn, „ und er hat sie unglücklich gemacht, er hat uns ruinirt."
In diesen! Augenblick öffnete sich die Thüre, und Nina trat herein. Als sie Olga gewahr wurde, flog über ihr blasses Gesicht eine brennende Nöthe. Olga grüßte. Sie erwiderte den Gruß und wandte sich weg. Sie mußte die letzten Worte der Mutter gehört haben. Plötzlich wandte -sie sich wieder um und sagte in höchster Entrüstung: „Tas war ein Unrecht von dir, Mutter."
„Da sehn Sie's, Fräulein, da hören Sie's selbst", rief die Frau aus und faßte in ihrer Aufregung Olga's Hand und Arm, um sie fest zu halten, denn Olga hatte das Zimmer verlassen wollen. „Tas soll man Alles nur hinnehmen. Erst gewöhnt er sie an sich, bis sie nur noch von ihm lebt, wie eine Primel von der Sonne; dann läßt er sie am Schatten sitzen, bis sie verkommen ist, und es soll [] 90 noch ein Unrecht sein, wenn ich es sage, wenn ich nur sage, was wahr ist."
„Mutter", sagte Nina jetzt mit verhaltener Aufregung, die durch die Stimme zitterte, „und wenn auch Alles ganz so wäre, wie du sagst, so wollte ich es lieber so, als daß ich ihn nie gekannt hätte."
Olga hatte sich losgemacht, sie eilte fort. Draußen schien die blasse Novembersonne über die alte Stadt hin. Sie konnte nicht in ihr Haus eintreten, sie fürchtete sich, allein mit ihren Gedanken in die Stille zu kommen. Sie eilte der Brücke zu, gegen den Hradschin hinauf, sie wollte den weiten Ausblick aufsuchen, der von oben her die ganze Umgebung beherrscht, daß ihre Gedanken sich ausweiten möchten, daß sie von ihrer eignen Persönlichkeit abgezogen würden, daß sie befreit werden könnte von dem stechenden Weh, das ihr ganzes Wesen durchdrang. Nun stand sie oben auf der Terrasse und schaute über Fluß und Brücken, über die baumreichen Gründe und auf die alte Stadt nieder, — es war, wie wenn Alles anders geworden wäre. So trüb und reizlos lief die Moldau dahin, so kahl, so schaurig standen die blätterlosen Baumgängc, so düster schaute die alte Stadt herüber, als wäre lauter Jammer in diesen Mauern. Olga wandte sich weg, da konnte sie nicht bleiben. Sie lief die hohen Schloßtreppen hinab. Auf den Stufen saßen wie immer die alten Bettler und murmelten ihre Bitten. Olga war zu hastig heute, um sie zu bedenken, wie [] 91 sonst. Nur dem gekrümmten Mütterchen, das auch heute still in seiner Ecke gekauert saß, drückte sie schnell Etwas in die Hand und lief weiter. Aber das Mütterchen rief ihr nach und noch einmal, und winkte sie dringlich zurück. Olga stieg wieder hinauf zu ihr, was konnte sie wollen? Die Alte ergriff ihre Hand und sagte in böhmischer Sprache ihr unverständliche Worte, immer dieselben, die Hand nicht loslassend. Olga betrachtete das runzlige Gesicht der schneeweißen Alten. Wie lange mochte sie schon auf diesen Stufen gesessen haben, in Sonnengluth und Winterfrost Ihre Augen sahn ganz erloschen aus, sie mußte blind sein.
Olga wollte ihre Hand zurückziehn, aber die Alte gab nicht nach, sie wollte sich verständlich machen. Jetzt hörte sie Fußtritte nahn, ein eigenthümlich aussehendes Männchen kam die Treppen herauf, die Alte mußte den Schritt kennen: „Nick", rief sie und winkte den Kommenden zu sich heran.
Sie hielt noch immer Olga's Hand, küßte sie jetzt wieder und sagte eifrig ihre Worte und Einiges noch, zu dem Manne gewandt. Dieser kehrte sich nun zu Olga, indem er mit seltsamer Würde seine Mütze tief - vom Kopfe zog und sagte: „Die alte Blinde will, daß ich Gnaden danke in ihrem Namen und ich soll Gnaden wissen lassen, daß die Alte alle Tage zu Gott beten will, daß Er Gnaden ein sanftes Sterbestündlein geben wolle." Etwas weniger gravi- [] 92 tätisch setzte er dann hinzu: „Gnaden haben die Alte auch gut beschenkt, sie kann es brauchen, ein sanftes Sterbestündlein kann man auch brauchen." Damit ging der kleine Mann seines Weges.
Erst jetzt sah Olga, daß sie sich vergriffen, daß sie der Alten Gold, nicht Silber in die Hand gelegt hatte; diese mußte es gleich gefühlt haben. Die Freude der Alten und ihr gutes Versprechen thaten Olga einen Augenblick wohl; sie drückte die magere, runzlige Hand und eilte fort.
Nun stand Olga auf der Brücke. Sie lehnte sich an den Sockel einer Bildsäule, sie konnte nicht weiter, eine lähmende Müdigkeit war über sie gekommen. Einen Augenblick wollte sie ausruhn; aber rastlos, wie unter ihr die eilenden Wellen der Moldau, so verfolgten sich in ihrem Kopf und Herzen die quälenden Gedanken immer unruhiger, immer peinlicher. Sie stand wieder auf und fuhr zusammen, war ihr doch, als schaute ein lebendiges Auge auf sie nieder, da sie in das stille, ernste Antlitz des Märtyrers blickte, an den sie sich gelehnt hatte, ohne es zu wissen. Sie hatte das ruhige Angesicht nie so gesehn, wie konnte ihr dieser Ausdruck entgangen sein! Eine Weile lang konnte sie ihr Auge nicht abwenden von dem Manne mit dem heiligen Buch in der Hand und dem Angesicht voller Frieden. Wußte dieser denn Nichts von Leid und verzehrenden Qualen? fragte sie sich. Sie lehnte sich von Neuem au die Statue und fiel in ihre grübelnden Gedanken zurück. Jetzt trat ihr [] Jemand nahe, sie schaute auf, es war der seltsame Mensch, der ihr auf der Treppe den Wunsch der Alten übersetzt hatte. Wieder nahm er seine Mütze tief herunter und stellte sich vor Olga hin.
„Gnaden sind wohl fremd in Prag. Könnte man Gnaden einen Dienst erweisen? Die Kirchen zeigen? Die alten Säle im Hradschin? Vergegenwärtigen, was da geschehen ist?"
Halb unterthänig, halb überlegen hatte der kleine Mann zu Olga gesprochen. Sie schaute ihn an, wer konnte er sein? War er ein verkommner Gelehrter? War er nur ein uuter- thäniger Lakai? Seine stechenden, schwarzen Augen waren auf sie gerichtet, etwas leidenschaftlich Unruhiges lag in dem Blick.
Olga dankte für das Anerbieten, sie hatte keinen Wunsch irgend Etwas anzusehn. Der seltsame Nick stand noch immer vor ihr. „Gnaden lehnen sich da an einem Guten an", sagte er wieder, indem er mit Ehrfurcht zu der Statue em- porschaute. Gnaden kennen wohl unsern Vater Nepomuk?
Der hat viel Elend gesehn, schon zu seiner Zeit und seit er hier aus der Brücke steht. Wer kann wissen, wie er die Sanftmuth aus dem Gesichte behalten hat, als gäbe es doch eine Gerechtigkeit und käme Jeder noch zu seinem Recht. Gnaden kennen die Geschichte von Prag?"
„So ziemlich", erwiderte Olga, zu keinem weiter« Gespräch geneigt.
[]_ 94 „ O, erlauben Gnaden, das ist der Ort der Geschichte^ die sollten die Fremden auf dem Platze hören. Da steht der Hradschin da droben, das alte Kaiserschloß, und schaut auf die Brücke herunter. Da hat auch der wilde Wenzel drin gehaust, der zorumiithige König, von dem haben Gnaden wohl auch gehört und wie die Königin, seine Gemahlin, schön und fromm war, und von allen Böhmen geliebt.
„Und wenn nun der König wild und rachsüchtig war, so war sie still und sagte kein Wort der Widerrede und ging fleißig in die Kirche. Wie sie's aber vermochte und die Sanftmuth dabei behielt, das wußte Keiner, als nur Einer, und konnte es wissen, das war ihr Beichtvater, dieser hier, mit dem friedlichen Angesicht. Und einstmals war der König mit seiner Gemahlin wild umgegangen, daß Alles floh und Keiner mehr dabei sein wollte. Und wie er Tages darauf sieht die Königin von der Beichte kommen, schickt er hin nach dem Beichtvater, daß er vor ihn komme, und er kommt. Da befiehlt ihm der König, daß er die Beichte seiner Gemahlin hersage. .Nimmermehr!' erwidert der heilige Vater. Den zweiten Tag läßt ihn der König wieder rufen und gebietet ihm dasselbe. , Niemals!' sagte der heilige Vater, , und keine Macht soll mich dazu bringen!' ,Das wollen wir sehn', ruft der wilde Wenzel höhnisch und läßt den heiligen Vater auf die Folter werfen. Am dritten Tag heißt er ihn nochmals kommen und redet die gebrochene Gestalt mit Spott an und fragt, ob der Vater mürbe sei und endlich gehorchen wolle.
[].Nimmermehr, so wahr Gott lebt, will ich diese Sünde thun!' entgegnete der ehrwürdige Vater. Da ruft der König seine Henkersknechte zusammen und läßt seiner Gemahlin sagen, sie solle an ihr Fenster treten, so könne sie sehn, was ihr gefallen müsse. Und wie die Königin da oben an ihr Fenster tritt, so sieht sie, wie die Henkersknechte den ehrwürdigen Vater greifen mit rohen Händen und stürzen ihn hier iiber die Brücke in das tiefe Wasser der Moldau hinunter, da wo wir stehn."
Der seltsame Erzähler hatte mit solch intensivem Gefühl gesprochen, so, als wäre Alles soeben geschehen und sein eigenstes Interesse damit verknüpft, daß er Olga aus sich herausgerissen und seinen Worten zu folgen gezwungen hatte. Ihr krankhaft erregtes Gemüth wurde von der Erzählung mit Gewalt ergriffen. Sie schaute nach dem Fenster des Hradschins hinauf, wo die Königin gestanden und zugeschaut hatte, wie sie den zum Tode brachten, der um sie litt. Da unten floß die grüne Moldau dahin, wie damals, als die Königin auf die Gräuelthat herniedersah.
„Ach wie viel Elend!" rief Olga aus und verbarg ihr Gesicht in ihre Hände.
„ Ja, ja, und für die Königin war's noch nicht zu Ende", fing Nick auf's Neue an. „Einstmals in einer Nacht war sie aufgestanden und an's Fenster getreten und schaute hinab auf ! die dunkle Moldau. Wer kann wissen, was für Pein und marternde Gedanken den Schlaf von ihren Augen scheuchten! [] So stand sie da inmitten der Nacht. Nun liebte der König Wenzel die wilden Hnnde und hatte immer eine Koppel um sich, so auch in seinem Schlasgemach. Und eine der Bestien sprang auf die Königin und packte sie scharf, und sie schrie wohl auf und bat um Hülfe. Aber der Wenzel wollte seine Dogge nicht verletzen und wer weiß, was in seinem rach- grimmigen Herzen war: dort an ihrem Fenster hat er die zitternde Frau von der Dogge zerreißen lassen. Da lag sie am Morgen erwürgt in ihrem Blut.
Und seither hat der heilige Vater noch mehr gesehn und gehört. Was er nur drüber denkt, wie's hier unten zugeht! Aber Gnaden sollten sich zurückziehn, sehn ermüdet aus, empfehle mich Gnaden!"
Damit zog der seltsame Nick seines Weges.
Olga hatte sich am Sockel der Statue niedergesetzt; sie war zum Erliegen ermattet und wie von schweren Lasten niedergedrückt. Ihr war, als ob der „Menschheit ganzer Jammer" sie erfaßte. Das eigne bittre Leid, der Anderen Noth und Angst, das Weh so Vieler, Alles lag auf ihr als ein großes, erdrückendes Elend. Sie saß da, kraft- und muthlos. Sie suchte nach einem festen Halt, daß sie sich daran klammere und aufschwinge, aus diesem Zustand hüls- losen Darniederliegens. Sie sah aus nach einem sichern Gute, daß sie daran sich Muth und Freudigkeit erhole. Sie hatte solchen Halt und solches Gut gekannt. War sie nicht immer über alles irdisch Enge und Hemmende hinwegge- [] hoben worden durch ihre idealen Güter, von denen sie lebte, tzurch das hohe Ziel, das sie vor Augen hatte, die großen Menschen, denen sie nachstrebte in Liebe und Bewunderung. Warum konnte sie ihre Ideale nicht als festen Trost ersassen wie vorher? War sie eine Andere geworden? War Alles um sie her verändert mit einem Mal? Wo sie hinsah, trat ihr Trug und Täuschung entgegen, Selbstsucht und Ungerechtigkeit, Elend und Jammer. Fort, aus diesen Umgebungen weg, vor Allem aus der Nähe des Menschen weg, an dem sich ihre Lebenskraft und Freudigkeit zerschellt, durch den ihr der Glaube an jedes Ideal erschüttert worden war! Nur fort von hier, um wieder zu genesen! Dies war ihr erster, klarer Gedanke, der zum Wollen wurde. Sie stand auf, ihr fester Wille siegte über die ermatteten Kräfte. Sie warf keinen Blick mehr zu den Fenstern des Hradschin hinauf, auch keinen mehr aus die sortrauschende Moldau; wie verfolgt von gefürchteten Mächten, eilte sie über die Brücke. Sie wollte in die Stadt einbiegen — da stand Herr v. D. vor ihr. Er hatte, unter den Platanen wandernd, sie von fern schon sehen können und war ihr wohl entgegengegangen. Sie müßten noch einmal sich zusammen freuen am scheidenden November-Sonnenstrahl, sagte er, für lange wohl zum letzten Mal, denn nach dem düstern Roth am Himmel zu schließen, sei ein Schneesturm im Anzug. Olga sollte ihn für einen Augenblick nach ihrer Bank begleiten, sie schaute ja so gern nach der Moldau, wenn Svnnenschimmer Verschollen ic. ? [] 98 auf drin grünen Wasser lag. Es war der gewohnte, einnehmende Ton, dem Slga so oft, so gern gefolgt war.
„Jetzt nicht", antwortete sie hastig; „ich kann nicht, ich bin auch müde, ich muß nach Hause."
Es war nicht Llga'S gewohnter Ton, in dem sie eben gesprochen hatte. Einen Moment schaute Herr v. D. sie durchdringend an, dann sagte er, sie bei der Hand nehmend: „Ja, Sie müssen müde sein, Sie sehn völlig erschöpft aus, ein Grund mehr, daß Sie sich einen Augenblick hier ausruhen." Damit sührte er Olga zu der Bank hin. Sie folgte ihm ohne Widerstand, sie war mehr von diesem Willen beherrscht, als sie je selbst gewußt hatte.
Der Sonnenschein lag blaß auf den gelben Blättern am Boden vor der Bank. Slga setzte sich hin an die Stelle, wo sie so oft neben dem Freunde gesessen in immer lebendiger fließendem Austausch der Gedanken. Sie konnte nicht mehr zu ihm reden. Herr v. D. schaute sie fragend an. Nach einer Weile sagte er: „ Sie denken nicht, daß die Schatten auf Ihrem Angesicht einem nahen Freunde entgehen könnten. Sollte ich Ihr Vertrauen nicht so weit besitzen, daß ich die Ursache Ihres veränderten Wesens kennen dürste?"
Noch schwieg Olga. Wie sollte sie reden? Was wollte sie sagen? Endlich brachte sie in abgestoßenen Worten die Fragen heraus: „Herr v. T., haben Sie mich getäuscht? Suchen Sie [] _ 99 ^ sich selbst zu betrügen? Haben Sie Fräulein Nina hinter- gangen? Täuschen Sie uns Alle?"
Herr v. T. schaute Olga verwundert an. „Ich verstebe Sie nicht", sagte er in einfacher Weise.
Mit Mühe begann Olga wieder: „Herr v. T., ich habe Fräulein Nina gesehn, sie ist gänzlich unglücklich. Sie haben sie an einen nahen Verkehr mit Ihnen gewöhnt, dann plötzlich verlassen und vergessen. .Sie haben wähl mehr ähnliche Beziehungen und — und —" mit einem Mal hielt Olga inne. Viel leidenschaftlicher, als sie es gewollt, war ihr Ton geworden, plötzlich hatte sie ihn selbst gehört und war erschrocken. Jetzt trat ihr die Frage entgegen: Welches Recht hast Tu denn an den Menschen? Die Auszeichnung, die er ihr bewiesen, seine warme Theile nähme für Alles, was sie betraf, seine ausschließliche Auf- merksamteit für sie, gaben ihr diese, gab ihr irgend Etwas das Recht, zu ihm zu sprechen, wie sie ttzat, wie sie eben noch thun wollte? Sie sagte kein Wort mehr.
„Ich will Sie zu Ende hören", bemerkte Herr v. T. ruhig.
„Ich bin zu Ende", war die kurze Entgegnung.
„Was Sie mir sagen, setzt mich in Erstaunen", sagte Herr v. D. so einfach und natürlich, daß es wahr sein mußte. Ich habe zu einer Zeit viel mit dem liebenswürdigen Mädchen verkehrt; ich hatte großes Interesse für Fräulein Nina, sie hat viel Talent und ist eine einnehmende Erschei- 7 * [] 100 nung. Ich sah, daß ich ihr auch einigen Rath ertheilen konnte, der ihr nöthig war. Sie hat wenig studiert, nimmt aber leicht und mit Verständniß auf, sie ist außerordentlich feinfühlend. Daß mir das kleine Veilchen in den Hintergrund getreten, seit auf meinem Wege die blätterreiche, farbenwarme Rose aufgeblüht ist, das dürfen Sie mir nicht so sehr zum Vorwurs machen, wem würde nicht dasselbe begegnen! Daß das gute Mädchen sich härmt darüber, davon wußte ich Nichts. Armes Kind! Aber so etwas heilt. Sie wird schon Genesung finden."
„Ich wollte, ich hätte diese Worte nie von Ihnen gehört, Herr v. D."; Llga's Ton mochte noch mehr als ihre Worte aussprechen, was in ihr vorging.
Ob Herr v. D. dagegen die Sache leichter behandeln wollte, als er sie selbst empfand? Fast wegwerfend ent- gegnete er: „Wie kann dieser unbedeutende Vorfall Sie nur so tief beschäftigen! Es wird ja bei dem Mädchen bald vorüber- gchn, da ist ein Trost möglich: ,Noch treffen sich verwandte Herzen an Und theilen den Genuß der schönen Welt?
Denken Sie nicht mehr an die Sache."
Olga stand auf. „ Ich muß gehn", sagte sie, die Stimme zitterte ihr vor verhaltner Aufregung. „Und, Herr v. D., ich muß fort von Prag, gleich, hier kann ich nicht mehr bleiben." [] 101 Noch einmal zog Herr v. T. sie auf die Bank zurück.
„Tieß kaun Ihr Ernst nicht sein", sagte er mit erzwungener Ruhe. Was kann Sie zu so unsinnigen, ganz unausführbaren Gedanken bringen! Sie stehn im Anfang einer glänzenden Carriere, Sie haben kontraktlich ein Engagement angenommen. Wollen Sie ihr Wort brechen? Wollen Sie Ihren Namen, Ihren ganzen Weg ruiniren? Nur im Moment einer vorübergehenden Aufregung können Sie einen so unbegreiflich verkehrten Vorsatz fassen; einmal ausgeführt, müßten Sie ihn Ihr Leben lang bereuen. Und, Fräulein Llga", fuhr er mit weicherem Tone fort, „denken Sie denn gar nicht an mich? Hatten wir nicht reiche, köstliche, unvergeßliche Tage zusammen? Ist Ihnen ein solches Verständniß von keinem Werth? Wollen Sie den Sonnenschein von meinem Lebenswege nehmen? Das können Sie nicht! Das thun Sie nicht! Geben Sie mir Ihre Hand darauf, Sie thun es nicht."
Herr v. T. war ausgestanden, er hatte sich vor Llga hingestellt und ihre Hände erfaßt.
„Führen Sie mich nach Hause", sagte Llga, „heute kein Wort mehr, ich kann nicht mehr."
„Versprechen Sie, keinen Schritt zu thun, der Ihr Verderben wäre."
Herr v. T. hielt ihre Hände fest, sie fühlte, wie die seinigen zitterten vor Aufregung.
„Ich muß fort", wiederholte Llga. Sie machte sich los [] 102 und stand entschlossen aus. „Fräulein Olga", sagte Herr v, T. mit einer vor Aufregung tonlosen Stimme, „ich werde einen Weg finden, Sie abzuhalten, Ihre Carriere zu verderben, Ihr Glück mit Füßen zu treten." Er bot ihr seinen Arm und führte sie nach ihrer Wohnung. Sie sprachen kein Wort mehr.
Olga war in ihr Zimmer eingetreten, von Pauline gefolgt, die sich nicht erholen konnte von ihrem Erstaunen. „So spät, und nirgends Mittag gehalten. Und ivic Sie aussehn", rief sie erschrocken, nun sie ihre Herrin recht im Licht sah. Sie wollte irgendwelche Erquickung herbeiholen. Olga sagte ihr kurz, sie habe Nichts nöthig, sie möchte allein bleiben. Später trat Pauline nochmals ein, sie meinte, es müsse Zeit sein, das; das Fräulein etwas genieße. Heute nicht mehr. sie sei müde, sagte Olga, Pauline möchte sie ungestört lassen.
Das Mädchen ging.
Da saß nun Olga allein, in der Stille, Konnte sie endlich ihre verworrenen Gedanken sammeln, daß sie einen Ausweg finden möchte aus der Verwirrung? Sie legte den müden Kopf in beide Hände und schloß die Augen. Da stand der beunruhigende Nick vor ihr mit seinem leidenschaftlichen Erzählen. Tann war es das verweinte Angesicht der braunäugigen Nina, das sie vorwurfsvoll anschaute. Tann erblickte sie oben auf dem Hradschin eine zitternde Frauen- gestalt am Fenster, die schaute auf die dunkle Moldau nieder.
[]103 Taun stand ihr Freund vor ihr mit durchdringendem Blick und wollte sie festhalten. Was sollte aber dann aus ihr werden? Heute war ihr klar in's Bewusstsein gekommen, was nun vor Allem sich in ihren unruhigen Gedanken be- bewegte, Ihr Freund hatte eine Gewalt über sie gewonnen, gegen die sie mit Macht ankämpfen mutzte, wollte sie sich nicht verlieren. Und dieser Freund, den sie bis jetzt so nah zu kennen glaubte, war heute ein Anderer für sie geworden. Wie sollte es weiter zwischen ihnen werden? Sie hatte nie ein köstlicheres Gut gekannt, als dieses nahe Frenndes- verhältnitz, sie hatte für alle Zeit keinen höher« Wunsch, als eS zu bewahren. Aber wie? Wenn nun auf dcS Freundes Wege eine neue Blume ausblühn, sollte? Der blosse Gedanke trieb ihr das Blut hcitz in die Wangen. Fort! Für immer weg und gleich! TaS war die einzige Rettung für sie. Sie wollte sich's ausdeuten wie? wann? wohin? Tann verlor sie den Faden und alle die brennenden Bilder des Tages stiegen wieder aus vor ihr und zogen an ihren ruhelosen Augen vorüber. Sie ward zuerst in die nächste Wirklichkeit zurückgerufen durch ein leiseS Klopfen an ihrer Thüre. Panline trat ein. Als Olga ausschaute, erblickte sie vor sich die erlöschende Lampe, es war Tag. Jetzt fühlte sie eine schaurige Kälte ihren ganzen Körper schütteln. Panline sah daS Fenster offen stehn, die rauchende Lampe aus dem Tisch, Olgas Anzug, Alles wie.am Abend vorher, da sie das Zimmer verlassen hatte. Ta stand auch das unberührte Bett.
[]104 Sie that einen lauten Schreckensrus, das Fräulein habe die ganze Nacht durch da gesessen und beim offnen Fenster! So war es gewesen. Erst jetzt empfand Olga die Wirkung dieser Nacht, nach einem Tage, wie der vorhergehende für sie gewesen war. Sie zitterte am ganzen Körper, ihr Kopf war wie Blei. Sie legte sich nieder, ihre Gedanken waren ermattet, nur Ruhe begehrte sie.
Aus diesen Morgen folgten für Olga Tage und Wochen, von denen sie keine andere Erinnerung hatte als die eines erstickend beängstigenden Gefühls, das ihr lange nachher noch quälend nachging. Sie hörte an ihrem Bette sagen: „ Typhus Tann sah sie, wie man sie bereit machte, um sie zu begraben. Sie wollte aufschreien, sie sei noch am Leben, aber ihre Stimme hatte keinen Ton, die Kraft zu schreien gebrach ihr. Dieser qualvolle Zustand mußte öfter wiedergekehrt sein.
Ihre erste klare Erinnerung war, daß sie eines Tages die Augen aufschlug und Pauline weinend an ihrem Bette sitzen sah.
„Warum weinst du, Pauline?" fragte sie, aber es ging ihr mühsam, die Worte zusammenzubringen. Pauline ging sofort aus ihren Thränen in Frohlocken über. Nun sei das Fräulein gerettet, rief sie aus; diesen Morgen habe der Arzt gesagt, wenn heute nicht eine große Veränderung eintrete, so müsse die Kranke sterben. Nun sei die Veränderung ja da, seit Wochen habe das Fräulein nie gesprochen wie eben jetzt. Und was Pauline jsür Angst um sie ausgestanden.
[]105 sollte die Kranke wissen, sie habe auch oft solchen Schrecken gehabt. Da in der Ecke habe die Kranke immer Einen stehen gesehn, den habe sie Nick genannt und ihn oft so flehentlich gebeten, er solle doch nicht mehr erzählen. Und dort am Fenster habe die Kranke wiederholt gerufen, da stehe die zitternde Frau und nun packe die Dogge sie an und sie schreie auf, und dann habe das Fräulein schrecklich aufgeschrien.
„ Erzähl mir dies nicht, Pauline", konnte Olgä noch leise sagen; dann schwand ihr das Bewußtsein wieder. Tann kam der Tag, da Olga zum ersten Mal wieder in ihrem Sessel am Fenster saß und um sich schaute. Draußen lag Schnee aus den Dächern. Alles um sie her sah sie fremd an, ihr war, als sähe sie Alles zum ersten Mal in der Wirklichkeit. Sie kannte die Dinge, aber so, als hätte sie alle einmal im Traum gesehn. Am alten Clam-Gallas- Palastc drüben standen die Steinfiguren finster blickend, wie sie sie einmal gesehn haben mußte vor langer Zeit. Sie suchte die Gedanken zu sammeln, die ihr damit zusammenhingen. Die Monate November, Dezember und bis in den Januar hinein, hatte Olga am Typhus daniedergelegen, immer zwischen Tod und Leben schwebend. Jetzt, in den letzten Tagen des Januar, hatte sie endlich ihr Lager verlassen können, um die ersten, halb warmen Sonnenstrahlen an ihrem Fenster zu genießen.
Der Arzt hatte jede leiseste Aufregung streng verboten.
[]106 Pauline erzählte kein Wort mehr von den Tagen der Krankheit. Nach Borschrift hielt sie alle Nachfragenden fern, sprach mich ihrer Herrin nie davon.
Als der Februar zu Ende ging und die Tonne anfing mit Kraft die Erde zu erwärmen, setzte sich der väterlich besorgte Arzt eines Tages neben Llga hin und erklärte ihr, feine Thätigkeit sei nun zu Ende bei ihr, jetzt müsse die Natur sich weiter helfen und ein guter kräftiger Sonnenschein sie unterstützen. Er ricth Llga, Prag so bald als möglich zu verlassen und für einige Monate nach Tüd-Frankreich zu gehn, im Sommer eine erfrischende Badekur zu machen, um dann im Herbst neubelebt wiederzukehren und Aller Herzen zu erfreuen. So schloss der freundliche Berather seine letzte Verordnung.
Ja, fort von Prag! Längst hatte Olga ihren Plan gemacht während der langen, müßigen Stunden der Genesung. Jetzt stand ihr Nichts mehr im Wege, die Krankheit hatte ihre Bande am Theater gelost, sie war längst ersetzt worden. Bon einer Erholungsreise und einem Monate 'dauernden Aufenthalt in Süd-Frankreich konnte für sie keine Rede sein. Ihr kleines Besitzthum war durch den Aufenthalt in Tresden rmd die lange Krankheit so weit aufgebraucht, daß ihr eben noch ein Rest zu der Reise und dem Ansang eines erst neu zu gestaltenden Daseins blieb. Nach Frankreich wollte sie gehn, dahin, wo Niemand sie kannte,^ und wo sie sich einen neuen Weg zu bahnen hoffte. Sie ließ Pauline in der Stille [] 107 Alles zur Abreise ordnen, sie wünschte unbeachtet sort zu kommen. Bon ihrer heimlichen Furcht, noch einmal mit dem zusammenzukommen, der Gewalt über sie hatte, wußte nur sie allein.
Die ersten Märztage waren mild und sonnig. Olga saß im Wagen mit Pauline und suhr nach dem abgelegenen Bahnhof. Noch einmal sah sie die grünen Wellen der Moldau langsam dahinrollen, noch einmal schaute sie nach dem Hradschin hinauf. Er blickte finster, und wie zum Himmel klagend, ragten alle die dunkeln Thürme empor. Wie hatte sich Alles so verändert! Da ging der Weg unter der Baum- allee hin und dort stand die Bank. O fort, nur sort, für immer!
Jetzt lag die Stadt hinter ihr. Tas Stationsgebäude ! war erreicht. In diesem Augenblick entdeckte Olga, daß sie ! ihre sämmtlichen Papiere, wohl verwahrt, in ihrer Wohnung zurückgelassen hatte. Pauline meinte, wenn das Fräulein im Wagen schnell zurückkehrte, konnte sie derweilen Alles in Ordnung bringen und die Zeit möchte noch zu dem be- i stimmten Zuge reichen. Olga erklärte, um keinen Preis kehre sie nach Prag zurück; Pauline möchte es thun, für die Besorgung der Sachen würde wohl Jemand zu finden sein. ; Pauline lief, sich danach umzuschn, kehrte auch bald mit der ! gesuchten Hülfe zurück. Ein Schrecken durchsuhr Olga, sie wollte abwehren, zu spät, schon stand der Gerufene am Wagen, es war Nick.
[]108 „Gnaden, noch in Prag?" sagte er mit sichtlicher Befriedigung über das Wicdersehn, seine Mütze tief herunter haltend.
Pantine fuhr nach ihrer Botschaft. Olga begab sich in einen Wartesaal; Nick besorgte seine Aufträge. Lange bevor Pauline zurückgekehrt sein konnte, war der Zug abgefahren. Jetzt trat Nick an die Thüre des Saals und zeigte dem Fräulein ehrerbietig an, daß Alles besorgt sei, der folgende Zug aber erst nach einigen Stunden abfahren werde. Trotz der Scheu, die Olga vor dem seltsamen Menschen hatte, dessen Worte und Erscheinung so schaurig in ihre Fieber- nächte hineingespielt hatten, empfand sie doch zu gleicher Zeit ein ihr selbst unerklärliches Mitgefühl für ihn. Jetzt schaute er mit seinen schwarzblitzenden, melancholischen Augen so theilnehmend zu ihr herüber, daß es sie bewegte, als müßte sie zu ihm reden, als hätte auch er Theilnahme nöthig. Wohl mochte die Empfänglichkeit für alle Eindrücke noch krankhaft bei ihr gesteigert sein.
„Gnaden müssen leidend sein", sagte jetzt Nick mit gedämpfter Stimme, als verstände er, wie empfindlich Olga jeder laute Ton berührte. „Sollten Gnaden zwischen den Zügen nicht nach der Stadt zurückzukehren wünschen, so möchten Gnaden wohl ein wenig in's Freie gehn. Draußen steht die Sonne schön am Himmel, aber hier drinnen sieht man Nichts davon. Da steht ein Pavillon auf der Höhe, nicht weit von hier, sollte ich nicht Gnaden den Weg dahin zeigen?" [] 109 Der Gedanke war gut. Olga ergriff ihn sogleich, Nick sollte sie dahin führen. Noch lag die Flur kahl und blumen- los da, aber warme Sonnenstrahlen drangen in die Erde ein und weckten die schlummernde Saat. Olga trank die sonnigen Lüfte dürstend ein. Sollte auch sie noch einmal keimen und zu neuem Leben erstehn können? Nick ging schweigend einige Schritte hinter Olga her, er erklärte Nichts, er machte auf Nichts aufmerksam. Es war eine schonende Zartheit in seinem Benehmen, die Olga ganz gewann. Was konnte das Leben dieses sonderbaren Menschen sein, der seinem Wesen, wie seiner Stellung nach ihr gleich räthselhaft vorkam? Nachdem sie schweigend ihren Gang eine Zeit lang fortgesetzt hatten, kehrte Olga sich um und stand einen Augenblick still.
„Sind wir bald oben?" fragte sie.
„Noch ein paar hundert Schritte und Gnaden können den Fluß sehn und einmal noch die Karlsbrücke."
„Nun sagen sie mir doch Eines", sagte Olga, indem sie ihren Gang fortsetzte, „hat die Geschichte, die Sie mir auf jener Brücke erzählt haben, ein besonderes Interesse für Sie oder sollte Alles, das sich in Ihrer Vaterstadt begeben haben soll, den starken Eindruck auf Sie ausüben?"
„Gnaden müssen wissen", entgegnete Nick mit komischer Würde, „Geschichte ist mein Fach. Alle Geschichte hat für mich ein großes Interesse, ich lebe von Geschichte. Aber eS geschieht ja, daß Eins oder das Andere tiefer eingeht und [] 110 kommt dann um so wärmer wieder heraus. Erlauben Gnaden, so erzähl' ich Einiges, das in mir aufsteigt, wenn ich über jene Brücke gehe. Denn Gnaden haben ein fühlendes Herz, die Alte auf der Treppe hat's auch nicht vergessen."
Noch einmal Nick erzählen hören! Olga erschrak, aber sie hatte es selbst herbeigeführt.
Nick hatte auch schon begonnen : „Meine Mutter war ein hübsches Pragermädchen und flink auf der Nadel und hatte gute Bestellungen bei den hohen Herrschaften oben auf dem Hradschin, wohnte auch nicht weit weg davon, da wv's steil hinaufgeht, Spvrner- gasse, und hatte da ihr Stübchen, wo sie allein saß und arbeitete, denn sie war eine Waise. Aber wenn die herrschaftlichen Cavaliere wollten freundlich mit ihr fein, so gab sie keinen Bescheid, denn sie war sittsam und fromm, und hatte lange schon den Niklaus Nikotsch gekannt und ihm die Treue versprochen, der war ein gewandter Bursch und war angestellt am Theater, bei der Beleuchtung. Und so wurden sie einig und kamen zusammen und wollten einen Haushalt gründen. Aber über kurze Zeit sagte der Niklaus, so könne es nicht gehn, erst wolle er einmal sein Glück in Amerika versuchen, sie wollen Beide gut haushalten und zusammenlegen, was sie ersparen, und über Jahr und Tag komme er wieder, und dann blieben sie bei einander und hätten gute Tage für immer. Und wie sie an dem Abend über die Brücke kamen mit einander, standen sie still vor dem heiligen [] 111 Barer und versprachen sich's vor ihm, daß Jedes wolle das , Seine thun, daß sie bald wieder zusammenkämen, und gaben sich die Hand daraus. So ging der Nitlaus fort. So weit zurück ich mich besinnen kann, sah ich immer die Mutter da scheu mit den großen, traurigen Augen und fort und sort arbeiten. Und sie gönnte sich Nichts und darbte Mir gab siech noch besser als sich selbst, aber schmal, und wenn ichch besser begehrte, so sagte sie: Sei nur zufrieden, Nick, jetzt kommt der Vater bald, dann haben wir's Alle gut. Tic Mutter war immer gut mit mir und' liebevoll, aber ich kam früh zu dem Begriff, daß sie ein bitteres Leben sührte, und wenn ich sie so traurig sah, sagte ich: Sei nur fröhlich, Mutter! ich will dir helfen. So dachte ich mirs frühe aus, wie ich einen Beruf erwählen wollte und tüchtig darin sein, daß es die Mutter noch gut haben sollte. Derweilen erwarteten wir täglich den Vater und darauf hin war die Mutter gerichtet bei Allem, was sie that. Am Abend sagte sie: Nick, sag dein Gebet und vergiß den Vater nicht.
Wer weiß, ob er nicht schon da ist, wenn du morgen erwachst! Und wenn sie ani Morgen die Arbeit zur Hand nahm, sagte sie: Sieh Nick, wenn das Stück fertig ist, dann wird der Vater schon da sein, dann gibt's aber einen Festtag! Nun lernte ich auch lesen, oben beim Vater Vincent im Kloster, und jetzt ging mir eine Freude auf. Die Mutter besaß zwei Bücher, eines hieß: .Chronik der Stadt Prag', und das andere: .Geschichte der Heiligen und Märtyrer'.
[]112 Das erste Buch las ich lieber; aber ich las auch das zweite wieder, wenn ich mit dem ersten dreimal durch war. So wurde ich gegen 12 Jahre alt und kam einstmals in eines der Herrenhäuser mit der Mutter Arbeit. Und die Dame war gut mit mir, sie kannte mich schon und that allerlei Fragen. Und wie sie hörte, daß mir Nichts Freude machte, als nur lesen, mußte ich ihr gleich erzählen, was in dem Buche stand, das ich gern las. Derweilen war der Herr hereingekommen und hörte zu. Dann lachte er und nahm mich beim Kops und sagte: ,Tu bist ein ganzer Kerl. Weißt du, was du thun sollst? damit wirst du dir ein gut Stück Geld machen. Geh nach dem Schwarzen Roß in der Kolowratstraße, sag, ich empfehle dich zum Fremdenführer, wenn du auch ein Kleiner seist, so wissest du mehr als mancher Große, so habe ich gesagt. Und Geschichte sollst du auch noch mehr zu lesen bekommen, weil dir s so gut anschlägt.' Und so ging er hinaus und kam wieder und hatte Bücher im Arm, zehnmal im Umfang wie das meinige war, und sagte: ,Da, alle sollst du sie lesen, alle alten Chroniken von Prag, und hast du sie alle durch, so bist du ein fertiger Mann.'
„Jetzt war mir nicht anders, als wäre ich König geworden. Eins der großen Bücher im Arm, kaum konnt' ich's schleppen, lief ich heim und auf die Mutter los. Einen Beruf habe ich, Mutter, rief ich, jetzt kommt's gut. Dann lief ich gleich nach der Kolowratstraße, über die Karlsbrücke.
[]113 da stand ich still vor dem heiligen Vater, denn das hatte mir die Mutter sriih eingeschärft, wenn ich da vorbei komme, müsse ich stille stehn und ein ,Vater-Unser' beten, es gelte dem Vater in der Fremde. An dem Tag betete ich's auch von Herzen, wie noch nie, denn ich war voller Tank und dachte: Vielleicht hat dir der heilige Vater zu dem Glück verhelfen. Im Hotel sagte ich, wer mich schicke, und Alles, wie ich den Auftrag hatte, und sie sagten, es sei gut, ich solle jeden Morgen früh da sein, zu sehn, ob's Arbeit gebe. Jetzt wurde mir das Darben nnd aller Mangel leicht, denn über dem Lesen vergas; ich Alles. Nur daß die Mutter nie froh war und es so schlecht haben sollte, das konnte ich nicht recht vergessen, und es drückte mir die Freude nieder, aber ich dachte, sie soll schon noch gute Tage haben, das bringe ich mit meinen; Beruf zu Stande, und war eifrig darin. Und wie so ein Jahr und etwas mehr vergangen war, da gehe ich eines Morgens anf den Beruf und trete in's Hotel ein, da kommt Einer unten aus der Schenkstube heraus, und wie er mich sieht, sagt er: , So gehörst du dem Nick! Sag deiner Mutter, dein Vater lasse sich's drüben nicht so sauer werden, wie sie hier. Der kommt auch nicht wieder, das kann ich ihr sagen.' Mit einem Schlag verstand ich Alles, als hätte mir Einer die Geschichte von vorn erzählt. Jetzt stürzte ich zur Mutter und sagte ihr, wie's sei, und ballte die Fäuste und sagte, in meinem Leben wolle ich kein , Vater-Unser' mehr beten. Aber die Mutter fing so Verschollen rc. 8 [] 114 zu jammern und zu weinen an, daß ich wieder schwieg, und sie sagte, es sei lauter Bosheit, was der Mensch geredet habe und ein gottvergessenes Unrecht an meinem Vater, ich dürfe kein Wort glauben und ich werde schon sehn, daß der Vater komme, jede Stunde könne er jetzt kommen. Aber der Vater kam nicht. Und von da an hörte ich die Mutter manchmal schluchzen, wenn ich des Nachts erwachte, und am Tag war sie so still und arbeitete immer fort bis spät, wenn ich lange daheim war vom Berns und mich auf mein Lager gelegt hatte, dann sah ich noch im Entschlafen, wie sie dort saß bei dem Lämpchen, über die Arbeit gebeugt. Und einmal schaute sie dann immer noch herüber und sagte: ,Nick vergiß dein , Vater-Unser' nicht. Und eines Morgens saß sie auf ihrem Bette, wie ich auf den Beruf gehn wollte, und sagte: ,Wart noch ein wenig, Nick, man kann nicht wissen, wer komme» könnte, und ich bin so müde, ich könnte kaum die Thür ausmachen.' Und auf einmal wurden ihre Augen ganz groß in dem blassen Gesicht und leuchteten wie Feuer, und ganz hastig rief sie: .Jetzt Nick, ich höre seinen Tritt auf der Treppe, lauf, mach die äußere Thür auf!' Ich lause heraus, mache auf, springe die Treppe hinunter, schaue überall um — da ist Niemand. Ich komme wieder in's Zimmer heraus — da liegt meine Mutter zurückgelehnt an's Kissen, sie war todt. O wer weiß, was das heißt! Nachher kamen Männer vom Amt nnd machten Alles auf und im Schrank lag eine kleine Schachtel, nnd wie sie die aufmachten, [] da lag ein ganzes Häuschen Gold drin, ein Stück aus dem andern, und ein Papierchen lag dabei. Einer zog es henuis und las, was drauf stand, da hieß es: ,Für den Niklaus Nikotsch.' Der Mann sagte: ,Tas ist gut, da können viel' Schulden bezahlt werden, die der Schuft hinter sich gelassen hat.' Aber so meint' ich's nicht. Ich rief: , Was der Mutter gehört hat, das ist mein!' Der Blaun schob mich aus die Seite. So etwas versteh' ich nicht, behauptete er, da steh' es geschrieben und dabei bleib' er.
Und da lag die Mutter, todt, und ich hörte die Frau sagen, die unter uns wohnte und jetzt dabei stand: ,So mußte es kommen, Nichts wie Arbeit und Kummer und keinen Unterhalt.' Bis sie die Mutter wegholten, ging ich nicht vom Platz. Tann lief ich nach der Kolowratstraße, und beim heiligen Vater aus der Brücke stand ich still und rief hinauf: .Siehst du denn nicht, wie's zugeht? Beten will ich nie mehr und eine Gerechtigkeit gibt es nicht aus Erden und im Himmel nicht.'"
Hier schwieg Nick, Längst waren sie an dem offenen Gartenhaus angekommen. Olga hatte sich auf die Bank gesetzt, der milde Sonnenschein fiel durch die unbekleideten Epheugitter auf sie herein. Nick hatte, vor ihr stehend, seine Erzählung beendet. Jetzt schauten Beide schweigend vor sich hin.
„Eins möchte ich Gnaden noch vorlegen", begann Nick wieder, „das kann ich nicht ausfinden und bleibt mir eine 8 * [] 116 — Frage. Wenn ich nachher an die Mutter dachte, und war da Niemand, der Etwas von ihr wußte, dann trieb es mich auf die Brücke und oft stand ich lange dort vor dem heiligen Vater, denn sie hatte viel dort gestanden und hatte mir oft gesagt, der heilige Vater stehe ihr zum Trost dort. Das hatte ich nicht verstanden. Aber jetzt mußte ich oft zu ihm auffchauen und denken: Sieht er nicht aus, als sagte er: Endlich wird doch alles Leid ausgesöhnt werden und das Letzte ist der Friede? Und der ist doch gemartert und getödtet worden von den Schlechten. Glauben Gnaden, daß es eine Gerechtigkeit gibt, die einmal noch alles Leid aussöhnt?"
Olga war überrascht. Die Frage lag brennend in Nick's Augen, die aus sie gerichtet waren. Wie gern hätte sie eine Antwort für ihn gehabt, aber in dieser Weise war die Frage bis jetzt noch nie an sie heran getreten! Sie suchte nach einem wohlthuenden Worte für ihn, sollte sie denn gar keines finden könnnen? Es mußte doch eine Antwort auf diese Frage geben.
„ Guter Freund", sagte sie endlich, „wir dürfen ja glauben, daß den innersten Bedürfnissen unserer Natur entsprochen werden muß, und das Bedürfniß nach Gerechtigkeit wurzelt tief in uns Allen."
Nick schaute traurig weg. Es war, als sagte er: Das ist keine Antwort für mich. Olga fühlte es. Der Mensch hatte sich mit dem vollen Vertrauen an sie gewandt, sie [] 117 müsse eine 'Antwort für ihn haben; er hatte sich getäuscht in ihr. Es that ihr weh.
Die Zeit war unversehens vorgerückt. Olga machte sich wieder auf den Weg, Nick folgte schweigend. Am Bahnhof stand die geängstete Pauline und schaute nach ihrer Herrin aus.
Olga reichte Nick die Hand zum Abschied. Ihr war, als ließe sie an ihm einen alten, nahen Bekannten zurück.
Im Wagen schaute sie einmal noch hinter sich. Einmal noch sah sie die Thürme des Hradschin sich in den blauen Himmel heben, jetzt verschwanden sie — Prag lag für immer hinter ihr.
In Dresden hatte Olga noch von ihrer Pauline sich zu trennen. Weinend klagte diese, sie wäre doch dem Fräulein zu der Erholungsreise in Frankreich noch so nöthig gewesen. Olga verneinte es mit freundlichen Worten, mußte aber versprechen, sie zu sich zu rufen, sobald sie ihrer bedürfe.
Nun saß Olga allein. Ein leises Zagen beschlich sie, nun sie auch dieses letzte, sichtbare Band, das sie an die vergangnen Tage knüpfte, gelöst hatte. Es mußte sein, sie mußte weiter. Sie fuhr direkt Paris zu, einem Dasein entgegen, das noch gar keine bestimmten Linien für sie hatte und sie mit der „ Angst des Unbekannten" erfüllte, wohl um so peinlicher, da sie zu neuen Unternehmungen noch keine rechte Kraft in sich empfand. Wenn sie einmal wieder die alten Kräfte gewinnen sollte, würde sie aus die Bühne zu- [] 118 rückkchren? Nein, das war für sie vorüber. So viel Jammer des wirklichen Lebens, das tiefe Leid des eignen Herzens, das Vorkvsten des bittern Todes waren zn tief und mächtig auf sie eingedrungen, als daß das Scheinleben auf der Bühne noch Zug und Reiz wie ehemals für sie haben könnte. Und alle Erinnerungen, die ihr damit zusammenhingen! Sie wandte sich ab davon mit stechendem Schmerz. Aber was thun? Ergreifen mußte sie eine Thätigkeit, sie mußte arbeiten, um zu leben. Sie kam immer zn ihrem ersten Gedanken zurück, Unterricht zu geben in ihrer Sprache, dessen war sie fähig, dazu hatte sie auch die Kraft.
Sie langte in Paris an. Noch am Bahnhof erkundigte sie sich nach einem einfachen, deutschen Kostlpuse. Ein Angestellter wußte Bescheid, er wies sie nach St. Antenne, zu der Würtembergcrin.
Als Olga nach einigen Tagen ihre Wirthin darüber befragte, wie sie sich wohl am Besten als Lehrerin der deutschen Sprache bekämet machen könnte, rieth ihr diese, den deutschen Geistlichen aufzusuchen, med gab ihr seine Adresse.
„Eh Sie aber mit Stundengeben beginnen", setzte die Frau hinzu, „müssen Sie sich ein wenig zurecht essen bei mir, so geht's nicht mit Ihnen!"
Olga ging, den deutschen Geistlichen auszusuchen, und wurde freundlich von ihm empfangen. Sie brachte ihr Anliegen vor, er ging theilnehmend darauf ein.
„Sie waren wohl Lehrerin, vielleicht schon irgendwo in [] 119 Frankreich, daß ich Sie daraufhin empfehlen könnte", sagte er, die Sache überlegend.
„Ich war nie Lehrerin", entgegnete Olga.
„Sie kennen ja doch wohl Ihre Sprache gründlich", fuhr er fort, „darf ich fragen, womit Sie sich bisher beschäftigt haben?"
„Ich war am Theater."
Hier wich der Pastor einige Schritte von Olga zurück. Sichtlich erschrocken schaute er sie an, dann sagte er mit Zurückhaltung: „Ich wußte nicht, wem ich meine Empfehlung versprach. Es thut mir leid, aber Sie müssen begreifen, daß meine Bekannten derart sind, daß ich ihnen nicht eine Schauspielerin als Lehrerin empfehlen darf."
„Ich bin nicht mehr Schauspielerin", bemerkte Olga leise.
„Ah so, aber Sie hängen irgendwie wohl noch mit dem Theater zusammen", meinte der Pastor.
„In keiner Weise, wünsche es auch nicht mehr", entgegnete Olga.
„Ah so", bemerkte nochmals der Pastor, und seine Stimme hatte wieder etwas mehr Zntraulichkeit angenommen. Tas bleiche Angesicht der Bittenden mochte ihm noch besser als ihre Worte sagen, daß sie der Hülfe bedürfe. Er versprach, sein Möglichstes für sie zu thun, indem er ihre Adresse einschrieb. Zur Erinnerung an ihren Besuch bei ihm, [] 120 sagte der Pastor, möchte er ihr Etwas schenken. Er legte- ein Buch in ihre Hand. Slga entfernte sich. Zum ersten Mal empfand sie ganz, was es heißt, allein und ungekannt im fremden Lande zu sein, dazu in einer Lage, die Deutungen ausgesetzt war, an die sie nie gedacht hatte, die ihr aber mit des Predigers Bemerkung auf einmal klar geworden waren. Ihm konnte sie es nicht verargen, er wußte ja kein Wort von ihr, als daß sie Schauspielerin gewesen sei. Sie fühlte sich gänzlich vereinsamt. Sie schlich nach ihrem Tachzimmcr, um es fast nicht mehr zu verlassen. Hier, im Verborgenen sitzend, war Alles noch am ehesten zu ertragen. Mehrere Schülerinnen wurden ihr von dem Prediger zugeschickt. Einige Monate lang . setzten sie den Unterricht fort, dann blieben sie wieder weg, den Sommer und Herbst durch wären sie aus dem Lande. Tann kamen einige junge Angestellte aus Magazinen, die ohne Vorbildung schnell vorwärts kommen wollten. Das war harte Arbeit und Olga fühlte, wie sehr ihre Kräfte dahin waren, und neue schöpfte sie keine in ihrer sonnenlosen Dachkammer.
So hatte ihr äußeres Lebe» doch eine Gestalt gewonnen, wie jämmerlich sie auch war, aber das Leben in ihrem Innern? Alles, was sie Großes, Edles, ihren Geist Erhebendes gekannt hatte, lag wie in Trümmern vor ihr. Keines dieser Güter hatte Stand gehalten in den Tagen der Schmerzen und Krankheit, keines hatte sie weggehoben, noch hob es sie jetzt hinweg über inneres und äußeres Elend. Keines bot [] 121 ihr einen Trost, noch irgend welche Heilung für dos nagende Weh ihres Herzens, für die völlige Mnthlosigkeit und Verzagtheit, in die sie gefallen war. So konnte es nicht länger gehn, das fühlte Llga, wenn sie nicht geistig nnd leiblich völlig zu Grunde gehn sollte. Sie nahm alle Willenskraft zusammen, die ihr noch geblieben war, sie suchte ihre Bücher hervor, aus denen sie Kraft und Begeisterung geschöpft hatte; sie wollte ernstlich sich aufraffen und wieder zum Leben tüchtig machen. Aber es ging ihr seltsam: Alles, was sie las, war wie für andere Menschen geschrieben, nicht für sie. Tie Worte faßten nirgends an in ihr, sie trafen nicht zusammen mit den brennenden Fragen in ihrem Innern, mit dem tiefen Verlangen, dem Schreien ihres Herzens nach Befreiung von sich selbst. Eines nach dem andern legte sie wieder aus der Hand. Waren es denn nicht dieselben Worte, aus denen einst ihre Seele Wonne und Begeisterung getrunken hatte? Es waren dieselben Worte, aber sie war dieselbe nicht mehr. Sie fühlte, wie dem schwer Kranken mußte zu Muthe sein, den, der frohe Gesunde zuriefe: Fasse mit Vollkraft das reiche Leben an! Pflücke die Blumen, die auf allen Feldern stehn! Zieh' dir aus jedem frohen Tage Gewinn! Sie war diese Kranke.
Wie hatte sie die Worte des freudigen Erwachens zu thatkräftigem Leben geliebt und oft aus tiefer Seele nachgerufen: „Alles kann der Edle leisten, Der versteht und raschk ergreift." [] 122 Wie müßten diese Worte dem Entkräfteten vorkommen, würden sie ihm zugerufen, der kaum sich aufrecht erhalten kaun und so gern die alte Kraft wieder fände! Sie war diese Entkräftete. Ihr schöner Glaube an den vollen Adel, die Reinheit der Menschen, an die idealen Gestalten unter ihnen, war ihr zerschlagen worden. Wem sollte sie nachstreben, wer zeigte ihr den Weg zu befreiender Reinigung, zu erneuernder Kraft? Lange hatte sie das Wort in froher Ueberzeugung fest gehalten: „Alle menschlichen Gebrechen Sühnet reine Menschlichkeit."
Noch glaubte sie an ihr Wort; aber wo war diese reine Menschlichkeit ? Sie fragte mit Sehnsucht nach solcher sühnenden Reinheit, denn die Gebrechen ihres eignen Wesens lagen schwer auf ihr. Im Durchsuchen ihrer Bücher trafen ihre Blicke auf das kleine Buch, das der deutsche Geistliche ihr geschenkt hatte. Es war ein neues Testament. Sie kannte das Buch wohl von früher her, da sie noch vom Vaterhause aus des Sonntags nach der alten Kirche hinüber wanderte, und von der Zeit ihres Religionsunterrichtes her, der sie zwar unberührt gelassen hatte; aber es hingen mit dem Buche alle Erinnerungen zusammen an frohe Jugend- tage. Sie nahm es in die Hand, der Inhalt stand ihr nur in sehr verwischtem Andenken.
Olga las und las, und wurde immer erstaunter. Dieses Buch hatte sie nie gekannt. Wie ein Wunder war ihr, was [] 123 sie da erfuhr. Ta trat die Persönlichkeit ihr entgegen, die sie ihr Leben lang gesucht, der reine, vollkommne, der ideale Mensch stand vor ihr in der Wirklichkeit. Nie hatten Menschenworte sie erfaßt, wie jetzt ihr ganzes Wesen ergriffen wurde von der hohen Einfachheit der Worte, die hier geschrieben standen, deren jedes als eine lebendige Wahrheit in ihrem Herzen zündete. Und derjenige, der die Worte sprach, war es nicht, als richtete er sich gerade an sie, die Elende, in dem Zustande, unter dem sie seufzte? Zu den Elenden war er gekommen, zu den Kranken, denen wollte er helfen. So mußte er auch für sie gekommen sein, so mußte er auch für sie von Heilung wissen. Waren nicht auch seine Worte direkte Antworten aus ihre tiefsten Fragen? Gaben sie nicht selbst ihr erst den klaren Ausdruck für so viel unbestimmte Unruhe, die in ihr arbeitete und sie quälte? Als ein Helles, alle Falten ihres Wesens durchdringendes Licht, drangen diese Worte der Wahrheit in sie ein und arbeiteten mit Macht in ihr. Hier war die reine Menschlichkeit, die sühnen konnte, und Er selbst, der keine Täuschung kannte, sprach es aus, ihm war die erlösende Macht gegeben, er war gekommen, aller Menschen Gebrechen zu sühnen und zu heilen und ein neues Leben zu geben Allen, die danach verlangten. Mit brennendem Herzen folgte sie den Worten dieses Gottgesandten; ihr ganzes Wesen schloß sich auf zu diesem Retter der Elenden in Sehnsucht und Vertrauen. Sie hob ihr Herz und ihre Hände zu ihm auf und flehte: „So hilf auch [] 124 mir, ich glaube, daß du helfen kannst!" Von dem Tage an hatte in Olga ein neues Wesen zu keimen angefangen. Sie erfuhr, daß eine Kraft von dem ausgeht, den sie angerufen hatte. In ihrem verdorrten Innern fing die Hoffnung zu grünen an. Wie zum frohen Erwachen regten sich die gebannten Kräfte ihres ermatteten, zerschlagenen Wesens. So konnte sie wirklich noch einmal zum Leben erflehn, zu einem neuen Dasein? Eine freudige Zuversicht kam über sie, denn ein weckender Lebenshauch hatte sie schon angeweht, von dem ausgehend, der sagen konnte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben."
[]« Wliftcs Capitel.
So weit hatte Hetty Olga's Geschichte durch ihre eignen Aufzeichnungen und Martinen» mündliche Nachhülfe verfolgen können. Hetty war so erfüllt davon, daß sie keine andern Gedanken mehr hatte, auch kaum Martine zu ihrem letzten Besuch erwarten konnte, den sie recht zeitig zu machen versprochen hatte, um zu Ende zu erzählen. Kaum öffnete sie auch die Thüre, als ihr Hetty entgegenrief: „Es ist zu traurig! Wie kann man sich Olga so im Elend denken?"
„Nicht wahr", stimmte Martine eifrig ein. „Und mußt du nun nicht auch wünschen, wie ich damals that, daß nur dieser Menschenverderber seinen Lohn bekommen möchte? "
„Solltest du Herrn v. D. meinen, Martine?" fragte Hetty etwas verwundert.
„Nun, gewiß, er war eigentlich doch an Allem schuld", entgegnete Martine.
„Sagtest du auch so zu Olga?" fragte Hetty nachsinnend.
[]126 „Ja, ich thai's, und nach mehr mußte mir heraus. Ich sagte: Wenn ich doch nur im Leben noch mit dem zusammenkäme, daß ich ihm recht sagen könnte, was ich von ihm denke."
„Was sagte Olga dazu?"
„Da sagte sie noch Nichts, aber wart nur, es kommt noch viel."
Hetty wollte ja gern noch viel wissen, Alles, was nur von Olga zu vernehmen war: wie sie sprach, wie sie aussah, wie sie war in ihrem ganzen Wesen. „So, wie du sie nie gesehn und nie gekannt hast", sagte Martine. „Es war, als sei Nichts mehr an ihr als eine Seele, die schaute so still und mild Alles an, als könnte ihr auch das Leid nicht mehr weh thun. Aber wenn ich sie ansah, das bleiche Gesicht, so schmal und eingefallen und in diesem Tachwinkel eingesperrt, wo keine Sonne zukam, dann mußte ich immer wieder in Weinen ansbrechen und in inständiges Bitten, daß sie doch mit mir komme und nicht mehr da bleibe, so unglücklich und verlassen könne ich sie nicht wissen. Dann schaute sie mich so ruhig an imd wollte mich auch ruhig haben; ich weiß auch jedes Wort noch, das sie aussprach. Einmal sagte sie: ,Jch bin nicht mehr unglücklich, Martine, und verlassen bin ich auch nicht mehr, wie ich es war. Blich hält die sichere Hand, die im Leben nie mehr läßt, was sie ergriffen hat und die auch im Tode noch festhalten kann. Wenn ich gesund werden und noch leben soll, so kann ich [] 127 mich dessen freuen, jetzt bliebe ich gern wieder hier; wenn es nicht sein soll, so gehe ich auch gern in ein Leben hinüber, wo keine Krankheit und kein Tod mehr ist.' Ich sagte: .Sprich nur nicht vom Tode! Aber auch wenn du vom Oiesundwerden sprichst, Liga, davon sagst du gar Nichts, daß du mit mir oder zu mir kommen wollest. Aber ich kann es schon begreifen, ich weiß wohl, wer ich bin, und wie gering, und wer du bist und immer warst.' Hierauf wurde aber Olga einmal aufgeregt, es war das einzige Mal, daß ich sie so sah. Sie richtete sich ganz auf und war fast noch blasser als sonst und ihre Stimme zitterte, wie sie sagte: ,So darfst du nie wieder zu mir reden, Martine! Ich weiß Keinen, der geringer wäre oder fein könnte, als ich bin.' Das war mir nun auch zu viel und ich sagte es Slga, daß sie doch nicht zu viel sagen sollte. Aber sie wich nicht ab davon und sagte fest, es sei kein Wort zu viel. Und nach einer Weile sagte sie: .Ich kaun nicht von Allem reden; aber nicht wahr, Martine, du hättest nie geglaubt, daß ich dazu käme, einen Menschen, der mir nie etwas Böses gethan hat und noch dazu unglücklich war, zu hassen, und einen solchen Widerwillen gegen das Dasein dieser Persönlichkeit zu fassen, daß ich jede Stunde wünschte, sie möchte todt sein und es sollte ihr dies und das geschehen, daß sie nicht mehr leben könnte? So war's in meinem Herzen geworden gegen jene Nina, die ich in derselben Stadt mit dem Freunde wußte. Und Vieles könnte ich dir noch sagen, daß du sehn müßtest.
[]128 meine Worte seien nicht zu stark. O es war Alles so bitter. Aber das Bitterste von Allem war mir, zu erfahren, wie gering ich bin!'
„Olga hatte sich damals ganz matt geredet, sie konnte so wenig ertragen. Wir schwiegen lange still, dann sagte sie mit dem alten, lieben Ton ihrer Stimme: .Sieh, Martine, seit du gekommen bist in der alten Freundlichkeit, habe ich viele Pläne gemacht. Ich hatte mirs selbst so ausgedacht, wenn ich leben sollte und wieder wohl werden, dann möchte ich nirgends auf Erden so gerne hingehu, wie zu dir, ich wusste, du würdest mich aufnehmen. Tann wünschte ich, junge Mädchen zu mir zu nehmen, sie zu erziehn. Ich möchte so gern ihnen den Weg zeigen zum Ideal, das sie suchen, und dabei oft so sehr in die Irre gehen. Mir brennt das Herz für solche junge Seelen. Ich weist so gut, wie sie streben und ringen und das Höchste meinen, und so weit den Weg verfehlen können. Denke ich daran, dann steigt mir warm der Wunsch auf, zu genesen und zu leben, und du wolltest mich bei dir haben, Martine?' Wie war mir da zu Muth! Ich fastte ihre beiden Hände und rief: .Versprich mir's, Olga! Versprich mir s fest! Auf den Frühling, da wirst du reisen können, dann kommst du!' Da lächelte sie nur so still und sagte: .Ich verspreche gern zu reisen, wohin der liebe Gott will.'
Einmal sagte sie: .Einer ist, wenn ich doch dem noch sagen könnte, wo der Weg zum Frieden liegt und zu der [] 129 stillenden Gewißheit, daß alles Leben in der Hand der Liebe ruht, die einmal alle schmerzlichen Fragen in Tanken und Versteh« auflösen wird. Ich meine den armen Nick in Prag. O, daß ich ihm sagen könnte, welch' frohe Zuversicht das Menschenherz erfüllen kann, dem armen, ruhelosen Nick! — und einem andern noch.' Sie schwieg plötzlich. Mir stieg der Zorn wieder auf. Wie konnte es denn möglich sein? ,Du denkst doch an den nicht mehr, Olga', rief ich aus. Ganz ruhig sagte sie: ,Jch habe immer an ihn gedacht.' Ich verstand auch wohl, wie sie an ihn gedacht hatte; nicht einen leisen Groll hattte sie gegen den behalten, der sie dahin gebracht hatte! Mir lief es über. Ich fuhr heraus: .Wenn ich doch dem Menschen einmal sagen könnte, wer er ist und was er verdient. Wenn ich den zu finden wüßte, ich liefe gleich heute noch zu ihm.' Olga sah mich sinnend an, dann fragte sie: .Ist dir's Ernst, Martine?' Gewiß war's mein Ernst. Sie schaute mich aber so forschend an, daß ich fragen mußte: .Was meinst du denn, Olga?'
„.Sieh Martine', sagte sie nun, .seit du mir gesagt, daß dein Bruder den Rhein hinauf mit dir reisen will, hatte ich immer schon einen Wunsch in mir gehegt, dem kommst du so gut entgegen. Wolltest du mir zu Liebe Herrn v. D. aufsuchen und ihm noch einen Gruß von mir bringen? Ich konnte ihm damals in Prag kein Lebewohl sagen, und schreiben konnte ich auch nicht und kann ich nicht, aber ich möchte ihm doch einen Gruß noch schicken, es wird ja der letzte sein.'
Verschollen rc. 9 [] 130 Denk dir, Hctty, ob ich erstaunt war! Ihr zu Liebe! Was hätte ich ihr zu Liebe nicht gethan! Gewiß wollte ich Herrn v. T. aussuchen, wenn dies möglich war, und gern wollte ich's thun. .Aber eines, Llga', sagte ich, .erlaubst du mir, daß ich ihm dann auch Alles sage, was ich will; der muß wisse», wie ich's meine. .Alles was du willst', sagte sie, und lächelte so eigen dazu. Dann sah ich, daß sie schon Alles ausgedacht hatte. Herr v. T. sei eben seht in Köln, sagte sie — wie sie das nur wissen konnte; — da würde ich im Hotel gleich erfahren können, wo er zu finden sei, der Name sei bekannt genug. Von ihr sollte ich ihm einen Gruß bringen und ihni sagen, daß sie seiner immer gedacht habe und daß ihr größter Wunsch sei, sein Herz möchte so froh werden, wie das ihrige fröhlich geworden sei.
„Unser Aufenthalt ging dem Ende zu. In den letzten Tagen war Olga so liebevoll, wie ich dir nicht sagen kann. Sie sprach gern von der alten Zeit und fragte Allen nach, die sie gekannt hatte. Viele Namen wußte sie nicht mehr recht. Dir und Nannh frug sie besonders nach, ich mußte Alles erzählen, was ich von Euch wußte. Am letzten Abend, wie wir noch da saßen und auf die Kamine hinausschantcn, sagte sie: , O Martine, weißt du noch von jenen Pappeln am See? Lb die wohl noch dastehn, und der alte Weidcn- baum ? Da möchte ich einmal noch hin und mit Euch dort sitzen auf dem Mäuerchen und dem Seerauschcn zuhören und nach den Bergen schauen, nach den schönen Bergen!' [] Ihre Augen glänzten dabei, als ständen die leuchtenden Berge vor ihr, wie damals. Ich mußte die meinen zumachen, daß ich die schwarzen Dächer draußen nicht sehe, es wollte mir das Herz abdrücken vor Weh. Am Morgen darauf mußte es sein. Ich ging hinauf zum letzten Btal. Wie sie mir noch dankte und mit welchem Blicke sie mir sagte, ich habe ihr den letzten Kummer vorn Herzen genommen, den, daß sie der guten Wirthin noch zur Last fallen müßte. Bor Weinen konnte ich Nichts mehr sagen. Olga schaute mich an mit den klaren Augen und sagte: ,Wir sehn uns wieder, Martine, darauf wollen wir uns freuen!' Ich ging. Olga vor Augen und ihre letzten Worte im Herzen, so fuhr ich den ganzen Tag und sah Nichts und hörte Nichts. Wir kamen in Köln an, das weckte mich; doch zuerst sollte ich nun da schlafen. Du kannst dir denken, ob ich schlief in jener Nacht, mit Allem, was hinter mir lag und dem Besuch vor mir, bei Herrn v. D. — Erst jetzt fing ich an auszudeuten, wie ich's anstellen sollte, dem Joseph beizubringen, daß ich dahin gehen müsse. Am Morgen theilte ich ihm denn ganz zahm mit, es solle an den Herrn v. D. ein Auftrag bestellt werden, ich müsse ihn aber selbst besorgen, ich habe es bestimmt versprochen. Er wollte wissen, wer der Herr sei; ich sagte es ihm. Jetzt ging ein Wetter los. So lang er lebe, mache er keine Reisen mehr mit Frauenzimmern. Erst lesen sie alle verlaufenen Buben auf den Straßen zusammen und laden Einem die keifenden Marktweiber auf den Hals, dann laufen sie 9 * [] 132 mit Aufträgen zu den Kölner Schauspielern, und was nachher komme, wisse kein Mensch. Wenn er uns Beide nur erst einmal wieder da hätte, wo wir hingehören, dann gehe er sein Leben lang nicht mehr von der Stelle. Wie er dann mit Murren fertig war, schickte er sich an, mit mir zu gehn. In unserm Logis wußte man gleich Bescheid, wie wir nach der Adresse frugen; man wies uns den Weg. Wir fanden uns gut zurecht und standen bald vor dem großen Hotel, wo Herr v. D. wohnte. Joseph sah sehr zufrieden aus, daß er nicht mit hinein mußte, recht schadenfroh sagte er: , Jetzt iß aus, was du dir eingebrockt hast.' Drüben in dem Cigarrenladen wollte er auf mich warten. Wie ich die Treppe hinaufstieg, repetierte ich noch einmal Alles, was ich zuerst dem Herrn sagen wollte, noch vor Olga's Gruß, den sollte er erst zuletzt haben. Jetzt klingelte der Bediente, der mich da hinauf geführt hatte, an einer Thüre, dann lief er fort. Nun kam Einer heraus, so ein Kammerdiener, dachte ich, und fragte, was ich befehle. Ich sagte, ich wolle Herrn v. D. sprechen. Das war aber ein curioser Mensch, er stieß nur so ein paar kurze Worte heraus. ,Karte, bitten darf', sagte er. Ich habe keine Karten, erwiderte ich, aber ich müsse Herrn v. D. einen Auftrag ausrichten, er solle mich nur melden. Jetzt schaute er mich so an, als müsse er mich taxieren. Ich sah ihn aber auch fest an. Dann ging er. Endlich erschien er wieder und stieß heraus: »Eintreten, bitten darf.' Ich kam in ein Vorzimmer, dann machte der Mensch [] 133 miteinander zwei Thüren ganz weit auf, da sollte ich eintreten. Da drinnen schimmerte es von. rothen Seidenvorhängen und goldnen Spiegelrahmen und blumigen Teppichen. Ich ging vor, und plötzlich stand ein Herr vor mir, so groß und so erhaben sah er aus, ich mußte ganz zu ihm ausschauen, und in so seinen! Gewand und so vornehm stand er da und schaute auf mich nieder mit einem ganz ruhigen Blick und so — so — ich kann dirs gar nicht beschreiben, Hetty, so wie Einer, der Alles beherrscht, was er nur ansieht, und dem Jeder gleich gehorchen müßte und es noch gerne thäte."
„Paß auf, Martine", fiel hier Hetty ein, „wahrhaftig ich glaube, jetzt geht's bei dir los."
Martine wurde ein wenig böse.
„Man möchte dir noch so Ergreifendes erzählen, Hetty, jmmer könntest du noch spaßen zwischenein", sagte sie vorwurfsvoll.
Hetty war schon wieder zum Ernst gesammelt. Das Ergreifende war ihr zwar in diesem Falle noch nicht entgegengetreten, sie wollte aber zu gern weiter hören.
„Nein, nein", sagte sie beschwichtigend, „fahr nur ja fort, Martine, ich bin mit der wärmsten Theilnahme dabei."
Martine fuhr wieder fort: „Ja, Hetty, da stand ich! Und wenn du mir alle Güter der Welt versprochen hättest, ich hätte kein Wort hervorgebracht, und so stand ich da und sagte keine Silbe, und [] 134 konnte gar Nichts denken, als nur: Könntest dn dich doch in den Erdboden hinein verkriechen und nicht mehr da sein!
„Jetzt sagte der seine Herr vor mir mit so gewinnender Stimme: , Treten Sie naher, Fräulein, was ist denn ihr Begehren ?' lind was meinst du? Noch stand ich wie fest gewurzelt und sand kein einziges Wort. Da faßte mich auf einmal Herr v, T. bei beiden Händen und sagte lächelnd: ,Bin ich denn so fürchterlich, liebes Kind, daß Sie gar nicht zu sprechen wagen? Setzen Sie sich hiehcr zu mir; was wünschen Sie denn von mir?' Jetzt kam mir der Muth. Was war das für eine Vertrauen erweckende Stimme! Da saß ich nun neben Herrn v, D., und er schaute mich an mit Augen so tief und durchdringend, aber so viel Güte und Wohlwollen lag in den. Blick! Alles, was ich erst hatte sagen wollen, war rein weg, wie ausgelöscht; für den, der da neben mir saß, konnten auch meine Reden nie gepaßt haben, das war unmöglich. Aber ich hatte ja einen Gruß abzugeben, der war für ihn, das fühlte ich, ich gab ihn ab. Als ich Llga's Namen nannte, stand Herr v. T. auf und ging eine Zeit lang im Zimmer hin und her. Tann stellte er sich vor mich hin und fragte ganz eindringlich: .Aber wo, wo ist sie hingekommen?' Ich sagte ihm, wo sie sei, und wie ich sie gefunden, daß sie wohnt und lebt, nicht wie es für Olga fein sollte. Jetzt ging er wieder im Zimmer herum, und im Gehn sagte er fast nnhörbar, aber ganz erregt: ,Taß sie den [] 135 Schritt thun mußte! Daß sie den Schritt thun mußte!' Nachher setzte er sich wieder zu mir und sragte mich sehr höflich, wie ich mit Olga zusammenhange. Ich besann mich, was ich sagen dürfe; dann dachte ich, es sei nicht anmaßend, wenn ich sage, ich sei ihre Freundin, noch aus der Kinderzeit her. Nun wurde Herr v. T. noch viel freundlicher mit mir, so als hätte er mich lange schon gekannt, nnd er machte mich auch ganz zutraulich. Ich mußte noch viel von Olga erzählen, dann richtete ich auch noch das klebrige ihres Auftrags aus. Herr v. T. sah mich au, als müsse er erst errathen, was meine Worte heißen wollen. ,Ein frohes Herz, wie das ihrige fröhlich!' wiederholte er. .Ist sie denn so fröhlich? Ist sie wirklich fröblich?' Ich sagte, vielleicht verstehe Herr v. T. es anders, als wie es sei, aber ich habe noch nie solche stille Fröhlichkeit gesehn und hätte nie geglaubt, daß man sie haben könnte in Krankheit und Entbehrung und so ungewohntem Leben. Herr v. T. sah mich durchdringend an, wie ich dies sagte; dann wurde er still und nachdenklich. Nun stand ich auf. Er wollte noch wissen, ob ich zu Olga zurückkehre; ich erklärte ihm aber, wie es sei, und daß ich sie nicht mehr sehn werde bis znm Frühjahr. Er meinte, so werde ich an sie schreiben. Tann sagte er: .Tanken Sie Olga in meinem Namen für ihren Gruß. Sie soll wissen, daß auch ich der alten Zeiten gedenke, wenn nicht fröhlichen Herzens, wie sie, so doch in unverwelklicher Erinnerung.' Er begehrte noch ihre Adresse; [] 136 er könnte auch einmal nach Paris kämmen, dann möchte er sie haben. Ich wußte nicht recht, was ich thun sollte, aber da war kein Widerstand möglich, er hatte die Adresse von mir, eh ich recht wußte wie, und ein Unrecht that ich ja doch nicht damit. Tann nahm er mir noch einmal beide Hände und sagte, er müsse mir von Herzen danken, ich habe ihm eine große Freude gemacht. Wenn er mir je etwas Gutes erweisen könnte, so müßte ich mich an ihn wenden, ich werde jederzeit einen Freund in ihm finden. Tu kannst es glauben oder nicht, Hetty, einen solchen Menschen hatte ich noch nie gesehn, und glaube nicht, daß noch einer ist wie der, unter allen Andern. Erst jetzt konnte ich verstehn, wie es mit Llga so hatte zugehn können. Nun war ich hinaus. Trüben stand der Joseph in der Straße und sah aus, als erwartete er, ich komme nur in Stücken wieder von meinem Unternehmen zurück. So war er denn zufrieden, daß ich noch ganz war. Aber siehst du, Hetty, wenn du glaubst, ich habe von Allem, was wir da noch aufsuchten, oder vom Rhein und der ganzen Heimreise Etwas gesehn, so bist du irrig, steine Idee habe ich, wo wir durchgekommen sind und ivas da war. Immer sah ich Olga vor mir, und hörte sie zu mir reden, und Alles ging wieder an mir vorüber, was sie in Prag erlebt hatte. So kamen wir heim. Aber ich bin nicht recht daheim, immer noch bin ich mit allen meinen Gedanken in Paris, in der Dachkammer, wo sie am Fenster fitzt, jetzt so allein." [] Nicht anders erging es Hetty. Beständig sah sie die Gestalt vor sich, wie sie einmal vorsthren Augen gestanden in zauberhafter Lieblichkeit; wie sie emporgestiegen war, so vielverheißend, zu so schnell erlöschendem Glänze; wie sie nun dahinwelkte im fremden Lande, arm und vereinsamt, aber durchleuchtet von innerer Freudigkeit mitten im äußeren Zerfallen.
Martine war in ihre Heimath zurückgekehrt mit dem Versprechen, Hetty Alles mitzutheilen, was sie von Olga hören würde. Der Winter verging, der sonnige Frühling kam — sollte er Olga bringen? Martine war keine gute Correspondentin. Von Zeit zu Zeit kamen ihre spärlichen Worte, sie sagten immer dasselbe: Noch sei Olga zu angegriffen, die Reise zu unternehmen. Noch denke sie, „sei kein Weitergehn, aber bald, bald" — so lauteten Olga's eigne Worte, wie Martine schrieb.
Schon war der Mai gekommen. Die lauen Lüfte zogen durch das Land, und Blumen und Wiesen schimmerten im Sonnengold. Da trat eines Morgens in Hetty's Stube Martine ein, nicht rasch und wohlgemuth nach ihrer Weise. Sie setzte sich hin und weinte so bitterlich, daß Hetty Alles wußte. Sie ergriff Martinens Hand. „So wird sie nicht mehr zu uns kommen, Olga ist nicht mehr da."
So war es. Als Martine sich ein wenig gefaßt hatte, erzählte sie, Olga habe ihr vor kurzer Zeit noch einige Worte geschrieben, Worte voll lauter Tank und Liebe. Erst [] 138 jetzt verstände sie's, es war Llga's Lebewohl. Vor wenig Tagen hatte dann Martine durch die Wirthin von St. Antenne die Nachricht von Llga'S Tode erhalten. Sie mußte ganz still entschlafen sein anf ihrem Lehnstuhl, am Fenster sitzend. Kurze Zeit vorher hatte sie noch zu ihrem kleinen Bedienten Frankens gesprochen, und als bald darauf die Wirthin in ihr Zimmer trat, saß sie noch in derselben Stellung, mit demselben stillen Angesicht, aber ihre Seele war entflohen. Den Brief der Wirthin begleitete ein versiegeltes, von Slga's Hand an Martine adressirtes Packetchen. Es enthielt das kleine Testament, das Slga viel gebraucht haben mußte. Am Rande vieler Stellen hatte sie Zeichen gemacht oder kurze Bemerkungen hingeschrieben, man konnte fast Schritt für Schritt der Entwicklung ihres innern Lebens folgen und wohl erkennen, welche Worte ihr zu besonderem Halt und Trost geworden waren.
Hetty begleitete Martine, die gleich wieder nach Hause zurückkehren wollte. Als sie die Brücke überschritten hatten, sagte Hetty: „Komm noch die kurze Strecke weit, heute müssen wir noch einmal hin."
Martine folgte willig. Sie traten von der Straße ab und gingen die schmalen Wiesenwege hin, dem See entlang bis dahin, wo noch die hohen Pappeln standen, und unten am Wasser die alte Weide ihre Zweige neigte. Sie setzten sich auf das Mäuerchen, an dieselbe Stelle, wo sie einmal gesessen vor langer Zeit. Sie konnten Beide kein Wort [] 139 sprechen. Trüben schimmerten noch die Berge in voller Klarheit wie damals. Olga sollte sie nicht mehr sehn. Am trüben Dachfenster war ihr das erbetene, sanfte Stcrbe- stündlein genaht. Aber sie schaute auf von dort, nach jenen leuchtenden Höhen, wo sie bald erwachen sollte zu dem idealen Dasein, nach welchem ihr Herz gedürstet hatte, ihr Leben lang.
Fast drei Jahre waren vergangen, da trat einmal wieder Martine in ihrem alten Eifer bei Hetty ein. Kaum hatte sie zur ersten Begrüßung Zeit. Sie hielt Hetty zwei Briefe entgegen. „Lies, Hetty, lies!" rief sie drängend. Tcr eine Brief war schon vorn Frühjahr, der zweite aus den letzten Tagen datirt. Ter erste lautete wie folgt: „Dresden, den 22. Lctober 18 . .
„Werthes Fräulein!
„Wenn Sie diesen Brief lesen, werden Sie erstaunen. Vielleicht haben Sie schon den Franyois Beillot vergessen, aber er hat Sie nicht vergessen. Sie haben ihm viele Güte erwiesen. Er wird Ihnen immer danken und Sie verehren. Ich habe unterdessen sehr gut deutsch gelernt, wie Sie sehn. Ich schreibe heute an Sie, um eine große Gefälligkeit zu erhalten von Ihnen. Ich will Ihnen erzählen, wie sich Alles mit mir begeben hat. Bei dem kranken Fräulein ging es mir sehr gut, denn sie war ein Engel und ich mußte weinen, als sie todt war. Sie gab mir viele gute Lehren. Tann ging es mir sehr schlecht. Ich arbeitete in vielen Geschäften [] 140 und auch beim Gassenwischen. Ich handelte auch mit Papier und Knochen. Aber nur wenn ich Arbeit hatte in St. An- toine im Uigoon blaue, an dem Tage mußte ich keinen Hunger haben. Ich kam auch an einem Freitag in das Uixson blaue und brachte die weißen Rüben, denn der Freitag war der Wcißrnbentag im ?i^eon Klane. Madame kam und nahm sie ab und Madame sagte, ich müsse mich rangiren und in die Hinterstube gehn. Ein fremder Herr war gekommen zu dem kranken Fräulein und wußte nicht, daß es todt war. Der Herr machte viele Fragen und Madame sagte, da könne nur der Bediente antworten. Madame befahl auch noch, daß ich mich recht rangire und gut antworte, denn es sei ein vornehmer Herr. Ich putzte meine Stiefel bis zu Glanz und ging in die Hinterstube hinein. Der Herr stand am Fenster und schaute in den Hof hinaus. Er kehrte sich um und sah mich scharf an. Er lachte ein wenig und sagte: ,^b c'est toi, petit komme!' Denn er mußte noch französisch mit mir reden, denn ich war noch nicht, was ich jetzt bin. Der Herr machte mir viele Fragen über das kranke Fräulein und ich antwortete gut. Tann ging er fort. Am andern Tag war ich auf der Hinterseite vom kixeon blaue und putzte den Hof aus. Ta kam der fremde Herr wieder und hatte noch mehr zu fragen. Und er war sehr zufrieden. Er klopfte mir auf den Rücken und sagte: ,LK bisn, mon xstit komm«, voux-tu venir aveo moi? tu axxronäras guolgus oko8s.' [] 141 „,Oui Llonsisur', sagte ich.
„Am andern Tag verreisten wir und so kamen wir nach Dresden. Da hatten wir ein sehr schönes Logis. Da sagte Monsieur, nun müsse ich auch lesen und schreiben lernen in Deutsch. Jetzt ließ mir Monsieur Unterricht geben in der deutschen Sprache. Nun war für mich ein gutes Leben angegangen. Hunger — nie! Böse Worte — keines! Abgelegte Kleider von Monsieur — Alles mein! Geschäfte — wenig und angenehm. Gage fix. Für Extradienst — Extra- trinkgeld. Sie können nicht begreifen, wie gut ein Bedienter sich befindet bei Monsieur. So lebten wir glücklich zwei und ein halbes Jahr. Wir machten viele große Reifen und blieben auch oft viele Wochen in den großen Städten. Und Monsieur genoß viel Verehrung. Da habe ich auch sehr viele Bildung empfangen. Aber jetzt ist Monsieur oft unwohl. Tann ist er still und sitzt traurig und er spricht lange nicht. Ich dachte viel nach darüber, was ihm Freude bereiten würde. So kam es mir in den Sinn und ich sagte es Monsieur. Wenn er ein Buch hätte, das dem kranken Fräulein gehörte, so hätte er Freude. Da stehn schöne Geschichten darin. Denn das Fräulein sah froh aus, wenn sie darin las und sie war sehr krank. Monsieur fragte mich, wie das Buch heiße. Ich wußte es nicht, denn es war ganz deutsch. Monsieur sagte Nichts mehr. Aber drei Tage nachher sagte Monsieur: ,Fran?ois, schaff das Buch her! Du bist ja ein gescheidter Kerl, du wirst einen Weg finden.' Ich [] 142 dachte säst eine Nacht lang nach darüber, und ich fand den Weg. Jetzt wollte ich das werthe Fräulein fragen, ob man das Buch von dem kranken Fräulein haben könnte, wo die gleichen Geschichten stehn. Ich schicke diesen Bries nach Paris in das lligscm blaue, das; Madame eine Adresse Voraussetze. Werthes Fräulein! Ich werde nie vergessen, Ihre Güte und Wohlthätigkeit, denn Sie haben mich in eine schone Carriere gesetzt. Ich denke daran mit viel Tankbarbeit und bleibe mit Anhänglichkeit Ihr Diener Franyois Veillvt."
Herrn v. D.'s Adresse war beigelegt.
Hetty hatte sich während des Lesens mehrmals des Lachens nicht enthalten können. Der Hauptpunkt des Brieses brachte sie freilich bald wieder in ernstere Stimmung.
„Was thatest du dann?" fragte sie, das Schreiben in Martinens Hand zurücklegend.
„Was hättest du gethan?" fragte Martine dagegen.
Hetty gab keine Antwort.
„Ich will dir sagen, wie ich's machte", fuhr Martine fort.
„Ich fragte mich: Was würde Olga freuen? Gewiß, daß Herr v. D. das Buch lesen und kennen möchte. Wenn ich nun nur den Titel des Buches schicke, so würde Herr v. T. wohl denken, das kenne er schon lange, und würde [] das Buch gar nicht mischn. Wenn ich aber Olga's Buch schicke, so könne es Herrn v. T. gehn, wie es mir gegangen ist, er würde eine Menge der Stellen lesen, schon um der Worte willen, die Slga dazu geschrieben hat, und so würde nach und nach der Inhalt sein Eigenthum, er wüßte nicht wie, und konnte in ihm arbeiten, mehr als er gedacht hätte. So schickte ich Llga's Buch, so weh es mir that, es fortzugeben.
„Tas ist gerade, was ich dachte und was ich wünschte, daß du gethan haben möchtest", sagte Hetty erfreut.
Sie nahm begierig den zweiten Brief in die Hand. Er lautete: „Paris, den 28. September 18 . .
„Werthes Fräulein!
„Ich muß Sie um Verzeihung bitten, daß das Buch nicht zurückkommt. Ich bin Ihnen viel Tank schuldig, daß Sie das Buch geschickt haben. Jetzt will ich Ihnen berichten, wie Alles sich begeben hat. Als ich das Buch Monsieur brachte, machte er es auf und las den Titel. Monsieur lachte ein wenig und sagte: ,Franyvis, Schlankopf, du hast gewußt, wie das Buch heißt!' Ich sagte: ,?arols ä'llonusnr, Llonsisur, ich weiß es jetzt noch nicht.' Monsieur sah hinein und las hie und da auf den Blättern herum, wie zu einer Uebersicht. Und Monsieur sagte Nichts mehr von dem Buch. Aber es lag auf seinem Tisch am Bett. Aber Monsieur [] 144 wurde immer kränker den Sommer durch und sah sehr krank aus. Wie der September kam, sagte Monsieur zu mir: ,Fran^ois, willst du eine Ferienreise machen?' Denn der Arzt schickte Monsieur nach der Insel Sicilien, in Italien, für den ganzen Winter. Und Monsieur sagte: ,Da kann der Alte mit und du kannst nach Paris gehn, bis wir wiederkommen.' Das gefiel mir. Der Alte, das ist der alte Bediente. Wir behielten ihn noch, als ich in den Dienst trat. Aber er ist schon alt, über 40 Jahre und zum Ausläuser nicht mehr gebräuchlich. Aber er ist noch gut in den Zimmern und zur Besorgung von Monsieur. Jetzt ging es an die Abreise. Ich sah das Buch noch aus dem kleinen Tisch am Bett liegen. Ich sagte: .Monsieur, soll ich das Buch zurückschicken?'
„Nun steckte es Monsieur in die Seitentasche und sagte: .Das Buch geht mit!' Monsieur nahm Abschied von mir und stieg in den Wagen. Jetzt sagte er: .Franyois, du schreibst einen Brief.' Und in den Brief müsse ich schreiben, Monsieur sehe das Buch an als ein Geschenk von dem Fräulein, das er wohl kenne. Das kann aber nicht sein, denn ich kann nicht ausfinden, wie Monsieur Sie kennen könnte. Und Monsieur möchte gern dem Fräulein seinen Dank dafür sagen. Jetzt bin ich in Paris. Es geht mir sehr gut. Ich habe hier schon Arbeit gefunden in einem Geschäft und gute Bezahlung. Denn ich habe viel Bildung genossen, die hilft mir. Ich bleibe hier, bis Monsieur zurückkommt und [] mich wieder beruft. Paris ist die schönste Stadt, die eS gibt. das kann ich beurtheilen. Es gibt auch die besten Manieren da. Da lebe ich am liebsten, denn ich bin ein Pariser. Aber wen» Monsieur kommt und mich beruft, so gehe ich, und ich gehe niit ihm, wohin er geht, und ginge er in ei» Tors. Denn ich bin ihm sehr anhänglich und wollte, Monsieur könnte wieder auskommen und werden, was er war. Werthes Fräulein! Ich sende viele Wünsche für Ihr Wohlergehn. Ich vergesse nie, daß Sie mein Glück gemacht haben. Ich bleibe in vieler dankbarer Anhänglichkeit , Ihr Diener Franxois Beillot."
Als nach Jahren Hetty durch Paris reiste, suchte sie aus dem alten Fricdhof umher nach einem Grabe, welches nah an der Mauer liegen mußte. Ein schwarzes Kreuz sollte daraufstehn, das einen wohlbekannten Namen trug. Der Gärtner, der sie beobachtet und wohl als eine Fremde erkannt hatte, rief ihr zu, sie müsse weiter hinaufsteigen, dort unten bei der Mauer finde sie nur geringe Gräber, die schönen Monumente seien alle auf der Höhe. Aber Hetty war soeben an die gesuchte Stelle gekommen. Auf dem einfachen Kreuze vor ihr stand der Name „Olga". Blaßrothe, durchsichtige Rosen blühten aus dem Grabhügel, und grüne Epheuranken schlangen sich an dem Kreuz empor. Hetty pflückte von den Blättern und Blumen, um sie zu trocknen Verschollen!c. 10 [] 146 und Martine mitzubringen, die dies Alles angeordnet hatte, damit die Stätte davon zeuge, daß liebende Erinnerung sie umweht.
Auf ihrem Kreuze steht das Wort, das Olga so gern in den Herzen Anderer lebendig gewußt hätte, wie es in dem ihrigen lebendig geworden war: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben."
Es waren einige Jahre vergangen seit dieser Zeit, als Hellt) eine kranke Freundin nach einem besuchten Badeort, unweit der böhmischen Grenze, zu begleiten hatte. Die letzten Wochen des regnerischen Sommers waren hell und günstig zur Erholung, und viel schneller, als man hatte annehmen können, wurde die Kranke kräftig und wohl und kam dadurch in eine besonders frohe Stimmung.
„Helly", rief sie eines Morgens der Hereintretenden entgegen, „nun können wir reisen! Aber bevor wir von cinandergehn, du nach Süden, ich nach Norden, möchte ich noch irgend wohin mit dir, wohin es dich zieht, und da noch einige schöne Tage mit dir zubringen. Wie gefiele dir Dresden?
„Gehn wir nach Prag", entgegnete Hellt) unverweilt. Die Freundin war's zufrieden. Wenige Tage nachher reisten die Beiden ab und langten am späten Abend in Prag an.
„Wir haben ja ganz vergessen, uns nach den Gasthöfen zu erkundigen", sagte ängstlich die Freundin, als sie in die [] 147 Halle einfuhren, wer hätte auch gedacht, daß es so spät werden würde?"
„Ich weiß Bescheid", beruhigte sie Hetty, „wir steigen im .Schwarzen Roß' ab."
Ein Fiaker brachte die Reisenden sofort dahin.
Tie Genesende fühlte sich mehr von der Reise angegriffen, als sie vorausgesehn hatte. Am folgenden Morgen, anstatt sich zu der verabredeten Fahrt durch die Stadt bereit zu machen, bat sie Hetty, diese allein zu unternehmen, da sie weder Lust noch Muth dazu hätte; der Tag sollte aber nicht verloren gehn, da die Zeit zu dem Aufenthalt kurz zugemessen war.
Hetty wollte Nichts davon wissen, daß die Halbkranke allein im Gasthos liegen bleiben 'sollte; diese aber bestand fest auf ihrem Wunsch und suchte unruhig nach einem Wege, wie Hetty eine Begleitung zu ihrer Fahrt durch die Stadt finden könnte.
„Dafür laß mich sorgen, wenn du es denn so haben willst", schloß Hetty die Berathung ab und machte sich zu ihrer Rundreise bereit.
Unten beim Portier erkundigte sie sich genau nach den Fremdenführern, die zu haben wären.
„Das Hotel hat deren drei zur Disposition der Dame", erklärte der Mann gewichtig: „Einmal den lange im Dienst Stehenden, der Alles kennt und weiß und richtig geht, wie die alte Präger Stadtuhr; 10 * [] 148 von Gemüthsart etwas melancholisch. Taun den kürzlich- Eingetretenen, der von jedem Winkel eine Geschichte zu erzählen weiß, mehr kurzweilig als genau, von Gemüthsart neugierig, aber heiter. Tann den Laufjungen, dienstfertig und lenksam, geht, wie die Tame will, mehr gehorsam als erfinderisch. Tie Tame kann wählen."
„Ich wünsche den Ersten", sagte Hetty längst entschlossen. Sie hatte nicht lange im Portier-Stlldchen gewartet, als ein schmales, bewegliches Männchen herantrat und, nachdem er einen tiefen Knix gemacht, ein paar schwarze, durchdringende Augen aus sie heftete.
„Kutsche haben, Gnaden?" fragte er unterthänig.
„Nein, wir wollen zu Fuß gehn", erwiderte Hetty und trat sofort die Wanderung an. Ter Führer ging ihr zur Linken, ehrerbietig immer einige Schritte hinter ihr zurückbleibend. So gingen sie durch die alten Straßen, an den dunkeln, massiven Palästen vorüber, traten hie und da in eine uralte, prächtige Kirche ein, wanderten dann unter den noch mit dichtem Laub bedeckten Platanen der Promenade hin, der rastlos dahinfließenden Moldau entlang. Ta standen unter den leise wehenden Zweigen der großen Bäume hie und da die stillen Ruhebänke, kühl und schattig anzu- seh», und auf eine derselben, nah dem rauschenden Wasser und fast eingeschlossen von den tief niederhängenden Zweigen der alten Platane, ließ Hetty sich einen Augenblick nieder. Ihr Führer stellte sich in einiger Entfernung vor sie hin [] 1 . 8/2 149 und nahm die Mütze vom Kopf, wie bei jeder Erklärung, Die er zu machen hatte. Von der Bank sah man voll auf die schöne Karlsbrücke hin, deren Statuen weiß herübcr- glänzten, und von drüben schaute hoch herunter der Hradschin in alter, stolzer Herrlichkeit.
„Wenn wir nun über die Karlsbrücke »ach dem Hradschin hinübergingen? Mit der Altstadt sind wir nun wohl zu Ende, so weit wir kommen wollen", meinte Hetty.
„Es wäre noch viel zu sehn", entgegnetc der Begleiter, dem sichtlich daran lag, seine alte, schöne Stadt so eingehend als möglich zu zeigen; „doch wie Gnaden wollen. Ich würde den Vorschlag machen, hier links die Kettenbrücke zu passiren,. den Weg oben über, am alten Kloster vorbei, zum Hradschin zu machen, über unsere schöne Karlsbrücke in die Altstadt zurückzukehren; doch wie Gnaden meinen."
Tcr Vorschlag gefiel Hetty, die Wanderung wurde wieder angetreten.
Wie viel war zu sehn und zu erzählen auf den, alten Hradschin! Ter Führer erklärte gut und einläßlich und mit so seelenvoller Theilnahme an der Sache, daß Hetty sich in immer längere Gespräche mit ihni einließ. Er wußte um Alles; die Geschichte seiner Stadt Prag mußte er ganz gründlich erforscht haben und bei Hetty's gespannter Aufmerksamkeit ging ihm das Herz immer mehr auf. Nun stiegen die Wanderer zu der Karlsbrücke nieder. Bei der Statue des heiligen Ncpomuk angelangt, stand Hetty still und schaute [] 150 sinnend zu ihr hinauf. Der Führer hatte seine Mütze abgenommen, er sing aber nicht an, zu erklären, wie sonst überall; still schaute er zu dem Bild empor mit gefalteten Händen, er mußte beten. Hetty setzte sich auf den steinernen Sockel nieder, froh über das Schweigen ihres Begleiters, ihre Gedanken waren auf vergangne Tage gerichtet, von denen die Stelle, wo sie saß, so lebendig erzählte. Als Hetty nach langem Schweigen ausschaute, bemerkte sie, daß die schwarzen Augen ihres Begleiters mit einem durchdringend fragenden Blick auf ihr ruhten; unwillkürlich fragte sie: „Wollten Sie eine Frage an mich thun?"
„Wenn ich dürfte, Gnaden", war die rasche Antwort.
„Ja, Sie dürfen ganz wohl, fragen Sie nur - immer", sagte Hetty. Der Führer drehte einige Male seine Mütze in den Händen herum, so wie um einen Anfang zu finden; endlich sagte er unsicher: „Ich wollte so gern — ich dachte Gnaden könnten mir vielleicht — ich habe Jemanden gekannt und Gnaden haben im Sprechen so viel Aehnlichkeit mit der Tarne, vielleicht kommen Gnaden aus derselben Gegend?"
„Sie heißen Nick, nicht wahr?" sagte Hetty, als ihr Führer wieder stockte. „Ich kenne Sie und ich weiß, nach wem Sie fragen."
Nick machte seine Augen im höchsten Erstaunen aus: „Gnaden kennen mich? Durch sie denn? Und sie? Glücklich jetzt. Keine traurigen Augen mehr?" [] „Nein, nicht mehr traurig", bestätigte Hetty, „froh für immer, aber hier ist sie nicht mehr, sie ist im Himmel."
Nick sagte kein Wart, er faltete nochmals seine Hände, und lange umgab eine lautlose Stille die schweigende Gestalt des steinernen Vaters.
Nick brach zuerst das Schweigen.
„Jetzt glaub' ich's, Alles glaub' ich nun", sagte er, mit so leuchtenden Augen, als sei ihm eben eine frohe Botschaft verkündet worden. Etwas verwundert fragte Hetty, was er damit meine.
„Darf ich's Gnaden erzählen?" fragte er und fuhr auf Hetty's bejahende Bewegung fort: „Ihre traurigen Augen sind mir immer nachgegangen, sie war gut, ich habe es gesehn, gut wie Wenige, und doch wußte sie auch Nichts von einer Gerechtigkeit. Ich hab' es nie vergessen. Und lauge nachher sah ich sie im Traum, da stand sie auf den Wolken und sie schaute nach mir hernieder und ihre Augen leuchteten wie die Sterne und sie nickte mir, so, als wollte sie sagen: ,Ja, Nick, ich weiß von einer Gerechtigkeit.' Und ich wollte Hinaufrufen, aber auf einmal war sie weg und jetzt — wie war mir s! — Auf demselben Platze stand meine Mutter und hatte dieselben leuchtenden Augen und sie nickte mir, wie in Freude, und ich rief laut: .Mutter, ist dir auch einmal wohl geworden?' Und nochmals nickte sie froh, und auf den hellen Wolken verschwand sie hoch oben. Und seit dem Tag — hier der heilige Vater [] 152 weiß es — da komme ich täglich hieher und bete mein Vaterunser, und nun ist mirs klar: sie ist auch droben und ihr ist auch wohl/'
Nick hatte einen so warmen, überzeugten Ausdruck in seinen Augen, das; es Hctth ganz wohl that, ihn so zu sehn. Sie reichte ihm die Hand: „Ja, wir wollen uns freuen, daß es ihnen Beiden wohl geworden ist ; und daß ich Sie hier noch getroffen habe, sreut mich auch."
Nick drückte die dargebotene Hand in großer Bewegung, dann gingen die Beiden schweigend über die Brücke zum Schwarzen Roß zurück. Noch an demselben Abend verließ Hettt) Prag und fuhr durch die stille Nacht, von dahingegangenen, unvergeßlichen Gestalten begleitet, der Heimath zu.
Noch einmal sollte Hetth von einem Namen hören, der die vergangnen Tage wieder in ihrer Seele wach rief und manche entschlummerte Erinnerung in neuem Leben vor ihr erflehn ließ.
Sie war aus dem Süden zurückgekehrt, wo sie ihre kranke Freundin, welche sie dahin begleitet hatte, der jungen Verwandten hatte übergeben können, die als Pflegerin herbe schieden worden war. Das frische, lebensfrohe Mädchen niußte mit ihrem heitern Wesen einen wohlthuenden Einfluß auf die schweigsame Kranke ausüben, und in dem milden Sonnenlicht, auf dem unvergleichlich schönen Fleckchen Erde, mußte Heilung für manches Weh und Leiden zu finden sein.
[]153 So sagte sich Hetty, als sie, in die Heimath zurückgekehrt, mit ihren Gedanken die fernen Freunde suchte und verlangend nach den verheißenen Nachrichten aussah, die nun den mündlichen Verkehr ersetzen sollten. Nicht lange mußte sie vergeblich darnach ausschauen: die fröhliche Herta, die junge Verwandte der Kranken, hielt ihr Wort; ja ihre Briefe folgten schneller noch auf einander, als sie selbst versprochen hatte, doch nie zu schnell für Hetty's wachsende Theilnahme daran. So lauteten die Briefe: „Sorrent, 10. Lctober 18 . .
„Liebe Hetty!
„Tu bist zu früh abgereist von Sorrent, aus drei Gründen. Erstens: weil ich noch nicht Alles mit Dir durch- geredct hatte, was mir im Sinne lag zu thun; zweitens: weil Tu nicht mehr gesehn hast, wie wir nun für den Winter eingerichtet sind, und drittens: weil du eine Bc- I kanntschast versäumt hast, die Dir Freude gemacht hätte, die ^ Bekanntschaft des originellsten Kindes, das mir je vor Augen gekommen ist. Tu siehst, ich habe Dir schon sehr viel zu erzählen! Wo fang' ich nur gleich an? Ich denke bei' unserer Kranken: Cousine Elsa ist ganz ordentlich in diesen Tagen. Wir haben in unserer netten Villa, auf das An- > erbieten der Besitzerin hin, im oberen Stock drei Zimmer bezogen, nämlich zwei Schlafzimmer und den anstoßenden kleinen Saal, wo ein Klavier steht. Ta geht Elsa, wenn [] 154 es ihr eben gut geht, hinüber, setzt sich an das Instrument und singt unser Lied: ,-i.ckäio, dslla dlavoli, aääio!'
„Tas kannst Tu aber jetzt mit mehr Recht singen, als wir. Ich gehe derweilen draußen auf dem Balkon herum und schaue über den Lrangenwald zu meinen Füßen weg aus die blaue Meeresfluth hinaus und nach dem alten Vesuv hinüber, der in violetten Tust gehüllt da drüben steht und sein weißes Wölkchen hinaufsteigen läßt in's dunkle Himmelblau. Nun muß ich Dir von dem Kinde erzählen! Eigentlich kennst Tu das kleine Geschöpf, nämlich dem Aenßern nach; aber von seinem sonderbaren Wesen hast Tu keine Ahnung. Erinnerst Tu dich des Tages, da wir nach dem Pinienthal gingen zusammen? Ta stand vor einem kleinen Hause auf der ersten Anhöhe, wo man links abbiegt, das Kind mit den glänzend schwarzen Haaren und den feurigen Augen. Tu wolltest damals sprechen mit ihm, aber es lief weg von Tir; ich glaube zwar, es lief Jemandem nach, es war, als habe es plötzlich Etwas erblickt, es schoß wie ein Pfeil aus die Straße hinunter.
„Gestern nun war der Abend so licht und lieblich/ das Meer ganz dunkelblau, und weithin flimmerte Alles im Sonnenlicht, Himmel und Meer und Orangenbäume und Bergabhänge, und ich lief hinaus und rief Elsa auf den Balkon hinaus, damit sie Lust bekäme, auszugehn. So kam es auch und wir gingen bis zu dem kleinen Haus aus der Anhöhe.
[]155 Da stand das Kind wieder an die Hecke gelehnt nnd gnckte nach der Straße hinunter, so als ob es Jemand erwarte. Mir kam in den Sinn, daß wir hier auf dem Wege nach dem Pinienthal waren und ich wäre so gern noch einmal hingegangen, aber ich befürchtete, den Weg nicht finden zu können. Ich trat zu dem Kinde heran und fragte, ob es mich nach dem Pinienthal hinführen wolle. Ganz direkt nnd ohne Besinnen antwortete es: ,dlo, non voxlio.' Ich dachte, es sei vielleicht zu spät für heute, der Weg ist doch noch weit von dort. So fragte ich: /Aber morgen kommst Tu mit mir?' ,dlo, mal/ war die Antwort. — .Llui', .niemals'.
.Warum deuu niemals'?' fragte ich weiter und war ziemlich ärgerlich. Das schien dem Kinde sehr gleichgültig zu sein; es schaute mir mit seinen feurigen Augen mitten in's Gesicht nnd wiederholte ganz bestimmt: ,LIai.'
„Ich dachte, es wolle erst sehn, was es für den Dienst bekäme; Tu weißt, die italienischen Kinder betteln ja , Loläi', bevor sie recht reden können. Ich hielt dem Kinde einige Saldi hin und fragte: .Kommst Tu dafür?' Es schüttelte verneinend den Kops. Nun schüttete ich Alles, was ich an Münze bei mir hatte, aus meine Hand aus und hielt es ihm hin. Da wandte es den Kopf weg, (und sagte trotzig: ,Xo, wsi.' So Etwas war mir noch nicht vorgekommen. Tie Mutter war nun herausgetreten und wollte, wie ich glaube, das Kind bearbeiten. Aber mit einem Mal schoß es auf [] 156 und davon, wie damals, gegen die Straße hinunter, und weg war's. Die Frau schaute mir nachdenklich zu, wie ich alle meine Soldi wieder einpackte, und sagte dann, so wie darauf bezüglich, ich solle nur morgen wieder kommen, Irene sei manchmal eigensinnig, aber sie gebe schon nach. Also Irene heißt das stvrrige Kind. Jetzt wollen wir sehn, wer Meister wird.
Lebe wohl und gedenk unser!
Herta."
„Sorrent, 15. October 18 . .
„Liebe Hetty!
„Wir haben den Scirocco kennen gelernt, alle die Tage her regierte er im Lande. Einmal fuhr ein Regenschauer daher, dann kam die Sonne und brannte eine halbe Stunde lang wie Feuer auf die Orangenbäume nnd die Menschen- köpse nieder. Dann kam ivieder der Regen und drunten peitschte der Wind die Meereswogen hoch über die Mauern in die Gärten herein. Es war an keinen längern Ausgang zu denken, bis gestern gegen Abend mit einem Mal der Wind umgeschlagen hatte, wie ich den Gärtner unten sagen hörte, nun sei die Tramontuna eingezogen, und wir haben es gewonnen für lange. Nun zog ich aus, denn meinen Gang nach dem Pinienthal hatte ich aus den ersten schönen Tag festgesetzt. Es war zwar schon ein wenig spät dazu, und dann weiß ich nicht, wie es zugeht, auf dieser Straße [] gegen Massa hin, komme ich gar nicht vorwärts, es ist zu schön. Diesmal entdeckte ich einen Punkt, von dem ich so lange nicht mehr loskommen konnte, daß die Sonne schon dem Sinken nahe war, als mir in den Sinn kam, wie weit es noch von da nach dem Pinienthal ist. Der Punkt ist unweit der Stelle, wo der Weg nach links hinauf von der Straße abzweigt. Tn mußt Dich dieses Punktes erinnern, die Straße steigt schon ziemlich, und rechts davon, auf einem Vvrsprung, steht ein einzelnes Hans, unmittelbar über dem Meer. Im Garten davor stehn gedrängt in einander die üppigsten Orangenbäume, jetzt alle ganz bedeckt mit den reifenden Goldfrüchten, und zwischen durch funkeln die großen, rothen Lleanderblumen in der Sonne. Schaut man zurück, so sieht man hinunter auf die dunkelblaue Bucht, die der goldgrünglänzcnde Poinmeranzenwald umschließt, aus dem die weißen Villen von Sorrent wie Edelsteine hervorschimmern. Links hinauf, dem Meer entlang, zieh» sich, soweit nian sehn kann, die lachenden Gefilde von Meta und Vico und die Höhen des St. Angeln bis hoch in's Himmelblau hinein. Dies ist der schönste Punkt um Sorrent. Ob man in dem Hause wohnen könnte? Es sieht so still und lockend wohnlich aus. ,Salve' steht über der Thüre. Entzückend muß der Blick oben von dem kleinen Balkon aus sein, wie auf dem Gipfel der 'Anhöhe. Drüben die leuchtende Bucht von Neapel, dann die ganze sonnige Küste von Bajä und Misene und bis zu den duftigen Höhen der fernen Insel Jschia hin.
[]158 Könnte ich doch dort oben wohnen Ich stände ganze Tage lang aus diesem Balkon. Ich konnte nicht sort von der Stelle. Endlich ging ich doch. Lben bei dem kleinen Hause angekommen, fand ich das störrige Jrenchen nicht an seiner Hecke stehn, es war Alles still und leer. Auch hier, bei dem granen Steinhüuschen, ist es unsäglich schön. Da sieht man über die blauen Fluthen hin, an den Vesuv und an den leuchtenden Kranz der weihen Paläste und Häuser hinüber, die sich um den alten Feuerspeier hinziehn von Portici bis Castellamarc. Jetzt lag Alles im Abendlicht, weithin das Meer wie lauter Gold und der rauchende Vesuv von einem rosigvioletten Duft umwoben. Da saß ich fest auf einem Baumstrunk vor dem Häuschen und hatte ganz vergessen, daß ich nach dem Pinienthal hinwollte. Irenens Mutter schreckte mich aus meinen Träumereien auf, sie kam heraus, um Wasser zu schöpfen. Ich fragte nach dem Kinde und ob es mich wohl noch begleiten könnte. Sie sagte mir, für heute sei es viel zu spät, in's Thal hinaufzugehn, das Kind sei noch als Begleiterin fort, aber nach Sonnenuntergang koinme es immer zurück. Ich wollte seine Heimkehr abwarten, um auf den folgenden Tag die Parthie mit ihm auszumachen. Ich konnte schon sitzen bleiben, wo ich saß, ich weiß nicht, wo es schöner sein könnte. Es dämmert schnell hier nach Sonnenuntergang. Das Kind stand auf einmal vor mir, ich hatte nicht gesehn, von welcher Seite es gekommen war. Die Mutter trat auch wieder heraus [] und stellte sich neben mich; das Kind stand vor mir. Ich sagte nun: »Morgen gehst Du mit mir nach dem Pinien- thal, Irene; Deiner Mutter ist die Sache recht und Du bekommst etwas Schönes von mir für das Geleit.' Wie ein Blitz kehrte sich das Kind ab von mir und sagte, den Rücken gegen mich gekehrt: ,Jch geh' nicht.' Ich sah nun die Mutter an meinerseits und sie schien endlich einschreiten zu wollen. Sie nahm das Kind beim Arm und kehrte es wieder um, so daß es mich ansetzn mußte; dann sragte sie, warum es nicht gehn wolle. Es gab keine Antwort. Jetzt stellte ihm die Mutter vor, was es Alles hätte bekommen können für die vielen Soldi, die ich ihm habe geben wollen.
,So will ich nach dem Deserto gehn mit ihr', sagte dann auf einmal das Kind ganz entschlossen. Haft Tu je so Etwas gehört? Das kleine Geschöpf befiehlt, wo man hingehn soll! Ich sagte, ich werde nicht nach dem Deserto gehn, auf diesen kahlen Berg hinauf, durchaus nicht; nach dem Pinienthal aber werde ich gehn, unabänderlich. Nun setzte das Persönchen wieder seinen Kopf auf und behauptete, dahin führe es mich nicht, nie! Jetzt wurde die Mutter aus einmal ganz lebendig, ich glaube vor Neugierde, sie wollte nun durchaus wissen, warum Irene an den einen Ort mit mir gehn wollte, und an den andern nicht. Es währte noch eine gute Zeit, bis das Kind reden wollte, aber jetzt gab die Mutter nicht mehr nach. Sie fragte alles Mögliche, ob es nicht nach dem Pinienthale wolle, weil es denke, es seien [] 160 Räuber da oder Schlangen, oder man bekomme Dornen in die Füße; es war Alles Nichts. Endlich sagte das Kind, halblaut: ,Tcr Signore hat's nicht gern.' Jetzt war die Mutter auf einmal entwaffnet. Sie sagte ganz überzeugt: ,Ja, wenn es der Signore nicht gern hat' — dann zuckte sie die Achseln und ging in's Haus hinein. Da saß ich! ,Wer ist denn der Signore'?' fragte ich das Kind noch, das will ich denn doch wissen. ,Der Signore Jnglese', rief eS und lief davon.
„So endete mein Gang nach dem längst ersehnten Pinienthal. Was soll denn das heißen? Ein ganz offnes Thal, offen wie eine Straße, wo Jeder hingehn kann, wo schon Tausende hingegangen sind um der eigenthümlichen Schönheit des Ortes willen, da soll man jetzt nicht hingehn, well irgend ein Signore Jnglese es nicht gern hat. Nun wollen wir doch sehn, ob ich nach dem Pinienthal komme oder nicht. Du kannst begreifen, daß ich nun durchaus dahingeht, will. Du haft auch selbst gesagt, es sei vom Schönsten, das Du kennest. Und ich will nun dahin!
„Elsa geht es gut. Die Lust hier ist ihr wohlthuend, sie hat ihre Kopfkrämpfe selten und ißt mit Appetit allerlei Meerthiere.
„Lebe wohl und sei mir herzlich gegrüßt.
Herta." [] Sorrent, 25. October 18 , .
„Liebe Hetty!
„Ich habe es doch erreicht!
„Nach dem Pinienthale bin ich gekommen und den Signore Jnglese, der hier die Thäler schließt und die Leute beherrscht, habe ich auch gesehn; ich muß Dir Alles erzählen. Wir hatten doch die richtige Tramontnna noch nicht, wenigstens nicht für bleibend. Du hattest Recht, mir in Deinem Briefe zu sagen, ich solle nicht zu fest trauen; wenn der Wind so schnell wechsle, ebenso schnell kehre er meistens dann wieder um. So war's auch diesmal. Aber gestern Morgen, als mir früh schon die Sonne hell in's Zimmer schien, da rief ich laut aus: .Heute nach dem Pinienthal!' Der Ruf war so anregend, daß Elsa augenblicklich aus ihrer Stube herüber- rief: .Ich gehe mit.' Gleich nach dem zweiten Frühstück um zwölf Uhr, zogen wir aus nach dem großen Platze, wo, wie Du weißt, die Kutscher, die Schiffer, die Eseltreiber und allerlei Reisebegleiter mit allen möglichen Vorschlägen und Anerbietungen einen so bedeutenden Lärm verführen, daß man froh ist, so schnell als möglich in Sicherheit zu kommen. So machten wir auch eilig unser Geschäft mit einem Eseltreiber ab, der ziemlich tückisch und zerlumpt aussah. Ich bereute auch gleich unsere That, da ein hübscher, schwarzlockiger Junge eben auf uns zu trat und uns sehr manierlich seine Dienste anbot. Er schaute mich so ehrlich an und verschollen ic. 11 [] 162 versicherte, er habe den besten Esel in ganz Sorrent unter seiner Pflege. Ter Esel heiße Colonello und vor dem Jahr habe er die Prinzessin von Preußen oft herumgetragen auf vielen Touren. Ter Junge sah so gut aus, ich Hütte ihn zu gern als Führer mitgenommen, aber der Andere kam schon mit den bestellten Eseln, es half Nichts, wir mußten aufsteigen. Ter Junge half mir in den Bügel. ,Aber morgen mit mir, Signora', sagte er so nett bittend, und ich sagte: .Uebermorgen, aber wohin dann?' .Nach dem Teserto', hatte er schnell ausgesunden. Ich bejahte, es wird mir eben bestimmt sein, nach dem Teserto zu kommen. So habe ich denn auf morgen schon wieder eine Parthie vor; doch nun zu der gestrigen zurück: Tu kennst den Weg in's Pinienthal, er ist nicht besonders'schön zu nennen. Hier, wo auf jeder 'Anhöhe ein entzückender Blick über das Meer hin zu haben ist, reitet man nicht gern zwischen Bäumen und dichtem Buschwerk durch, wo kein freier Ausblick ist. Bei dem Hans .Salve', bevor wir von der Straße abbogen, schickte ich noch einen Blick zu dem Balkon hinauf. Jener Sitz ist mein Wunsch; wie muß eine Mondnacht dort oben anzuschauen sein! Wir ritten wohl eine Stunde lang, eh' wir bei dem kleinen Bauernhaus am Eingang zum Pinienthal ankamen. Hier stiegen wir ab und ließen Führer und Esel zurück. Ein kleines Mädchen, das uns eine erstaunlich steife, gelbe Blume mit einem langen Stiel und ganz ohne Blätter zum Kauf angeboten hatte, sollte nun unsere Führerin [] 163 sein. Erinnerst Tu Dich dieser letzten Strecke? Sie ist schlecht genug. Erst geht's steil hinunter, in Gestrüpp hinein, iiber Baumstrünke und Wurzeln hin, was ein beständiges Stolpern mit sich bringt, dann in ganz weichen Boden und dann in Steingeröll hinein, aber mit einem Mal standen wir in der Thalmulde unter den Pinienbäumen. Und was für Pinien! Nur wer diese gesehn hat, weiß, was Pinien sind! Und diese Menge der alten, hohen Bäume mit den reichen, weit ausgebreiteten Wipfeln! Jetzt wogte und rauschte durch alle die vollen streuen ein mächtiger Seewind, der dort von Capri herüberkam. Ich eilte dem Ende des Thalgrundes zu, dahin, wo er steil in's Meer abfällt, wo man zu beiden Seiten die einschließenden, buschigen Höhen hat und durch die Leffnung hinaus ein Stück blaues Meer, aus dem die Insel Capri schwimmt und ihre feinen Linien in das Himmelblau zeichnet. Da setzte ich mich auf einen Stein hin und schaute hinüber und dann wieder hinauf, wo, durch die grüne Pinienkrone über mir, hie und da der blaue Himmel herunter leuchtete. Mehr und mehr schien drüben die Felseninsel zu Tust zu werden, der leicht und lieblich sich auf den abendlichen Wogen wiegte. Da unten brauste das Bteer und droben rauschten die Wipfel, es war, als singe und jauchze Alles laut auf über die Schönheit ringsum. Wenn ich je im Leben sollte von Traurigkeit befallen werden, gienge ich hieher in's Pinienthal, dann würde sicher Alles gut.
„Elsa war mitgekommen, aber ich hatte sie aus den Augen 11 * [] 164 verloren und eine Zeit lang Alles vergessen. Nun stand ich einmal aus und schaute mich nach ihr um. Elsa sah ich nirgends; aber zwei Augen entdeckte ich plötzlich, die flammend aus mich gerichtet waren, so, als wollten sie mich in den Boden hinein brennen. Dort, unter einem der hohen Bäume, saß unbeweglich der kleine Cerberus deS Pinieuthales, Irene, mit ihren Blicken aus mich geheftet. Neben ihr, an den Stamm der Pinie gelehnt, war eine Männergestalt zu sehn, ebenso füll und unbeweglich da sitzend, die Augen auf ein kleines Buch gerichtet, in dem sie zu lesen schienen. Ich dachte, zu diesem Zwecke müßte eigentlich der Signore nicht gerade nach dem Pinienthal gehen, dazu wär's überall schön genug, seine Nase in ein Buch zu stecken. Daß der Anwesende der gesetzgebende Signore Jnglese sein werde, konnte ich mir wohl denken. Ich kehrte mich um und saß wieder auf meinen Stein hin, und als die Sonne unterging und ich ausstand, um wegzugehen, da war der Signore sammt seiner kleinen, grimmigen Hüterin lautlos verschwunden, und Alles war öd und leer. Erst als ich den Abhang erklommen hatte, sah ich wieder lebende Wesen, zunächst die Elsa, die in sichtlichem Zorn auf ihrem Esel saß, denn sie hatte schon Dreiviertelstunden lang da gesessen und irrthümlichcr Weise angenommen, das hätte mir eine innere Stimme sagen sollen.
„Nun lebe wohl und gestehe, daß ich Deinem Wunsche nachkomme und Dir viel von unserm Leben erzähle.
Herta." [] 165 „Sorreut, 30. Lctober 18..
„Liebe Hetty!
„Meine Parthie nach dem Deserto ist wundervoll ausgefallen. Mein erster Eindruck von dem Jungen war ganz richtig, er ist vorzüglich als Führer und als Mensch. Erst machte Elsa ein wenig Spektakel, als ich ihr mein Vorhaben offenbarte. Sie wollte mich nicht allein eine so weite Tour machen lassen, es könnten mir allerlei Unfälle zustoßen, meinte sie, und mitkommen könne sie auch nicht, es wäre zu anstrengend für sie. Endlich nahm sie aber Vernunft an, denn sie sah, daß ich entschlossen war, zu gehen. So allein auszuziehen, das war ein herrliches Gefühl! Ich ging nach dem Platze hin, da stürzte mir gleich mein Führer entgegen, er hatte schon aus mich gewartet. Mit stolzen Blicken zeigte er mir »einen Colonello, dem er eine nagelneue Decke aufgelegt hatte, die war grau mit rothen Streifen und sehr an- muthig sauber. So begannen wir die Reise. Ich saß prächtig auf dem Colonello und hart neben mir her wanderte mit ungeheuren Schritten mein Führer einher, mit dem ich vom Augenblick der Abreise an bis zu demjenigen des Abschieds in ununterbrochener Unterhaltung blieb. Er hat mir aber auch so Vieles erzählt, das mir merkwürdig ist und das Dir nun gleich auch merkwürdig sein wird. Denk' doch, mein schmucker Führer, Pietro, ist ein Stiefbruder der kleinen Irene; da mußte er mir denn zuerst seine Familien- verhältnisse auseinandersetzen. Er hat seine Mutter verloren, [] 166 wie er zehn Jahre alt war; jetzt ist er neunzehn. Bald bekam er dann die zweite Mutter, die er gern hat, sie war immer gut gegen ihn. Die kleine Irene kam dann zur Welt, sie ist nun acht Jahre alt. Bevor sie aber völlig ein Jahr- alt war, starb der Vater, und Pietro half nun der Mutter wacker arbeiten, das; sie aus dem Häuschen bleiben und sich selbst durchhelsen konnten. Er wurde dann Eselsjunge bei seinem jetzigen Patron, stieg dann aber mit der Zeit. Jetzt darf er als Fremdenführer gehen, über die Berge und wo es ist, er hat schon unglaublich viele Touren gemacht und kennt das Land in alle Winkel hinein. Jeden Abend kommt er nach Haus zur Mutter, da hat er seine Herberge, wenn er nicht aus Reisen ist, denn manchmal ist er Tage lang mit Fremden auf dem Wege. Nur sein Nachtessen hat er zu Hanse, das ist aber, wie ich merkte, sein einziges bestimmtes Essen; draußen auf dem Platze oder aus Touren, da nimmt er eine Zwiebel und ein Stück Brod ein. Durch sein Nachtessen veranlaßt, kam er auf den Signote Jnglese zu sprechen, von dessen Tisch viele Resten für die Mutier abfallen, was ihr eine große Hülse sei. Nun fing er an von dem Signore zu erzählen, für den er einen unbeschreiblichen Respekt empfindet. Dieser Signore Jnglese kommt schon seit mehreren Jahren und bringt die Herbst- und Wintermonate in Sor- rent zu. Tann verschwindet er und kehrt im September wieder zurück. Er ist leidend, Pietro weiß aber nicht wie, nur daß er immer langsam gehen müsse und manchmal viele [] Tage hintereinander gar nicht ausgehen könne. Die Jahre vorher kam er immer mit einem Bedienten!, der ist ihm ader einmal krank geworden hier und ,hat mehrere Wochen lang daS Bett nicht verlassen können, nachher ist er nicht wieder erschienen. Seit der Zeit leistet die Irene dem Signore allerlei kleine Dienste; die Frau des Hauses, wo er wohnt, ist eine Bekannte der Mutter und hat das Kind hei dem Signore eingeführt. Und wo wohnt dieser Signore? In meinem Hause, ,Salve', hat er den ganzen obern Stock für sich gemiethet für immer, auch für die Zeit, da er nicht hier ist, denn er will ganz für sich sein und Niemanden neben sich in dem Hause haben. Unten wohnt nur der Hausbesitzer mit seiner Frau, die dem Signore die Zimmer in Ordnung hält. Jeden Tag um dieselbe Zeit geht Irene hinaus zu ihm und holt die Reste seines Mittagsmahles; da findet denn Pietro's Mutter oft niit Erstaunen und Schrecken über so geringen Appetit, sie bekämen gewiß mehr an Resten, als am ganzen Mittagessen gewesen sei. Etwas später geht der Signore aus, und Irene weiß immer, wohin er gehen wird. Gewöhnlich geht er nach dem Pinienthal und würde sie im Vorbeigehen mitnehmen, aber sie wartet ihn nie ab, schon eine halbe Stunde vorher paßt sie auf sein Erscheinen. Sieht sie ihn auf der Straße kommen, so stürzt sie ihm entgegen und hat ihm dann Allerlei nachzutragen: den Plaid, das Fernrohr, ein Buch oder Jeitungsblatt und wer weiß was noch mehr, wahrscheinlich eine Theemaschine, wenn er [] 168 ein ächter Jnglese ich Er kann aber gerade so gut ein Schwede oder ein Spanier sein, denn Jnglese heißt hier Jeder, der außerhalb Italien zu Hause ist. So gut ist aber der Signore, daß, wie Pietro sagt, nicht ein Stück auf der Irene sitzt, das nicht von ihm herrührt; dazu hat sie noch eine Korallenschnnr und ein Kreuz daran, die er ihr einmal von Neapel gebracht hat. Da hast Tu die Geschichte vom Signore Jnglese. Was mir daran am meisten Eindruck macht, ist, zu sehen, wie er Alle, die mit ihm in Berührung kommen, beeinflußt. Von dem feuerspeienden Kind würde es mich noch weniger wundern; aber Tu solltest diesen Pietro hören, wie vernünftig und gelassen er über Alles sprechen kann, und dann sehen, wie er erregt wird, wenn er ansängt von dem Signore zu erzählen, es ist, als würde sein ganzes Wesen mit einem Mal um eine Terz höher gestimmt.
„Nun sieh doch, vor lauter Erzählungen über den Signore ist mein Brief schon so lang geworden, und noch habe ich Tir von Allem, was ich gesehen, Nichts erzählt, und doch sieht man von diesem hohen Deserto aus auf eine so wun- dcrrciche Welt hinunter. Tas heißt, man könnte das Alles sehen, wenn man nicht einen Kamps zu bestehen hätte, der nicht zu schildern ist. Tas Teserto ist eine völlig kahle Höhe ohne jeglichen Baum oder Strauch; nur ein graues Steinhaus steht da, eine Art Stift oder Waisenhaus, wo eine Menge dünner, bleicher, windzerzauster Buben herumrannten, denn ein Wind streicht über diese Höhe hin, wie [] 8/3 169 ich noch keinen empfunden habe. Als ich oben ankam und vom Esel stieg, um die Aussicht zu betrachten, jagte es mir den Hut über den Berggrat hin, den Mantel über den Kopf hinaus und hoch in die Luft hinauf, ich selbst flog so willenlos umher, daß ich nichts Besseres zu thun wußte, als schleunigst den Rückweg anzutreten und an einer geschützteren Stelle abzuwarten, ob der Pietro meine zerstobenen Kleidungsstücke wieder zusammenfinden würde. Er brachte aber Alles schön auf den Esel befestigt, und ich Ivar so gerührt von seiner Sorgfalt, daß ich ihm sogleich eine neue Parthie zusagte, die er mir auf dem Heimweg vorschlug; diese kann aber erst ausgeführt werden, wenn Elsa noch etwas fester geworden ist in ihrer Erholung, denn da kann ich denselben Tag nicht zurückkommen. Es führt von Sorrent ein steiler, aber wundervoller Sanmiveg über den schönen Monte St. Angelo, den wir immer vor Augen haben, hinüber nach dem alten Amalfi, das vom Schönsten sein muß, das man sehen kann, mit all' den verfallenen Sarazenenschlösseru und Thürmen ringsum an den Bergabhängen und aus den Felsenhöhen ani Meer. In Amalfi müssen wir die Nacht bleiben und ani folgenden Tag machen wir den Weg zurück und haben dann vor Augen, was wir im Hinweg im Rücken hatten. Dies ist eine herrlich ausgcdachte Reise, ich habe sie mit Pietro festgesetzt und werde sie ausführen.
„Lebe wohl und laß bald von T'ir hören.
Herta." [] 170 „Tor reut, 5. November 18 . .
„Liebe Hetth!
„Eine ganz lächerliche Geschichte Hot sich zugetragen, die sollst Tu gleich hören. Tu wirst zwar erst gor nicht glauben wollen, was Tu liesest; aber es hilft Tir Nichts, Tu mußt, es ist eine wahre und wirkliche Begebenheit. Jetzt höre: Gestern Abend gehe ich die Straße gegen Mussa hinaus, mau kann ja nie ermüden, diesen Weg zu gehen. Ich biege in den Fußweg zum Pinicnthal ein und steige hinauf bis zum Häuschen der Irene, sehe auch das Kind droben sitzen und freue mich darüber, denn das kleine Wesen mit den Rabenhaaren und den Flammenaugcn sehe ich immer gern; ich möchte nur wissen, was im Innern dieses kleinen Kraters vorgeht, denn daß da allerlei Feuer sprühn, daran zweifle ich gar nicht. Lbschon das Kind mir noch wenig Huld erzeigt hat, so. hat es mich doch so für sich eingenommen, daß ich immer nach ihm ausschaue, wenn ich draußen bin. Wie es mich herankommen sah, wollte es fortlaufen, ich winkte ihm aber zu und es blieb sitzen. Wie ich oben war, setzte ich mich zu ihm auf die kleine, zerbrochene Bank hin, und um nun ein Gespräch zu beginnen, fragte ich, wo heute der Pietro sei. Statt aller Antwort zeigte das Kind nach dem Meer hin, wo ich wohl einige Barken sah, aber klein wie Mücken, so daß unmöglich zu unterscheiden war, ob sie gingen oder kamen. Ich zog mein Fernrohr hervor, Du kennst ja das [] zweiäugige Instrument in der weißen Schale, und schaute hinaus. Es war Nichts zu erkennen. Ich stellte also meine Bemühungen ein, legte das Glas neben mich nieder und wollte eben ein neues Gespräch mit Irene beginnen, als ich bemerkte, daß ihre Augen ganze Funken sprühten, bald aus mich, bald auf das unschuldige Fernrohr hin, das zwischen uns lag. Mit einem Mal springt das Kind auf, erfaßt das Instrument wie eine erzielte Beute und stürzt die Anhöhe hinunter, der Straße zu. Erst bleibe ich festgewurzelt auf meinem Platze, starr vor Erstaunen; dann stehe ich auf und laufe dem Kinde nach. Ich sehe, wie es die Straße hinunter- fliegt, an das Haus .Salve' kommt, dort hineinstürzt und verschwindet. Ich eile so sehr ich kann, um auf Irene zu treffen, wenn sie wieder herauskommen würde. Wie ich den« Hause näher komme, sehe ich zum ersten Mal den Signore aus seinen« Balkon stehen. In diesen« Augenblick tritt das Kind zu ihm heraus und hält ihm frohlockend mein weißes Fernrohr hin. Ganz erstellt ergreift es der Signore, setzt es an seine Augen und schaut vergnügt an den Vesuv hinüber durch das geraubte Gut. Was mußte ich denken, Hetty? Was hättest Tu gedacht? Da war nur Eines zu denken: Also dieser edle Mann da droben, der alle Menschen einnimmt und großmüthig behandelt, ist ein verkappter Räuberhauptmann! Er sucht unschuldige Kinder zu gewinnen, um sie nachher auf Raub und Diebstahl auszuschicken. Noch einmal schaute ich nach dem Balkon hinauf. Da stand er noch, [] 172 im seinen, schwarzen Kleide und sah wirklich vornehm aus, der heimliche Banditenchef und noch schaute er durch mein Fernrohr in das Land hinaus, wahrscheinlich neuen Raub erspähend, und in Verehrung blickte Irene zu ihm auf, selbst in diesem Augenblick begangener Unthat. Ich wußte durchaus nicht, was ich thun sollte. In das fremde Haus hinein- zutreten und mein Eigenthum zu fordern, war mir zuwider 5 an den Balkon Hinausrufen: ,Gebt mir was mir gehört!' das konnte ich auch nicht thun; was blieb mir also übrig? Ich ging in stummer Empörung nach Hause und erzählte Elsa mein Erlebniß. Es machte einen schrecklichen Eindruck aus sie, daß sie erst gar keine Worte fand; dann merkte ich aber, daß nicht der Tiebstahl und nicht die Entdeckung des Räubers sie so betroffen hatte, sondern der Gedanke, ich sei zu viel an der Sonne herumgegangen, und nun sei mein Gehirn angegriffen. Ich grübelte aber die ganze Nacht und den folgenden Morgen durch nach, wie ich wieder zu meinem Eigenthum gelangen könnte. Gegen die Mittagszeit, als ich der Elsa wohl zum zehnten Mal wiederholte, daß ich. die räthselhaste Geschichte mit gesunden Sinnen, erlebt habe, klopfte es an unsere Thür und herein trat der Signore Jnglese, das geraubte Fernrohr in der Hand. Ich glaube, wir sahn Beide sehr verblüfft aus, Elsa und ich, aber nicht lange; der räthselhaste Signore wußte mit solcher Feinheit und Leichtigkeit Alles in's Geleise und Alle in die ungezwungenste Lage zu bringen, daß mit einem Mal eine ganz [] belebte Unterhaltung unter uns herrschte und wir in die angenehmste Stimmung versetzt wurden. Aber von Jnglese keine Spur, sondern ein Deutsch sprach der Signore, so schön und wohlklingend, daß es tönte wie Musik. Freilich da macht ein gutes Organ viel aus; solcher Wohllaut einer Stimme ist mir noch nicht vorgekommen. Der Signore hatte eine Weise, um Entschuldigung zu bitten, daß man davon selbst ganz demüthig wurde und zum Gesühl kam, man habe selbst gewiß auch Etwas abzubitten. Das große Räthsel wurde uns dann gelöst. Er selbst besitzt ein Fernglas mit weißer Schale, dem meinen völlig ähnlich, das hatte er verloren, was das Kind natürlich wußte. Als es in meiner Hand den trügerischen Doppelgänger sah, war es überzeugt, es müsse der Verlorne sein, und kurz von Wort und rasch van That, wie das Kind ist, führte es gleich den entscheidenden Streich und brachte das vermißte Gut seinem Herrn ohne alle Erklärung zurück. Er freute sich höchlich des Wiedergefundenen, erschrak dann aber gewaltig, als er diesen Morgen einen unbenutzten Schrank ausmachte und darin ein ganz gleiches Fernrohr liegen sah, wie dasjenige, das er in der Hand hielt. Nun mußte Irene berichten, woher sie das ihrige gebracht hatte. Natürlich fühlte sich der Signore sehr beschämt über den Vorfall und wollte dies mir selbst aussprechen. So endete die erste Räubergeschichte, die wir in Italien erlebt haben. Mögen wir noch viele solche erleben, denn das Ende war anmuthig. Der Signore ist un- [] 174 streitig ein Norddeutscher. Auf seiner Karte, die er bei seinem Eintritt in's Haus uns übersandte, die uns aber erst nachher abgegeben wurde, nach ächt italienischer Bedientcn- art, steht: H . . . . v. D- „Leb wohl und nimm meinen Grus;.
Hcrta."
„Sorrent, 15. November 18 . .
„Liebe Hetth!
„Was hat denn mit einem Mal eine solche Theilnahme am Schicksal dieses Herrn v. D. bei Dir erweckt? Bis zu meinem letzten Briefe gabst Du kaum Antwort auf Alles, was ich Dir von dem Signore erzählte und nun plötzlich willst Tu Alles von Ihm wissen, was nur zu wissen ist, und viel mehr, als ich Dir sagen kann. Hat Dich unsere Räubergeschichte so angeregt? Ich möchte wissen, was über Dich gekommen ist! Jetzt will ich Dir aber Alles erzählen, was ich weiß, denn ich mag gern, daß Tu zu einer lebendigen Theilnahme für unsern Signore erwacht bist, er verdient eine solche. Du sagst in deinem Briefe, ich soll Dir schreiben, wie Herr v. D. .jetzt' aussehe. Was heißt das? Ich denke, Du wolltest fragen, wie er überhaupt aussehe. Edel sieht er aus und nicht wie viele Andere. Ich dachte bei mir, wie er hier bei uns war: Der hat ein Wesen wie ein Fürst, dem natürlicherweise seine ganze Umgebung unter- [] 8/2 175 than ist; darum macht denn seine gewinnende Art, diese rücksichtsvolle Freundlichkeit, die so unähnlich aller Herablassung ist, einen solchen Eindruck. Aber krank sieht er aus, das schön geschnittene Gesicht hatte wohl nicht immer so scharfe Linien wie jetzt. Die dunkeln Augen liegen tief drinnen, aber sie sind sehr sprechend und können ganz durchdringend anschauen. Elsa sagt: mit kleinlichen Gedanken im Herzen möchte sie nicht vor diesen Augen stehen. Ich auch nicht, wenn ich sie behalten wollte; wollte ich sie aber los werden, dann schon; ich glaube vor Genireu führen sie gleich aus. Es geht Elsa jetzt so gut, daß ich daran denke, meine Reise niit Pietro auszuführen, bevor die Tage noch kürzer werden. Elsa hat zwar einen ganz erschrecklichen Lärm erhoben, wie ich davon sagte. Sie sieht Räuber und Schlangen und wilde Büffel auf meinen Wegen, dann sieht sie mich in die Irre gerathen und verhungern und noch mehrere andere schwere Unfälle, die mir auf dieser Bergfahrt zustoßen, aber es ist nur so, bis sie sich ein wenig an den Gedanken gewöhnt hat. Ich mache jedenfalls die Reise, davon bringt mich kein Mensch ab. Pietro kennt den Weg gut und er ist ein sicherer Führer, da ist keine Gefahr. Amalsi und die Sarazencnburgen will ich sehn, das steht fest. Bin ich erst drüben gewesen, dann erhältst Tu eine Beschreibung, die Dich freuen soll.
„Lebe wohl bis dahin.
Herta." [] 176 „Sorrent, 10. Dezember 18 . .
„Liebe Hetty!
„Diesmal hast Du länger als gewöhnlich auf einen Brief warten müssen. Ich weiß nicht, wie es kam, ich war nicht zum Schreiben aufgelegt, aber heute habe ich Dir viel zu erzählen. Elsa ist recht unwohl gewesen, und ich saß die meiste Zeit bei ihr zu Hause. Gestern aber lag ein so lieblich milder Sonnenschein draußen auf den Orangenbäumen im Garten, daß man nicht zwischen den Mauern bleiben konnte. Da es ganz windstill war, kam mir der Gedanke, eine kleine Meerfahrt zu machen; ich dachte, es müßte Elsa wohlthun, einmal wieder die herrliche Luft einzuathmen, und ermüden konnte sie sich ja in dieser Weise nicht. Sie war sogleich einverstanden mit meinem Plan. Wir gingen um die Mittagszeit im milden Sonnenschein nach der kleinen Marine hinunter, wo ich ein Schiff hatte bestellen lassen. Als wir auf einem Vorsprung ankamen, wo man hinunter- sieht, erblickte ich zu meinem Erstaunen, wie eben Herr v. D., gefolgt von der kleinen Irene, das einzige Schiff bestieg, das zur Abfahrt bereit stand, also das unsrige. Das war doch ein sonderbares Unternehmen von dem Signore, der auf seinen Spaziergängen Niemanden treffen will. Als wir uns näherten, hörte ich, daß er mit den Schiffern eine Differenz beizulegen hatte, sie riefen alle Viere auf einmal, so viel sie vermochten, und gestikulierten gewaltig mit Kopf und Armen, [] um ihn zu überzeugen. Jetzt stand er anf und trat wieder aus dem Schiff, gerade als wir herankamen. Nun wurde uns die Sache klar gemacht. Wir hatten zu unserer Fahrt eine kleinere Barke mit zwei Ruderern bestellt, und gleich nachher kam Irene mit demselben Auftrag. Nun fanden die Schiffer für besser, gleich eine große Barke mit vier Ruderern bereit zu machen und die Foreftieri alle zusammenzupacken. Tu weißt ja, solche Zusammensetzungen muß man sich hier von Schiffern und Kutschern immer gefallen lassen. Erst nachdem er eingestiegen war, hatte Herr v. D. diese Vortheilhafte Einrichtung von den Schiffern vernommen lind war nun eben im Begriff, sich zu entfernen und uns in großmüthiger Entsagung das ganze Schiff mit allen vier Ruderern zu überlassen. Auf die Gefahr hin, zurückgewiesen zu werden, wagte ich die Frage an Herrn v. T., ob wir nicht die Fahrt zusammen machen könnten; da wir ja um keine Linie größeres Recht an das Schiff Hütten als er, müßten wir sonst durchaus auch den Borschlag machen, zurückzubleiben und ihm daS Schiff allein zu überlassen. Unerwartet freundlich wurde mein Vorschlag zu einer gemeinsamen Fahrt von Herrn v. T. angenommen. Mit großer Sorgfalt half er nun erst uns, dann der kleinen Irene in das fortwährend zurückweichende Schiff hinein, und da saßen wir, Elsa und ich, denn auf der einen Bank, uns gegenüber der Signore und neben ihm das Kind, mit Heller Freude in den Augen und Plaid und Fernrohr auf dem Schovß. Heute war es Verschollen rc. 12 [] 178 sichtlich zufrieden mit uns, hatte doch der Signore selbst sich so freundlich in unsere Nähe gesetzt. Man kann jede Empfindung in des Kindes Augen und Mienen lesen. Es sah ganz reizend aus, wie es so in stiller Glückseligkeit neben seinem Signore saß und ihm jede Bewegung ablauschte und verstand, denn einmal mußte der Plaid umgenommen werde», das Fernrohr herausgezogen, einmal der Sonnenschirm aufgemacht, und das Alles ging ganz leise vor sich, immer im Augenblick, da es nöthig war und ohne daß der Signore nur ein Wort zu sagen brauchte. Er war während der ganzen Fahrt von der feinsten Liebenswürdigkeit und machte uns auf allerlei schöne Punkte und merkwürdige Dinge aufmerksam, die wir noch gar nicht gesehen hatten; er kennt die ganze Gegend sehr genau. So sahen wir zum ersten Mal die Ruinen der Sarazenenseste an der Küste von Massa, gegen das Cap der Campanella hin, nach welcher Seite wir fuhren. Auch malerische Ruinen eines Jupitertcmpels schauen da vom Gestade in's Meer hinaus, und überall lachen die sonnigen Bergabhänge hernieder, von reichem Feigenlaub und Rebcnranken überdeckt. Wie Elsa den Anlaß fand, weiß ich durchaus nicht; aber mit einem Mal ist sie mitten drin, dem Herrn v. T. ihre Besorgnisse vorzutragen, meine Reise nach Amalsi betreffend, und nun bittet sie ihn, mir die Unternehmung in's rechte Licht zu stellen, da er die Gegend so gut keime. Herr v. D. faßte die Sache gleich ganz ernsthaft an und begann nun, mir seine Bedenken über mein [] Vorhaben mit so warmer Theilnahme auseinanderzusetzen, daß ich nicht anders konnte, ich mußte darauf hören und seine Worte beherzigen. Wenn auch keine Räuberbanden da Hausen, so soll doch viel verkommenes Volk da herumfahren, und in der völlig einsamen Gegend bedrohen die Reisenden Gefahren, denen man sich nicht aussetzen soll. Den Pietro rühmte er als treuen und ehrlichen Menschen, auch als zuverlässigen Führer, aber er allein könnte kein Schutz für mich sein, wo Mehrere gegen uns wären. Herr v. D. ließ die Sache nicht mehr fallen, bis ich nachgeben und davon abstehn wollte, und ich kam dazu, ich weiß nicht wie, es lag in der Weise seiner Bearbeitung in aller Sanftmuth ein Zwingen, dem ich nicht mehr Widerstand leisten konnte; ich versprach also, die Reise aufzugeben. Nun wurde er rührend liebenswürdig. Er sagte, es reue ihn nicht, mich um diese Parthie gebracht zu haben, er möchte aber gerne mir eine andere dafür anbieten, ob er das dürfe. Ich bejahte sogleich und schlug eine gemeinsame Parthie nach dem Pinienthal vor. Es war ein wenig Bosheit dabei, ich wollte sehen, wie der Signore sich aus der Sache ziehen werde, da er doch jenen Srt für sich allein behalten wollte. Das Pinienthal liegt mir aber auch sonst immer im Sinn, ich möchte so gern wieder hingehen. Herr v. D. bemerkte, dahin könnten wir weder zu Wagen, noch zu Schiff gelangen, so könnten ! wir die Parthie ja nicht zusammen machen. Ich entgegnete, er müsse doch irgendwie hin kommen, da ich ihn dort ge- [] 180 sehen habe. Es ging ein trauriges Lächeln über sein Gesicht. als er antwortete: ,Ja wohl, irgendwie! Sie haben es niit einem kranken Mann zu thun, mein Fräulein! Reiten dars ich nicht, und zu einer Fußtour, wie ich sie machen muß, darf ich nur meine kleine Irene in Anspruch nehmen, eine solche währt sehr lange und erfordert manchen langweiligen Halt.' Er fuhr mit zärtlichem Streicheln ein paar Mal über des Kindes lockiges Haar hin, es war, als wollte er ihm danken. Eine Zeit lang schwieg Alles; mir war es leid, daß ich sein Kranksein zur Sprache gebracht hatte. Aber die Sache mußte doch zu einem Abschluß kommen. Ich sagte also, mir gefiele doch diese Tour am besten, und wenn er uns erlauben wolle, in sein Pinienthal einzutreten, so könnten wir dahin reiten und dort mit ihm zusammentreffen, um die unvergleichliche Schönheit der Stelle gemeinsam zu genießen. Tann erzählte ich ihm, welche vergeblichen Anstrengungen wir gemacht hätten, von seiner kleinen Begleiterin nach dem Thal geführt zu werden, weil, wie sie erklärte, der Signore es nicht gern sehe. Er schaute lächelnd auf das Kind und streichelte es von Neuem. Tann sagte er: ausgesprochen habe er darüber nie ein Wort, daß das Pinienthal seine Lieblingsstelle sei, wo er gern allein in der Stille verweile; das habe ihm das Kind wohl abgemerkt, wie so vieles Andere. Es errathe seine Wünsche und Bedürfnisse, eh' sie ihm oft selbst recht in's Bewußtsein träten. So sei er immer von seiner kleinen Irene besser besorgt und ge- [] pflegt, als er es selbst anzuordnen wüßte. Das Kind halte einen glücklichen Tag. Konnte es auch die Worte seines Herrn nicht verstehen, so verstand es doch seine liebevolle Behandlung. Die Augen des Kindes leuchteten wie helle Sterne; erst jetzt, da das Zvrnesfeuer daraus verschwunden war, sah ich, welchen herzgewinnenden Blick die Kleine hat. Die Parthie nach dem Pinienthal wurde auf den ersten sonnigen Tag festgesetzt, und wieder an der kleinen Marine angelangt, schieden wir fast wie alte Bekannte. Ich hätte nie gedacht, daß sich's mit diesem Signore so angenehm Verkehren ließe.
„Lebe wohl und sei vergnügt wie wir es sind.
Herta."
„Sorrent, 15. Tezember 18 - .
„Liebe Herty!
„Noch haben wir seit unserer Meerfahrt keinen recht sonnenhellen Tag gehabt, so ist die verabredete Tour immer noch unterblieben. Elsa muß im Zimmer bleiben in diesen ziemlich kühlen Tagen. Da geh' ich dann oft allein aus kleine Entdeckungsreisen aus, meistens gegen Massa hinaus. Die letzten Rosen blühn an den Hecken, sie sind ein wenig blaß; aber immer goldner leuchten jetzt die Orangen aus den dunkeln Blättern hervor, bald werden sie reis sein. Ich wandere an .Salve' vorüber, nach der Höhe der Straße hinauf und schaue um mich. Und wenn ich Stunden und [] 182 Stunde» da droben stehe und stanne, niemals werde ich dieser Schönheit müde. Mit Irene stehe ich nun aus dem besten Fuße. Wo sie mich erblickt, läuft sie mir entgegen und streckt mir die Hand zum Gruße hin. Sie sagt dann freilich Nichts, aber in ihren Augen kann ich deutlich unsere guten Beziehungen lesen. Sie blickt mich ganz vcrständniß- innig an, so als sagte sie mit Worten: .Jetzt ist's anders zwischen uns! Diese Veränderung schreibe ich durchaus nicht meinem Verdienste zu, sie ist seit der Fahrt im Schisse eingetreten, wo das Kind bemerkt hatte, daß der Signore uns große Freundschaft erwies, denn das ganze Wesen des Kindes richtet sich nach diesem Compaß. Ich muß sagen, die kleine Irene ist das anmnthigste Kind, das ich je gesehen habe, ich begreife vollkommen, daß sein Herr dem kleinen sympathischen Wesen eine besondere Zuneigung schenkt. Das Feuer und die Leidenschaftlichkeit, die entschieden in dem Wesen des Kindes liegen, kommen durchaus nur in seinen Augen zum Vorschein, sonst ist Alles Grazie und Lieblichkeit an dem Kinde. Seine Bewegungen sind so weich und geschmeidig, sein Gang so leicht und leise und seine Stimme so sanft und anmnthig, daß es Jedem wohl machen muß, das Kind um sich zu haben. Es sieht aber sehr zart aus und ist so fein gegliedert, daß nicht abzusehn ist, was es einmal für Arbeit verrichten soll, denn solche wird es schon verrichten müssen. Hier arbeiten die Frauen sehr viel, das Volk ist überhaupt so rührig, gar nicht wie in Neapel, wo Alles [] herum liegt und schläft oder aus vollem Halse schreit. Dafür sehn die Leute auch besser aus, als die zerlumpten Neapolitaner.
„Der arme Pictro war ganz betroffen, als ich ihm sagte, unsere Reise könne nicht stattfinden; er schlug mir fünf oder sechs andere Parthien vor nach unbekannten Höhen und Diesen. Das Eine ist nun aufgegeben; aber mit dem Pictro mus; ich schon noch Allerlei ausführen, da bleiben noch herrliche Dinge zu thun.
„Lebe wohl und las; uns von Dir wissen.
Herta."
„Sorrent, 20. Dezember 18 . .
„Liebe Hetty!
„Ein wundervoll sonniger Tag lag gestern über Sorrent. Die längst beschlossene Parthie nach dem Pinienthal wurde ausgeführt, und nun sollst Tu gleich davon hören. Elsa und ich auf unserm Eseln, begleitet von Pietro, waren zuerst auf dem Platze. Wir lagerten uns auf die bemoosten Steine an meinem erwählten Platz und schauten um uns in die Schönheit hinaus und harrten der Kommenden. Bald hörten wir auch ihre Tritte im Steingeröll und sahn den Signore daher kommen, hinter ihm das Kind, mit den gewohnten Gegenständen beladen. Unter der Pinie, wo ich sie damals gesehen hatte, blieb Irene stehen und ordnete einen Sitz zu- recht. Herr v. T. kam uns entgegen und bewillkommte uns [] mit der einnehmendsten Freundlichkeit, so als ob er uns bei sich empfinge. Er sagte ein wenig ironisch lächelnd, da er doch in den Ruf gerathen sei, als Herr des Pinienthales auftreten zu wollen, so möchte er seine Gäste auf den schönsten Platz desselben, unter seine anserwählte Pinie führen. Der Blick von dort aus auf das Meer und Capri in die weite blaue Ferne hinaus sei unvergleichlich, wennschon ein Theil der Insel dort hinter der Felsenhöhe verschwinde. Wir setzten uns Alle unter den Baum hin und blieben eine Zeit lang schweigend in den Anblick des traumhaft duftigen Bildes versunken, das vor uns lag. Das Meer war ohne Bewegung, der Mittagssonnenschcin flimmerte darüber, und in der Ferne glitten weiße Leget über die Bläue hin. Am Himmel stand kein Wölkchen, die Luft war so völlig klar, daß die seinen Linien der Insel sich ganz scharf vom hellen Horizont abhoben. Kein Windhauch war jetzt in den Pinien- wipseln zu hören, Alles still ringsum, wie versunken in den sonnigen Traum. Herr v. D. brach zuerst das Schweigen, er deutete nach Capri hinüber und sagte: ,Jst nicht von dieser Seite her die Insel anzusehen wie ein aus Tust ge- wobner Sarg, der auf den Wellen schwimmt? Der Gedanke, da drinnen zu schlafen, unter dem blauen Himmelszelt, von den kühlen Wassern umfluthet, könnte weniger Schauer erwecken, als derjenige, tief in die dunkle Erde gelegt zu werden.'
„Ich war so überrascht von dieser Rede, daß mir die [] Worte entfuhren: ,Wie können Sie solche traurige Bilder hervorrufen an einer Stelle, wo das Schönste, das die Erde hat, Sie umgibt?' Er' cntgcgnete, die Bilder rufe er nicht als etwas Neues hervor, sie müßten einem Menschen nahe liegen, dem jeden Tag einmal das Herz zu schlagen aufhöre, so daß er sich dem Ende nahe fühle. Also an einer Herzkrankheit leidet er und so beängstigend ist sein Zustand! Mir wurde ganz schwer zu Muth, aber ich dachte: .Nein, hier im Pinienthal will ich mir nicht den Tag so verdüstern lassen, die Krankheit kann ja auch wieder eine gute Wendung nehmen? Ich lenkte also von dem Gegenstand ab und sagte, Herr v, T, müsse wohl ein Buch lesen, das ihm recht lieb und werth sei, da er es sogar mit hieher bringe, ich habe ihn hier unter der Pinie darin lesen gesehn. Er antwortete: , Ja', das Buch sei ihm lieb und werth. Ich dachte, er würde mir sagen, was es für ein Buch sei, das ihn so begleitete, und fand es eigen, daß er mich so kurz abfertigte. So fragte ich weiter, ob ich nicht wissen dürfe, was der Inhalt des Buches sei, das seine Aufmerksamkeit sogar hier in Anspruch nehmen könne, trotz der Schönheit dieser Umgebung. Er enigegnete, wenn ich es zu wissen wünsche, so sei er gern bereit und zog das kleine Buch hervor, das ich in seiner Hand gesehen hatte. Was meinst Tu, daß es war? Ich wußte nicht, was sagen vor Erstaunen, es war ein Exemplar des neuen Testamentes, dazu ein sehr vergriffenes, er muß es wohl lange gebraucht haben, Herr v. T. sah mein Er- [] 186 staunen; er sagte: vielleicht lese ich wenig in dem Buch und könne nicht begreifen, daß er es thue. Er habe auch nicht immer darin gelesen, aber die Zeiten änderten sich im Leben, auch mir könnte noch ein Tag kommen, da ich gern das Buch zur Hand nehmen würde, da Fragen in mir aufsteigen könnten, die kein anderes beantworte, da ich erfahren könnte, daß kein anderes Macht habe über eine Unruhe, die unser Inneres verzehren könne. Ich wußte nicht, was denken, noch was sagen. Es war Alles still eine ganze Weile lang. Tann sagte Herr v. D., wie in seinen Gedanken fortfahrend: ,Und wer gesehen hat, was die Worte dieses Buches bewirken können, daß eine Seele, die an ein ideales Wesen, wie an die sichtbare Wirklichkeit glaubt, im Leiden bittrer Täuschung, in Elend und Erniedrigung den Glauben nicht verliert, daß sie immer fester, immer kräftiger wird, während ihre Hülle bricht, daß sie sogar einem frühen Tode freudig entgegengehen kann, dem wird das Buch theuer.' Er schwieg plötzlich. Ich konnte aber nicht anders, ich mußte fragen: .Sollten Sie solches gesehen haben, Herr v. D.?' Er sagte: , Ja' — aber etwas zögernd; dann setzte er hinzu: .Ich weiß, so war es, ich lese es täglich, aufgezeichnet von einer Hand, die das Erlebte schildert.' Das sagte er aber so bewegt und sah auf einmal so krank aus, daß ich kein Wort mehr zu sagen wagte, und nun schwiegen wir Alle und ein Schatten lag über dem ganzen Pinienthal und es war gar nicht, wie ich mir diesen Freudentag ausgebucht [] hatte. Hätte ich nur nie von dem Buch gesprochen! Ich kann Alles gar nicht begreifen.
„Die kleine Irene sprang dann mit einem Mal aus und stellte sich hinter ihren Signore, der sogleich aufstand und um Entschuldigung bat, daß er aufbrechen müsse, das Kind wisse, seine Zeit, heute hätte er selbst sie wohl vergessen. Wir blieben noch eine Weile schweigend sitzen, um den Fußgängern den Vorsprang zu lassen.
„Was sagst Tu zu diesem Tag im Pinienthal? Das soll nicht mein letzter Eindruck davon sein, ich komme noch einmal wieder, denn ich will diese Schönheit noch einmal in voller Fröhlichkeit schauen.
„Lebe wohl und fahre fort, so lebendigen Antheil an unsern Erlebnissen zu nehmen.
Herta."
„Sorrcnt, 10. Januar 18 . .
„Liebe Hetty!
„Tas ist das Köstliche an diesem Scirocco-Wetter, daß man doch jeden Tag, auch wenn es übel haust, ein Mal oder mehrmals hinaus kann; denn, kommt die Sonne zwischen den Schauern durch heraus, so ist sie warm, und gleich ist's trocken aus der Straße und im Augenblick bin ich wieder draußen. Wir werden noch tüchtig Sturm bekommen, sagt der Gärtner, der Wind braust auch ganz gewaltig über das Meer her und schlügt die Wellen hoch auf an der Marine.
[]183 Es ist schön anzusehen. Gestern Abend stand ich lange oben an der Straffenmaner, wo man aus die Marine niedcrsieht, es brauste und wogte, und hoch aus schlug der Gischt. Die Schiffer zogen die Barken ein, und halbnackte Buben sprangen mit erstaunlichem Geschrei in den Schaum hinaus und dann wieder zurück. Das können sie Stunden lang so sort treiben und ich kann zusehen, sreilich seh' ich noch Vieles daneben und drüber hin und immer etwas Neues, jetzt hat der alte St. Angela sogar eine Schneekrone ausgesetzt. Als ich noch dort stand, kam Irene von oben herunter, sie hatte sichtlich wieder Zorn gegen mich im Herzen; sie bot mir keine Hand und wollte vorbeigehen ohne Gruß. Ich hielt sie an und nahm ihre Hand; sie schaute aus den Boden und gab mir keinen Blick. Es that mir so leid! Ich sagte: .Komm, Irene, sieh mich an, habe ich Dir denn Etwas zu Leide gethan?' Sie starrte auf den Boden und gab keine Antwort. Nun dachte ich, wart nur, ich will ein Mittel gegen dein Trotzköpfchen finden! Ich sagte: ,So will ich den Signore fragen, Irene, warum Tu aus einmal so störrisch wirst, wenn man Dir gar Nichts gethan hat und gerne freundlich mit Tir wäre. Glaubst Tu, das gefällt dem Signore?' Jetzt schnellte das Köpfchen in die Höhe und zwei zornfnnkelnde Augen waren auf mich gerichtet. Tennoch war die Stimme leise, wie immer, aber doch ein wenig zitternd vor Grimm, als Irene jetzt sagte: , Sie haben den Signore traurig gemacht im Pinienthal. Er wird krank, wenn man ihn trau- [] rig macht, er ist fünf Tage lang krank gewesen!' Ich war sehr erstaunt über diese Erklärung. Daß unser Gespräch im Pinienthal dem Herrn v, T. Erinnerungen erweckt hatte, die ihn schmerzlich bewegten, hatte ich wohl bemerkt; ich hatte aber keine Ahnung, das; das Kind mich als die Schuldige ansah; es that mir auch leid, ich wollte es so gern wieder gewinnen. Ich sagte: .Sieh, Irene, ich wollte dem Signore nichts Böses thun, ich möchte nie Etwas thun, das ihm leid thäte; ich möchte nur gern thun, was ihn fröhlich machen könnte und gesund. Wir wollen miteinander aussinnen, wie wir ihm eine Freude machen könnten. Aber nun sei wieder gut mit mir und gib mir die Hand.' Ich erhielt sie wirklich und wir schieden wieder als gute Freunde. Ich kann Dir nicht sagen, wie einnehmend das Kind sein kann, ohne Worre, es spricht so wenig, aber die leiseste Regung ist auf seinem Gcsichtchen zu lesen. Wenn erst diese Januartage vorbei sind, wie wird es dann hier werden! Das neue Erwachen soll noch herrlicher sein als alle Schönheit des Spätjahrs.
„Lebe wohl und freue Dich mit mir dem Frühling entgegen.
Herta."
„Sorrent, 23. Februar 18 . .
„Liebe Hetty!
„Da ist der Frühling und mit welcher Pracht ist er eingezogen! Ueberall stehen die Orangenbäume in neuen Blüthen und die ganze Luft um Sorrent ist nur ein Wohlgeruch.
[]190 Blumen sprossen aus allen Hecken und Ritzen hervor mit glühenden Farben, die Pinien tragen frische Kronen, aus den Weinranken strömt ein süßer Hauch, es ist ein Leuchten und Duften und Frühlingswehn zum hellen Entzücken. Ich habe Dir lange Nichts erzählt, da war Nichts zu erzählen; aber nun wird's anders kommen. Die Scirocco-Stürme liegen alle hinter uns, der März soll lauter goldne Sonnentage bringen und Blüthen und Blumen auf allen Wegen.
„Herr v. D. geht nach Capri hinüber, das thut er meistens um diese Zeit. Da sollen ganze Bergabhänge dicht von Myrrhen überdeckt sein und wenn da Alles in Blüthen steht, soll eine wunderliebliche, würzige Luft um jene Höhen wehn. Gestern früh, wie ich auszog, um den Frühling zu grüßen, trat mir Herr v. D. entgegen aus seiner Thüre ,Salve'. Er begleitete mich eine Strecke weit gegen Massa hin, und dabei machte er mir diese Mittheilung. Wir hatten auch immer im Sinn, Capri zu besuchen; bis jetzt aber war uns die Lust nicht gekommen, den Plan auszuführen; nun es aber so wunderhcrrlich wird auf diesem Stück Erde und es drüben noch besonders schön sein soll, so muß die Fahrt ausgeführt werden. Ich sagte Herrn v. D., wir werden ihn drüben besuchen. Daraufhin trennten wir uns, er kehrte zurück; ich aber konnte nicht satt werden, das jung erwachte Land anzuschauen im Morgensonnenglanz. Bis Massa hinauf zog es mich, und dort auf der Mauerterrasse über dem Meer stand ich fest gebannt, wie lange, weiß ich nicht. Im Morgen- [] gold funkelten drüben die Zinnen von Neapel, der ganze Posi- lippo mit seinen hellen Villen, der duftige Küstensaum von Puz- znoli, von Baja, von Mifene, bis hinüber zur fern aufragenden Jschia. Und da drüben Capri, auf denklaren Wogen schwimmend und herüber grüßend und winkend. — Ja wir kommen!
Herta."
„Sorrent, 18 . März 18 . .
„Liebe Hetty!
„Gestern ist Herr v. T. hinübergereist, ivir haben der Abfahrt beigewohnt; davon muß ich Dir erzählen. Wir wußten, daß der Dampfer von Neapel um zehn Uhr hier anlegt und die Reisenden nach Capri aufnimmt. Elsa ist so wohl jetzt, daß sie zu jeder Stunde ausgehen kann, und wir hatten Beide Lust, nach der Marine hinunterzugehen, die Abreise mit anzusehen und Herrn v. D. noch einen Abschiedsgruß zu bieten. Der Dampfer war schon in Sicht, wie wir gegen den Strand hinunter kamen; die Barke, die Herrn v. D. zum Schiff bringen sollte, stieß eben vom Lande, unsern Gruß konnten wir ihm nur noch zuwinken. Ich rief noch: ,Aus Wiedersehn in Capri!' worauf er, zustimmend, mit der Hand uns auf die freundlichste Weise zuwinkte; dann fuhr die Barke dahin. Der Dampfer stand aber so nahe am Strand, daß wir gut sehen konnten, wie Herr v. D. hinaufstieg, dann sich umwandte und noch einmal mit seiner Hand herüber grüßte. Pietro stand unten am Wasser, er hatte [] 192 wohl Herrn v. T.'s Reise-Effeclen besorgt, sein ehrliches Gesicht sah ganz tiessinnig aus, wie er dem slichenden Dampfer nachschaute. Als er mich nun aber erblickt hatte, wurde, wie ich bemerkte, seine Ansmerksamkeit ein wenig getheilt. Er sah einige Male zwischendurch in einer Weise nach mir hin, daß ich annehmen mußte, er denke sich im stillen aus, welche kleine Parthie er mir für heute zum Trost vorschlagen konnte. Ein ächter Eseltreiber von Sorrent hat sein Amt immer vor Augen. Ich sah mich nach Irene um, sie mußte doch gewiß mitgekommen sein. Ta entdeckte ich sie, wie sie sich an den Felsen drückte, das Gesicht dem Meere abgewandt und in die aufgehobenen Hände bineinschlnchzte, so heftig, daß es den ganzen, kleinen Körper erschütterte. Sie konnte es nicht aushalten, das Schiff wegfahren zu sehen, das ihren Signore forttrug. Ich ging zu dem Kinde hin und wollte es trösten. Aber da halsen keine Worte, es sah und hörte mich nicht .Pietro kam nun auch zu uns heran. Er^ sagte, ich soll mir nur keine Mühe machen, es helfe Nichts: das sei nun einmal so, wenn der Signore fortgehe, und man müsse froh sein, wenn es nicht ärger komme. Dann schickte er sich an, in stummer Ergebung von dannen zu gehen und das Kind allein stehen zu lassen. Das konnte nicht angehen. Es war zum Erbarmen zu sehen, wie trostlos das Kind da stand und in den Felsen hineinweinte, so konnte man es ja nicht verlassen. Aber wie war zu helfen? Mir kam mit einem Mal ein Gedanke. Ich sagte: ,Komm, [] Irene, hör' auf zu weinen, ich weiß einen guten Trost: Wir wollen miteinander nach Capri hinüberfahren und den Signvre besuchen. Wie ein Blitz wandte sich das Kind, um und wirklich zum Erbarmen war es anzusehen mit seinen verweinten Augen und dem verworrenen schwarzen Haar in der Stirne. Es schaute mir mit ängstlich fragender Spannung in die Augen hinein, so, als wollte es sagen: ,Jst es auch Dein.Ernst?' Ich versicherte ihm, in drei oder vier Tagen werden wir hinüberfahren in einer Barke, dann bleiben Ivir drüben, vielleicht so lange, als der Signvre dort bleibe und ich werde ihm sagen, nun sei es gut für ihn, daß ihm Irene wieder den Plaid und das Fernrohr nachtragen könne. Welche Blitze der Freude über das Gesichtchen des Kindes strahlten, während ich so zu ihm redete, kann ich Dir nicht beschreiben. Wir wanderten dann einträchtig, Hand in Hand, hinauf bis zum Hauptplatz, wo das Kind rechts, ich links nach der Villa ging. Es schaute mich noch einmal so ernstlich fragend an, daß ich nochmals versichern mußte: .Gewiß Irene, gewiß, in vier Tagen!' Ich freue mich selbst wie ein Kind auf diese Reise und auf die Freude des Kindes noch ganz besonders.
„Sei herzlich gegrüßt „Sorrent, 12. März 18 - - „Ach, Hetty, wie ist Alles so anders gekommen, als ich in Freude erwartete! Heute ist der Tag, da wir nach Eapri Verschölle» ic. 13 [] 194 hinüberfahren wollten; aber wir sind hier, und von meinem gewohnten Sitz am Fenster aus muß ich Dir schreiben, was ich selbst kaum glauben und fassen kann: ,Herr v. D, ist drüben auf Capri plötzlich gestorben, ein Herzschlag hat ihn getroffen.' Gestern Abend brachten die Schiffer, die täglich mit dem Postschiff nach der Insel hinüberfahren, die traurige Nachricht. Näheres wissen wir noch gar Nichts. Ich schicke Dir heute diese Nachricht, wenn ich auch sonst nicht schreiben mag. Du hast so lebendig Theil genommen an unserm Verkehr mit Herrn v. D. und an seinem Schicksal und Wesen, daß ich Dir die Mittheilung sogleich machen muß.
„Herzlichen Gruß Herta."
„Sorrent, 16. März 18 . .
„Liebe Hetty!
„Ich kann nicht mehr in Sorrent bleiben, der lachende Frühling thut mir weh. Ich flüchte vor dein Leuchten und Jubeln draußen auf allen Wegen und sitze hier und kann keine Freude mehr finden. Immer muß ich an die arme kleine Irene denken, wie sie dort sitzt in ihrem Jammer, und Niemand kann sie trösten. Sie wollten dem Kinde Nichts sagen, die Mutter meinte, es sollte es gar nie zu hören bekommen, daß der Signore todt sei, wie mir Pietro sagte, der gestern hier vorbei ging, so daß ich nach Irene fragen konnte. Aber Kinder hören und merken ja Alles. Vor drei Tagen [] 195 ist sie am Abend nach Haus gekommen und hat sich in einen Wünkcl verkrochen, da sitzt sie seither und weint und weint unL ißt nicht und schläst nicht mehr. Wenn ich doch daS Lind fortnehmen könnte, vielleicht würde es frisch keimen und ausleben, wenn es ganz versetzt würde in neue Erde, und was konnte man auch aus dem begabten Kinde »lachen! Aber was kann ich thun? Weißt Tu mir keinen Rath? Hier bleiben kann ich nicht mehr; was mich anblickt, trägt eine Erinnerung, die mir das Herz zusammenschnürt, und kann ich dem Kinde nicht helfen, so will ich auch sein Leid nicht mit ansehen, das halte ich nicht aus. Elsa ist so wohl, daß sie mitreisen oder allein hier bleiben kaun, wie sie vorzieht. Nach Capri hinüber will ich noch, ich will sehn, wo er begraben liegt, und auch noch etwas Näheres zu vernehmen suchen über Herrn v. T.'s Hinschied; hier weiß kein Mensch mir ein Wort davon zu sagen. Wie anders meinte ich, daß es sein würde, als ich rief: ,Auf Wiedersehu in Capri!'
Herta."
„Sorrent, 22. März 18 . .
„Liebe Hellt)!
„Wir sind drüben gewesen und gestern wieder hiehcr zurückgekehrt. Zwei wolkenlose Frühlingstage haben wir auf der Insel zugebracht, aber wo war das Kind mit den freudestrahlenden Blicken, wie ich es schon vor mir gesehen hatte? [] 196 So kurze Zeit »vor vergangen, seit man seinen Signore hier begraben hatte und kaum konnte ich die Stelle auffinde», wo er in dem .duftgewvbencn Sarge' ruht. Wir kamen srnh in unserer Barke an, schon um 10 Uhr des Morgens. Elsa war aber auf der Fahrt krank geworden, sie musste sich gleich niederlegen. So traten wir in das .Hotel London' ein, das unweit der Marine liegt. Ich fragte gleich den HauSwirth, ob er mir sagen könne, wo Herr v. D. gewohnt habe. Der Mann kannte den Namen gar nicht, er fragte bei seinen Leuten nach, Niemand hatte je diesen Namen gehört. Der Herr müsse oben in Capri gewohnt haben, meinten die Leute. Der Lrt liegt wohl eine halbe Stunde oder noch mehr über der Marine, oben auf dem Berggrat; ich wußte aber keinen Weg und war froh über einen kleinen Jungen, der vor dem Hotel stand und mich führen wollte. Er stieg mit mir den schmalen Fußsteig hinan bis zu einem kleinen Haus, das am Rande des Felsens steht und weit über das Meer hinschaut. Hier hielt er an und wollte hineingehen, seine Mutter zu fragen, ob sie Etwas wisse, sie gehe jeden Tag nach Capri hinaus. Ich blieb vor dem Hanse stehen und blickte nach Sorrent hinüber. Nach einer Weile kamen Mutter und Großmutter und dann noch einige Personen heraus und Alle wollten Alles wissen, woher ich kam, warum ich kam, wohin ich wollte und was ich suche. Ich erklärte, daß ich einem Fremden nachfragen »volle, der kürzlich hier gestorben und in Capri begraben worden sei.
[]Unterdessen innren noch mehr Frnuen und Mädchen he eingetreten , die, alle mit schweren Lnsten nus den Kopsen, die steilen Fußwege gegen Anneapri hinaufzuklettern vorhatten. Alle standen still bei uns und hörten zu. Erst wollte Niemand Etwas wissen, da seit vielen Wochen Niemand begraben worden sei: dann rief aber eines der hcrzngctrctencu Mädchen: ,Das ist der Signore Jnglese von Sorrcnt!' Endlich war ich doch auf der Spur! Ich drängte das Mädchen, mir zu sagen, was es wisse, und nun hörte ich, der Signore habe in Capri gewohnt, sei aber oben auf Anacapri begraben worden, warum, wisse es nicht, es sei nur an dem Tage oben gewesen und habe davon gehört. Aber im Paradiso, der kleinen Restauration mit dem Banmgarten, könne ich mehr erfahren, dort habe man ihn gekannt, wie es glaube. Ich wollte nun am liebsten gleich nach Anacapri hinaufsteigen; da war ja das Grab zu finden. Es führt eine schöne Straße jetzt von Capri nach Anacapri hinauf: der Junge stieg aber mit nur die Fußsteige hinan und ich war's zufrieden. Hier kamen wir nun mitten in die dichten Myrthengebiische hinein, über und über waren die ganzen Bergabhänge ringsum von Myrthen und Lorbeer bedeckt und Alles war in voller Blüthe. Ich mußte oft stille stehen und von den duftenden Zweigen pflücken; so in der Blüthe hatte sie der Geschiedene noch gesehen. Der Junge wußte, wo der Gottesacker liegt, wir gingen gleich dahin, doch schickte ich ihn nach dem Küster, daß dieser mir das Grab zeige.
[]198 Ich hätte nicht fehlen können, es war nur Ein frisches Grab da, es war das des fremden Sigiwrc, wie mir die alte Iran bestätigte, die an Stelle des Küsters herbeigekamw.cn war. Ich fragte, warum wähl der Herr hier aben begraben liege, da er dach unten gewohnt habe? Die Alte meinte: wcil's hier viel schöner sei, als nuten. Ich sagte: , Der da drinnen schläft, würde das wohl nicht mehr achten? Da meinte sie: .Aber seine Frau und die Kinder, wenn sie kommen. 8ua moxlis sä i bamdini? Die kommen nicht und Niemand sonst wird auf das Grab kommen, wie ich jetzt weiß. Man würde auch das Grab nicht mehr finden in kurzer Zeit, da ist Nichts, das es bezeichnet, nicht einmal eine Blume. Ich legte meinen Myrthenstranß daraus.
„Nun gingen wir nach dem Paradiso. Hier fand ich endlich eine Frau, die Bescheid wußte um Alles und mir ordentlich alle Umstände des traurigen Ereignisses erzählte. Herr v. D. hatte sein Zimmer unten in Eapri. An einen, der leuchtenden Frühlingstage war er nach Anacapri hinaufgestiegen, durch dieselben Myrthenwälder, dieselben Fußsteige hinan, die wir eben gekommen waren. In Anacapri hat man ihn gesehen, wie er langsam dem Paradiso zuging und dort im Banmgarten auf eine kleine hölzerne Bank unter den Olivcnbäumen niedersaß. Da hat er einem .Kinde zugewinkt, daß es die Mutter hole. Wie sie zu ihm trat, hat er sie gebeten, seine letzten Aufträge zu erfüllen: Auf Erden hatte er Niemanden mehr, der nach ihm fragte, [] 679 199 sagte er ihr. Seine Sachen, die in Sorrcnt in seiner Wohnung lagen, sollten alle Irenens Mutter übergeben werden, als Eigenthum sür sie und die Minder. Gesiegelte und adressierte Papiere, die daselbst lagen, mußten nach Deutschland geschickt werden. Was er bei sich trug, schenkte er Alles der Frau. Nur ein kleines Buch zog er hervor, saßte es fest in die Hand und sagte: , Das geht mit mir.' Einige Minuten nachher sank er an den Banne zurückund war todt.
„Als ich gestern, nach Sorrcnt zurückgekehrt, in unsere Villa eintrat, sagte mir die Hauswirthin, Pietro sei drei Mal dagewesen während meiner Abwesenheit und habe nach mir gefragt. Wenn sie ihm angeboten habe, seinen Auftrag an mich zu bestellen, so habe er den Kopf geschüttelt und sei traurig weggegangen. Kaum hatte sie mir so viel erzählt, als es klopfte, und an der Thüre stand Pietro. Ich hieß ihn Hereintreten; er sagte aber kein Wort, bis die Hanswirthin verschwunden war. Nun stand er erst ein wenig verlegen da, und nachdem ich ihn zwei Mal gefragt hatte, ob er Etwas von mir wünsche, sagte er zögernd, er hätte mich gern Etwas gefragt, und endlich kam heraus, er hätte nur gern von mir wissen wollen, ob auch der Signore sicher kein Ketzer gewesen sei. Nun, was sollte ich mit dieser Frage thun? Was konnte ich daraus antworten? Eigentlich wußte ich gar nicht recht, was er meinte. Ich fragte meinerseits, wie er zu der Frage komme. Er sagte ehrlich, so Etwas wäre ihm gar nie in den Sinn gekommen; aber vor ein [] 200 paar Tagen habe auf einmal die Mutter ausgerufen: ,Wenn doch nur der Siguore kein Ketzer gewesen wäre, daß er auch selig werden könnte.' Da habe das Kind ärger aufgeschrien, als je, und jetzt bringe man es gar nicht mehr zurecht, keine Krume esse es mehr, weil es sterben wolle und dem Signore nach, daß er nicht so allein sein müsse, wenn er nicht selig sei. Er habe nun dem Kind zum Trost gesagt, er wolle mich fragen, ich wisse es schon, daß er sicher kein Ketzer gewesen sei. Es gebe aber nicht nach, wenn er den Bericht nicht von mir selbst habe. Was sollte ich ihm sagen? Mir war in den Sinn gekommen, die Leute »vollen wohl wissen, ob er zu ihrer Kirche gehört habe, und wenn ich nun sage, er sei kein Ketzer gewesen, um sie zu trösten, und sie hören doch einmal, er habe nicht zu ihnen gehört, so denken sie, ich habe sie betrogen. Aber eine andere Frage ist doch, ob er selig sein könne. Ich sagte, Pietro soll dem Kinde sagen, der liebe Gott habe die Menschen noch viel lieber als wir, und wenn wir ja Alle gern Alles, was wir haben, hingeben wollten, um den Signore selig zu machen, so habe der liebe Gott gewiß auch ein Erbarmen für ihn. Pietro stand noch eine Weile und sah mich an, so als habe ich noch nicht fertig geantwortet; aber ich wußte nichts Anderes, er mußte gehn. Mir ist ja selbst Alles ganz unklar und ungewiß. Wo ist jetzt diese Persönlichkeit, die eben noch hier mit uns lebte ? Sie muß doch irgendwo fortleben, sie kann nicht vernichtet sein, das könnte ich nie glauben. Aber was kann ich an- [] 679 201 nehmen? Gibt eS denn keine Antwort auf Fragen, die durchaus uach einer solchen verlangen und uns keine Ruhe lassen? Wenn ich nur wüßte, wie ich all' dieser quälenden Eindrücke und Gedanken loS werden konnte! Ich muß an das Wort denken, das mir Herr v. T. im Pinienthal sagte: .Auch mir könnte eine Zeit kommen, da ich gern daS Buch zur Hand nehmen würde, wenn kein anderes mehr antworte aus die Fragen, die in mir aufsteigen und wenn kein anderes eine Beschwichtigung kenne für eine Unruhe, die unser Inneres verzehren könne? Hätte mir doch Herr v. D. sein kleines Buch zurückgelassen! Ich weiß wohl, was Tu mir da sagen wirst: daß noch viele solche Bücher zu finden seien, mit demselben Inhalt, daß ich nur eines zur Hand zu nehmen brauche. Aber das ist nicht genug für mich. In jenem kleinen Buch standen viele Bemerkungen am Rande der Seiten, und es ist ganz anders, einen Weg zu gehen, wo schon ein Anderer durchgegangen ist, daß wir vorweg seine Fußstagse» vor uns sehen können, als allein zu gehen. Ich brauche Menschen, die mir die Worte lebendig machen und mich weisen und mir helfen. Allein kann ich den Weg nicht finden, das weiß ich.
„Taß ich das Uind hier zurücklassen muß, ist mein größtes Leid und ich muß Dich noch einmal fragen, weißt Tu keinen Rath? Taß ich selbst fortkann, ist mir wie eine Befreiung; mir liegt ein tiefer Schatten über dem ganzen sonnigen Sorreut.
Berjitollen rc. 14 [] 202 „Mach mir Deine Thür auf, liebe Hetty! In acht Tagen kann ich bei Dir sein; dann habe ich nach Vieles zu sagen, dann sollst aber auch Du reden, denn daß Herr v, D.'s Name Dir nicht unbekannt war, habe ich in Deinem letzten Briesen deutlich gelesen, „Nun denn aus Wiedersehn!
Herta,"
Druck von Friedr. Andr. Pertbes in Gotba.
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- TextGrid Repository (2023). Swiss German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-gsw). Verschollen, nicht vergessen : ELTeC Ausgabe. Verschollen, nicht vergessen : ELTeC Ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001D-4750-7