Seinem Freunde Albert Scheuch!

Alle Rechte vorbehalten []1. Das Schützenfest in Beckenried

In Beckenried war Gabenschießet. Wie es noch heute vielerorts in der Urschweiz Sitte ist,waren der „Schützenmeister“ und zwei vom Vorstand von Haus zu Haus gegangen, um für ihren Schießet eine Gabe in Empfang zu nehmen. Und auch der Aermste gibt etwas, freudigen Herzens. Sogar das alte Holzweiblein hat schon lange seine drei Kreuzer gespart: es hätt's „gar grysli ungüäre gha“, wenn die „Schitze“ nicht zu ihm gekommen wären. Viele Leute geben Naturalgaben: Eine Ankenballe,ein Käslein, eine Flasche Wein oder gar ein „bliemelets“ Hirtenhemd. Aus den Baarbeträgen wird der erste Preis für den Schützenkönig erworben: ein „Benz“ (Schaf).

Es war im Hochsommer 1798. Ein herrlicher Sonntagmorgen war angebrochen; die ersten Sonnenstrahlen durchleuchteten siegreich die letzten Morgennebel am Schwalmis; hoch droben an wilder Felsenwand erschließt sich das Edelweiß dem Lichte, die Alpenrose blickt mit glühenden Wangen nach dem gekrönten Enzian. die Alpenlerche jubelt ihr Morgengebet ein Tag, der die Brust befreit, wie der Jauchzer, der eben an den Schwalmiswänden verhallt.[]In weiter Alpenferne schlägt hin und wieder eine Kuhglocke an, doch wird sie plötzlich übertönt vom harmonischen Geläute der neuen Kirchenglocken, welche zum Hauptgottesdienste rufen. Und die „Begrieder“ waren immer ein frommes Geschlecht, das mit der Zähigkeit gesunder Gebirgsvölker am Althergebrachten festhielt. Heute aber gingen sie nicht gleich in ihre schöne neue Kirche, sondern standen am Weg,um den Aufzug der Schützen zu sehen. Nur die erwachsenen „Mäitli“ blieben nicht stehen und gingen sofort in die Kirche hinein. Sie hätten sich geniert, ein Interesse an dem „Mannevolch“ zu verraten; sie hatten „diese“ ja schon oft gesehen und konnten ja, wenns grad sein mußte, ein bischen über das Gebetbuch hinweg nach rechts ... Pardon!

Da schmetterte die Musik vom Dorfe her:„Sie cheme, sie cheme!“ riefen die Buben, und schon bogen die Trompeter ums Eck, hinter thr die wehrfähige Mannschaft von Beckenried, alle in der einfachmalerischen Landestracht, d. h.hemdärmelig, mit gestickten Hirtenhemden; die franz. Mode hatte die Beckenrieder noch nicht angekränkelt. Doch, dort am Wege stand einer mit französischem Kleiderschnitt, der „Schnyderkari“; aber das mußte so sein, denn als Schneider mußte er das Neueste, die „Nuwoteh“ kennen, und zudem war er ein Aufgeklärter, der in Luzern sein Handwerk betrieb. Er war zu seinen Verwandten hergekommen, um das Fest []mitzumachen und die „rückständigen“ Lands-leute beim Abendtanz seine geistige Ueberlegenheit fühlen zu lassen. Er sollte dafür deren körperliche Ueberlegenheit zu kosten bekommen!

Da kommen sie heran: Voran die Jungen, und an ihrer Spitze der stolze Fähndrich, Hans Murer, der Sohn des Wildhüters.Wie die Erde unter ihrem Taktschritte erdröhnt! Der Schneider macht unwillkürlich einen Schritt rückwärts. Doch die Jungen haben ihn schon erblickt.

„Der Schnyderkari“! „Der fremd Fitzel“,ruft der bärtige Sennknecht von der Tschiferenegg, der Amstad Seppi.

„Bringst die achtzäche Batze fir de Totegreber?“

„Oder willst ihm lieber en franzesische Chittel mache fir d'Beärdigung vo dim Vater sälig?“

Das war allerdings nicht durch die Blume,aber der Schneider hatte als Antwort nur ein erhabenes Lächeln. Was wußten diese Menschen von Fortschritt und Kommunismus!

Am Schlusse marschierte der Wildhüter Murer mit der alten Garde. Dieser Mann trug wohl keinen Spiegel in der Westentasche, sonst hätte er sicher seinen Bart ein bischen kultiviert,der ihm wie ein abgebrauchter Stallbesen vom Kinn abstand. Und doch glänzten heute seine dunklen Augen so fröhlich unter den buschigen Brauen hervor. War doch der Gabenschießet fast []der einzige Tag im Jahr, wo er herzhaft mitmachen konnte, ohne befürchten zu müssen, daß unterdessen so ein „Bleger“ dem Wild nachstrich; denn am „Gabenschießet“ waren auch alle seine „Lieben“ beisammen; er hätte es doch sofort bemerkt, wenn so ein „Anrichiger“ gefehlt hätte; es wäre ihm nichts anderes übriggeblieben, als auf die Streife zu gehen. Aber hinter ihm marschierte ja, wie zum Hohn, der „Murmolter“, seinen Tellerhut mit dem kecken Gemsbart schon auf drei Schoppen gerichtet,und der Murmolter war wohl der Schlimmste!Erst im vorigen Jahre hatte er wegen Wilddiebereien einige Wochen abgesessen, und als er wieder herauskam, da meinte er, für sein „Sihzen“ müsse der „Murer“ einmal liegen!

Der Name „Murmolter“ heißt soviel wie Murmeltier, und der Wyrsch Franz trug ihn wie einen Ehrennamen; er hörte sich gern so nennen, besonders in Gegenwart des Wildhüters, der dann jedesmal grimmig auf die Zähne biß.

Der Wyrsch Franz konnte nämlich den Pfiff des Murmeltieres täuschend genau nachahmen.Dieses possierliche Tierchen merkt den Feind oft stundenweit, besonders bei günstiger Luft. Der durchdringende Pfiff des „Wachtpostens“warnt alsdann die ganze Familie, und wie der Blitz purzeln sie in ihre Gänge hinein, um lange nicht mehr zu erscheinen. Dieser Umstand hat dem Franz einst aus einer schwierigen

3 []Patsche geholfen. In den südlichen Felsabhängen der Musenalp beschlich er einen Gemsbock, der dort auf einem Felsvorsprung äste. Der Wind war günstig und das Wild ahnungslos! Noch hundert Meter weiter, dann ist der Bock sein.Schon will er die Distanz im Anschlag prüfen da kommt, ja wer kommt denn dort von Niederrickenbach her? Dem Gang nach ist's der Wildhüter. Er kommt näher ja, er ist's!Erwischen soll er den Wyrsch Franz allweg nicht, aber der Bock wird Witterung bekommen. Jetzt, im Anschlag, und nicht losdrücken dürfen Tantalusqualen! Da kommt ihm der rettende Gedanke: Er legt den Finger an den Mund und läßt den Warnungspfiff des Murmeltieres ertönen. Grell werfen die Wände das Echo zurück; der Bock bleibt, der Pfiff mußte ihm nichts Ungewohntes sein. Aber der Wildhüter stutzt! Schon will er die Höhe herankommen, da hörte er den Pfiff und denkt:der Murmolter hat mich gewittert; es kann also keiner vor mir diesen Vormittag hier oben gewesen sein, sonst wären die Tiere nicht vor dem Loch, und der Franz hob sein Bein wie zum Tanz vor Freude der alte schlaue Kracher schwenkte ab. Als er aber gegen die Bärfallen kam, wandte er sich plötzlich verwundert um;denn dort, ja dort an den Tossen der Musenalp,wo er justament durchgekommen war, war ein Schuß gefallen, und dem Schusse folgte ein langgezogener Jauchzer. Der Franz Wyrsch war

F[]sonst nicht so unvorsichtig; aber diesmal hätte es ihn getötet, wenn er nicht hätte jauchzen können, und er wußte ja, wo der Alte sich jetzt ärgerte! Und weil das Prahlen unzertrennlich mit dem Wildern verbunden ist, so konnte der Wildhüter schon am folgenden Tage in Beckenried die Frage hören, ob er den „Murmolter“ auf der Musenalp erwischt habe. Seit jener Zeit nannte man den Wyrsch Franz nur noch bei seinem Kriegsnamen: Murmolter!

Bereits drücken sich die letzten in die Kirche hinein; sie ist überfüllt, weil von den Nachbarorten viele Gastschützen gekommen sind; deshalb haben sich die Jungen, die Auszügler, mit ihrem Fähndrich im Chor aufgestellt, eine trotzige, lebensfrohe Schar, und doch dem Tode geweiht!

Soeben hat Pfarrer Käslin die Kanzel bestiegen; lange wallt sein halbergrautes Haar auf die Schultern herab. Jeder Zug seines hagern Gesichtes ist scharf gezeichnet, und doch erwecken sie in ihrer Gesamtheit den Eindruck seelenvoller Güte. Auch die fein gezogene Adlernase vermag dem durchdringenden Auge den Ausdruck der Herzlichkeit nicht zu beeinträchtigen.

Während er das Evangelium vom guten Hirten vorliest, kommt noch einer herein: Der Schnyderkari. Er war nicht etwa unter dem Drucke eines religiösen Bedürfnisses gekommen;darüber war er längst hinaus! Aber er hatte 8 []gehört, daß Pfarrer Käslin ein geschworener Feind der neuen helvetischen Verfassung sei,und dies wollte er, der Schnyderkari, jetzt konstatieren und eventuell dem Kantonsstatthalter Alois von Matt in Schwyz, „seinem Freunde“ Bericht und Antrag stellen. Deshalb ging er auf die Empore, wo er zuvorderst neben Wildhüter Murer und dem „Murmolter“Platz nahm.

Nach der Vorlesung des Evangeliums setzte man sich. Lange ließ Pfarrer Käslin den starken Blick über die Anwesenden schweifen, und dann begann er:Liebes katholisches Volk!

Im heutigen Sonntagsevangelium nennt sich Christus den guten Hirten. Vertrauensvoll folgt ihm seine auserwählte Herde zur Gottesweide nach dem Berge Thabor. Gibt es wohl ein lieblicheres Bild! Wie ein Pelikan öffnet er ihnen dort sein liebendes Messiasherz, und diesem seinem Hexzen entströmen die acht Flüsse der unsterblichen Liebe; und er tränkt seine Herde aus diesen Flüssen der acht Seligkeiten.Seht, wie ihr Herz dem Hirten entgegenschlägt,wie sie an seinem Munde hangen, wie sie von seinen Lippen Seligkeit trinken, wie sie auf seine Stimme hören...“

Pfarrer Käslin machte eine kleine Pause;denn dort schnarchte bereits einer. Dann fuhr er mit verstärkter Stimme weiter:

3 []„Liebe, aufmerksame Zuhörer! Wie damals, so steht Christus auch heute noch vor uns als Hirte der Völker, unsichtbar freilich, doch wahrnehmbar für das Auge des Glaubens.Weil aber seine Herde eine sichtbare Vereinigung von Gläubigen ist, so hat er ihr auch sichtbare Hirten gegeben. Deshalb übertrug er sein heiliges Hirtenamt den Aposteln und ihren Nachfolgern, den Priestern. Der vom Bischof zu euch gesandte Pfarrer ist also nichts anderes als der sichtbare Stellvertreter Jesu Christi, des unsichtbaren guten Hirten, und es ist ein heiliges Gebot, auf seine Stimme zu hören; denn Christus sagt: Wer Euch hört, der hört mich ... wer aber die Kirche nicht hört,der sei Euch wie ein Heide und öffentlicher Sünder. Wenn also Euer Pfarrer zu Euch spricht, so sollt Ihr auf ihn hören, als ob Christus vor Euch stünde.“

Und da schnarchte der zweite. Der lange Kirchweg und die wohlig-warme Luft taten ihre Wirkung. Mit einem kurzen Feldherrenblick überschaute der Prediger die Situation:Da und dort nickte noch einer auf der Männerseite, während es die frommen „Begriederinnen“ nur zu einem züchtigen Gähnen brachten.Er blickte auf die Empore: Dort saßen der Wildhüter und der „Murmolter“, sonst zwei erbitterte Gegner, jetzt aber friedlich und einig;denn sie waren beide selig eingeschlummert.Der Aufmerksamste war noch der Schnyderkari,10 []der dort zwischen ihnen saß, und, den Zeigfinger an der Wange, mit größtem Interesse dem Gedankengange folgte.

Pfarrer Käslin aber war nicht nur ein meisterhafter Prediger, sondern ein noch feinerer Menschenkenner. Er kannte das Zauberwort, welches damals nicht nur schlafende, sondern tote Nidwaldner erwecken konnte. Mit scheinbar ruhig verhaltener Stimme setzte er nach unmerklicher Pause wieder ein:

„Den wahren guten Hirten erkennt man also an seiner Sendung durch den Bischof; Christus warnt deshalb auch vor falschen Hirten, vor falschen Propheten, und nie klang diese Warnung ernster als in unsern Tagen; die Stimme des guten Hirten wird heute übertönt von jenen Propheten Luzifers, welche in gleißnerischem Redeschwall das neue Evangelium von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verkünden: Der alte Väterglaube hat sich überlebt;der Franzose bringt euch das wahre Licht des Völkerglückes. .“

Da war es, als hätte die ganze Versammlung einen Peitschenhieb erhalten; die Schläfer zuckten auf, hunderte von dunklen Augen richteten sich auf den kühnen Ankläger der französischen Kultur, und auf den gefurchten Stirnen lag ein heiliges Wetterleuchten.

Nur der Schnyderkari bewahrte seine unerschütterliche Ruhe: Mit der Würde eines deutschen Hochschulprofessors zog er sein Notiz11 []buch aus der Busentasche; denn er konnte lesen und schreiben. Feierlich öffnet er dieses sein Geheimarchiv und schreibt auf die erste leere Seite: „Pohlidig auf der Kantzell“ ... Kaum aber war der verheißungsvolle Titel geschrieben, so flog das Buch auch schon in einem weiten Bogen über die Brüstung und drunten dem Totengräber auf die Glatze. Der Murmolter hatte den Streich geführt; er konnte zwar nicht lesen, war aber zu hell, um die Absicht des Schnyderkari nicht zu begreifen. Dieser schnitt eine empörte, hoheitsvolle Miene und wandte sich mit einem vernichtenden Blick an den Angreifer:

„Diese bodenlose Frechheit“ ... Er wollte auffahren, kam aber nicht weit; denn der Murmolter faßte ihn am „Chittelfecken“ und zog ihn mit einem Ruck zurück, daß die Bank krachte:

„Bist still, chäibe Bleger dui, oder sell di verwirge, der Tiifel het der Schmutz scho ibertoh!“

„Im Namen der helvetischen Freiheit ...“wollte der Schneider mit verhaltener Wut protestieren, wurde aber im selben Moment auf der andern Seite wie von einer Schmiedezange vom Wildhüter am Arme gepackt, daß die geharnischte Resolution in einem leisen Seufzer erstarb.

„Willst ds' Muil halte ... oder!“ Der Wildhüter deutete mit dem Finger auf den Weg,den das Buch gemacht hatte! Da schnitt der unglückliche Schnyderkari ein Gesicht wie ein Kind,

12 []das baden soll und setzte sich schweigend zwischen die zwei schrecklichen Menschen. Er blieb fortan schön brav; denn er wußte: Die Nidwaldner sind unberechenbar, wenn sie „abkommen“, und hier saß er zwischen den zwei schlimmsten!

Pfarrer Käslin hatte den Vorgang beobachtet: Der Murmolter hatte ihm vor zwanzig Jahren in der Sonntagschristenlehre manchen Verdruß gemacht. Während seines Vortrages hatte er gewöhnlich um Kaninchen gehandelt,Schlagringe probiert, Messer geschliffen und Pistolen geladen aber den heutigen Streich wollte er ihm mit dem Mantel der christlichen Liebe zudecken

In einer halben Minute hatte sich das Schneiderdrama abgespielt, und als ob nichts geschehen wäre, nahm der Prediger den Gedanken wieder auf:

„Das Wort von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist aber eine dreimal verfluchte Lüge des Höllenhundes. Liebe Pfarrkinder,als euer Hirte habe ich nicht nur das Recht,euch die Wahrheit zu sagen, sondern auch die Pflicht, euch dieselbe zu beweisen:

Schon das Breve unseres hl. Vaters Pius des Sechsten vom 10. März 1791 sagt ausdrücklich, daß die vom französischen Nationalkonvent vorgeschützte Freiheit und Gleichheit dahin aus gehe, die katholische Religion zu Grunde zu richten. Die helvetische Verfassung, welche uns die

13 []Franzosen aufzwingen, verficht die gleichen schismatischen Grundsätze wie die französische Revolution. Ihr wißt, daß die Lehren der neuen Verfassung niedergelegt sind in dem saubern Büchlein von Peter Ochs in Basel. Nun wohl, dort heißt es: „Alle Gottesdienste sind erlaubt, wenn sie die öffentliche Ordnung nicht stören und keine Oberherrschaft, noch Vorrang behaupten wollen.“ Das heißt mit andern Worten: Die Religion Jesu Christi darf sich nicht über die Irrlehren erheben und steht auf gleicher Stufe mit dem Heidentum. Und wie nach der neuen Verfassung die Glaubens- und Gewissensfreiheit aufzufassen ist, zeigt folgende Stelle: „Die Polizei hat ein wachsames Auge auf die Gottesdienste und hat das Recht, sich über ihre Lehrsätze und Pflichten, zu welchen sie anhalten, zu erkundigen.“ Die Freiheit besteht also darin, daß unsere Gottesdienste von der Polizei beaufsichtigt und verboten werden können. Diese Polizei tritt sogar an Stelle des Papstes; denn „Ochsens höllisches Büchlein“verlangt, „daß Verhältnisse einer Sekte mit einer fremden Obrigkeit“, d. h. der Papst, „weder auf Staatssachen, noch auf den Wohlstand und die Aufklürung des Volkes einen Einfluß haben“. Die neue Freiheit besteht also in der Bevogtung durch die Polizei, die Gleichheit in der Gewaltherrschaft französischer Einbrecher und die Brüderlichkeit in der Beraubung der niedergeworfenen Völker bis aufs Blut!

4 *24 []Liebe Nidwaldner! Zwei Stunden von hier,dort auf dem Rütli drüben, tagten einst unsere Väter. Sie beschlossen damals, die fremden Vögte zu vertreiben und schwuren im Angesichte des Allmächtigen, mit ihrem Herzblute einzustehen für ihre angestammten Rechte und Freiheiten. Und wenn dann ein Feind nahte, um seine freventliche Hand nach ihrem heiligen Ahnengute auszustrecken, dann flammten auf unsern Bergen die Höhenfeuer auf, die Glocken läuteten und die Harsthörner bliesen zum Sturm! Da griff der Gemsjäger zur Armbrust und der Senne zum Morgenstern! Unsere Ahnen wollten lieber bluten als fronen, und der Allmächtige hat sie nie verlassen, wenn sie vor blutiger Schlacht zu ihm riefen. Liebe Pfarrgenossen! Heute geht es um mehr als um politische Rechte und Freiheiten! Heute geht es um unsern heiligen Glauben! Und nun, Nidwaldner, wollt ihr die neue Verfassung anerkennen? Die andern Kantone haben sie angenommen, sogar Obwalden! Wir sfind die letzten und der Feind ist hundertmal stärker. Wenn wir unserer Ahnen würdig sein wollen,so gibt es nur eine Antwort: Wir dürfen nicht!Lieber bluten als fronen! Gott schütze Nidwalden Amen!“

So sprach Pfarrer Käslin; seine Schläfen hatten sich gerötet, seine Gestalt war gewachsen und seine Augen leuchteten; er schien jünger geworden; die Männer aber schauten zu ihm

15 []herauf wie junge Adler, welche von ihren Alten die Atzung erwarten; dort auf der Empore aber war der Murmolter noch während der Predigt aufgestanden; lang und hager ragte er über die andern empor, und zwischen den halbgeöffneten Lippen sah man die zusammengebissenen Zäühne; neben ihm kauerte der Schnyderkari wie ein Häufchen menschlicher Gebrechlichkeit.Noch einmal sprach der Seelsorger: „Wir dürfen nicht hassen; beten wir für unsere Feinde ein Vaterunser!“ Und sie beteten; aber es klang wie Zähneknirschen.

Nach dem Gottesdienste zog man zur Schühzenwiese, und bald krachten die ersten Schüsse;die Bewaffnung war keine einheitliche: Die einen bedienten sich der neuen Geradezuggewehre mit glänzenden Messinggarnituren, Kaliber 356 Lot ( zirka 60 Gramm). Andere schossen mit Bergmusketen und Doppelhaken;sogar die Gewehre mit Luntenschlössern waren noch nicht ganz ausgestorben. Die Kenner,und dazu gehörten vor allem die Jäger, bevorzugten die Zielstutzen. Man schoß auf eine Distanz von hundert Schritten. Die Scheibe war durch zehn Kreise in elf Felder eingeteilt; das äußerste Feld aber zählte nicht, so daß Rummer zehn der Kernschuß war; dieser wurde mit einem roten Fähnchen angezeigt.

Neben dem Schützenstande schossen auch die Knaben mit Armbrust und Bogen. Auch sie 146 []hatten ihren Gabentempel: Aepfel, Backwerk,Süßholzstengel, Hosenträger, Hegelimesser und als ersten Preis einen fetten Küngel.

Kein Tingeltangel und kein Karussel störte die Idylle. Nur der Wirt zum „Mond“ hatte hinter dem Schützenstand seine Bretterbude aufgeschlagen, um die Schützen mit dem „Allernotwendigsten“ zu versehen. Seine schöne Tochter Klara war ohne Zweifel die Hauptattraktion;denn vor ihrem Ausschank sah es aus wie an einem Bienenkorbe, obschon sie schon „vergeben“war; der hübsche Fähndrich Murer gedachte sie in drei Wochen definitiv zum Kaffeemahlen anzustellen; sie mußte denn auch manchen diesbezüglichen Scherz einstecken, und doch hätte mancher „vornehme“ und in allen Umgangsformen gewandte Laffe von diesen derben Aelplern lernen können, wie man in derartigen Fällen scherzen kann, ohne die bekannte Glocke zu läuten. Soeben kommt ein wettergebräunter Geselle von der Tschiferenegg daher, nimmt sie bei der Hand, und nach Art französischer Salonjünglinge drückt er einen ritterlichen Kuß darauf, so daß das hübsche Händchen in dem schauerlichen Urwalde ganz verschwindet; dann seufzt er mit schmachtender Stimme: „Schellenöhr,Mammersell!“ (J'ai 'honneur, mademoiselle.)

Die Klare geht fröhlich auf den Artikel ein und sagt mit gnädig herablassender Handbewegung:

„Bongschur Tschefermichl! Wulewu Bränz?“[]Da läßt sich der alte Schwerenöter auf das linke Knie nieder und die linke Hand auf die Brust gepreßt, die rechte theatralisch ausgestreckt,deklamiert er feierlich:

„Wui, wui, Bätziwasser!“ Der Tscheferenmichel konnte nämlich schon sieben Worte französisch, während die Klara ziemlich gut „welschte“.

„De quelle bouteille?“ frug sie nun; da war der Tschefereneggmichel am Ende seiner diplomatischen Laufbahn; aber er hatte die bezeichnende Geste der Klara richtig gedeutet und entgegnete prompt:

„Egaliteh!“

Es war etwa nachmittags vier Uhr, als der junge Fähndrich zum Schusse kam. Jeder hatte fünf Schüsse zu tun; das Maximum wäre also fünfzig Punkte gewesen; er erreichte 45, also durchschnittlich eine 9, ein ganz ausgezeichnetes Resultat, bis jetzt die Höchstzahl. Die Klare erglühte vor Freude, als sie das „Bravo“ der Jäger hörte; denn diese wollten unbedingt den höchsten Preis; das wurmte aber den „Murmolter“ ganz gewaltig; er hatte sich gerade bei der Klare einen zu Gemüte geführt, als er den Rummel hörte. Die kluge Klara wollte ihm noch einen gratis einschenken, aber schon war er fort und drängte sich grimmig durch die Umstehenden nach dem Stande.

„Wieviel Punkt?“ fragte er kurz.

„Fünfundvierzig“, sagte der Schützenmeister.

18 []„Chani eppe grad schieße?“

„Ja!“

Da untersuchte er seine Büchse mit zärtlicher Sorgfalt, zog den Hahn auf und setzte sich in Positur; der Schuß krachte.

„Acht!“

„Nid schlächt; aber so lüngts nid!“ spottete ein Emmeter Jäger. Schweigend lud der Murmolter wieder. Der zweite Schuß war eine 10!Neben ihm stand der junge Murer, scheinbar ganz ruhig, und doch schlug sein Puls schneller.

„So langt's!“ meinte er mit scheinbarem Wohlwollen; aber 's war ihm nicht so ernst!Die Klara aber war auf ein leeres Fäßchen gestanden, um die Schüsse Murmolters zu beobachten. Etwas abseits vom Schießenden unterhielt sich der alte Wildhüter mit einem Aelpler, als ginge ihn die Sache nichts an. Inzwischen hat der Murmolter wieder geladen; er schien ein ganz anderer geworden zu sein; die spielende Leichtigkeit, womit er das schwere Gewehr aufnahm und kurz stille hielt, ließ auf eine außergewöhnliche Kraft schließen. „Ol“meldete der Zeiger auf den dritten Schuß. Die Spannung wuchs. Die Klara verschüttete ein Glas „Bränz“. „O!“ meldeten ihr die Umstehenden noch einmal beim vierten Schuß. Nun schaute auch der alte Murer hin, scheinbar ohne Interesse, die Klara aber zählte leise: „Acht,achtzäche, siebenezwänzg, sächsedrißgg! Mit eme Nini ischer bimich Schtich!“

49 []Da krachte es! Klara preßte die Hand aufs Herz. „Jetz miend sie am Aend no schtäche!“Aber wie aus einem Munde tönte es vom Stande her:

„Es Zächni!“ Hans Murer war vom Wil-derer „abgeschossen“!

Da kam er daher, ruhig und stolz; Klara schenkte ihm mit zitternder Hand ein, noch bevor er bestellt hatte; der Murmolter hatte sich vor zwei Jahren bei der Klara einen Korb geholt; wer konnte es ihm vergönnen, wenn er jetzt vor ihr in froher Genugtuung seinen Schnurrbart aufzwirbelte. Aber „Hochmut kommt vor dem Falle!“ sagt der Franzose;denn da kam der alte Murer dahergeschlarpt.

„Will lüege, eb i oi no eppis chenn!“brummte er fast gelangweilt und griff nachlässig zum Stutzen; selbstverständlich hätte er nicht geschossen, wenn sein Sohn Höchster geblieben wäre!

Wie seine buschigen Brauen beim Zielen zusammenrückten!

„Zäche!“ hörte der Murmolter rufen, aber er blieb ruhig.

„Zäche!“ tönte es zum zweitenmale!

Jetzt wurde es für ihn Zeit! Er trank aus und ging im Sturmschritt nach dem Kampfplatze; er kam gerade in dem Augenblicke, wo der Wildhüter losdrücken wollte; in diesem Momente führte der Murmolter den Finger an den Mund und ließ den Pfiff des Mur20 []meltieres ertönen! Man sah zwar nicht, daß der Wildhüter zuckte, aber der Zeiger meldete eine 8! Der Alte sah den Wilderer nur ruhig an und sagte nichts. Um so unwilliger aber waren die andern.

„Schäm di, Murmolter“, sagte der Schützenmeister, „das hätt i nid gloibt, daßt so niidig wärischl“

Und der Murmolter schämte sich, was ihm aber sichtlich viel Mühe kostete.

Und der Wildhüter schoß:

„Zäche!“ jubelten seine Freunde. Da hielt den Murmolter nicht mehr:

„Muirer, wemmer täile?“ rief er hastig.

„Nein!“ war die ruhige Antwort, und bedächtig stieß er die Kugel in den Lauf.

„Acht sind Schtich!“ sagte der Schützenmeister.

Kaum hatte er es gesagt, so krachte der letzte Schuß. Alles starrte nach der Scheibe; man hielt den Atem an; doch, warum sucht der Zeiger so lange an der Scheibe herum? War's ein Fehlschuß? Man schaute auf Murer: der stand ruhig da, auf sein Gewehr gestützt, und brummte behaglich:

„Miend ehm halt e Brille schicke!“

Und da reißt der Zeiger die Scheibe aus dem Boden und kommt mit ihr dahergesprungen:Der Schuß saß genau im Mittelpunkt; deshalb hatte er ihn nicht gleich beachtet. Nun gings aber los! Achtundviergig Punkte! Man brachte dem Kunstschützen ein dreifaches johlen

21 []des Hoch; der Tschiferenegg-Michel aber raunte dem Murmolter ins Ohr:

„Gäll, Molter, hättisch nid so viel selle suiffe!Der Muirer hed hitt no nid gha!“

Die Klara merkte den Ausgang am Gejohle der Jäger und ihre Schelmengrübchen kamen wieder zum Vorschein; mit diesem Ausgange war sie auch zufrieden!

Nun kam nur noch ein einziger Schütze, und was für einer!

„Kaspar Imbühl!“ rief der Schützenmeister.

Ein schöner, bärenstarker Mensch von etwa dreißig Jahren trat vor.

Mit vieler Umständlichkeit setzte er eine Flinte in Stand und band sich dann ein Nastuch schräg über das linke Auge. Verwundert betrachtete man ihn.

„Hesch Chopfweh?“ fragte der Michel.

„Näi, i cha nid äis Oig uifmache und s' ander zueche!“ sagte er gelassen.

Man konnte kaum das Lachen zurückhalten und der Michel machte ein Gesicht, als ob er ein Monokle zuklemmen müßte.

Der erste Schuß kracht. Eine Erdscholle fliegt hoch in die Luft! Am Boden aber zeigte sich eine Furche, die in ihrer Verlängerung etwa sechs Schuh neben die Scheibe hinzeigte. Man wand sich vor Lachen.

„Paß uif, Chasper, dert ane hed der Muiser imene Mitzer grichtet!“ Tatsächlich entdeckte man dort die Markierung einer Mausfalle. Der

22 []Kasper aber lud mit der größten Seelenruhe wieder. Während er noch zielte, rief der Michel mit lauter Stimme:

„Zaiger, flieh, 's schießt äine!“

Die Warnung war nicht nötig; denn der Schuß ging nicht los; der Schütze schüttelte frisches Pulver auf und legte wieder an; mit dem gleichen Mißerfolg. Da reichte ihm der Wildhüter seine eigene Flinte und bohrte den Schuß aus: Zuerst kam der Pfropfen, dann das Pulver und zuletzt die Kugel!

„Herrgott vo Seelisberg! Dem sett mer d'Rüete gäh! Do chene d'Franzosen uifpasse,wämmer dere Wändrohrfierer händ!“ knurrte der Alte in den Bart hinein.

Der neue Tell schoß wieder: Am Apfelbaum neben der Scheibe hing ein blühender Zweig nieder und der ganze Ast schwankte ...

Erst der fünfte Schuß saß in der Scheibe,aber im äußersten „leeren“ Feld. Wenn man dem hochgewachsenen Burschen in die blitzenden Augen sah, so hätte man so etwas nicht für möglich gehalten.

Mit der Produktion Imbühls war das Schießen abgeschlossen. Man verzog sich langsam nach der Wirtschaft zum „Mond“, wo die Preisverteilung und der unvermeidliche Schützentanz das Fest beendigen sollten.

Der Wildhüter hatte den bekränzten Bock gleich beim Kragen genommen und heimgeführt. Dort stellte er denselben neben seine

*[]drei Geißen, welche den neuen Ankömmling verwundert betrachteten. Auch die zwanzigjährige Braunkuh warf ihm einen futterneidischen Blick zu.

Als der Alte gemolken hatte, ging er selbstverständlich in den „Mond“ zurück, wo der „Orchesterverein“ von Beckenried bereits konzertierte. Er bestand aus einer sechssaitigen Guitarre, welche ihre Töne einem ungeschmierten Wagenrad abgelauscht zu haben schien, einer Geige und einer Trompete, welche unter Artaxerxes dem Zweiten in der Schlacht bei Kunaxa 401 v. Chr. verloren gegangen war. Doch eines mußte man anerkennen: Der Takt stimmte; denn alle drei Spieler gaben ihn mit den Stiefelabsätzen, eine Methode, welche sogar die alte Schnapsflasche auf dem „Musikpodium“ zum Tanzen anregte. Den einfachen Ridwaldnern aber klang es wie Engelstöne.

Als der Wildhüter den Saal betrat, flog gerade sein „Junger“ mit der Klara an ihm vorüber, unter trotzigem Jauchzen den Boden stampfend; ein herrliches Paar in unberührter Jugendfrische, keusch wie die knospende Alpenrose. Die Bartstoppeln des Alten bewegten sich merklich um die Mundwinkel, wohl um nach außen ein wohlgefälliges Lächeln anzudeuten.Alles tanzte, Siebzig, Achtzigjährige, wie heute noch an Volksfesten in der Zentralschweiz; hier schwang ein junger Aelpler eine zahnlose Vogelscheuche, als wäre er unsterblich in sie ver

4 []liebt; hier tanzte man eben nicht nach Salonregeln, sondern nach Herzenslust; auch der Wildhüter nahm ein hübsches Alpenkind bei der Hand und führte es in den Saal, ungefähr so,wie er vorhin seinen Preis nach Hause geführt hatte; warum auch nicht! Fällt es doch manchem alten Apfelbaum hin und wieder auch ein, im Spätherbste noch einmal auszuschlagen und eine jugendliche Blüte zu treiben

An einer Tischecke saß der Murmolter; mißmutig blickte er ins Glas, als ginge ihn der Rummel einen Pfifferling an. Er hatte den Bock noch nicht verdaut, und nur eine Rauferei konnte ihn halbwegs versöhnen. Als daher der junge Murer mit seiner Klaravorbeitanzen wollte, tat er, als ob er vor Langeweile gähnte und streckte dabei wie unbewußt seine langen „Flossen“ dem Paar in die Quere; da gerade ein Galopp „losgelassen“ war, so war die Katastrophe unvermeidlich; doch kam der junge Murer nur mit der linken Hand zu Boden und mit der Rechten bewahrte er gewandt seine Tänzerin vor dem gänzlichen Sturze. Aufspringen und dem Murmolter eine Maulschelle applizieren, war das Werk einer Sekunde.

Dieser schnellte sich wie ein Panther auf seinen Gegner, wurde aber in diesem Augenblicke vom Wildhüter von hinten gepackt, sodaß sein Faustschlag nur noch die halbe Schwungkraft besaß. Die Klara hatte sich tapfer zwischen die Streitenden geworfen; als Wirtstochter von

25 []Beckenried hatte sie Uebung in derlei Dingen.Die ältern und ruhigern Elemente suchten vermittelnd abzuwehren, aber wie es in der Regel geht sie gerieten selber aneinander und verprügelten einander weidlich. Man wußte bald nicht mehr, wer Freund und Feind war; die Streitenden bildeten nur noch einen wüsten Knäuel. Sogar das Gandertrini hatte den Stock ihres Mannes ergriffen und wollte dem „Murmolter“ eine regelrechte „Quart“über das Gesicht ziehen, die einem Korpsstudenten alle Ehre gemacht hätte, traf aber statt dessen so unglücklich ihren Eheherrn, daß dieser mit beiden Händen an die Nase fuhr. Da kam der Wirt herangerannt und zwar mit einem großen Kübel Abwaschwasser; denn er war Friedensrichter und sehr gewandt in der Vermittlung von Streitigkeiten; er warf das Wasser so kunstgerecht über die erhitzten Gemüter,daß jeder etwas davon bekam; doch diesmal würde er seinen Zweck wohl kaum erreicht haben, wenn nicht in diesem Augenblicke ein Ereignis eingetreten wäre, welches ihm sehr zu statten kam.

Unter dem Eingange erschien nämlich die hohe Gestalt eines Kapuzinerpaters, welcher mit einem wahren Donnerbaß in den Saal hineintief. „Der Friede sei mit euch! Was geht hier vorꝰ“

Die Erscheinung dieses Mannes war von ungeahnter Wirkung. Wäre Pfarrer Käslin ge

8 []kommen, so hätten sie ihm wohl noch ein wenig gemeutert, trotz der schönen Vormittagspredigt;denn man sagt, daß der Herrgott bei der Erschaffung der Urschweizer keinen Lehm gefunden hätte u. deshalb Gotthardgranit genommen habe.

Nun aber trat fast plötzliche Stille ein! Trotzig und noch immer kampfbereit standen sie um den Ankömmling; dem Wildhüter war das sHemd aus dem Lendengürtel gerissen, dem Hans hing ein „Kittelfecken“ herunter und der Murmolter spuäte einen Zahn heraus. Der Ganderpeter aber rieb sich Nase und Augenbrauen, indem er mit einem lieben Blick auf seine Ehehälfte seufzte: „Chaibe Blitzg duil“

Pater Styger es war der berühmte Kämpe von 1798 kreuzte die Arme und sagte ernst:

„Hier schlägt man sich! Um was? Um einen Schnaps oder um eine Schürze? Und unterdessen frißt euch der französische Bluthund das Mark aus den Knochen! Wißt ihr das Neueste noch nicht?“

Da weiteten sich Augen und Mund der Umstehenden, und jeder wollte den Kopf am andern vorbei drücken, um besser zu hören. P.Styger aber mußte einen Schritt rückwärts machen, nur um aus seiner Brusttasche ein Papier herausziehen zu können. Indem er dasselbe sorgsam entfaltete, sprach er:

„Soeben kommt vom helvetischen Direktorium in Aarau der Befehl, daß folgende „Volks43 []aufwiegler und Hetzer gegen die helvetische Verfassung“ lebendig oder tot, innert zwei Wochen zur Bestrafung ausgeliefert werden sollen. Er verlas die Namen der Geächteten; darunter war auch Pfarrer Käslin.

Ein knirschendes Murren ging durch den Saal; die wenigen „Patrioten“, die mit der neuen Ordnung liebäugelten, weil sie von ihr persönliche Vorteile erhofften, waren heute wohlweislich nicht zugegen, und das Landvolk Dörfler und Aelpler war leidenschaftlich gegen jede ungesunde Neuerung, die sich mit dem Hergebrachten nicht vertrug. Man merkte: Das Gewitter nahte!

„So“, sprach P. Styger, indem er die Prostriptionsliste wieder zusammenfaltete „wenn ihr nun getreue Untertanen des speichellecke rischen Direktoriums sein wollt, so packt diese „Missetäter“, legt sie in Ketten und führt sie nach Aarau, dann bekommt ihr vielleicht eine Belobigung und das französfische Trinigeld: Einen neuen Fußtritt in die Herzgegend!Wenn ihr aber noch nicht tief genug gesunken seid, um einem solchen Antiochusbefehle zu gehorchen, so schaut heute noch nach, ob eure Büchsen in Ordnung sind! Nidwaldner!“ Eine Träne fiel in den wuchtigen Bart, eine impulsive Begeisterung würgte ihm fast die Kehle zu. „Nidwaldner! Wenn die Feuer aufflammen auf den Bergen und die Harsthörner rufen, so fehlt hoffentlich keiner, keiner von euch!“

28 []„Keiner!“ klang es wie fernes Gewitterrollen!

Der Murmolter konnte sich nicht mehr halten: „Gohts bald los?“ fragte er mit wilder Neugier.

„Vald wird die Landsgemeinde zu entscheiden haben, ob sie sich mit Haut und Hemd dem Teufel verschreiben will oder nicht!“

„Und wenn sie nid will? Was dann?“

„Dann haltet s'Maul und redet mit der Büchse!“

„Hui, dänn will i d'Froge besser unifsäge als almig i dr Christelehr! J hätt scho lang gärenemol äine umbrocht! Aber“, sagte er, sich bedächtig hinter dem Ohr kratzend, „ists denn nid Sind, wemmer äine teet'?“

„Hoho!“ rief der Pater, „im Kampf ums Vaterland ists eine heilige Pflicht! Und hier in unserm Falle, im Kampfe um Glaube und Freiheit ists ein hochverdienstlich gutes Werk! Hm, seid ihr nicht der Franziskus Wyrsch,genannt der „Murmolter?“

„Mhm“, grunzte dieser in den Bart und schlug die Augen züchtig nieder; denn der Pater schaute ihn durchdringend an.

„Habe von euch gehört, Murmolter, habt dem Staate schon manchen Bock gestohlen und den angestellten Hüter sogar mit dem Tode bedroht. Murmolter, das wäre ein greulicher Mord! Wenn ihr aber für jeden gestohlenen Gemsbock alsdann einen Franzosen abschießt,

9 []so wird der Herr am jüngsten Tage mit euch ein Einsehen haben.“

Da zog der Murmolter ehrfurchtsvoll den Hut, reichte dem P. Styger die Hand und erklärte feierlich:

„Bimäich, Styger, gwiß bimäich, i will die chäibe Beck scho abbiäße!“

Da servierte die Klara mit noch zerzausten Haaren und hochroten Wangen dem Pater ein Glas Wein; als er ihr das Glas mit Dank zurückreichte, gewahrte er ihre zerzausten Haare,ihre fröhlichen Augen, ihne Schelmengrübchen,und er hob den Drohfinger mit gütigem Lächeln:„Tanz nid z'viel, tanz nid z'viel,S'Leben ist ein Trauerspiel!“

Er ahnte wohl nicht, wie bald und furchtbar sich diese Worte erfüllen sollten!

Als er gehen wollte, da kam noch der große Imbühl, der Tell von heute heran:

„J chume nes Stick mit ech, i müeß oi no of Stans ine!“ Und da gingen sie miteinander.

Der junge Murer aber rief ihnen fröhlich nach:

„Jez miend ehr ich nid firchte, dr Imbiehl schießt jede-n-abe!“

Dann ging der alte Murer auch, und einer nach dem andern von den Alten; die Jungen aber tanzten weiter; an den Streit schien niemand mehr zu denken.

Da erschien auch der Schnyderkari wieder auf

30 []dem Plan; er hatte sich während des Streites in die Küche zurückgezogen und dort den großen Küchentisch als Unterstand benutzt, es wäre für einen „Gebildeten“ doch allzu rückständig gewesen, sich mit dieser „unzivilisierten Bande“herumzubalgen.

Nun aber setzte er sich an einen langen Tisch obenan, und fing an zu politisieren. Da stürzte alle „Rückständigkeit“ unter der Logik seiner Tatsachen zusammen; da leuchteten „Freiheit,Gleichheit und Brüderlichkeit“ als glänzendes Dreigestirn durch die finstere Nacht des „pfüffischen“ Aberglaubens. Die Beckenrieder waren aber heute nicht auf diesen Ton gestimmt; sie wußten ihm mit ihrem gesunden Mutterwitze so zuzusetzen, daß er in Wut geriet, und als zuletzt einer meinte, die Aufhebung der Landsgemeinde, des Gassengerichtes und dies und jenes sei gegen die alte Verfassung, da schlug er mit der Faust auf den Tisch:

„Die helvetische Konstitution steht über der Verfassung!“

Da stand der Murmolter hinter ihm!

„Kari, i sett eppis mit dr rede“. Dabei nahm er einen Brief aus der Tasche und entfaltete ihn. „Chum uise, 's bruichts niemer z'gheere!“

Der gute Schneider dachte, er müsse vielleicht dem Wyrsch einen Brief lesen und folgte ihm ahnungslos; vor dem „Mond“ beleuchtete eine Laterne den Eingang, und davor war ein Brunnen mit einem großen alten Brunnen

3*[]trog, wo das Vieh zur Tränke ging. Unbemerkt hatte der Murmolter auch seinen Stutzen von der Wand genommen und umgehängt; jetzt, im Scheine der Laterne nahm er ihn wieder von der Schulter, und die Arme datauf stützend,sagte er zum Schneider:

„Kari, stoht di helvetisch Konstitution iber dr Verfassig?“

Dem Kari schien die vorige Begeisterung abhanden gekommen zu sein, aber er antwortete doch immerhin mit einem zögernden „Ja“.

Blitzschnell hatte der Murmolter das Gewehr im Anschlag:

„Wenn dbrielisch, so schießi! Schnyderkari, gang i Brunne ine!“

Der Schneider war blaß geworden; mit weitgeöffneten Augen starrte er auf den Gewehrlauf; er hatte vorhin wohl gehört, daß der Murmolter von „Umbringen“ gesprochen hatte!

„Eins ... zwei ...!

Der Schneider stieg hinein. Das Wasser reichte ihm nicht ganz bis zu den Knien.

„Sitzen!“ kommandierte der Wilderer.

Der Schneider setzte sich.

„Schnyderkari, stoht die helvetisch Konstitution iber dr Verfassig?“

„Nein!“ wimmerte der Kari.

„So sägs rächt!“

„Die Verfassung steht über der helvetischen Konstitution!“

„So, scheen! J goh jetz hinder dr Huisegge

32 []und ziehle uf di; wenn d'ume luegsch oder uifschtosch, so chlepft's!“

Er zog sich wirklich dorthin zurück, ging aber ums Haus herum und dann lustig pfeifend nach Hause. Der „Kurgast“ aber wagte sich nicht zu rühren, bis ihn einige heimkehrende Gäste befreiten.

Es mochte etwa um 11 Uhr sein, als der Wildhüter im Tanzsaale wieder auftauchte. Er ging auf seinen Sohn zu und sagte:

„Der Wyrsch ist fort, gäge de Lielibach; er wird wohl ufen Schwalmis welle! Blieb dui nur no do!“ Damit wollte er gehen. Da stand aber der brave Bursche auf:

„Näi, Vater, das gheert si nid, blieb dui no chli bi de Liite; bist jo Schitzekenig! Iwill scho go.“

Die Augen des Wildhüters glänzten weich;er war stolz auf seinen Buben; die Braut wollte er verlassen und dem Tanze entsagen, seinem Vater zuliebe.

Die Klara saß neben ihrem Bräutigam und hatte alles gehört; der Alte schaute sie pfiffig an:

„Was mäinst, Klerli?“

Da zeigten sich die Schelmengrübchen: .Jo,Vater, miend no chli bi yis bliibe; dr Hans hed jingere Bäi; är sell nur go, är isch mer scho lang verläidet!“

Damit trat sie resigniert auf die Seite des Alten; der bot ihr schmunzelnd den Arm. Der Junge aber ging auf den Scherz fröhlich ein und entgegnete in scheinbar beleidigtem Tone:

33[]„Was? Verläidet? Also güot, minetwäge alabonöhr; mir isch scho lieber, du wärdisch mi Stifmüoter als mi Froi!“

Damit riß er wie wütend das Gewehr von der Wand und gab ihr die Hand: „Jchumm nimme, adeh Tunteli!“

„Adeh Spitzbüob!“

Er ging und der Alte ließ ihn gewähren,was er sonst zu anderer Zeit wohl nicht zugegeben hätte; heute aber wollte er den Leuten zeigen, wie stolz er auf seinen „Büob“ sein könne!

„Chum nur nimme häi!“ rief ihm die Klara noch übermütig nach, als er schon über die Schwelle ging.

Als er aber das Haus verlassen hatte, da kam sie aus der Hintertüre gestürzt:

„Hansi, wenn chuntsch wieder?“

„More z'Obe. Plangisch?“

„Ach Hansi, chumm e Stund ehnder, wenn d'chansch“‘“ sie schaute ihn an, wie ein Vöglein, das im Winter ans Fenster pickt; da streichelte er mit rauher Hand ihre Wangen und drückte einen Kuß auf ihre reine Stirne es war der letzte in dieser Welt!

„J bring dr denn es Strüßli Edelwiiß,Klerli.“„Und Männerträi, gell Hansli!“

„Jo, und en scheene Froieschüeh! (Frauenschuh). Bhiet di Gott, Klerli!“

„Bhiet di Gott, Hansli, und d'Muotergottes!“

34 []Sie schaute ihm nach, so lange sie ihn sehen konnte, und blieb stehen, bis seine Schritte verhallt waren.

Da erschien der Tschifereneggmichel unter der Tür:

„La la la lase doch lo lo lo loiffe, Klerli,chumm mer wwwwänd tanze, iiitii bi jo vill dr scheener!“

Er hatte einen, der Michel, wie gewöhnlich an diesem Tage.

Die Klara entgegnete etwas indigniert:

„Jo, dui bisch dr scheener! Müosch di halt z'ersch emol rasiere, daß mer 's Gsicht gseht!“

„Jo jo jo, aber denn bini ja äine wie iise Pfarrer!“„Hahaha“, lachte sie wieder übermütig, „häb kei Angst, Michel, dich kennt mer denn gliich no an der Nasel!“

Der Michel griff mit der Hand an sein glänzendes Kupferdach.

„Hasi, hahasi halt äinisch verbrennt mit eme Fiirtiifel!“

„Jo, jo, und hitt hesch oi ziiserlet, he?“

Damit nahm ihn die schöne Wirtstochter beim Oberarm und ging mit ihm in den Saal,wo sie ihn in eine von drei Seiten geschützte Ecke hinpflanzte.

Die Musik hatte wieder eingesetzt, und da packte sie in scheinbarem Uebermute den Wildhüter beim Kragen und riß ihn tanzend in den Strudel hinein, bis der Alte schwitzte. Sie

X

3 []wollte das Tränlein verbergen, das so neugierig unter ihren starken Wimpern hervorguckte;die scharfen Augen des Alten merkten es, und er schloß daraus, daß er nicht der Richtige sei.Er ging deshalb bald zu den alten Politikern;die Klara aber tanzte nicht mehr.

Bald wurde der Alte unruhig.

„S'ist doch nid rächt, daß i dr Hans eläi ha lo goh“, meinte er wie zu sich selbst ..., „dr Wyrsch... hm, ... wär hitt zu allem fähig “

Auch die Klara war nicht dagegen, als er aufbrach, um seinem Sohne zu folgen.

„Wisseter, Vater“, sagte sie weich zu ihm,„Ihr find mir lieb und racht, aber dr Murmolter isch hitt en gottstrefliche Bleger ...“

Sie haben also den gleichen Gedanken geabt.

Der Alte holte seinen Zielstutzen und ging.

36 []2. Der Mord am Schwalmis

Ein sternenklarer Nachthimmel beleuchtete seinen Weg dem Lielibach entlang. In scheinbar langsamen, schlarpenden Schritten stieg er aufwärts; tief unten zu seinen Füßen rauschte das Wildwasser, bald wie eine halbverklungene Sage aus weiter Ferne, bald nah und wild aufheulend wie menschliche Leidenschaft; er hörte nichts davon; die aufqualmenden Wolken seiner unvermeidlichen Pfeife verrieten, daß er in Gedanken war; trotz des Erfolges am verflossenen Tage war er nicht in fröhlicher Stimmung. Er hatte heute wieder einmal die Beobachtung gemacht, daß viele, besonders die Aelpler, zu seinem Gegner, dem Wilderer standen; sie sahen in ihm nicht den Mann der harten Pflicht, sondern den Spion Wildhüterlos! Nicht die Wilderer, sondern er selber war eigentlich der Gehetzte. Er hatte die Aufsicht über das Banngebiet Buochserhorn-SchwalmisNiederbauen; sein Beruf trieb ihn von Alphütte zu Alphütte, wo er oft nicht einmal willkommen war; bei Tage mußte er wandern und steigen und klettern wie der ewige Jude und auch des Nachts gab es für den Müden keinen sichern Schlaf: Wenn in der Ferne ein Schuß verhallte, so mußte er aufstehen, und wenn er

35 []sich auch erst hingelegt hatte; so bekam er oft tagelang nichts Warmes; kein Regen, kein Sturm, keine Gewitternacht entschuldigte ihn,ja, gerade dann, wenn man keinen Hund hinausgejagt hätte, hoffte ja der Wilderer am sichersten zu sein; oft äfften ihn sogar übermütige Aelpler mit Trugschüssen, um ihn vom eigentlichen Standpunkte des Wilddiebes wegzulocken,und er mußte gehen, um dann vielleicht bald einen zweiten Schuß von dort zu hören, wo er vorher auf der Lauer war; die meisten Aelpler hielten es im Geheimen mit den Wildjägern,weil sie die Gemse auf ihrem Grund und Boden als ihr angestammtes Eigentum betrachteten. Der Wildhüter durfte keinem Vereine angehören, der regelmähige Versammlungen abhielt, nicht einmal dem Kirchenchor, obwohl er ein flotter Baßsänger war; er durfte nicht einmal jeden Sonntag die gleiche Kirche besuchen die Wilderer durften nie zum voraus wissen,wo er war, sonst wäre bald das letzte Zicklein nicht mehr sicher gewesen vor der Leidenschaft der wilden Jäger.

Mittlerweile war er an den Alphütten der Tschiferenegg angekommen; ein „Handknab“war bereits munter, obwohl sich im Osten kaum der Himmel rötete und der Morgenstern noch leuchtete. Vor einigen Tagen war Alpauffahrt gewesen, und da gab's für die Sennen viel zu tun. Der Wildhüter fragte:

„Ist scho epper dure?“

38 []„Jo, ywe Hans!“ war die mürrische Antwort.

„Sost niemer?“

„Näi.“

Der Alte schaute ihn mißtrauisch an:

„Und vorem Hans?“

„Ha näiwe niemer gseh!“

Der Murer sagte nichts mehr und ging weiter; der Aelpler würde ihm doch keinen verraten, obwohl gerade in letzter Zeit ein unheimlicher Gast die Wildherden heimsuchte; zweimal hatte er das „Gweid“ von Gemsen gefunden,und als er eins betrachtete, das noch ganz frisch war, da zischte eine Kugel hart an ihm vorüber,und als er nach der Richtung blickte, wo sie hergekommen sein mußte, sah er ein Rauchwölklein in so weiter Ferne, daß er vor lauter Bewunderung einen Augenblick seinen Grimm vergaß.Ob's wohl der Wyrsch gewesen war?

Nach einer guten Stunde kam er auf das „Hinterjöchli“, welches Schwalmis und Rissetenstock voneinander trennt.

Er hatte gerade die Paßhöhe erreicht, als ihm die aufgehende Sonne ins Gesicht schien;wie blutige Riesenschwerter fuhren ihre Strahlen über Nidwaldens Berghäupter hin; die vier kleinen Alpenseelein zu seinen Füßen glänzten wie verlorene Goldstücke; ein leiser Morgenwind nahm die letzten Nebel mit sich in die Höhe, und in strahlender Herrlichkeit starrten die wilden Felswände zum blauen Aether []empor; vom Tale empor tönte ein Glöcklein, und der Wildhüter zog seinen verschweißten Hut.

„Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft ...“

Da krachte ein Schuß! Jäh zuckt er zusammen!

Wo?

Gerade über ihm, an der Schwalmiswand!Ja, dort, dort an der Kante des obersten Felsbandes hebt sich eine Gestalt vom blauen Himmel ab. Er kann ihn nicht erkennen; die Entfernung ist auch für das schärfste Auge zu groß,und wahrscheinlich hat der Mann dort oben sein Gesicht geschwärzt.

„Der Wyrsch! S'cha käi andre sy!“

Der Alte greift zum Stutzen, legt ihn an,setzt ihn wieder ab: I

„Vil z'heech!“

Er beißt die Zähne zusammen:

„J bi 5spoot!“

Der Wilderer turnt um eine halsbrecherische Kante nach einer Felsennische. Dort muß die erlegte Gemse liegen. Doch was ist das?

Dort, dort oben steigt ein zweiter auf die Felsenkante zu.

„Der Hans!“

Das Herz droht dem Alten stille zu stehen;mit allen Vieren greift der Junge dort oben weiter; er kann sein Gewehr nicht gebrauchen. Herrgott! Wenn der Wilderer ihn gewahrt,so schießt er ihn wie eine Fliege von der Wand.

Zuschauen müssen und nicht helfen üönnen!

40 []Da hebt der Alte noch einmal mit zitternder Hand sein Gewehr; er will die Aufmerksamkeit des Wilddiebes vom Hans ab und auf sich lenken.

Der Schuß kracht; ein hundertfaches Echo,und dann wieder Totenstille!

Inzwischen ist sein Hans der Felsennische nahe gekommen, Schritt für Schritt, Griff für Griff, den Körper an die Wand gedrückt, in schwindelnder Höhe.

Da hebt sich der Wilderer jäh, mit vorgebeugtem Oberkörper; er scheint zu lauschen; hat vielleicht ein rollendes Steinchen den nahen Feind verraten? Er hat wohl nicht wieder geladen; denn er stellt sich mit dem Rücken an die Wand und schaut um die Kante; in seiner Hand glänzt etwas.

Jetzt ist der Hans an der Kante. Jesus Maria! Er tut einen Sprung. Er steht in der Felsennische seinem Todfeinde gegenüber.

Nur eine Sekunde Da packen sie sich wie zwei Tiger. Kein Schuß war gefallen. Aber jetzt? Der Platz war dort kaum zwei Fuß breit! Der furchtlose Alte zitterte wie ein Espenlaub. „Heilige Maria Mutter Gottes, bitt für uns arme Sünder ...“

Wie ein Schrei kam es von seinen Lippen,abgebrochen, in Todesangst.

Die beiden Ringer bilden eine fast bewegungslose Gruppe; denn jede Bewegung bedeutet Tod in schwindelnder Tiefe! Die Füße nach außen gestemmt, die Schultern an die

41 []Felswand gedrückt, halten sie sich umarmt. Einer oder beide!

Dem Alten klappern die Zähne; er hält sich die Augen zu und muß doch immer wieder schauen.

Wie lange dauert's noch? Eine Minute?Eine Stunde?

Da blitzt wieder etwas auf Der Alte wimmert Jetzt ... hebt einer ... den andern empor ...

„Bitt für uns arme Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Absterbens! Amen.“ Ein entsetzlicher Schreil Die Felswände schreien mit!

Hoch oben schlägt ein Körper auf, dann noch einmal ... noch einmal, dann fällt er keine hundert Schritte vom Alten zu Boden, rollt noch eine Strecke in der Schutthalde weiter und bleibt dann liegen. Und da ist's wieder still,ganz still! Nur hoch oben im blauen Aether krächzt ein hungriger Alpenrabe ...

Der Wildhüter steht noch immer unbeweglich wie eine Bildsäule.

Da fährt er sich mit der Hand über die Stirne:

Ist's Wirklichkeit? Ists ein Traum, dem das Erwachen Erlösung bringt?

Kein Traum dort liegt etwas. Was ist's?

Lange wagt er nicht hinzublicken; jetzt schaut er hin, etwas Entsetzliches erwartend; lange,lange starrt er hin; dann setzt er sich auf den Boden und stöhnt; weinen kann er nicht, er hat

42 []es nie gekonnt und doch zersprengt's ihm fast die Brust. Die Hände an die beiden Schläfen gepreßt, schaut er nochmals hin: Dort liegt er;er kennt ihn an den Kleidern.

„Hans, Hans, ... oh Hansi!“ Gestern schwang er noch die Nidwaldnerfahne, wie war er da stolz auf seinen Einzigen gewesen

Da fährt er jäh auf: Wie Wetterleuchten zuckt es über sein Furchengesicht. Wo ist der Mörder? Dort steigt er mit seiner Beute durch die Felsenrunse nach oben.

Der Wildhüter lädt seinen Stutzen, zielt und drückt los: Er weiß wohl, die Kugel reicht nicht hin; aber das war nur blutige Kampfansage an den Mörder! Wieder ist einer zu viel auf der Welt.

Der Wilderer hat ihn verstanden; denn er hält inne: Mit der Linken hält er sich an der Felsenkante, mit der Rechten hebt er die Waffe,zielt kurz und schießt auch. Wäre der Murer in diesem Augenblicke nicht unwillkürlich einen Schritt beiseite getreten, um besser sehen zu können, so läge er jetzt bei seinem Sohne; denn die Kugel zischte dort in den Boden, wo er eben gestanden hatte.

Herrgott, welch ein Schuß! Und noch ein einarmiger! Der Jäger regte sich im Alten, sodaß er einen Augenblick das gräßliche Geschehnis vergaß und mit offenem Munde hinaufstarrte.„Wenn er gester niechter gsi wär, so hätti verlore!“ Oder war's nur Zufall?

43 []Eben verschwand der Mörder oben auf dem Schwalmisbödeli; wenn der Alte nicht sicher überzeugt gewesen wäre, daß es der Wyrsch war,so hätte er ihn nicht erkannt; denn die Sonne blendete, und schließlich gleicht jedes abgetragene Kleid dem andern.

Wie der Wildhüter ihm nachsah, lange und gierig, da gewahrte er an der Felswand zwei blutige Flecken. Das warf ihn wieder in die nackte Wirklichkeit zurück: dort lag ja der Hans,der Hans!

Langsam geht er auf den Leichnam zu, scheu und ängstlich, als ob er ihn beschleichen wollte;mehrmals geht er um ihn herum, bis er endlich davor niederkniet. Wie sieht er aus! Nicht einmal in des Toten Antlitz kann er noch einmal schauen; denn es ist nicht mehr. An der linken Seite zeigte die Joppe einen deutlichen Messerstich.

„Er het ne gstoche! Sescht hätt er en sicher nid mege!“ brummte der Alte nicht ohne Genugtuung. Dann nahm er seinen Rosenkranz aus der Tasche, wickelte ihn dem Toten um die Hände, legte ihn in Schlafstellung und bedeckte den Oberkörper mit seinem Wams; dann ließ er sich auf beide Knie nieder und betete fünf Vaterunser und den Glauben zu den heiligen fünf Wunden.

„Herr, gib ihm die ewige Ruhe, und mir.mir zeige den Mörder!“

Er steht auf und geht. Er scheint etwas zu

44 []sammengesunken; der heutige Morgen hat ihn älter gemacht. Nochmals schaut er auf den Toten zurück und dann in die Höhe; aber das waren zwei verschiedene Blicke!

In der Tschiferenegg saßen sie gerade am Mittagstisch, als der Wildhüter eintrat. Der Michel war jetzt auch bei ihnen und fragte den Ankömmling verwundert:

„Worum bisch hemdärmelig? Schwitzischt immer no vom Tanze?“

„Näi, Michl, i ha miäße dr Hans decke mitem Chittel!“ Er mußte schlucken, er konnte es fast nicht sagen.

„Der Hans?“ Sie merkten, daß etwas nicht in Ordnung war.

„Jo, er lit ofem Hinterjechli obe ...“

„Isch er gfalle? Oder verwundet? Wer het gschosse?“

„Er isch tot.“

Man sah am Zittern seines wilden Bartes,wie es ihn würgte. Da wurden sie alle still,und sie vergaßen ihre Löffel in die Schlottermilch einzutauchen.

„Wettid ehr villicht so güot sy und en Tragbahre mache? J will's scho zahle.“

„Mir wänd's scho mache, aber zahle miend ehr nid; mir händ dr Hansi oi gäre gha. Isch en brave Büob gsy!“

Der Alte verzog keine Miene; sein Mund schien festgeschlossen; wußte er doch, wie die Aelpler den Wilderern oft Vorschub leisteten.

5 []„Chemet ehr grad oi mit?“ fragte der Michel.

„Näi, holet en afe, i müoß z'ersch häi, go brichte. JIchumen denn am Obe do häre cho abhole. Danki Gott, adeh ...“ Damit ging er.Sie schauten ihm nach, keiner sagte ein Wort.Da kam er noch einmal zurück.

„Händer eppis vergässe?“ fragte der Michel verwundert.

„Jo, und no d'Hoiptsach! Handchnab, wär isch am Morge uife, vorem Hans?“

„J ha gwiß niemer gsehl“

Der Alte schaute ihn an, daß der junge Mann erbleichte. So hatte er den Wildhütet noch nie gesehen.

„Müdosch es säge!“ drängte der Michel ehrlich.

„Gwiß, gwiß nid!“ stotterte jener, „Ihr chenet mi teede, aber i cha nid anders säge!“

„Handchnab, i nimm di bim Wort!“ sprach der Alte und ging.

Und wieder rauschten die Wasser des Lielibaches an sein Ohr, wild wie die geschwellten Adern an seiner Schläfe; und die wilden Wasser raunten ihm zu, daß er seinen Stutzen nicht wieder geladen hatte; er stand still und lud mit einer liebreichen Sorgfalt, als gälte es ein hungriges Kind zu stillen.

Als er Beckenried vor sich sah, da zuckte er zusammen. Dort war die Wirtschaft „zum Mond“. Er sank auf einen Stein am Wege.

„Die Klara! Arms, arms Klerli, i cha

46 []dirs fast nid säge; näi, i cha dirs nit säge. Das isch fast no herter als s'ander.“

Wieder ging er, aber so langsam wie ein Knabe, der etwas „angestellt“ hat und sich nicht heim getraut.

In Beckenried grüßten ihn die Leute auf der Straße wie gewöhnlich, und schauten ihm dann verwundert nach; denn er erwiderte kein „Grieß Gott“; er dachte nur an die Klara.

„Arms Chindli dr Hansi chunt nimme häi!“ sagte er hundertmal vor sich her. An sich selber dachte er nicht. Und er war doch jetzt ganz allein auf der Welt.

Wie er sich dem „Mond“ nähert, sieht er die Klara am Fenster sitzen. Sie näht am Hochzeitskleid.

Da greift es dem Alten ans Herz; er kommt nicht mehr weiter und kehrt um.

Er geht zu Pfarrer Käslin.

Der hatte gerade das Eheregister vor fich aufgeschlagen. Die letzten Namen waren: Johann Murer und Klara Wymann. Er schaute kaum auf, als der Wildhüter eintrat.

„Tag, Herr Pfarrerl!“

„Grieß Gott, Muirer! Wänd er eppen oi no i das Büoch ine do?“

„Näi Herr Pfarrer, ihn miend es anders Büoch firenäh s' Totebüoch.“

Langsam dreht sich Pfarrer Käslin

„s' Totebüochꝰ?“

4*[]„Der Hans isch erschosse. Er lit am Schwalmis obe.“

Da steht Pfarrer Käslin auf; mit zitternden Händen schließt er das Buch. „Der Hans? Heiliger Gott im Himmell!“ Er setzt sich wieder und stützt seine blasse Stirne in beide Hände. Er weint. „Der Hansi tot!“ Ja, ja, es hat einmal so kommen müssen. Er hatte sich sonst über seine Pfarrkinder nicht zu beklagen; sie waren tiefreligiös, ja fromm, ehrlich und recht. Seit fünfzehn Jahren hatte er ein einziges uneheliches Kind eintragen müssen. Aber gegen die Leidenschaft des Wilderns fühlte er sich fast machtlos.

„Wer ist's, Muirer? Ist's dr Wyrsch?“

„Gbennt hanene nit, s'isch z'wiit gsy; aber s' cha käi andere sy; er isch vorem Hans uife.“

„J ha dr Wyrsch nie fir schlächt ghalte; aber wenn er en Flinte i dr Hand het, so isch er en Indianer.“Dann geht Pfarrer Käslin auf den gedrückten Alten zu und legt ihm die Hand auf seine Schulter:

„Wäiß Gott, Muirer, i ha dr Hansi gwiß fast so lieb gha as ehr, aber, gällid, Vater, wie Gott will!“„Jo, wie Gott will, Herr Pfarrer!“

„Aer isch jo güot gstorbe, ywe Hansli; ersch gester hed er jo d'Andacht gmacht mit de Schitze,und was will mer schließlich meh as güot stärbe!“

48 []„Ihr händ rächt, Herr Pfarrer, das isch mer oi no dr greeßt Trost.“

„Mr wänd also im liebe Gott nid bees sy,gällid, Muirer?“

„Näi, näi, Herr Pfarrer; är heds gwiß güot mit ys gmäint.“

„Und im arme Merder wämmer oi verzieh,gällid?“

Stille!

„Dr Häiland hed jo im rächte Schächer am Chryz oi no verzoge. Bringid das Opfer oi no, Murer!“

Die Bartstoppeln des Alten zuckten. „Jo,jo, isch scho rächt; aber dä, wo mi Hansi 'teet hed, isch drum dr lingg gsy, Herr Pfarrer!“

„Dr Häiland hätt oi im lingge verzoge,wenn er beriit hätt. Miend nid so sy, Muirer,tiends im Hansli z'Lieb!“

„Güot, Herr Pfarrer, i will dem chäibe Bleger oi verzieh, aber ersch denn, wenn er oi am Chryz hongedl!“

„Ersch denn, Muirer? Ersch wänn er oi am Chryz honged?“

„Oder minetwägen oi wenne mi Chugle ne wägputzt hed; denn gäb ihm Gott die ebig Rüei,Herr Pfarrer!“

„Ihr miend di Sach rüeiger näh, Muirer!“

„Gwiß, Herr Pfarrer, in aller Rüei willene abtüeh; är muoß gwiß nid lang liide! Wenn er dänn liid, will i oi no eppis fir en bätte.“

Und der Wildhüter faltete unwillkürlich die

49 []Hände, als läge der Mörder bereits schon tot zu seinen Füßen.

Pfarrer Käslin sagte nichts mehr. Er wußte:Jetzt sprach er zu Granit. Vor ihm stand jetzt nicht mehr sein Pfarrkind, sondern der Unterwaldner.

„Wäiß s' Klerli scho drvo?“, fragte der

Pfarrer dann.

Da sank der Wildhüter wieder ein:

„Näi, wäge desse bini cho, Herr Pfarrer;wettid ihr nid so güot si und s'ihre go säge. J chas nid. Ihr chenids besser als ich.“

Pfarrer Käslin ging einige Male auf und nieder, fuhr sich zweimal mit der Hand über die Stirne und blieb dann vor dem Alten stehen:

„Chemid!“ Und sie gingen miteinander.

Vor dem „Mond“ angekommen, sagte der Wildhüter:

„J bliibe no do und warte, bis ihr's gsäid händ riäffet mr denn!“

Der Pfarrer ging hinein und klopfte.

„Nur ine!“ klang es von innen. Fast getraute er sich nicht; wäre er vor Gericht zitiert worden, er würde nicht so gezaudert haben; so schwer war ihm die Pflicht noch nie geworden.

„Nur ine!“ klang es zum zweiten Male.

Da trat er ein. Sie arbeitete richtig am Hochzeitskleid.

„Grieß Gott, Herr Pfarrer!“ Klara stand auf und legte das Nähzeug bei Seite. Der Pfarrer hatte den Gruß vergessen.

*3 []„So, Klerli, schaffisch a dr Uisstyr?“

Sie errötete; dann zeigten sich die zwei Schelmengrübchen auf ihrer glühenden Wange,und um ihre Mundwinkel zuckte es verräterisch.

„Müoß dänk, sisch wär s' Mannevolch doch nit z'friede, wemmer niid tät bringe. Us luiter Liebi nähnd si eim jo doch nid!“

Und doch wußte sie, daß sie eben eine süße Lüge gesagt hatte; der Hansi hatte sie ja so lieb; er würde sie auch genommen haben, wenn sie ein armes Kind gewesen wäre. Ein armes Kind!

Pfarrer Käslin stand wie ein Bettler vor ihr:

„Hättisch nid lieber welle no chli warte mit em Hochsig, Klerli?“ Da sie die Lider immer noch verschämt gesenkt hielt, hatte sie noch keinen Blick auf die Gestalt vor ihr getan; sie nahm alles noch für einen Scherz; schnippischfröhlich meinte sie:

„Warte? Hm! Bis i eppe fifeviärzgi bi!Hm! J gloibe, s' isch scheener, wemmer jung hirotet.“

Sie ahnte also noch nichts! Fast wollte es ihm das Herz abdrücken. Arms Klerli!

„Näi, Klerli“, sagte er dann, „aber villicht bis noch em Chrieg chenntisch no warte.“

Da warf sie einen großen, fragenden Blick auf ihn; denn seine Stimme hatte gezittert.

„Bis... nochem ... Chrieg? Gid's Chriegꝰ?“

„Wahrschinli, i gloibe, dä Summer noh ...

531 []Und denn miend vieli jungi Manne stärbe,Klerli, und di Britigam isch Fähnerech!“

„O Gott, Herr Pfarrer, isch's so schlimm?“

„Schlimmer als dui ahnisch, güots Chind!Nidwalde wird mieße blüote. Wärs do nit besser, wennt no eschli ... chenntisch dui dr Gedanken ertrage, daßd'drHans mießtischverliäre?,

Sie legte ihr schönes Köpfchen in die Hand:

„Mr wird halt denn miäße, Herr Pfarrer!“

„S' wär doch schreckli, gäll Klerli, jetz hirote und denn noch e paar Woche dr Ma verliere?“

„Jo, das wär no schlimmer, als wemmer ersch verlobt wär.“ Sinnend hatte sie die Nadel wieder erfaßt. Vor ihr lag ein Nähkissen in Herzform; gedankenlos stach sie fortwährend in dieses Herz hinein.

„Chenntisch dui de Hansi im liebe Gott und im Vaterland zum Opfer bringe, Klerli?“

Lange war es still und in die knisternde Seide des Hochzeitskleides fiel ein unbewachtes Tränlein.

„Es tüet mir so weh, Klerli,“ fuhr Pfarrer Käslin fort, „aber, aber, i müoß dr's säge:Chenntisch das Opfer bringe?“

Da stand sie auf, blickte mit wogendem Busen auf das Kreuz an der Wand und reichte dann dem Pfarrer die Hand:

„Jo, i chas, Herr Pfarrer ... Das Glück ist doch nid ebig.. .. me läbt oi nid ebig und ... es git jo es Wiederseh ... Ihr händ rächt, i will lieber no warte.“

55

[]„J dank dr, Klara!“

„Sie dankid mir?“

„Jo, Klara!“

„Fir was?“

„Wil d' mit dim heiligen Opfer mi Pflicht erliechtert hesch! Klara, Klerli, bisch jeden Oigeblick biräät zü däm Opfer?“

„Jo, Herr Pfarrer, d' Müottergottes sell mr hälfe drzue!“

„Und ... wärisch oi scho hitt biräit, Klerli?Hitt! Grad jetz?“

„Ja!“

Dem Pfarrer war es, als müsse er der Heldin vor ihm auf den Knien danken. Und das war ein frommes, schlichtes Bauernkind!

Da zitterte seine Stimme noch mehr; der letzte Keulenschlag auf das arme Menschenherz da vor ihm war ja noch nicht gefallen!

„Chenntisch hitt scho ganz verzichte ... un ...und dr Hansi tod gseh!“

Da weiteten sich ihre Augen und ihre zuckenden Lippen wurden blaß:

„Isches scho so wiit, Herr Pfarrer?“

„Jal“

„Was isch was isch gange?“

Da atmete der Pfarrer nochmals schwer auf:

„Klara, du stehst jetzt auf Kalvaria. Klara es ist vollbracht!“

„Gott im Himmel !“

„Dr Hansi isch tod!“

„Tod? tod? Herr “ Da kam es

52 []wie Erinnerung über sie; der Hans war ja dem Wyrsch nachgelaufen Alles war ihr jetzt klar.Ihr Köͤpfchen senkte sich, ihre Hände falteten sich krampfhaft.

„Sagt mir's jetzt, Herr Pfarrer, sagt mir alles!“

Und da sagte er ihr alles. Lange, lange stand sie still; dann ging sie wankend zum hölzernen Kreuze an der Wand. Dort kniete sie nieder und drückte wie Magdalena ihre Stirne an das Holz. Da war's aber auch mit dem Pfarrer vorbei; wie ein Wildbach kam der Schmerz über ihn ... armes, armes Klerli!

Da erinnerte er sich an den Wildhüter. Er ging hinaus und gab ihm ein Zeichen. Der kam herein, scheu und linkisch, vor Angst; er sah die Klara unter dem Kreuze und tat einen erlösenden Atemzug.

Dort kniete sie, und sie weinte nicht mehr;nur blaß war sie, so blaß! Das war eine Nidwaldnerin von 1798!

Schweigend schaute der Alte auf das ergreifende Bild; man sieht an den kauenden und schluckenden Bewegungen seines wilden Bartes,daß Klaras Schmerz ihn ebenso würgt wie der Anblick seines toten Sohnes an der SchwalmisWand. Er blickt so weich, daß man jeden Augenblick die Tränen erwartet; aber sie kommen nicht; er verschluckt sie

Langsam geht er auf sie zu:

„Müdsch nid briegge, Klerli“... Mehr kann

4 []er nicht sagen; er steht so linkisch da; es kommt ihm einfach nichts in den Sinn.

Aber plötzlich nimmt sein Gesicht einen andern Ausdruck an; er schluckt nicht mehr; er beißt auf die Zäühne, daß die Schnurrbartenden zittern; die weichen Kinderaugen werden fieberhaft dunkel, und mit dem Blicke eines hungrigen Geiers schaut er durchs Fenster nach den Bergen hin.

Wo ist der Verruchte, der dies alles verschuldet hat?

Seine nervige Faust erfaßt krampfhaft den Gewehrriemen; das ist nicht mehr der alte Murer, das ist der Wildhüter von Beckenried!Wehe dem Mörder!

Jetzt gibt's nur noch eine Losung: Krieg dem menschlichen Raubwild, blutiger, kalter Vernichtungskrieg.

Es hält ihn nicht mehr in der Stube.

„Es dunklet bald. J müos uf Tschiferenegg uife, go go d'Liich abhole ...“

Da erhebt sich Klara; sie ist totenblaß, aber gefaßt; ihr Gesicht ist schärfer geworden, klassisch schön, wie aus Marmor gemeißelt; schon regt sich in ihr wieder die ächt weibliche Fürsorge:

„Aber, Vater, Ihr händ jo sit gester no nid gässel“„Haha“, lachte er trocken, „i wett gäre no e Wuche faste, wenn i dä Satan verwitschti!“Klara legte die Hand auf seinen Arm:

5 []„Miänd nit so wild si, Vater, das chennt jo dr Hansi nimme läbig mache.“

Pfarrer Käslin warf ihr einen dankbaren Blick zu.

„Näi, aber dr ander kaput!“ entgegnete der Wildhüter. Der Pfarrer schaute ihn traurig an.

„Führe uns nicht in Versuchung, Muirer!“

„Sondern erlese uns von däm Ibel. Amen!Seb isch oi drby, Herr Pfarrer!“

„Wänd ir nid en Latärne mitnäh? In ere Stund isch es dunkel!“ fragte Klara.

„Bruiche käini, kenne dr Wäg güot gnüo, und wenn i dr Rächt trife, so zind em mit em Stutzen is Gsicht. Adeh!“ Er reicht der Klara die Hand, auch dem Pfarrer, aber ohne ihn anzusehen:

„Ade, Herr Pfarrer, i danke viel mol ...“

„Ade, Muirer, bättid eppis, daß ech dr Schutzängel nid verlohd!“

„Aer wird eppe nid so empfindlich sy!“

„Wenn chemed er eppe?“ unterbrach ihn Klara.

„J dänke so um zwelfi.“ Er geht, und auch der Pfarrer verläßt die Wirtsstube nach einem kurßzen Trostworte.

Wie ein Lauffeuer hatte sich im Dorfe die Kunde verbreitet: Der junge Murer ist erschossen von einem Wilderer! Am Brunnen standen wohl ein Dutzend Weiber und debattierten: „Wer isch's gsy? Und immer neue kamen herzu; eine hatte sogar vor lauter Gwun

7 []der in der Eile einen Korb ergriffen statt des Kessels; eine andere ging mit dem leeren Kesfsel heim, um schnell zu berichten: „'S isch dr Wyrsch gsy gäll, i ha 's gsäid!“

Durchs Dorf kommt der „Siitrieber“(Schweinehändler) und Käshändler Imbühl,der „Kunstschütze“ von gestern.

„Hesch es scho gheert!“ frägt ihn einer von der Stalltüre her.

„Was?“

„Wägem Wyrsch!“

„Näi, was isch?“

„Aer hed de jung Muirer erschosse!“

„Wird nitsy! DrWyrsch? DrMurmolter?“

„Jo, dr Murmolter! Wäisch no, was i färe gsäid ha?“

Was?“

Dr Murmolter erschießt no emol dr Wildhiäter jäz hed er dr jung erschosse!“

„So so... eh, hesch nid Fäißes?“

„Näi, aber dr Wyme Poili gloib!“

„Grieß Gott!“

Da kommt der Wildhüter vom „Mond“ her durchs Dorf. Er nimmt Meterschritte und sein Bart fährt wie eine Pflugschar dem gekrümmten Buckel voran. Hinter Türen und Fenstern und Hausecken schauen ihm neugierige Augen nach.

Der Kaspar Imbühl spricht ihn an:

„Bisch schints is Läid cho, Muirer?“

„Jo, Chappi, jo.“

57 []„Wär... wär isch's gsy?“

„Dr Wyrsch... i wißt nid wär sischt ...emol dui schießisch nid so ...“

Und fort war er.

Als der Wildhüter gegen den Lielibach einlenkte, sah er von oben zwei Männer kommen,welche beide je ein „Käf“ mit einem Spalenkäs auf dem Rücken trugen. Der vordere der beiden war kein anderer als der Murmolter!

Der Alte fährt auf; er traut seinen Augen kaum; dann schwellen seine Schläfenadern an:

„Dert chunt er. Isch rächt so!“

Sein Schritt wird langsamer, fast schleichend; er zieht den Hut in die Stirn und schaut nur scharf unter dem Rande hervor, als fürchte er, das „Wild“ könnte durch seinen Anblick im letzten Moment noch verscheucht werden.

Nun ist er da; der Alte hat den Stutzen wie unabsichtlich gefaßt und fragt mit unheimlicher Ruhe:

„Wyrsch, wohär chuntsch?“ Ahnungslos antwortet dieser:

„Vo der Muisenalp.“

„Lignerhund!“

Mit Gedankenschnelle hat der Wildhüter das Gewehr im Anschlag.

Der Murmolter glotzt ihn an, als wäre der Mann da vor ihm plötzlich verrückt geworden:

„War... wa isch, Muirer? Bisch i dr Chindhäitꝰ?“

58 []Die Ahnungslosigkeit Murmolters verblüffte den Alten doch ein wenig, und da sieht er auch den Begleiter: Ja, das war wirklich ein Senne von der Musenalp, und beide trugen ja Käse auf ihren Räfen. Wär's vielleicht doch möglich?...

Fast weinerlich, stoßweise kommt die bange Frage:

„Seppi, Seppi, säg mer d'Wohret bim häilige Sakramänt säg mers wohär chunnt dä doꝰ“

„Vo dr Muisenalp!“

„Hesch eppe Zwäierli (Zwillinge) ibercho,und findst käĩ Getti?“ höhnte der Wyrsch launig dazwischen.

„Seppi, a dr Schwalmiswand lid mi Hansi erschosse! Isch dr Wyrsch uf dr Muisenalp gsy? Bi diner Stärbstund, Seppi?!“

„Dr Hansi?“ entfuhr es beiden in ehrlichem Erschrecken.

„Dänn bisch ufem falsche Wäg, Muirer! Mir zwäi sind hitt scho zwäämol mit Spale z'Begried unne gsy. Frog no, chasch hundert Ziige ha!“

Man sah dem Aelpler an, daß er nicht log,und der Murmolter fügte noch mit heiliger Beteuerung bei:

„Näi, Muirer, dr Hansi hätt i nid erschosse,gwiß nid! Dich scho, säb liigni nid. aber dr Hansi bimäich nid!“

Das war gewiß ehrlich gesprochen! Langsam,fast wie enttäuscht, senkte der Wildhüter sein Gwehr.

59 []„Vilicht en Frende?“

„Vilicht en Frende‘“ wiederholte der Alte sinnend „Jo, wenns dui nid gsy bisch,denn, denn ischs allwäg käĩ Begrieder gsy so e schlächte Chäib wär sischt gwiß käine!“

„Wenn er wenigstens no dr Rächt verwitscht hätt aber dr Hansi, grad dr Hansi!“ meinte der Murmolter mit ehrlichem Bedauern.

„En Frende, hm, wär chennts, hm, hm...“

„Wenns aber so en frende Fitzel gsy isch“,knirschte der Murmolter, „so wemmer däm Luischãäib scho häizintbe. Was bruicht ys dä Schelmebleger ysi Gämsi cho z'stähle ...“

„Jo“, nickte der Alte wichtig, „und wennt no wißtisch, wiä dä Lump schiäßt do sinn mir Stimper!“

„Sacker... dänn ischs en frende Fitzel! Aes muos e Frende sy, sischt hätt er gwiß nid grad dr Hansi erschosse! Wenns en Begrieder wär, so wär er gwiß nid veriiret!“

„Frend oder nid, i find en!“ sagte der Alte,hängte sein Gewehr um und ging.

Der Murmolter sah ihm noch einige Zeit nach, kratzte sich dann hinter dem rechten Ohr und meinte:

„Aer lüogt nid grad verliäbt dry! di nächste fiif Tüg bliibi drhäime!“

„Schad um en Hansi“, sagte der Andere im Weitergehen.

„Jo jo, i bi froh, daß i 's nid gsy by Schad um en! Aber är isch jo sälber gschuld;

80 []är hed's jo so welle. Worum chann är d'Liit nid lo loiffel!“ Ueber diese Logik hinaus kam der Murmolter einfach nicht.

Als der Wildhüter auf Tschiferenegg anlangte, war es Nacht geworden. Die Aelpler waren beim Nachtessen. Sie unterhielten sich nur flüsternd. Neben dem Kessi stand eine Tragbahre mit dem verhüllten Leichnam. Auch die zerschlagene Büchse und den Filzhut hatte man aufgefunden. Ein Sträußchen Edelweiß mit Männertreu zierte ihn. Der Hans hatte also noch in letzter Lebensstunde an die Klara gedacht; der Alte nahm die zerschlagene Büchse und band sie mit seinem Stutzen zusammen;den Hut setzte er auf das graue Leichentuch.Nachher setzte er sich hin und starrte in das Herdfeuer. Nur ein einziges Wort sprach er:

„Dr Wyrsch isches nid gsy.“

Es war finstere Nacht, als sich ein trauriger Zug dem Lielibach entlang abwärts bewegte:Voran ein halbgewachsener Bursche mit einer Stallaterne, dann zwei Männer mit einer Tragbahre, und hinterher zwei andere als Ablösung. Den Abschluß machte der alte Murer.In der einen Hand hielt er den Rosenkranz,mit der andern faßte er den Gewehrriemen;er betete halb laut, aber das wilde Rauschen des Lielibaches schien ihn immer wieder auf andere Gedanken zu bringen; er mußte immer wieder von vorne anfangen:“

.... Gehäiligt werde däin Name... zu

531 []komme uns däin Räich... J verwitschene scho no... Häiligi Maria Müoter Gottes, bitt fir ys arme Sinder... jetz wirft er en....Ehre säĩ dem Vater und dem Sohne und dem häiligen Gäiste... dr Wyrsch isch es nid, aber en Bleger ischer immer gsy... wie es war im Anfang, jetzt und in der Stunde ysers Abstärbis. Amen ...“

In Beckenried war man sonst um diese Zeit längst zu Bett; heute aber schien es anders zu sein. Als man den Toten durchs Dorf trug,wurde es heimlich lebendig: Da knisterte ein Fenster, dort knirschte eine Türe, dahinter knarrte eine Stiege und verhaltenes Geflüster verriet die wachsame Neugierde des mehr oder weniger schönen Geschlechtes:

„Händers gseh, Mariann! Si sind verby mit em.“

„Jo, gällid oi, Bethli, dä arm Büob!“

„Gäb ihm dr Herrgott di ebig Rüäi, är isch jo so brave gsy ...“

„Und das ebig Liächt läichte ihm das arm Klerli, das wird oi tüohl“

„Jo scho, aber s'säl riit mi weniger (erbarmt mich). Aes wird si scho eppe wieder mit emen andere chenne treeste.“

„Mr säit jo, daß em friener dr Imbiehl Chappi oi nohgloiffe syg?“

Under anderem, jo, vilicht isch er jätz denn wieder gnädig!“

„Eh goppel oi (hoffentlich). Aer verdienet

82 []jo schern Gäld mit sim Sii- und Chäshandel aber eb denn är no will?“

„Ujeh, gemmer ewägg! Wenn s' Mannevolch es scheens Gfräüsli gsehd, so sind si alli nimme züorächnigsfähig!“

„Und wenns küäi Chriitzer hätt und Lecher i dr Strimpfe!“

„Jä, wisset er, das vernähnd d'Manne halt gwehndli ersch dänn, wenn si nimme chenid umemache!“

„Güot Nacht, Froi Amstad, s'Chli isch wachber worde ...“

So ungefähr urteilte das zarte Geschlecht.

Aber auch das Mannevolch schien nicht fest zu schlafen. Oben im Gaden klopfte der Hansieri an die Wand:

„He, Chlois, schlofisch scho?“

„Was isch?“

„Grad sind sti cho mit em! Dr Wyrsch isches nid gsi!“

„Nid? Wär denn?“

„Gloib e frende Fitzel!“

„Wohär?“

„Wett i's wisse?“

„Dr Muirer wäiß oi niid!“

„Gloib nid; är het en oi nur vo wiitem gseh.“

„Vilicht ischs ääne vo Emmete oder Isethal?oder vo Boiwe! Die chenid oi schieße!“

„Wäge däm chennts oi äine vo Begried

*[]gfi syl J wäiß äine, wo no besser schiäßt as dr Muirer und dr Murmolter!“

Der andere drüben schien sich im Bett aufzurichten, denn es ächzte, und das Stroh knisterte.

„Wär de?“

„Will dr de moren eppis verzelle, aber müosch de 's Muil halte; wäisch, i mecht niämer verdächtige. Güot Nacht!“

So löste eine Vermutung die andere ab, und über dem nächtlichen Frieden des Dorfes schwebte wie ein unheimliches Gespenst die bange Frage: Wer wars? Wer wird das nächste Opfer sein? Der Alte oder Jener?Oder vielleicht auch ein vorlauter Plauderer oder unfreiwilliger Zeuge?

Vor dem kleinen Häuschen des Wildhüters wartet Klara auf den Leichenzug. Sie ist bleich, aber gefaßt. In der niedrigen Stube drinnen stellen die Träger ab. Sie kniet nieder und betet; schwer atmet ihre Brust; unter ihren Wimpern glitzert es, aber sie führt keine dramatische Szene auf, wie man es oft sieht, wo der Glaube nicht tröstet, weil eben keiner vorhanden ist. Der Wildhüter fertigt die Träger ab; sie nehmen keinen Lohn; einem angemessenen Trinkgeld sind sie aber nicht abgeneigt. Sie beten auch noch ein Vater unser und gehen. Der Alte zündet eine Laterne an, um noch in den Stall zu zünden. Er weiß zwar, daß seine Nachbarin, die Frau Ambauen, in seiner Abwesen

4 []heit den Stall gut besorgt, aber man kann ja nie wissen. Es ist aber alles in Ordnung; ein Zieglein meckert ihm zutraulich entgegen und er scheint es zu verstehen:

„Jo jo, gäll, Gibi, dr Hansi chunnt nimme“ und jetzt war er wieder bei seinen Gedanken; er setzt sich neben die Laterne auf die Stallbank und starrt vor sich hin, wie lange,weiß er selber nicht. Plötzlich besinnt er sich wieder und geht in die Stube zurück. Noch betet die Klara dort. Jetzt steht sie auf und hilft ihm die Aufbahrung herrichten. Dabei fällt der Filzhut des toten Jägers zu Boden;sie bückt sich um ihn aufzuheben, und gewahrt dabei das Sträußchen Edelweiß mit Männertreu. Er hatte also doch noch an sie gedacht;das war sein letzter Gruß an sie. Ehrfurchtsvoll,wie vor einer Heiligenreliquie kniete sie nieder, löste den Strauß vom verschwitzten Bande los und heftete ihn mit zuckenden Fingern an ihr Mieder sein letzter Gedanke, Männertreu!

Bald war die Leiche aufgebahrt; man mußte sie schon jetzt in den Sarg legen, weil sie vom schrecklichen Sturze so arg entstellt war. Klara hatte bereits zwei Kerzen angezündet und stellte ein Kruzifix mit Weihwasser dazwischen.Dann ging sie fürsorglich in die Küche und machte dem armen Alten ein warmes Essen,sonst hätte er wohl noch tagelang nicht an sich selber gedacht. Während er gedankenlos aß,legte Klarga ihren Arm um seine Schulter:

3*[]„Vater, ihr sind iäz jo ganz eläi uf der Wält gällid, i will iäz oi ywi Tochter sy und eschly fir ech sorge, sischt dänkid ihr jo nie an ych sülber.“

Da schien das Essen ihn zu würgen, und er blickte sie an so weich und so traurig, als ob er überhaupt nicht böse blicken könnte. Ja,das war für ihn wieder der erste Sonnenstrahl nach entsetzlicher Gewitternacht!

„Klerli“, sagte er fast mit Kinderlallen,„Klerli, jo, vergiß mi nid, gäll.“

„Gwiß nid, Vaterli!“

Was vermag doch nicht ein herzig gutes Wort! Menschenzunge, was für ein wunderbares Instrument bist doch dul!l Bald eine brennende Lunte, welche den Weltenbrand entzündet, ein vergifteter Dolch, schneller wirkend als das Gift der indischen Kobra, bald die erlösende Sonde, welche schonend liebevoll das langverjährte Geschwür öffnet, bald die goldene Brücke, über welche der Engel der Gottesund Menschenliebe geschritten kommt!

Mitternacht war längst vorbei, als Klara leise „Güot Nacht“ sagte. Bald erloschen in Beckenried sämtliche Lichter wieder, welche Sorge oder Neugierde angezündet hatte bis auf eines, das bei Wildhüters. Dort hielt der alte Murer bei seinem Sohne die Totenwacht.Zusammengekauert saß er da; nicht einmal den Stutzen hatte er aufgehängt, sondern quer über seine Knie gelegt; seine Lippen bewegten 86 []sich. Betet er? Hin und wieder wohl; doch mehrmals horcht er nach dem Fenster hin, welches gegen die Alpen hin geöffnet ist. Glaubt er vielleicht von dort her gerade in dieser Nacht einen Schuß zu hören? Wärs nicht gerade jetzt, gegen Morgen, günstig für, für Jenen? Bei der Seelenruhe seines Sohnes!Er würde unverzüglich gehen! Aber es blieb stisl!

Am folgenden Tage kam Pfarrer Käslin,um den Alten nochmals zu trösten und die Formalitäten zu erledigen. Bevor er ging, sagte er:„Wärs nid besser, Muirer, ihr wirdid s'Wildhieteramt imene Jingere iberloh und drhäime ne chli gwerbe, ihr chenid doch nimme güot beides ha, sit dr eläi sind?“

„Ihr händ rächt, Herr Pfarrer, beides isch z'vill fir mich eläi, aber i ha im Sinn, s'Land z'verchoiffe!“

„Nid liäber umkehrt?“

„Näi, Herr Pfarrer.“

Pfarrer Käslin sagte nichts mehr und ging.Er wußte, daß auch kein Erdbeben den Alten in seiner Meinung erschüttert hätte.

Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß einzelne Stände, welche sich viel mit Schneiden und Schlachten abgeben müssen, wie z. B. Fleischer und Tierärzte, ein ganz eigentümliches Grauen vor Menschenblut haben. Es gibt Metzger, die mit einem gutgezielten Streiche einen ausge

57 []wachsenen Stier niederschlagen und beim Anblicke eines blutenden Schnittes an einem Finger schwach werden. Eine solche Natur schien auch der Kaspar Imbühl zu sein. Seine Hauptbeschäftigung war der Vieh- und Käsehandel. Er besaß auch ein kleines Gütchen,benutzte aber dessen Erträgnisse nur zum vorübergehenden Unterhalte von Vieh, das er von fremden Märkten heimbrachte. Seine erhandelte Ware ging gewöhnlich durch das Botenschiff nach Luzern auf den Wochenmarkt. Er trieb sich deshalb viel bei den Bauern und Aelplern herum und war bei ihnen ein gern gesehener Gast, zumal er ihnen bei dringlichen Gelegenheiten, wie z. B. im Heuet, bereitwillig aushalf. So war er überall und nirgends.

Am zweiten Tage nach dem Tode des jungen Wildhüters kamen die Nachbarn und Freunde nach altehrwürdigem Brauche im Trauerhause zusammen, um für die Seelenruhe des Verstorbenen zu beten. Stube, Totenkammer und Küche waren von Betern überfüllt, so daß man sich drängte. Selbst von der Alphütte Tschiferenegg waren der Michel und der Handknab gekommen. Murers Nachbar,Ambauen, betete den „Psalter“ vor. Wie wenn der laue Föhnwind in die Kronen der Eichem und Wettertannen füährt, so raunten die tiefen Stimmen der Männer. Wie viel schöner und tiefsinniger, und sagen wir auch.wie viel heilsamer für den Toten ist doch solch

88 []ein letzter Freundesdienst als die offiziellen Kondolationen, Trauerkarten, Kondolenzbesuche und Grabkränze, welche dem Toten nichts nützen und doch nur für die Eitelkeit der Lebenden bestimmt sind! Und ungehört verhallt indessen der Wehruf aus dem Jenseits: „Erbarmet euch meiner, erbarmet euch, wenigstens ihr,meine Freunde!“

Da entstand eine Bewegung unter den Betern. Dem Imbühl schien unwohl zu werden;er war totenblaß und atmete schwer; Schweißtropfen standen auf seiner Stirne. Man wandte sich zu ihm, und der Michel fragte:

„Was isch dr?“

„Lüog dert, dert!“ Er zeigte auf den Sarg.

„Was isch? J gseh niid!“

„S' Blüot drückt dure! En Tropfe isch abe gfalle!“

Jetzt sah's der Michel auch. Wirklich war unter dem Kopfende des Sarges ein Tropfen Blut am Boden. Der Imbühl erhob sich,schaute mit weitgeöffneten Augen nach dem Sarge und ging mühsam hinaus. Damit war der Zwischenfall abgetan; nur der Murmolter grunzte in seiner bescheidenen Ecke:

„Dä machet mer denn unbedingt zum General, wenn d'Franzose chemid!“ Mancher mußte trotz der Andachtsstimmung ein Lachen verbeißen. Der Michel aber drückte ein Auge zu und grinste: „Näi, näi, är iberchunnt en wichtigere

F []Poste: Mi Wyber wänd jo oi mit, wenns losgohd, und wär wett de zü de Chinde lüoge?“

Nachdem die Beter sich verzogen hatten,wachte Klara bei dem Toten. Sie hätte es nicht anders getan. Der Wildhüter hatte ja schon zwei Nächte nicht mehr geschlafen, und man sah es seinen tiefliegenden Augen an, daß der Körper seine Rechte verlangte. Sie wachte ganz allein, das tapfere Klärchen; denn der reine Glaube ist frei von Aberglaube und Gespensterfurcht. In dem Maße, wie sich die Gläser des Glaubens trüben, sieht das Auge Phantasiegestalten.

Am dritten Tage war Beerdigung. Was Beine hatte und halbwegs gesund war, nahm teil daran. Ein nicht enden wollender Trauerzug folgte der Bahre; und sie beteten wieder,die unmodernen, rückständigen Leute. Nur zwei Vertreter der Regierung mit weißen Halsbinden und Spitzen an den Stumpenhosen gaben sich gebildeter: Sie debattierten über die Frage, wo der Frühschoppen einzunehmen sei.

Pfarrer Käslin segnete das Grab ein. Unmittelbar neben ihm standen der Wildhüter und Klara. Man sah ihnen an, daß ihre Herzenswunde nochmals aufbrach, aber sie blieben starb und stimmten kein heidnisches Totengeheul an; der Glaube an ein Wiedersehen hielt sie aufrecht.

Pfarrer Käslin sprach noch ein herzliches Abschiedswort: Er starb als Opfer der Pflicht!

70 []Auch das ist ein Tod fürs Vaterland, ein Tod auf dem Felde der Ehre. Kein anderes Wort hätte den Alten so trösten können wie gerade dieses: Sein Sohn gefallen auf dem Felde der Ehre!

Dann sprach der Pfarrer noch ein ernstes Wort von der ungezähmten menschlichen Leidenschaft. Und in den hintersten Reihen stand der Murmolter wie der Zöllner im Evangelium, und er klopfte an seine Brust und sprach:„Herrgott, sei mir armen Sünder gnädig! Ich wäiß wohl, me sett nid aber hed denn dr Herrgott 's Wild nur sir d'Herre erschaffe?“

Die Schützen lösten dem toten Jäger eine Salve, und dreimal senkte sich die Fahne Nidwaldens über seinem Grabe.

Wenige Toge nach dem Begräbnis des jungen Murer wurde das Dorf von der Neuig-keit überrascht, daß der alte Wildhüter sein Heimwesen dem Nachbar Ambauen verkauft und sich nur den „Schlies“ vorbehalten habe.

Vald kamen heiße Tage; die tosenden Wildbäche brachten das letzte Schneewasser und die Alpen ergrünten bis zur „Wildi“, d. h. bis in die Region, wo jeder Strauchwuchs aufhört und das Edelweiß blüht.

Eine gewitterschwüle Nacht hat sich über die Alpen gesenkt. Im fernen Westen wetterleuchtet es hin und wieder. Bald wird Mitternacht vorüber sein, die Zeit, wo Jäger und Wilderer vom Tale oder von der Alphütte aufbrechen.

41 []Man hört fernes Rollen; das Wetterleuchten wird häufiger. Es gibt nichts Großartigeres auf dieser Welt, als wenn der Allmächtige einem Menschlein im aufflackernden Wetterleuchten die Alpen zeigt. Es ist, als ob bei jedem Aufleuchten eine neue Welt erschaffen würde, die vor einer Sekunde noch nicht war.Schon blitzt es wieder auf, ehe der Donner des letzten Strahles verrollt ist. Was ist dort?Dort, unter einer tausendjährigen Wettertanne am Haldigrat steht einer, auf sein Gewehr gestützt. Das bläuliche Licht des fahrenden Blitzstrahles zeigt das braune Gesicht des Wildhüters. Er schaut ins heraufziehende Wetter, unbeweglich, als wäre er mit der Wettertanne dort aufgewachsen. Seine Lippen scheinen sich zu bewegen; betet er oder redet er mit der alten Wettertanne? Heiße Windstöße beugen die Wipfel der ächzenden Tannen, als wollten sig untersuchen, wo der Donnergott seine Blitze am besten anbringen könne. Da bricht es los, die Grundfesten der Alpen scheinen zu wanken; bläuliche Blitze zeigen im ununterbrochenem Aufflackern die leuchtenden Bergspitzen und ihre unheimlichen Schatten. Krachend hallt das Echo der Donnerschläge an den Felswänden hundertfach wieder. In das ferne Rollen des verhallenden Donners fahren neue Schüsse. Fern im Westen, in der Gegend des Arvigrates, zeigt ein bläulicher Strahl dem scharfen Auge des Wildhüters eine brennende

*5 []Alphütte; ihre glühend auffahrende Rauchsäule rötet die wildzuckenden Wolkenballen. Im Tale läutet es über Wetter; die Alpenherden sind wach geworden und läuten mit; das Vieh brüllt; zuckende Blitze fahren zündend in die Wälder nieder. Der Wildhüter zieht den Hut:

In Mseer liebe Froie Name,

Bhiet alls vor Sind und Gfahren! Ame.

Sant Chlois und Wändel, Sant Jakob,

Biwahrid ys zu Gottes Lob!

Schitz yses Veh und yses Dach,

Dü liebi Froi vo Rickebach!

Der Alte steht wieder wie aus Erz gegossen;keine Furche seines braunen Gesichtes zuckt beim Niederfahren des grünlichen Wetterstrahls. Er achtet kaum der tosenden Elemente; das alles ist ihm nichts Neues; er denkt an etwas anderes, und auch seine Gedankenwelt ist eine von wilden Blitzen durchzuckte Wetternacht! Wehe dem Mörder!

Das Gewitter verzieht sich mit Grollen gegen die Urnerberge. Bald schauen wieder milde Sterne auf die dampfenden Fluren. Ganz mählich rötet sich im Osten der Himmel, und die Sterne erblassen vor dem nahenden Morgen;es wird ein herrlicher Tag werden; da schultert der Mann dort sein Gewehr und geht.

Der Erwartete ist nicht gekommen!

73 []3. Der Wilderer im Wandschrank

Indessen drehte sich der Zeiger der Zeit über blutige Ziffern, und die Weltenuhr hatte verhängnisvolle Stunden geschlagen. Die Heldentage von Grauholz und Neuenegg hatten das alte, stolze Bern nicht vor dem Falle retten können; damit war auch das Schicksal der alten Eidgenossenschaft besiegelt. Die beispiellose Gegenwehr der Schwyzer an der Schindellegi und bei Rothenthurm hatte ihnen wohl die Bewunderung der Welt und einige politische Vorteile gebracht, aber der helvetischen Konstitution mußten sie sich doch beugen. Auch Obwalden hatte die neue Verfassung bereits angenommen.

Und nun stand nur noch Nidwalden als letzter Stamm der alten Eidgenossenschaft ungebrochen da, obwohl sich um mit dem Geschichtsschreiber zu sprechen einige schädliche Tiere an seine Wurzel gesetzt hatten. Und diese „schädlichen Tiere“ waren selbstverständlich die „Patrioten“, d. h. die Anhänger der helvetischen Konstitution, während sich die Anhänger der alten Verfassung „Vaterländer“ nannten.

Ein zähes Festhalten am alten Glauben und an den alten Rechten, ein unbeugsamer Frei

*4 []heitsdrang und der eiserne Wille, das ererbte Stammgut der Väter zu verteidigen bis zum letzten Atemzug und Blutstropfen, das war die Marke des Nidwaldnervolkes. In jedem „Länder“ steckt eine instinktive Abneigung gegen alles Fremde, weil er, durch Erfahrung gewitzigt, von „außen“ nichts Gutes argwöhnt.Schon der Nicht-Urschweizer ist ihm bald „en frende Fitzel‘. Deshalb war der „Patriot“ in den Augen des vollblütigen „Vaterländers“ein Verräter, ein „rotbärtiger Judas“.

Dieser Freiheitsdrang und der Argwohn gegen alles Fremde gelangten im Murmolter zur höchsten „Entfaltung“. Der Freiheitsdrang wurde bei ihm zur Unbändigkeit und der Argwohn zum Hasse gegen alles, was irgendwie „französelte“. Wenn er einen französischen Namen hörte, so zog er den Hahn seiner Büchse auf, um nachzusehen, ob noch genug Pulver auf der Pfanne sei.

Das geistige Haupt der nidwaldnerischen Patriotenpartei war der (helvetische) Bezirksstatthalter Ludwig Maria Kaiser. Er und seine Kumpane hatten regen Verkehr mit dem französischen General Schauenburg, mit Kantonsstatthalter Von Matt in Schwyz und mit dem von französischer Gnade abhängigen Direktorium in Aarau. Ihre Haupttätigkeit aber bestand in der heimlichen Verbreitung von „Ochsens höllischem Büchlein“, welches bekanntlich die Grundsätze der helvetischen Verfassung ent

5 []hielt. Auch in Luzern hatten sie ihre Handlanger: Wenn die Nidwaldner vom dortigen Wochenmarkte heimkehrten, so fanden sie unter den eingekauften Waren nicht selten das berüchtigte Büchlein: „Entwurf der neuen helvetischen Staatsverfassung“ oder kurzweg das „Büchli“ genannt. Und das obrigkeitliche Verbot stachelte die Neugierde an, nicht nur bei den Weibern. So glaubte man bald den Boden so weit geebnet, daß Solothurn die Nidwaldner in aller Form einlud, sich der Konstitution zu beugen; denn in Solothurn hatte es von jeher immer stark „gefranzöselet“ und zwar deshalb, weil die Aare aus dem Westen viel Geld und blaues Blut verfrachtete.

Nahe dem Flecken Stans war ein schönes Patrizierhaus in freundlicher Einsamkeit, das „kleine Löhli“ genannt, und dieses wird heute noch als das Haus bezeichnet, wo die ersten geheimen Zusammenkünfte für die neue Konstitution stattfanden. Alle „besseren“ Anhänger der „Aufklärung“ hielten dort ihre Winkelversammlungen. Ganze Kisten voll „Schandbüchlein“ kamen dorthin und von dort mit Umsicht unter das Volk.

Ein föhniger Sommerabend. Ein heimliches Flüstern weht durch die Wipfel der alten Linde hinter dem Landhaus „Klein Löhli“.Und unter der Linde ist ein trauliches Bänklein und auf dem Bänklein sitzt ein Pärlein und „Er“ ist der Murmolter! Sie ist die

[]Magd des Hauses, ein hübsches, dummes Ding,wie denn gar oft die körperliche Schönheit eine kleine Entschädigung für die Dummheit ist.

Soeben entspinnt sich dort im heimlichen Geflüster folgendes Gespräch:

„Lüog, Franz, wie scheen dr Mo uifgohd,gäll, wie scheen!“

„En dumme Bleger isch er

„Wär?“

„Dr Mol“

„Worum?“

„Aer süocht d'Sunne, und chunnt immer,wenn sie scho undere 'gangen isch!“

„Ujeh, was sett er de mache?“

„Ae zitlang nimme cho, dänn wird sie bald i ehm nohloiffe, wie anderi Wyber oil“

Da bekam er einen Stupf.

„Wieschte! D'Mäitli loiffe doch i de Büobe nid nohl“

„So lang as d'Büobe i ehne nohstrichid,allwäg nid, näil“

„Wenn chuntsch wieder äinisch, Murmi?“

„Am Sunntig z'Obe!“

„Ujeh, do chani nid züe dr uife cho!“

„Worum niid?“

„Wäisch, i darf sischt niid säge i müos de d'Herrschafte bidiäne, wo almig chemid.“

Der Murmolter horchte auf.

„Was sind denn das fir Fitzle?“

„Aber Franz, du bisch doch immer drügliich!

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77 []Das sind fäini Härre mit wiiße Halsbinde und Spitzli a de Stumpehose!“

Da konnte der Murmolter nicht mehr sitzen bleiben und ging erregt hin und her.

„Potz verr.., s' stimmt also, was mer scho lang säid!“

„Aber gäll de säisch niid, Franz?“

„Wemmer das chäibe Spatzenäst emol chennt uisnäh! Was rede denn die Fitz ... die Spitzlihärre?“

„Oh, i verschtoh nid alls eppis vom Handel i ha näiwe gheert, si welle franzeseschi Ochse i d'sSchwyz yfiäre und d'Nidwaldner wellet ne käis Fläisch abnäh ...“

Lang schaute er sie an und vergaß den Mund zu schließen; dann platzte er heraus:

„Aaah sooo!! Jo so, Chiäh bruichit's allwäg nid z'bringe, mer sind vorläifig noh verseh! 7 hm, hml“

Er setzte sich wieder zu ihr, nahm sie bei der Hand und gab ihr einen überaus zärtlichen Blick der Gauner!

„Mineli!“

„Franzi?“

„Chennt i nid emol dä Saal gseh, wo die Fitz ... die Härre zäme chemid?“

„Jo, aber scheen still, die andere schlofe scho chumm!“

Leise ging sie voran ins Haus, er noch leiser hintendrein; mehrmals mußte sie zurückschauen,um sich zu überzeugen, daß er auch wirklich

78 []folge; jetzt war er wieder der schleichende Jäger. In der Küche holte Minna eine Repsöllampe, ging damit durch den Gang bis vor eine Türe und gab dort dem Murmolter einen Schlüssel; geräuschlos öffnete er und trat in den Saal; dort nahm er selber die Lampe zur Hand und zündete den Wänden entlang; ziegelrote Patriziergesichter mit Zopfperrücken schauten aus alten Oelgemälden verwundert und selbstgefällig auf ihn nieder; doch die schienen ihn wenig zu kümmern. Plötzlich aber blieb er stehen und fragte:

„Was isch das“

„Es Wandgänterli.“ (Wandschrank.)

Der Schlüssel steckte. Der Murmolter nahm ihn heraus, befeuchtete ihn mit Repsöl und öffnete den Schrank so geräuschlos, daß nicht einmal die knuspernden Mäuse hinter dem Getäfer mit ihrer Arbeit innehielten. Der Schrank war fast leer; einige verstaubte Bücher und Teppiche lagen darin.

„Um weli Zyt cheme die „Härre“ almig?“

„Ersch eppe so um Zächni. Mängisch gehnd ersch am Morge friäh furt.“

Der Murmolter strahlte.

„Mineli!“ „Jchume

„Jchume am Sunndig z'Obe!“

„Am Sunndig z'Obe?“

„Jo, eppe so um nini, und denn müosch mi i das Gänterli inespeere!“

„Jesses Gott! Was dänkisch oi,

J []Wenn's uischüm, i wird stärbe, so miäßt mi schäme! Näi, Franz, nur das niid!“

Da stellte der Murmolter die Lampe auf den Tisch, packte die Minna unversehens und gab ihr einen „Schmutz“, daß die Mäuse jetzt wirklich aussetzten.

„Gäll, Mineli, de machsches doch, i miär z'Liäb?“

„E Gotts Name! Aber gäll, Franzi, de hesch di de scheen still und säisch niämerem nid?“

Er konnke nicht mehr antworten; denn man hörte in einem entfernten Zimmer eine Türe gehen und es schritt jemand in den Gang hinaus.„Häiligt Müottergottes vo Rickebach!“stieß die Minna in Todesschrecken hervor. Der Murmolter aber war keinen Augenblick verlegen:

„Säg, dr Wind heig es Fänster gschletzt, und du sygisch es goh züomache!“

Damit hatte er bereits einen Flügel geöffnet, schwang sich aufs Sims und turnte fast geräuschlos über die alte Rebe hinab. Unter einem Birnbaum blieb er stehen und bemerkte,daß die Sache ihren normalen Verlauf nahm.

Am folgenden Sonntag nachmittag probierte der Murmolter an einem Birnbaum seinen Schlagring und er tat es so kunstgerecht, daß die Rinde in großen Stücken davonflog. Nehmt euch in Acht, ihr Herren mit weißen Halsbinden und Spitzenhosen!

80 []Nach Eindämmerung marschierte er auf Umwegen zum „Klein Löhli“. Unter der Linde erwartete ihn schon sein „Mineli“. Sie suchte ihm nochmals voller Angst sein Vorhaben auszureden, hielt aber schon den Schlüssel zum „Saale“ in der Hand.

„Witt's nid liäber underwäge loh, Franzi?“

„Bimäich nid!“

„Aber s'chennt doch eppis passiäre!“

„Gwiß aber mir nid!“ Und da hatte er recht! Was waren im „Ernstfalle“ein paar „bessere“ Herren gegen einen Murmolter mit Schlagring!

Sie schlichen wider durch den Gang in den „Saal“. Dort öffnete sie den Schrank mit zitternder Hand und er stieg hinein. Seine schwarzen Augen glänzten vor Wonne. Mit einem zärtlich sein sollenden Blicke streckte er die Hand heraus:

„Adeh Mineli!“ .*

„Güot Nacht, Murmi, aber gäll de bisch emel still?“

„Jo, jo, Mineli, und wenn denn eppen äine will d'Nasen ineha, so sell er de z'ersch ne Muilchorb driberaziäh!“ Damit rieb er sein Gesicht mit Kohle ein, dressierte seine krausen Locken über die Stirn und den wilden Schnurrbart nach unten. Sogar die Mina entsetzte sich:

„Aber Franzi, jetz bisch jo äine wie dr Luzifähr underem Michael, wäisch dert ufem Altar.“

21 []Der „Luzifähr“ aber machte es sich bequem auf den alten Teppichen und zog von innen die Türe zu, Mina verschloß von außen. Nach einigen Augenblicken klopfte sie, machte die Schranktüre nochmals auf und reichte dem Internierten eine Flasche Wein nebst Brot und Schinken herein.

Er nahm es schnalzend in Empfang und grinste:

„Hurrah Mineli, gäll, e so e scheene Kanarievogel hesch no niä. gfüotteret; är pfiift denn wieder, wenn er z'Nini will!“

„Ställ! 's chunnt äine!“ Die Türe flog zu, und Minna huschte fort.

Der Eingelochte aber kneipte behaglich weiter und hörte dabei ganz deutlich, wie die große Stube sich mählich füllte. Zwei kannte er an den Stimmen: Den Distriktsstatthalter Kaiser und den Schnyderkari! Man schien sich zu setzen, und in das Gläserklingen mischte sich der gedämpfte Trinkspruch: Vive la liberté! Es lebe die Freiheit! Der Wilderer aber erhob die Flasche mit dem frommen Wunsche:„Dr Tiifel sell ech hole, allzäme, aber ersch wenn sy Großmüotter wieder drhäim isch!“

Dann hörte er die unvermeidlichen Phrasen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit,von der Finsternis der Rückständigkeit und von der Morgenröte der Aufklärung. Dann aber vernahm er Wichtiges!

Distriktsstatthalter Kaiser verlas einen

82 []Brief von Regierungsstatthalter Vonmatt in Schwyz, worin das Direktorium in Aarau den Patrioten die vertrauliche Mitteilung machte,daß Nidwalden bald vor die Alternative gestellt werde, entweder den Eid auf die neue Verfassung zu schwören, oder den Einmarsch der Franzosen zu gewärtigen. Sie sollen sich aber alle Mühe geben, das Volk auf gütlichem Wege zur bedingungslosen Annahme der Konstitution zu veranlassen. Sie, nämlich die Patrioten,würden sich durch diese patriotische Tat den Dank des Direktoriums und die Berücksichtigung bei Besetzung der in der Konstitution vorgesehenen Aemter und Würden sichern!

Dem Murmolterwurden fastdieOhren länger.

Aber es sollte noch „besser“ werden! Denn im Anschlusse an den verlesenen Brief hielt der helvetische Statthalter folgende Rede:

„Bürger, Patrioten! Wie euch bekannt, ist die Geistlichkeit von Nidwalden das größte Hindernis zur bedingungslosen Einführug der Konstitution, und das Volk ist eben nicht aufgeklärt! Deshalb müssen wir zuerst den Trotz der Geistlichen brechen und das Volk durch Massenverbreitung des „Büchleins“ dem Lichte der Aufklärung näher bringen. Ich unterbreite euch deshalb folgenden Vorschlag:

Wie euch noch erinnerlich, wurde hier in Stans vor vier Jahren durch den Jesuitenpater Herzog aus Luzern eine sogenannte Mission abgehalten. Im Lichte der modernen Wis

29 []senschaft ist das selbstverständlich nichts weiter als eine alte Verdummungsmaschine aus Großmutters Rumpelkammer, kommt uns aber für den Moment sehr zu statten. Pater Herzog hat damals, wie ihr wißt, bei Klerus und Volk einen tiefgreifenden Eindruck hinterlassen. Sie schauten zu ihm auf wie zu einem zweiten Savonarola, dem wahnsinnigen Mönche von Florenz. Nun aber, meine Herren Bürger, hat sich dieser nämliche Pater Herzog für die helvetische Konstitution und den Bürgereid ausgesprochen!“

„„Bravoooooh! Vive la libertél““

Dem Murmolter aber stand beinahe der Verstand still! War denn so etwas möglich Der Distriktsstatthalter aber fuhr fort:

„Wie wär's nun, Bürger Patrioten, wenn wir beim nächsten Priesterkapitel, das hier in Stans stattfinden wird, den Pfaffen diesen Pater Herzog als Missionär der Freiheit auf den Hals schicken würden?“

„Ausgezeichnet! Unvergleichlich! Allons en-fants l“

„Wenn die „Schwarzen“ auf ihn hören, gut!Dann ist das Volk ipso facto auf unserer Seite!Wenn sie nicht auf ihn hören, dann sagen wir dem Volke: Schaut, vor vier Jahren haben euch die Schwarzen gesagt: „Auf diesen sollt ihr hören!“ Und nun verbieten sie es euch! Merkt ihr noch immer nicht den Schwindel und das Gängelband?“

84 []Begeisterte Zustimmung! Der Vorschlag Kaisers wurde zum Beschlusse erhoben. Dann hörte der Murmolter einen Stuhl rutschen und eine unbekannte Stimme mit luzernischem Akzent sprach:

„Freiheit! Gleichheit! (So begannen damals die offiziellen Erlasse und Reden).

Bürger Patrioten!

Wenn wir mit der fein ausgedachten Anregung des Herrn Pardon! des Bürgers Kaiser sichern Erfolg haben wollen, so müssen wir vorher ein Exempel statuieren und die größten Hetzer unschädlich machen. Ich meine die acht Proskribierten, welche immer noch nicht ausgeliefert sind: Pfarrer Käslin, Helfer Lussy,Kaplan Kaiser, Stans, Melchior Käslin,Mühle, Beckenried, Kaspar Lussy, Mettenweg,Anton Joller, Höfli, Stans, Meinrad Amstad,Hofstätten, und Josef Scheuber von Wolfenschießen. Von diesen geschworenen Feinden der Freiheit ist noch keiner abgeliefert worden, und sie werden uns bei Ausführung unseres Planes ernstliche Schwierigkeiten bereiten. Deshalb stelle ich den Antrag, diese acht noch vor Abhaltung des Priesterkapitels mit List oder Gewalt einzufangen und dem Direktorium nach Aarau abzuliefern.“

„Mit Gewalt geht's nicht“, sagte der Distriktsstatthalter, „das Volk würde sich wie rasend erheben und seine „Lieblinge“ verteidigen. Und doch muß etwas geschehen! Es käme

7 []also nur die List in Betracht. Ich bitte um Vorschläge!“

Die vorige Stimme sprach wieder:

„Sehr einfach: Acht gute und verläßliche Patrioten müssen sich hergeben, diese acht Delinquenten unter dem Vorwande eines Geschäftes oder einer freundlichen Einladung nach Rotzloch in die dortige Pinte zu locken. Dort stellen wir eine angemessene Polizeiwache in Zivil auf, welche die Geladenen in Empfang nimmt, der Reihe nach, wie sie kommen. Vorsichtshalber kommt die Polizeieskorte in Zivil auf einem Lastschiff, welches in Rotzloch eine Ladung Kalksteine oder Bauholz einnimmt!“

Es meldeten sich sofort sieben für die Judastat, die Geächteten nach Rotzloch zu locken.

„Einer ist noch nicht „versorgt“, sagte der Distriktsstatthalter, „nämlich Kaplan Kaiser hier in Stans, mein lieber Cousin! Wer will diesen übernehmen?“

„Ich!“ erklang die Stimme des Schnyderkari. Der Murmolter griff nach dem Schlagring.

„Wie gedenken Sie diesen zur Strecke zu bringen?“ fragte Kaiser.

„Sehr einfach! Nach Einbruch der Nacht gehe ich in den Pfarrhof und melde, es sei in Rotzloch beim Holzfällen ein Knecht vom Allweg verunglückt und verlange noch dringend nach Kaplan Kaiser!“

Die nun folgende Stille bewies, daß selbst

86 []die „Patrioten“ von der Schurkenhaftigkeit dieses Anschlages betroffen waren.

Wollten Sie diese Tat wirklich vollbringenꝰ“ fragte dann der Statthalter sehr zweideutig.

„Unbedingt! Für die Freiheit ist mir kein Opfer zu groß und Mut hab' ich!“

„Bist doch 'n schlächte Ch...!“ entfuhr es dem Internierten, aber im Geräusche der Stimmen ging der Ausruf unter.

„Dafür aber hätte ich ein Bitte!“ ergriff der „Kari“ nochmals das Wort.

„Sie haben nur zu wünschen!“ entgegnete der Statthalter mit herablassender Stimme.

„Es gibt außer diesen acht Geächteten noch viele andere Hallunken; aber der niederträchtigste und gemeinste ist ein gewisser Franz Wyrsch aus Beckenried, ein Wilderer, Dieb und Mörder, ein ganz und gar verkommenes Subjekt; der muß unbedingt auch eingelocht werden!“„Potz verr ... Ch...!“

Die Selbstbeherrschung war dem heißblütigen Wilderer durchgebrannt. Wie das Fauchen eines gereizten Katers zischte es an die Ohren der jäh aufhorchenden Patrioten.

„Horch!“

„Was war das? Wo war's?“

„Es hat einer gehorcht!“ stammelte der Schnyderkari mit zitternder Stimme.

„Wo Wo?“87 []„Vor dem Fenster!“ , Nein, vor der Türe!“

Man schaute nach, vorsichtig und ängstlich;man öffnete Türe und Fenster Niemand,alles still Totenstille!

Da rief der Kari mit feuchten Augen: „Ich ... ich glaube..:. es war, es war ..im Schranke dort dort im Gänterli!“

„Schaut einmal nach!“ gebot der Statthalter. Die Minna war wie zu Eis erstarrt;schreckensbleich schaute sie mit weitgeöffneten Augen nach dem Schranke. Schon erhebt sich der Nachbar Kaisers, um seinem Befehle nachzukommen, da gibt die Todesangst der Minna ihre Geistesgegenwart wieder und zugleich den gescheitesten Gedanken, der ihr im ganzen Leben je gekommen war: „Bitte, bitte!“ rief sie eifrig, „ich will schon nachsehen!“

Damit eilte sie auf den Schrank los, als befürchte sie, es könnte ihr jemand zuvorkommen.Sie drehte den Schlüssel und öffnete den rechten Flügel, aber nur handsbreit, sah den Murmolter wie einen Panther sprungbereit und schloß sofort wieder.

„Do isch niämer!“

Sie öffnete den linken Flügel, sperangelweit:

„Vilicht isch do eppis!“ Sie wühlte in alten Lumpen, als hätte sie dort einen Diamanten verloren und machte dann ein ehrlich enttäuschtes Gesicht, während ihr doch die Knie zitterten:

„Oi niid! Vilicht im Gaden obe!“

88 []Doch der Vorsitzende wehrte ab:

„Wir haben uns getäuscht; es war wohl eine Katze, oder die Diele hat geknarrt!“

Die Minna atmete wieder auf und machte sich so eifrig und geschäftig ans Einschenken,daß die Patrioten bald wieder von dem Zwischenfall abgelenkt und im alten Geleise waren.Man bestimmte noch als Termin für die Einlieferung der Geächteten den nächsten Mittwoch.Distriktsstatthalter Kaiser schloß den offiziellen Teil mit der Aufmunterung, das „Büchli“ bei jeder passenden Gelegenheit unter das Volk zu werfen und für das kühne Unternehmen am nächsten Mittwoch alle Vorsicht und Klugheit walten zu lassen.

Der Murmolter aber rieb sich grimmig die Hände: „Wartid, ihr“ hier folgte kein Stoßgebetlein „das isch eppis fir yse Franz!“

Als die letzten „Patrioten“ mit dem Gruße:„Vive la libertèé!“ sich verzogen hatten, öffnete Minna die Schranktüre, und der Murmolter flog mit einem Tigersprunge heraus, daß sogar die hübsche Kerkermeisterin entsetzt zurückwich.

„Bisch was isch dr?“

„Hurrah, Mineli! Du bisch doch vill gschiider weder as i g'mäint ha!“

Stolz auf dieses „Lob“ reichte sie ihm aus einer langhalsigen Flasche ein Glas vom Bessern, und der sprudelnde Muskateller schien dem Wilderer nicht übel zu munden; denn er

29 []schenkte sich noch mehrmals selber ein, bis er jemanden durch den Gang kommen hörte.

Ein kühner Sprung aus dem Fenster brachte ihn wieder in Sicherheit. Und wieder postierte er sich unter einen Birnbaum. Wer mag wohl zurückgekommen sein?

„Der Schnyderkari! Dä mäinäidig Bleger!“

Was wollte denn der doch? Mit der Minna schön tun, selbstverständlich! Er rieb sich behaglich die Hände und machte einen ritterlichen Knix um den andern:

„Ah, Fräulein, Demoiselle Minna, kann ich Ihnen vielleicht noch etwas behilflich sein? Sie haben sich so sehr abgemüht, so fein serviert!Darf ich vielleicht Bitte, Demoiselle?“

Der Murmolter verstand durchs offene Fenster jedes Wort; denn sein Gehör war das eines Adlers.

Die Minna aber lachte schelmisch; jetzt war sie ein echtes Weib: Sie gönnte dem Murmolter die Eifersucht und dem Schnyderkari die unvermeidliche Katastrophe, die ihm vom Murmolter drohte. Ein Blick durchs Fenster zeigte ihr dort zwei blitzende Augen. Mit zuckersüßem Lächeln erwiderte sie scheinbar verschämt:

„Aber oi, Herr Marschang-Taliör!“

„Oh, bitte, bitte, mein liebes Pardon, Demoiselle Minna, verfügen Sie über meine Wenigkeit Ich bin, ich bin so glücklich ja, Ihnen, Verehrteste hm, meine Ritterdienste “

90 []„Ihr chennet mer jo hälfe abruimel“

Damit übergab sie ihm einen riesigen Zinnteller und stellte darauf einen ganzen Wald von leeren Gläsern und Flaschen. Als sie für die letzte leere Flasche darauf noch Platz suchte, unternahm er das kühne Wagnis, mit der Linken den schwerbeladenen Teller zu halten und mit der Rechten die Minna in die holderglühende Wange zu kneifen

„Aber näi oi, Herr “

Da erscheint unter dem Fenster ein schwarzes Gesicht mit feurigen Augen:

„Mäinäidige Fitzel! Wart i will dr!“ Ein Schreckensschreil Der Schneider hatte ihn ausgestoßen und „Da sanken die Türme von VBabylon!“ Prasselnd und klirrend fiel der Zinnteller samt Glasgeschirr zu Boden.

„Jesses Gott!“ schrie die Minna entsetzt. Die Katastrophe und das totenblasse Gesicht des Schneiders waren so vollständig, daß sogar das wildbehaarte Gesicht am Fenster wie versteinert schien. Der Schneider aberschlotterte und stotterte.

„Dr... Dr... Ti Ti Ti Tiifl! Vater unser där, där du bisch im Himmel ..“Und da war das Gesicht am Fenster plötzlich verschwunden, aber nicht wegen der Beschwörungsformel des Schneiders, sondern wegen der herbeistürmenden Hausleute und zurückkehrenden „Patrioten“.

Der Schnyderkari aber stand da wie ein Kind im Waschzuber, schlotternd und zähne

J7 []klappernd; noch immer hielt er den linken Arm ausgestreckt, als wäre der Zinnteller noch darauf.

„Wa isch? Wa het's gäh!“ fragte man durcheinander.

„Jesis Gott!“ kreischte die Herrin auf, als sie den Gräuel der Verwüstung sah. „Ums Himmels Wille! Was hend ihr oi gmacht?“

„Dr Dr Tiiiifl!“ buchstabierte der Kari wieder, schreckensbleich. auf das Fenster starrend.

Staunen, Verwunderung, allgemeines Gelächter der Patrioten.

„Teufel? Was? Gibts ja nicht!“ spottete lachend ein aufgeklärter Luzerner Herr, trat aber doch vorsichtshalber einige Schritte vom Fenster zurück; es war so unheimlich finster dort draußen, und ein leiser Wind raschelte in der Krone des alten Birnbaumes.

„Gwiß, gwiß! Aes isch en gsy!“ beteuerte der Schneider nochmals.

„Minna, was isch gsy!“ fragte die Hausherrin resolut.

„J ha niid gsehl“

Und da war der Schnyderkari erst recht überzeugt, daß es der Teufel gewesen sei; denn wäre es ein Mensch gewesen, so müßte die Mainna ihn ja auch gesehen haben! Aber nur er, er allein hatte ihn gesehen!

Der Schneider mußte sich setzen, und man reichte ihm ein Glas Wein. Kopfschüttelnd zogen die Patrioten und Hausleute wieder ab,

42 []Minna hintendrein, um Besen und Schaufel zu holen. Der aufgeklärte Hosengeometer war für den Augenblick wieder allein; er hatte kaum beachtet, daß die andern gegangen waren und starrte durchs Fenster ins unheimliche Dunkel.

Der Murmolter aber, der den ganzen Vorgang beobachtet hatte, fand sich anscheinend ganz famos in die Rolle eines „Luzifähr“;denn kaum war der Schneider allein, so keuchte es wieder so hohl und geisterhaft aus der apokalyptischen Finsternis:

„Kari! Lumpehund! Bisch g'warnt! s'nächsch mol hol di!“

Entsetzt fuhr der Schneider wieder auf. Es war ihm gar nicht aufgefallen, wie tadellos der „Teufel“ „länderte“, und „Wwwrrrhhh!“machte es draußen; es war zu hören, wie wenn ein riesigen Vogel davongeflogen wäre; der Murmolter hatte aber nur sein „Ueberhämpli“(Hirtenhemd) geschwenkt. Zum Glück kam gerade die Minna wieder und traf den Kari in einem neuen Geisterstadium. Er nahm sie mit beiden Händen am linken Oberarm, starrte nach dem Fenster und stöhnte: „Dert.. dert..,är isch wieder “„Papperlapah!“ lachte die Minna fröhlich und so ungläubig, daß der Schneider wieder einigermaßen Vertrauen bekam Er blieb aber diese Nacht im „Klein Löhli“. Auch in Begleitung wäre er nicht fortzubringen gewesen, und u8 []während der ganzen Nacht brannte auf seinem Nachttischchen eine Repslampe.

Der für den schurkischen Handstreich bestimmte Mittwoch war angebrochen. Der Murmolter hatte die Geächteten alle warnen lassen bis auf Kaplan Kaiser. Er wollte wissen, ob der Schnyderkari den „Judaskuß“ wirklich wagen würde dann wehe ihm! Den andern sieben aber hatte er durch seine Freunde sagen lassen,der Einladung nach dem Rotzloch zuzusagen, mit den Verrätern freundlich zu sein, aber nicht hinzugehen und ja bis zum folgenden Tage nichts verlauten zu lassen. Das andere würde fich dann schon machen.

So wurden denn die Judasboten überall freundlich aufgenommen, ja sogar bewirtet;aber mancher soll nachher über schreckliches Bauchweh geklagt haben!

Als die Sonne hinter dem Pilatus verschwunden war, legte im Rotzloch ein schwerer Nauen an, der mit zwölf „Arbeitern“ und einem Schneider bemannt war. Man hatte auch vorher zum Scheine ein Geschäft abgeschlossen und belud jetzt das Schiff mit Kalksteinen und einigen Gerüststangen, die allem Anschein nach für einen Bauplatz in Luzern bestimmt waren. Als die Ladung fertig war, gingen die „Handlanger, in die dortige Pinte und taten sich gütlich.

So um 8 Uhr erklärte dort der Schnyderkari: „Haltet Euch bereit! Bald wird der eine

94 []oder andere anrücken. Habt Ihr genug Armbänder für einen würdigen Empfang?“

„Wui, wui!“ grinsten die braven Luzerner,die sich den helvetischen Behörden als Schergenknechte für Helvetiens treueste Söhne angeboten hatten. Dabei wiesen sie auf einen mit Stricken gefüllten Korb.

„Ich gehe jetzt!“ fuhr ihr elender Oberanführer, der Schnyderkari, weiter. „Ich werde den Kaplan Kaiser in Stans zu einem dringenden Versehgange abholen! Welcher von Euch hat den geistlichen Trost am notwendigsten?“

„Ich!“ rief einer mit rohem Gelächter und legte sich auf eine Bank. Man bedeckte ihn zum Spotte mit einem Leintuche und schüttete ihm Branntwein als Medizin ein.

„Der Pfaff wird Augen machen“, grinste der Rohling, „wenn ihm der Patient plötzlich an den Kragen fährt!“

Der Kari ging.

Es war schon Nacht, aber bereits stand der Mond über dem Rotzberg. Der Schneider hielt noch einmal inne, ehe er in die finstere Rotzschlucht einbog; die heutige Straße bestand damals noch nicht, sondern nur ein unsicherer Fußweg. Und da der Mond die offene Landschaft beleuchtete, so war die Schlucht um so finsterer. Und sein Vorhaben war auch finster,schwarz wie die Hölle! Pah! Vorwärts!Es geht für die Sache der Freiheit, und die Aufklärung kennt ja keine Gespensterfurcht!

Iu []Kühn drang er in die finstere Schlucht ein, und er pfiff vor sich her, um sich selbst Mut zu machen.

Da stieg aber der Mond höher und zauberte unheimliche Schattenbilder in den Schluchtwald hinein; dem Schneider graute bereits;er stellte sein Pfeifen ein. Von einer alten Eiche verscheuchten seine zagenden Schritte einen AUhu oder eine Krähe. Der Kari zuckte jäh zusammen, und über seinen Rücken rieselte eine kalte Welle des Grauens. Es hatte gerade so geflattert, wie am letzten Sonntag abend.Dort am rauschenden Mehlbach bescheint der Mond einen faulen Weidenstock; der Schneider aber sieht einen sitzenden Köter mit gespitzten Ohren, und die alte Buche dort streckt wie ein ungeheurer Meerpolyp ihre Fangarme nach ihm aus; die Augen gehen ihm über, und er wagt kaum mehr zu atmen; mehrmals wendet er sich um; denn es war ihm, als folge ihm jemand! Plötzlich öffnet sich vor ihm die Erde.und ein mächtiger Graben versperrt seinen Weg. Was tun? Mit dem letzten Reste seiner Energie und Geistesgegenwart nimmt er einen mächtigen Anlauf und setzt hinüber; der Graben war aber nichts anderes als der Schlagschatten einer alten Pappel. Bereits hat der geängstigte Schneider die Hälfte der Schlucht hinter sich, da entringt sich seinen blassen Lippen ein leiser Schreckensruf: Dort, dort bewegt sich wahrhaftig etwas! Es kommt auf ihn

96 []zu! „Gottlob!“ hätte er beinahe gesagt; das Ding dort rauchte und war ein ganz gewöhnlicher Mensch mit einem „Tschiferli“ (Tragkorb) auf dem Rücken. Der Schneider richtete sich strtamm auf, um jenem zu zeigen, wie er ein furchtloser Mann sei. Jener bärtige Mann aber war ein Genosse Murmolters.

„Güoten Obe!“ grüßte der Mann. „Witt no uf Stans uife?“

„He jo! Ha no es Gschäftli; mecht mer es Onkli (Ankenballen) hole; mer chunnts hiä frischer iber als z'Luzäre unte.“

„Was? Hitt z'Nacht? No äinisch dur d'Rotzschlucht dure?“ fragte der Aelpler scheinbar verwundert.

„Worum? Was isch denn hitt?“

„Quatämber isch hitt! Froifaste!“

„Und was sells drmit?“

„Du wäisch daaas nit? J dr Froifastenacht isch nid ghiir i dr Rotzschlucht; dr Teerst (wilde Jäger) jagt denn!“

„Pah! Gespenster! Huuuhl“ spottete der Kari, aber die aufsträubenden Haare wollten ihm fast den Hut vom Kopfe heben.

„Kari! Cher umm! J gib dr en güote Rot!“

Das klang gar nicht wie Spaß!

„S'git en nit, Sepp! Witt mi nur z'ferchte mache!“ versuchte der Schneider zu scherzen,aber er schluckte bereits.

„Schnyderkari! Dänk a mich! J ha di

47 []net, und d'r Schwandersepp hed i sälle Sache no niä g'loge!“ Sprach's und ging.

Nach einigen Schritten aber kehrte er sich nochmals um und rief:

„Kari! J där Nacht het dr Tiifel Gwalt iber alli Halungge!“

Das hatte viel lauter geklungen, als wenn es nur für den Schneider berechnet gewesen wäre! Das Echo an der Felswand gab den Ruf zurück.

Der Schneider ging weiter, wie von bösen Geistern gejagt.

Als er aber die unheimliche Schlucht hinter sich hatte, und der Mond die Ebene des Drachenriedes taghell erleuchtete, da kehrte ihm der Mut wieder es ist fast wie ein Naturgesetz,daß die größten Feiglinge auch die größten Prahler sind, wenn die Gefahr vorüber ist er tat einen erlösenden Atemzug und wandte sich nochmals nach der Schlucht um.

„Der abergläubische Esel! Mir, mir, einem Gebildeten und Aufgeklärten, mit Gespenstern Angst machen wollen! Es gibt wirklich noch viel Dunkelheit in Nidwalden! Es werde Licht! Vorwärts, Charles! Her mit dem Pfaffen! Huiiih, welch ein feiner Streich! Der „Schnyderkari“ ist doch noch gescheidter als Ihr alle zusammen! Und auf dem Rückwege werde ich ja nicht allein sein; der Geisterbeschwörer ist ja bei mir! Was werden meine Luzerner Freunde beim Abendschoppen im „Schiff“

98 []für Augen machen, wenn ich Ihnen erzähle,d aß “

Da kracht ein Schuß durch die nächtliche Stille, und der Schnyderkari sinkt mit einem markdurchdringenden Wehschrei zusammen:Eine großkalibrige Gewehrkugel hat ihm den Unterschenkelknochen glatt durchschlagen. Er wimmert wie ein kleines Kind.

Und hoch droben am Rotzberg hält der Murmolter eine rauchende Büchse in der Hand!

Ein Bauer vom Allweg hatte den Schuß gehört und fand den wimmernden Schneider. Er verbrachte ihn auf seinen Wunsch nach dem Gute „Klein Löhli“, wo er die nötige Pflege fand;aber weiter als zu einem Hinken mit Stock brachte er es in der Folge nicht mehr, und man erzählt sich, daß er beim „Ueberfall“ durch die Franzosen am 9. September über seinem Bette eine französische Aufschrift folgenden Inhaltes anbringen ließ:

„Von Rebellen verwundeter Held!

Es war ihm nicht vergönnt,

Für die heilige Sache der Freiheit zu sterben!“

Die Schiffsmannschaft aber wartete in der Pinte von Rotzloch vergebens bis nach Mitternacht, es kam keine Menschenseele. Endlich trank man mißmutig aus und ging. Es mochte ihnen wohl dämmern, daß der Schurkenstreich mißlungen, und sie die Düpierten seien.Aber wer beschreibt ihren Schrecken, als sie an das Gestade kamen und vom Nauen keine Spur

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][]mehr fanden! Während sie in der Pinte prahlten, war er von den Geächteten angebohrt und abgestoßen worden; nach wenigen Minuten war er draußen infolge seiner Steinlast versunken auf Nimmerwiedersehen!

Während die „Marine“Vesatzung ratlos und heftig gestikulierend am Gestade steht,scheint der Mond friedlich lächelnd auf sie nieder, und vom Rotzberg herunter klingt ein flotter Jodler von fröhlichen Männerstimmen:

„SHooohliehJodldiahuh!Mir händ en güote Chilcheheer!Aer mocht em gonze Lond en Ehr;Aer triibt dr Tiifel i's Rotzloch Und d' Wyber under s' Mannejoch!Oh simpeli, sampeli sy Oh faseli, duseli da!Aes isch käi Noretie, es Ländlerbirli z'sy, juhe!Tralera, rallera la düi, ri-ri-di, dulio!Jo, Senne sin mer, säl isch wohr,

Und findt me mängisch vines Hoor

Im Onke inne oder Chäs,

So macht's e nume es bitzli räß.Oh simpeli, sampeli sy.Und wänd ys ysers Onkli abchoiffe.Und uf Luzäre abbe gend,Do chemid d'Luzärner grad ordeli z'loiffe Und wänd ys üsers Onkli abchoiffe.Oh simpeli, sampeli sy ...

100 []Mir händ oi Chiäli uff dr Wäid,Drby en Ochs, jäh gwiß bimäid!Und wenn mer ywe oi miänd näh,So miän mer en holt im Metzger gäh!Oh simpeli, sampeli sy ...Und ywes Direktorium,Gott bhiät ys oi dervorium!Aes wird bimäich nid eppen olt,Wenn's rächtes Zyt dr Tiifel holt!Oh simpeli, sampeli sy ...Oh faseli duseli da!Aes isch käi Noretie, es Länderbirli z'sy, juhe!Tralera, rallera la düi, ri-ri di, du-lio!So verlief dieser Abend, wie der Murmolter in Anlehnung an eine Sonntagspredigt meinte, mit einem „wehmutsvollen Beigeschmacke! Noch Jahre lang nannte man die gescheiterte Expedition der Luzerner Patrioten die „Entdeckung von Amerika“.

Am nächsten Wochenmarkte in Luzern aber gab der Murmolter den Luzernern ein Rechnungsexempel auf, das sie nicht lösen konnten;er fragte nämlich einen jeden, den er dort traf:

„Wenn dryzäche Luzärner uf Rotzloch inefahrid, und äine bliibt dinne, wie mänge fahrt de no häi?“

160 []4. Zwei Disputationen

Bald nach diesen Ereignissen wurde es in Nidwalden bekannt man wußte nicht, woher daß das helvetische Direktorium in Aarau noch diesen Sommer von den „widerspenstigen Nidwaldnern den „Bürgereid“, d. h. den Eid auf die helvetische Konstitution verlangen werde. Eine gewaltige Erregung erfaßte die Gemüter; die alte Volkskraft erwachte, und der alte Väterstolz vor fremder Bevogtung bäumte sich leidenschaftlich auf, Mütter predigten ihren Kindern den Heldentod; Männer des gleichen Dorfes, die sich täglich sahen, drückten sich bei der Begegnung stumm die Hände, als hätten sie sich jahrelang nicht mehr gesehen. Bis tief in die Nacht hinein saßen die Aelpler um ihr Herdfeuer und erzählten von den Taten ihrer Vorfahren aus sagenhafter Zeit. In einer Schlucht im Ischenwalde aber hatte der Murmolter jeden Sonntag nachmittag ein paar Dutzend halbgewachsener Buben um sich versammelt, lehrte sie Kugeln gießen, Stutzen laden, Keulen schwingen und hielt ihnen dabei Vorträge über die verwundbarsten Stellen des menschlichen Körpers.

102 []Aber ein letzter Rückstand von Menschenwürde und Brudersinn schien die tellerleckerischen Patrioten von Aarau doch noch vor der blutigen Entscheidung zurückzuhalten; man erhoffte immer noch einen Erfolg auf dem Wege der Verhandlungen und Bekehrungsversuche;sollten diese fehlschlagen, so mußte die Landsgemeinde vor die entscheidende Alternative gestellt werden.

So wollte man den Pater J. Herzog aus der Gesellschaft Jesu, der sich momentan in Luzern aufhielt, dem Priesterkapitel von Nidwalden auf den Hals schicken, weil man in der Geistlichkeit den größten Widerstand gegen die helvetische Verfassung sah.

Pater Josef Herzog hatte sich auf den Missionen in Nidwalden tatsächlich das ungeteilte Zutrauen des Rates, dem er auch die Standeslehren gab, und des Volkes erworben. Dieser fromme, aber gutmütige Mann wurde „mittelst geheimer Umtriebe“ von Seite der Patrioten aus Nidwalden und Luzern bestürmt und eingenommen, gleich dem Bruder Klaus in Stans vor dem Priesterkapitel und dem hohen Rat zu erscheinen und als Vermittler der helvetischen Konstitution aufzutreten.

Wirklich kam er am Tage vor der Einberufung des Priesterkapitels im Pfarrhofe zu Stans an, um sich folgenden Tages vor der Priesterschaft, vor dem hohen Rate und im Falle des Gelingens auch vor einer außerordent

193 []lichen Landsgemeinde seines Auftrages zu entledigen.

Da man aber durch den Murmolter bereits von seinem Besuche und dessen Absichten unterrichtet war (Pfarrer Käslin hatte dem Wyrsch eine „Bischofsflasche“ aufgestellt und die „Affäre Schnyderkari“ mit keinem Worte berührt), so wurde der Gast im Pfarrhofe zu Stans von den zwei schärfsten Gegnern der Konstitution empfangen, nämlich von Pfarrer Käslin und Pater Styger.

Offiziell durften die zwei von den Absichten seines Besuches noch nichts wissen, und ausfragen durften sie den Gast auch nicht. Dieser aber hütete sein „Geheimnis“ ängstlich, um am folgenden Tage die Gemüter um so wirkungsvoller überraschen zu können. Er sprach deshalb vom Wetter und von neuentdeckten Petroleumquellen in Galizien. Aber die zwei wußten sich zu helfen; er war an die Unrechten geraten!Während des Imbisses mußte Pater Styger auf Verabredung natürlich auf die KonX0kleine „Netti“ ängstlich unter den Ofen kroch.Die Arbeit war so gründlich, daß sich der Gast mehrmals überschluckte; er schien seine Außenforts nur noch mit Mühe halten zu können;das war aber erst Artillerievorbereitung; denn als Pater Styger mit seinem Donnerbasse loslegte: „... und es soll sogar Priester geben,welche dem Volke die helpetische Konstitution,

04 []das Ochsenbüchlein und den Bürgereid empfehlen, Judasse, welche mit der Kreuzigung Christi noch nicht zufrieden sind und auch noch seine Kirche den Feinden um dreißig Silberlinge ausliefern möchten“, da schaute Pater Herzog betroffen auf und fragte mit gutmaskierter Ueberraschung:

„Ja, mein Lieber, ist denn der Bürgereid etwas moralisch Schlechtes? Kennen Sie den Wortlaut?“

Und da deklamierte Styger die Eidesformel mit ironischer Emphase:

„„Wir schwören, dem Vaterlande zu dienen und der Sache der Freiheit und Gleichheit als gute und getreue Bürger mit aller Pünktlichkeit und allem Eifer, so wir mögen, und mit einem gerechten Hasse gegen Anarchie oder Zügellosigkeit anzuhangen.““

„Ah, so ja, Sie kennen also den Eid. Aber wo ist denn da ein einziges unrechtes Wort?Kann und muß denn nicht jeder Staat diese Forderung mit Fug und Recht stellen?“

Und da hatten sie ihn, die Beiden, wo sie ihn haben wollten, der Vogel war hervorgelockt! Beide hatten nur auf diesen Einwand gewartet, und nun ging's los: Mit scharfer Logik und feiner Dialektik bewiesen sie ihm,daß die helvetische Konstitution inhaltlich mit der französischen Konstitution von 1791 genau übereinstimme, und weil das päpstliche Breve jene verdamme, so könne auch diese logischer

[105]

weise niemals erlaubt sein. ... Ueber drei

weise niemals erlaubt sein. ... Ueber drei Stunden dauerte die für Nidwalden so verhängnisvolle Redeschlacht. Aber wie es gewöhnlich bei solchen Disputationen geht: Der auf der ganzen Linie geschlagene Pater Herzog wollte auf keinen Fall die Festung übergeben,obschon ihm die Schweißtropfen über Stirne und Nasenspitze rannen; auch Pfarrer Käslins Schläfen hatten sich fein gerötet und dem Pater Styger stob der Bart nach allen Seiten auseinander.

Ziemlich kleinlaut warf Pater Herzog die letzte Bombe auf seine Angreifer:

„Sogar der bischöfliche Kommissar Krauer in Luzern, Euer Vorgesetzter, empfiehlt Euch ja den Bürgereid! Ich habe einen Brief bei

Da erhebt sich Pater Styger und tritt hart vor seinen Gegner hin:

„Laßt diesen Brief getrost in der Tasche,Pater Herzog! Wir kennen seinen Inhalt und haben nur Folgendes darauf zu erwidern:

Erstens: Ueber dem Kommissar steht der Bischof und über dem Bischof steht der Papst,und dieser hat die Konstitution verdammt.Zweitens: Als Pfarrer Käslim, im letzten Hornung noch, bei Kommissar Krauer auf Besuch war und dort bei ihm auf dem Tische das Ochsenbüchlein liegen sah, erbat er sich diesbezügliche Verhaltungsmaßregeln und erhielt

196 []von Krauer die Antwort:: „Reißet sie, diese Konstitution, dem Volke aus den Händen und Herzen; sie kommt aus der Hölle und führt zur Hölle!“ Pater Herzog, Ihr seid ein vom Zeitgeiste Verführter, ein Irrender: In Frankreich haben von 136 Bischösen 132 und von 42,000 Pfarrherren mehr als 40,000 den besagten Eid nicht schwören wollen. Diese Weigerung wurde vom römischen Stuhle gebilligt,trotzdem sie mit blutiger Verfolgung beantwortet wurde. Daß die Sendlinge Frankreichs mit der Schweiz punkto Freiheit der christlichen Religion die gleichen Absichten haben wie im Mutterlande, habe ich Euch zwar vorhin an Beispielen aus andern Kantonen zur Genüge bewiesen, möchte Euch aber an einem Exempel aus allernächster Nähe noch beweisen, daß die Franken daraus überhaupt kein Hehl mehr machen:

Als der friedliebende Abt von Engelberg VVV französische Geschäftsträger Mengaud:

„„In dieser Hinsicht, Bürger Mönche, macht Ihr Euch empfehlenswürdig; in noch höherem Grade könnt Ihr es werden, und noch ein anderes Beispiel könnt Ihr geben. Wartet nicht,bis die Philosophie Euch aus dem Zufluchtsorte der Trägheit und der Unbrauchbarkeit heraustreibt! Legt die Larve des Aberglaubens ab!Kehret in die Gesellschaft zurück und zeichnet Euch durch so viele Tugenden aus, daß man

67 []darüber die Jahre vergißt, die Ihr in mönchischer Unbrauchbarkeit zugebracht habt.““

Pater Herzog, ich habe Ihnen nur noch eines zu sagen: Ihr habt vorhin zugeben müssen, daß die helvetische Konstitution wirklich gegen die christlichen Grundsätze verstoße, somit deren Annahme unerlaubt sei; den Bürgereid aber wollen Sie gestatten, weil er nichts Böses enthalte! Nun wohl: Nehmen wir an, er sei an und für sich erlaubt obwohl die zwei Worte „Freiheit und Gleichheit“ einen sehr anrüchigen Beigeschmack haben dann müssen Sie immerhin bedenken, daß dieser Eid eben aufzufassen ist als Eid auf die unerlaubte helvetische Konstitution. Wollen Sie aber den Bürgereid nicht auf die Verfassung beziehen,so hat er absolut keinen Sinn mehr; denn was er für sich befiehlt, haben wir ja immer gehalten!“So sprach der Kämpe von 1798. Pfarrer Käslin aber nickte freudig und meinte:

„Pater Herzog, Ihr seid ein Irrender! Eure Grundsätze sind weder die der französischen Revolution noch die der helvetischen Konstitution;darauf schwöre ich! Ihr He möchte uns wohl zur Milde raten, um Nidwalden vor den Schrecknissen des Krieges zu retten; das wollen wir Euch nie vergessen, Pater Herzog, aber Euer Verstand und Euer Glaube sprechen anders “

Schwer stützte Pater Herzog seine Stirne in

108 []beide Hände. Da geschah aber etwas, was auf ihn noch unvergeßlicher wirkte als die dreistündige Disputation.

Die Türe der Pfarrstube öffnete sich und herein trat ein hochgewachsener Nidwaldner.Die Geschichte hat uns auch seinen Namen aufbewahrt:

„Viktor Steiner, ein feiner und beredter Mann, jener geschickte Kanonier, der im Herbstmonat 1798 so vielen Franzosen den Paß in die Ewigkeit schrieb, kam jetzt herein, führte Pater Herzog in der großen Pfarrstube zum Fenster und sagte zu ihm:

„„Hochwürdiger Pater Josef, sehen Sie dort das Missionskreuz, das Sie uns vor zwei Jahren aufgepflanzt und an demselben sestzuhalten anempfohlen haben? Und nun wollen Sie vor den hohen Rat treten und uns den Freiheitsbaum aufrichten und die neue Konstitution anpreisen helfen! ...““

„Gleich dem Apostel Paulus war der Missionär wie vom Blitze getroffen, seine Geistesaugen öffneten sich, er sah die Täuschung und sprach: „„Wahrlich, einen solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden.““

Sogleich verabschiedete er sich, reiste wieder nach Luzern, und die Konstitutionsmänner warteten im Rate seiner Ankunft vergebens.Das Volk, das dieses gewahr wurde, pries Gott,der eine solche Vorsehung getan hatte.

So war Pater Herzog gekommen, um die []Geistlichkeit von NRidwalden zu „bekehren“, und er kehrte selbst als Bekehrter heim. Die Nidwaldner kannten also die Grundsätze und Ziele der neuen Zeit so gut wie „die draußen“ und waren sich der Tragweite ihres Verhaltens voll bewußt. Das Priesterkapitel von Stans aber sprach sich einmütig und in scharfer Begründung gegen die helvetische Konstitution aus. Das Volk jubelte, aber die Entscheidung konnte nicht mehr lange ausbleiben.

Pfarrer Käslin saß nach dem Mittagessen mit seinem Helfer noch am Tische, und besprach sich mit ihm über die Artikel des Ochsenbüchleins, das vor ihm aufgeschlagen war.

Da krabbelte etwas an der Türe, und herein kam ein schwarzlockiger Knirps, der mit knapper Not die Türfalle erreichen mochte. Als er die beiden Herren sah, blieb er scheu mit der einen Hand an der Türklinke hängen, den Zeigefinger der andern legte er an den Mund und seine schwarzen Augen blickten kritisch unter den herabgezogenen Brauen hervor.

„Heh, Teneli, was mechtisch de dui, he?“fragte der Pfarrer zutraulich.

„Eh eh d'Froi Wyrsch dFroi Wyrsch isch wieder schlächter worde. ..“

„So so, im Murmolter sy Müotter das ich oi e G'schicht, gäll Teneli. Was fählt ihre denn?“„Sie hed mäini d'Sucht und ... und ...“„Und was no?“

110 []„Und mäini no Gfreerni a dr Nose!“

Als beide herzlich lachten, meinte der kleine Tell mit sichtlicher Entrüstung: „Säl isch eppe wohr i ha's sälber gseh Ihr sellid eppe verby cho!“

„Scheen, Teneli! Säg, i chemm hitt no!Müosch jätz es Bildli ha. Was fir äis hättisch gäre?“

„Ais ... äis, wo dr Tiifl druff ischl“

„Dr Tiifl! Jeeh, Teneli, was säisch oi!Worum dr Tiifl?“

„Dr Voter hed gsäid, dr Stottholter häigne chrummi Nose wiäsdr Tiifl, und jätz mechti gäre lüoge!“

„Do hesch dr Erzängel Michael! Lüog, wiäner dr Tiifl i d'Hell appe ghiit!“

Mit beiden Patschhändchen griff der Knirps darnach.

„Wäisch oi, Teneli, worum as ehm dr Michael d'Gable in Hals ine stooßt?“

„Jo, jo! Aer will lüoge, eb er bald lind yg j0

„Näi, Teneli, will er im Liäbgott nimme hed welle folge gsesch, so gohds, wämmer nid folget! Griäß mr denn dr Vater, Tenelie!“

„Jo, är hed gsäid, wenn dr Pforer eppe no Epfel ufem Tisch häig, so selli de grad wieder goh X

„Aha, Schlingel, du wirscht e mol Londomme do hesch äine!“

111 []„Danki Gott Adiäh!“

„So“, sagte Pfarrer Käslin, als der Kleine gegangen war, „das trifft sich gut; gibt einmal Gelegenheit, dem Wyrsch gehörig ins Gewissen zu reden wegen seiner Wilderei! Etwas muß geschehen, sonst gibt's sicher wieder ein Unglück!“

Dann ging er sofort auf sein Zimmer, um Krankenbuch und Stola zu holen. Beides lag auf der Schreibkommode bereit. Darüber hing eine Art Diplom, welches bezeugte, daß Kaspar Josef Käslin im Jahre 1771 am Helveticum in Mailand als Academiae Hypheliomachorum Princeps, d. h. als Präsident der aus Philosophen und Theologen gebildeten Akademie 498 lateinische Thesen öffentlich und siegreich verteidigt hatte. Pfarrer Käslin besaß also eine hervorragende theologische Bildung. Sein Vorgänger, Pfarrer Näpfli, hatte vor seinem Tode mit prophetischem Geiste gesprochen:„Veniet fortior post me!“ Und Pater Herzog hatte gestern die Krallen des Löwen von Beckenried gespürt, bis er sich in die hinterste Sackgasse der letzten Subdistinktion zurückgezogen hatte.

Pfarrer Käslin warf noch einen Blick auf das Dokument aus vergangener Jugendzeit 498 Thesen! Hm! Das war eine Herkulesarbeit; hoffentlich würde es ihm auch gelingen,einen Murmolter seines Unrechtes zu überführen Mhm!

113 []Der Murmolter war von Beruf eigentlich Schuster, aber einer ohne Sitzleder. Er hatte diesen Beruf erlernt und zwar mit entsetzlicher Mühe um möglichst Herr seiner Zeit zu sein. Er ging nicht auf die „Stör“ und nahm nur zu Hause Arbeit an. So konnte er von seiner Arbeit fortlaufen, wann es ihm beliebte.Die eingegangenen Schuhe bezeichnete er mit einer Kreide, um dann nach Wochen nicht mehr zu wissen, was das Zeichen eigentlich bedeuten sollte. Und mit den überzähligen Schuhen,welche nicht abgeholt wurden, flickte er die neu eingegangenen. Seine Arbeit drängte nämlich nie, weil er nie etwas Dringliches annahm.

Er hauste nur mit seiner alten Mutter zusammen. Sie liebten einander und waren glücklich.

Nur ein einziger Schatten trübte die Lebenstage der alten Frau: Sie war in beständiger Angst um ihren ungestümen Liebling; der alte Murer war ein gar schlauer und verbissener Patron; sie tröstete sich aber mit dem geheimen Gedanken, daß ihr Franzi im Ernstfalle der Flinkere sein würde.

Jetzt lehnt sie, in eine Wolldecke gehüllt, in der Ecke eines Sofas, dessen Ueberzug darauf hindeutet, daß das Instrument schon von Noe zur Aufbettung neugeborener Panther und Leoparden benutzt worden war. Am Fenster sitzt der „Franzi“ auf einem delphischen Dreifuß und flickt an einem Schuh herum, der vom ur

143 []sprünglichen Leder wohl nichts mehr besaß und einem Nistkasten mit doppeltem Ausgange ähnlicher sah als einer menschlichen Fußbekleidung. Der „Meister“ prüft den Patienten mit Kennerblick, wirft ihn in die nächste Ecke und greift zu einem Stück Sohlleder, das er einem seit Monaten überzähligen Schuh entnommen hatte.

Ein warmer Gewitterregen peitscht die Bleifenster des traulichen Stübchens. Der „Meister“aber singt ein Lied und klopft dazu:

Ischlopfe mys Läder und flicke dr Schüoh,Holiopp, holiopp;Jsuiffe nes Glesli und singe drzüo,

Holiopp, holiopp, holioppopopopp!

Da klopft es, und Pfarrer Käslin tritt ein:

„G'lobt sy Jesus Christus!“

„In Ebigkäit, Amen!“ antwortete die Mutter und bekreuzte sich andächtig. Der Murmolter aber hatte den Eintritt überhört und klopfte lustig weiter:

Am Sunntig, do hani mys Babeli g'seh,Holiopp, holiopp!Do hed's mi lo loiffe, das tüot mir nid weh,

Holiopp, holiopp, holioppopopopp!

„Franz!“ rief die Mutter, „g'heersch niid?“

„J chume!“

Und wenn d'mi nid wottisch, so laß es loh sy!Holiopp, holiopp!De bliib i halt ledig und glicklich drby!

Holiopp, holiopp, holioppopopopp!

„Franz!“

114 []„Was isch denn? Jä so griäß Gott,Herr Pforer!“ Er stand auf und nahm sein Prälatenkäppi ab, das er sich aus Leder zusammengeschmiedet hatte.

„Ihr miänd holt verziäh, Herr Psforer;wemmer so en aasträngete Brüof hed, cha mer si nid uf alles achte!“

„Jo jo, Franz“, sagte der Pfarrer mit schmerzlichem Lächeln, „aber fir d'Jagd hesch doch immer eppe noschli Ziit gfunde, he?“

Die Mutter nickte seufzend; der „Franzi“kratzte sich hinter dem rechten Ohr:

„Jo jo, wisset er, Herr Pforer, mr müos holt oi eppe wieder eschli abspanne!“

„Scheeni Abspannig!“ sagte der Pfarrer halb unwillig über den leichtfertigen Ton Murmolters, „erstens isch es kä Abspannig, sondern en Aasträngig und zwäitens no en unerloibti!“

„Unerloibt?“ heuchelte der Murmolter,scheinbar in höchster Verwunderung.

„S' Wildere isch en Diäbstahl!“

„En Diäbst.. .? Hani rächt gheert, Herr Pforer

„Verstell di nur nid! Dü wäisch es wohl!“

„Näi, Herr Pforer, per äxrgüsi das hani bis hitt no nid gwißt und gloibes oi jätz no nid! J gloibe gwiß alles, was Ihr tiänd predige, und Ihr chennits bimäich scheen aber das, das chan i äifach nid underschriibe!“

„Und doch isch es so, Franz, was dü triibsch,isch nid ehrlichs Hontwerch!“

115 []„Wäm gheere denn d'Gämsi, Herr Pforer?“

„Das frogsch no? Het mer dr s' Jagdgsetz de nid vorg'läse, bim letschte Verheerꝰ“

„Äbe grad do liits s' Hoor im Onke, Herr Pforer. S' Gsetz und s' Gsetz und niid as s' Gsetzl Wenn dr Staat eppis will stähle, so macht är äifach es Gsetzl Wänn d' Franzose d' Chilche wänd uis stähle, so machet si äifach es Gsetz Herr Pforer, wemmer mit eme Gsetz alles cha mache, so macht dr Wyrsch Franz halt oi äis, und dert häißis denn: Artikel äins: Das Wild isch fräi!“

„Säb Jagdgsetz bischtohd scho z'rächtem,Franz, wenn jäde chennt go...“

„En Ungrächtigkeit isch es und en Verruckthäit: Sägid jätz emol, Herr Pforer: Wenn eppe ufem Hohbrisen obe nes Gümsi wäidet, wäm gheert's denn?“

„Doch im Stand Nidwalde!“

„Scheen! Und wenns denn äine änenappe jagd, wäm gheerts dänn?“

„Im Stand Uiri!“

„Und wenn's denn no iberen Griässegletscher ibere gumpet?“

„Im Chloster Aengelbärg!“

„Und wenn de dr Chäib dur mi Chuchi dure springt?“

„Franz!“ rief die Mutter erschrocken.

Der Murmolter war nicht nur warm, sondern sprudelheiß geworden; seine Augen glüh

116 []ten, und die Schnurrbartspitzen arbeiteten wie die Fühler eines Raubkäfers.

Pfarrer Käslin sah ein, daß er ihm auf diese Weise nicht beikommen konnte; jedes Argument mußte ihn nur reizen und dadurch verhärten.Sollte er ihm einen Vortrag halten über die historische Entwicklung der Jagdregalien, oder eine Katechese über die Prinzipien der Pönalgesetze? Verlorene Liebesmüh! Er griff deshalb nach einer anderen Karte:

„Aber s fiift Gibott verbiätet, daß mr sich müotwillig i d'Läbesgfohr bigitt, Franz!“

„Isch nid so gfehrli! Di säl Gfohr isch fir en Muirer no vill greeßer!“

„Aber är tüot's us Pflicht!“

„So sell er di säb Pflicht abgäh; är müos jo nid, wenn er nid will! Wäge miine chann er oi uf d'Jagd, i machem niid; aber är sell mi oi lo loiffe!“

Pfarrer Käslin seufzte: Auch hier stieß er auf Granit. Aber er kannte den Wyrsch von Jugend auf: Sein Schädel war vom Gotthard,aber sein Herz von MariaRickenbach; also hier ein Angriff: Er geht auf ihn zu und nimmt ihn bei der Hand:

„Franz, dü wäisch, daß i 's güet mäine mit dr, und daß dr nes Vergniäge wohl mecht genne,wenns erloibt wär; aber i han immer Angst um di! Dänk an Hansi Muirer sälig!J bi nit cho, um di toibe z'mache!“

14

4*5 []Und da wurde der Murmolter sofort weicher und sagte:

„J wäiß 's jo wohl, Herr Pforer, daß dr Rächt händ! Aber i bi holt en sindige Mänsch!“

Da kam auch noch das Mütterchen vom Sofa hergehunken und nahm ihren Liebling zitternd beim Arme:

„Fronzi, dr Herr Pforer mäints jo güot! Gang nimme! J hbi jäz scho olt und prästig.Gwiß bini äinisch tod, wenn d'häichuntsch!“

Und da kam dem Murmolter ein heimliches Tränlein!

„Müdotter, i will nimme goh!“

Der Pfarrer atmete auf: Gott sei Dank! Er reichte dem reuigen Sünder die Hand und sprach:

„J dank dr, Franz; dü nimmsch mer en große Stäi ab em Härz; dr Herrgott sell dr's lohne!“Nach den üblichen Krankengebeten verließ Pfarrer Käslin die Stube mit einem langen Atemzuge.

Der Regen hatte aufgehört, und goldener Sonnenschein leuchtete durch die Fenster. Da verließ die alte Frau das Stübchen, um draugen an der heißen Sonne ihre gichtigen Glieder zu erwärmen.

Kaum war Pfarrer Kässslin fort, so kam ein neuer Gast, nämlich der Imbühl. In der Hand trug er ein Paar Schuhe.

„Dui, Chappi?“ fragte der Murmolter verwundert, „wohär chunntsch de dui?“

118 []„Grad vo Isethal!“

Der Murmolter schaute ihn durchdringend an und drückte ein Auge zu, als ob er die Antwort Imbühls bezweifelte.

„Aber gwiß! J ha dert zwee Springer g'choifft, lüog, diä fiif Negl han i unisgsporet;mach si grad ine!“

„Wui!“ sagte der „Meister“ und ging sofort an die Arbeit. Während er nagelte, fragte der Chappi ganz unvermittelt:

„Hesch oi gheert, daß dr Muirer wiit umenand s'Wild mit Schreckschisse gügem Schwalmis züoche jagt?“

„Jo, mäint er eppe, er chennt si e so liächter hiäte?“

„Gloib nid, di mäiste chunnt er jo doch nid iber; si gehnd em i d'Heechi und verloiffet si a de Tossen obe näi, i gloib ehnder, är well äine locke! Aer hed doch scho ne scheeni Triibete binenand. Das wär eppis fir ne bar güoti Schitze!“

„Gloibsch, daß er deWildschitze mecht foh i där Falle?“

„Emel äine gwiß! Sischt hätt er nid so scheene Bock aagschosse!“

„Aagschosse? Dä mäinäidig Bleger! Worumꝰ?“

„Aer hed gwiß gmäint, das wird denn de,de Merder aaziäh! Aber dä Satan isch ab!“

„Wär? Dr Merder?“

„Nei, dr Bock! Dr alt Esel hed allwäg ne

139 []nid dradänkt, daß nes aagschoßnigs Gämsi ganz verruckt wird und sie verloifft oder iber d'Wänd uise z'Tod gumpet. Hitt am Morge han is gseh; äs schläipft en hindere Loif noche!“

„Dui? Wo? Wo hesch es gseh?“

Der Murmolter war ganz Feuer und Flamme, der Imbühl aber lächelte stillvergnügt:

„Am Gandigrat obe, grad iberem Großzug,wäisch, dert wo dr Wäg vo Isethal gäge d'Boibärgalp uifechrimmt!“

„Wäiß scho, wo!“ Der Schuster hatte die Arbeit weggelegt und zerrte an seinem Schnurrbart! Der Versucher aber fuhr weiter:

„Ha no sälte so ne scheene gseh; är isch sicher iber ninzg Pfund Wenn ine Bichs bimer gha hätt, und wenn i oi e chli chennt schiässe,ADD

Der Murmolter lachte und schaute ihn dann verschmitzt an; der Imbühl aber schaute so gleichgültig drein als ob er gerade beim Erdäpfelschälen wäre. Dann rieb er sich das Kinn und meinte so nebenbei:

„Das wär eppis fir dich, Franz! Däschämisch sicher iber und more isch scheen Wätter; dr Himmel isch wider ganz bloi!“

„J goh nimme! Fertig!“ sagte der Franz und wischte sich den Schweiß von der Stirne.Der Imbühl aber nahm die genagelten Schuhe und ging. Unter der Türe schaute er nochmals mit seinen großen, schwarzen Augen zurück auf den zusammengeknickten Murmolter, lächelte und ging.

120 []Der Wyrsch aber ballte für sich die Fäuste und schwur grimmig:

„Und i goh äifach nimme! Fertig, abg'macht!“

Es war um die Geisterstunde der folgenden Nacht, als der Murmolter auf seinem Lager erwachte. Er drehte und wendete sich wie im Fieber, zupfte an Bettdecke und Kopfkissen und schmiß sich dann auf die andere Seite, daß die alte Bettstatt durch lautes Krächzen ihren Protest kundgab. So blieb er etwa eine Stunde,dann schnellte er sich plötzlich empor, ergriff das zusammengeknüllte Kopfkissen an einem Zipfel und schleuderte es fort, daß es wie in Todesschrecken auf eine alte Kommode zuwirbelte.Stöhnend streicht er sich jetzt die wilde Locke aus der Stirne:

„Das isch oi es Eländ uff dr Wält!“

Nun lauscht er angestrengt nach der Wand hin: Aus der benachbarten Kammer dringt ein Ton, als ob eine Waldsäge auf einen Ast geraten sei. Das scheint ihn zu beruhigen; leise,ganz leise steht er auf und geht ans Fenster:Noch erhellt Sternenglanz die klare Nacht; aber schon zeigt sich im Osten ein leises Rot, und in violetten Linien heben sich die Berge vom nächtlichen Himmel ab. Es wird ein herrlicher Tag werden; dem Murmolter fährt eine heiße Welle über den Rücken.

„Isch ächt mi Flinte nid naß worde, vom gestrige Räge? Sett doch eppe go lüoge, di nächste Täg.“

12 []Er horchte wieder.

„Sie schloft fest! Das isch s'Gsindisch fir olti und chronkni Liit!“

Jetzt stemmt er beide Arme in die Seiten und schaut nachdenklich vor sich hin:

„Hm, jo, äigetli dringendi Arbet hätt i hitt jo käini, und d'Müotter isch gloib oi wieder e chli besser s' isch villicht doch gschiider, wenn i hitt gohne, go d'Flinte hole, sisch wird si am änd no rostig!“

Leise schlüpft er in die Kleider und schleicht hörlos wie, wie nun, wie ein Gemsjäger der Küche zu. Hie und da knackt die Diele;dann bleibt er jedesmal einige Minuten stehen,um zu lauschen. In der Küche nimmt er ein Stück Brot und eine Schwarte Spalenkäse. Beides steckt er in den Rucksack. Dafür windet er um den Leib ein langes Waschseil, aber unter dem Rocke:

„J bruichs jo allwäg nid, aber i nimme denn e Burdi Holz mit häi!“

Am Herde klaubt er ein paar Kohlen aus der Asche wahrscheinlich auch zum Holzsammeln! Dann geht er wieder in die Schlafkammer zurück, nimmt den farblosen Hut mit dem Gemsbart von der Wand und turnt sich lautlos zum Fenster hinaus.

„O ihr liebe guete Lüt,Eues Säge nützt jo nüt!“

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1 2 []5. Eine Gemsjagd

Eine Gemsjagd! Wer könnte sich ihrem Zauber entziehen! Mit tausend Gewalten erfaßt es den Alpenjäger, mit geheimnisvollem Locken zieht die verbotene Frucht den Wilderer in die Region des ewigen Schnees. Wo über schauerlichem Abgrunde das Edelweiß seinen Stern der Sonne nur erschließt, wo in Gletschertrümmern und Spalten der weiße Tod unter eisgrünem Baldachine thront, da schreitet der Gemsjäger, den Abgründen und dem Tode die Stirne bietend, nur das heißersehnte Ziel im Auge.

„Aber wäen-er no so chalte Udr Gletscher no so wild,U no drümol ärger gspalte:Alles ma mi nit abhalte;Weni dört es Gämsi weiß,Ist mer sälbigs alles eis.Wahr ist, mänge fallt da abe,D'Ewigkeit erdrohlet er,

Uslyt tief im Ysch vergrabe:

O wie luegt sys Wyb am Abe:„Chunnt er ächt?“ Lueg wie de wit:Leider Gott! Er chunnt der nit.

198 []Tröst du dich; er lyt do unde

Grad so guet as wie im Grab.

üse Herrgott het ne gfunde

Und bewahrt ne uuf dert unde

J däm tieffe Gletscherschlund,

Bis der jüngste Tag de chund.“

Die hohen Anforderungen an körperliche und geistige Frische, die übermenschlichen Anstrengungen und Gefahren der Hochjagd fordern die Kühnheit des freien Alpensohnes geradezu heraus; die unerschöpfliche Abwechslung in den grandiosen Panoramen des Hochgebirges schwebt seiner Phantafie im Traume vor: Er setzt über Gletscherspalten und Schluchten; er klimmt über Gräte und Hänge, lauert an Kanten und wilden Vorsprüngen; hoch über gewaltiger Felswand auf vorspringendem Tossen schnuppert ein herrlicher Gemsbock dem Winde entgegen; der Jäger hebt den Stutzen zu sicherem Schusse und erwacht! Wars nur ein Traum? Nein! Bald wird die Wirklichkeit den kühnsten Zauber menschlicher Phantasie übertreffen. Was Wunder, wenn die altersgraue Sage den Jäger und sein Wild mit ihrem Märchenkranze umwindetl

Ueber Emmeten war der Murmolter ins Kohltal gelangt, wo er hinter einem moosbedeckten Steine seinen Stutzen hervorzog. Wie von einem innern Feuer getrieben steigt er dann den Zickzackweg zur Oberbauenalp empor.Die Sennhütte weiß er geschickt zu umgehen,121 []trifft aber am Fuße der wildaufspringenden Zingelfluh mit dem Geißbub zusammen, der mit ihm vertraut ist; er hat dem Murmolter schon oft Posten gestanden und dafür laut Vertrag immer einen Batzen bekommen. Er ist erst neun Jahre alt, kann aber schon hohlen (jodeln), daß man's im Heitliberg drüben hört.Hosen und Hemd sind seine einzige Bekleidung und auch diese scheinen stellenweise überflüssig zu sein. Die Füßchen zeigen auf den ersten Blick,daß er nicht im Zeichen des Wassermannes auf die Welt gekommen ist; auch sein Gesichtchen mag an den höchsten Festtagen zu seinen Gunsten total veründert erscheinen. Aber seine Augen sind klar wie der Alpenhimmel und sein Herzchen ist rein wie Firnenschnee. Den Hut hat er für den Sommer bei seinen Eltern in Emmeten gelassen; er wäre für seine Locken in dieser herrlichen Gottesnatur die reinste Verschandelung gewesen.

Die Beiden begrüßen sich verständnisinnig,und der Geißbub frägt nur:

„He, Murmolter, wäisch eppis?“

„Am Gandigrot!“ sagt dieser und schnaubt weiter.

Die Sonne war schon in strahlender Herrlichkeit aufgegangen, als er an einem „Krachen“ der Zingelwand emporkletterte. Zwar hatte er diesseits noch Schatten, wußte aber aus Erfahrung, daß er bereits ewas zu spät war. Nach Sonnenaufgang ist das Wild un

25 []ruhiger und mißtrauischer als in der stillen Morgendämmerung; es wird ein schwieriger Duißgang (Pirschgang) werden. Lautlos klimmt er Tritt für Tritt und Griff um Griff den schauerlichen „Krachen“ hinauf; jede Kante, jede Unebenheit, jede Ritze weiß er auszunützen und kein Steinchen kommt dabei ins Rollen; er steigt barfuß, die schweren Bergschuhe hat er sich auf den Rücken geschnallt; bei solchen Aufstiegen verläßt er sich lieber auf die Sicherheit des eigenen Gefühls als auf die genagelten Sohlen, denn jedes Rutschen und jedes Ausgleiten bedeutet hier sichern Tod; aber er zittert nicht, er denkt nicht einmal daran,er denkt nur an den Gandigrat; schon klebt er über hundert Fuß hoch an der schwarzen Wand;ein Vergrabe umflattert ihn krächzend, als fürchte er für sein Nest.

Unten schaut ihm der Geißbub bewundernd nach; er ist auch ein „frecher“ Knirps, aber das dort, nein, das würde er doch nicht wagen; dem beherzten Buben schwindelt fast vom HinaufXDV sie beschleicht, der Wilderer. Jetzt versperrt ihm dort oben ein zackiger Vorsprung trotzig den Weg; der Steiger hält inne; er ruht einige Atemzüge lang, dann streckt er sich und greift mit einer Hand hinüber, faßt dann mit der andern nach: Ein Ruck seine Füße schwingen eine Sekunde lang in der Luft Schwupp! Er ist oben, auf der obersten Felsenkante! Er

126 []nimmt den Stutzen zur Hand und schaut vorsichtig über den scharfen Grat hin, ob vielleicht am Abhange der Baubergalp vor ihm ein Wild äse. Ein großartiges Alpenpanorama eröffnet sich seinem Blick, aber von Wild hier keinesSpur;nur ein paar Ziegen an den wildkahlen Abhängen und drunten auf der Alp weidende Braunkühe mit Kupfertreicheln (Halsglocken). aber dort ja, richtig, dort am Gandigrat sieht er etwas wie einen Floh. Unter Tausenden würde ihn vielleicht nicht einer sehen, aber des Wilderers Auge leuchtet!

Er prüft die Luft; kein Hauch erzittert; aber der Jäger weiß, daß in dieser Höhe nie Windstille ist; er schaut empor, um vielleicht an der Wolkenrichtung der Himmel ist blau wie Enzian! Da netzt er den Zeigfinger und hebt ihn empor seine Miene verfinstert sich:

„Zuger Aarbieß!“ (Nordwind).

Das war bös! Der Luftzug ging also von ihm direkt zum Wild hinüber, und die Gemse schnuppert den Feind bei diesem Zuge auf doppelte Schußweite; der Murmolter stutzt:

„Gohni graduis gägem Gandi, so gwahrt mi dr Bock vom Wind gohni linggs, iber d'Boibärgalp, so müoß er mi gseh cho; dert isch käi Deckig schliich mi vo rächts aa, iber d'Fernialp, so gseht mi dr Muirer, wenn er uf fim Zäntralbiiro isch, dert am Schwalmis obe!“

Er fährt mit der Hand über seine schwarzen Locken, dann reckt er sich trotzig:

1 7 []Fir niid bini nid cho! Vorwärts, Murmolter! Wenn i äinisch en Vorsatz gmacht ha, denn müeß er dure!

Er schwingt den Stutzen wieder über die Schulter und Herrgott! Er muß den gleichen Weg wieder zurückgehen, den er gekommen ist! Der Abstieg ist immer viel gefährlicher als der Aufstieg und zwar deshalb, weil beim Aufstieg die Augen dem Körper voraus sind. Beim Abstieg aber müssen mehr die Füße tastend den Weg suchen.

Vorsichtig duckt er sich zum grausigen Abstieg: Den Rücken gegen die Wand gelehnt,hält er sich immer mit drei Gliedern; mit dem vierten sucht oder greift er weiter. Es geht,langsam und entsetzlich mühevoll; oft muß er den Stutzen zu Hilfe nehmen, um ihn einzustemmen oder aufzustützen es geht Zoll für Zoll. Schon brennt die Sonne heiß auf seinen Nacken, aber er merkt nichts davon: er ist ja längst verbrannt, und der Abstieg beansprucht jetzt die Anspannung aller Sinne. Jetzt ist er am überhängenden Felsen angekommen; er untersucht ihn: Er hält fest. Da rollt er das Seil ab und läßt die beiden Enden über den Vorsprung in die freie Luft gleiten. Das Mittelstück legt er um eine sichere Steinnase jetzt läßt er sich auf den Bauch schickt die Beine voraus über den Vorsprung ergreift mit jeder Hand eine Seilhälfte und läßt sich langsam langsam über die Wand

*[]hinab 800 Fuß unter sich sieht er den Geißbub wie ein Heinzelmännchen, rings um ihn die Ziegen wie weiße Mäuschen. Ja, der Murmolter schaut kühn in die Tiefe, denn er muß nach einem Haltepunkt suchen. Unter dem Vorsprunge vereinigt er beide Seilhälften. Erst hängen seine Beine, dann sein ganzer Körper frei in der Luft Herrgott! hinauf könnte er jetzt nicht mehr! Sachte sachte bringt er erst die Beine, dann den Oberkörper am Doppelseil zum Schwingen, um unter dem Vorsprunge die Wand zu gewinnen einmal zweimal dreimal beinahe gings; seine Fußspitze hat im Schwunge ein Absätzchen berührt noch nicht erfaßt vier, fünf Hupp! Sein rechter Fuß hat es erfaßt glitscht aber wieder ab, weil sein Leib, am Seile hängend, schief nach außen absteht. Jetzt! entweder oder er muß im Sprunge das Seil durch die Hände gleiten lassen eins zwei drei er zählt bis acht stößt sich nochmals vom Felsen ab und jetzt! Herrgott, hilf! schwupp! Er hat gefaßt. Er zieht das Seil an einem Teile nach. Himmel!Es war in der Mitte halb durchgerieben!!

Der Geißbub dort unten kann sich nicht mehr halten: Er jauchzt vor Begeisterung. Was waren die Seil:änzer, die er in Stans gesehen hatte, gegen seinen Murmolter!

Drunten auf der Schutthalde angekommen,reckte er seine sehnigen Glieder, zog die Schuhe 129 []an und ging der Zingelwand entlang und durch eine Felsrinne zur Alp Fernital empor. Sie liegt direkt am Fuße des Schwalmis. Er muß sie unbedingt durchschreiten und kann dabei vom Schwalmis aus mit Leichtigkeit gesehen werden. Im Einschnitte des Fernibaches geht er kurz mit sich zu Rate und schleicht dann in möglichster Deckung zur Alphütte. Dort bittet er den Senn um ein „Tschiferli“ (Rückenkorb).

„Bringsch es wieder?“ fragt der Senn.

„Näi, chum uise!“

Sie treten vor die Hütte:

„Gsehsch dert dr säl Tosse, wo uiseschtohd wiä

Grind?“

„Jol“

„Hinder sällem chantsch es de wieder hole,eppen um zwäi ume. J git dr dänn e Batze,wenn d'am Sunntig uf Emmettenappe z'Chilche chuntschl

„Isch nid neetig, bruichs hitt nid.“

Er holte das Tschiferli, und der Murmolter packte seine Büchse hinein. Mit zurückgestülpten Aermeln und verschränkten Armen geht er dann mit dem „Tschiferli“ über die Alp, dem Haldigrat zu. Schon aus geringer Entfernung mußte man ihn für einen Aelpler halten, zumal er ein wenig hinkte, wie der Fernialpsenn!

Am besagten „Haldigrind“ stellt er das Tschiferli in eine Felsennische und greift zum Stutzen. Gebückt, jede Bodenerhöhung als Dekkung benutzend, überschreitet er den Haldigrat,ne

130 []der die Fortsetzung des Gandigrates bildet;über das steile Haldifeld gelangt er zu den Gandigratfelsen; er ist jetzt auf Urnerboden.Vorsichtig drückt er sich den Felsen entlang und blickt um eine Kante. Sein Herz pocht hörbar:Dort ist er! Sein scharfes Auge sieht sofort, daß er lahmt.

„Arms Tiärli! Wart, i will di scho erleese!“Das gute Herz!

Bald verdeckt die letzte Felswand den Ausblick; hier kann er ungenierter auftreten, zumal der Wind direkt von der Gemse kommt.

Grad biegt er um einen Vorsprung, da ein pfeifender Laut, und vor ihm springt ein Rudel von fünf Gemsen auf: In Sprüngen von zehn und zwölf Fuß schnellen sie elegant in die Höhe und reißen den angeschossenen Bock in wilder Flucht mit sich fort; denn die Gemse hält auf der Flucht mit drei Beinen ganz gut aus;ist's ein vorderer Lauf, so büßen die Sprünge an Spannhöhe fast nichts ein.

Und der Murmolter steht, mit der Büchse in der Hand. Er hat vor lauter Ueberraschung nicht geschossen! Fast weinend schlägt er sich mit der Faust vor die Stirne: Wäre ihm seine Braut davongelaufen, so sehnsüchtig hätte er ihr wohl nicht nachgeschaut, wie jetzt den Gemsen.

In nicht zwei Minuten hatten diese den Gandigrat überwunden und verschwanden jetzt an der Zingelfluh, fast genau dort, wo er zuerst heraufgeklettert war.31 []Da erstickt das Jagdfieber alle Vorsicht in ihm; mit Riesensprüngen setzt er über die Baubergalp, um den Flüchtlingen den Weg nach dem Oberbauenstock abzuschneiden; waren sie einmal dort, so waren sie für heute in Sicherheit.

Beim Schwierenjöchli, welches den Zingelgrat gegen den Oberbauen abschneidet, kommt er laut keuchend an und pirscht sich über den Grat hin; ein Blick über die Kante: Aaahhh!dort sind sie!l Dort auf dem Felsbande weiden sie, immer noch unruhig und schnuppernd; wie ein Patrouillenreiter hüpft der herrliche Leitbock umher, nach allen Seiten „windend“.

Der Murmolter steigt an der einzig günstigen Stelle in Deckung auf das Felsband nieder;jede Sehne an ihm ist gespannt, bald, bald noch hundert Fuß! noch fünfzig noch ... was ist das? Der Leitbock windet ängstlich gegen den Schwalmis hin, stampft mit dem Vorderfuße, ein keuchender Pfiff, die Gemsen schnellen auf und hüpfen in graziösem Galopp der Feind auf der andern Seite mußte also noch fern sein direkt auf den Wilderer zu,8 sich im Anschlag hinter eine Kante geduckt atte.

Da kommt er heran, der prächtige Vock, allen voran, stolz und tänzelnd wie ein Zirkusponny da stutzt er jäh, schnuppert, und Krach!Hundertfach dröhnt das Echo des Schusses den jähen Wänden entlang. Wie von einer Sehne

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[]geschnellt springt er auf, überschlägt sich und stürzt auf einen Vorsprung nieder!

Das Rudel ist wie vom Erdboden verschwunden! Hochauf atmet der Jäger: Dort liegt das herrliche Tier, den Kopf zurückgebeugt, die Augen verglast! Der Murmolter steigt nieder.

Jetzt hat er ihn erreicht; triumphierend, mit blitzenden Augen schaut er in die gähnende Tiefe; herausfordernd schweift sein Blick über des grandiose Panorama; sein offenes Hemd zeigt die wogende Brust; seine Hemdärmel sind vom Klettern zerrissen, seine Arme sind blutig geschürft und sein knochiges Knie schaut aus den zerrissenen Hosen hervor, aber ist er nicht ein König?

Was sagt der Herr Graf mit Monokel und glänzenden Ledergamaschen auf seinem Anstand dazu?

Aber auch das Königtum Murmolters sollte nur allzubald das Los alles Irdischen teilen.

Er weidet den Bock aus, schnallt ihn auf den Rücken und will auf dem halsbrecherischen Felsbande zurückgehen da zuckt er jäh zusammen! Wer steht denn dort am Ausgange des Felsbandes? Der Wildhüter! Ihn hatten vorhin die Gemsen gewittert; er hatte also dem Murmolter die Tiere ahnungslos zugetrieben.

Nachlässig auf sein Gewehr gestützt, steht der Alte dort, als schaue er bloß nach, dem Wetter aus. Er weiß wohl: Das Felsband, auf dem J

77 VDe []er steht, ist der einzige menschenmögliche Ausgang für den Wilderer!

Dieser schaut in die Tiese: Glatte Wand!Er schaut nach oben: Fast überspringende Zinne! Aber dort, woher die Gemsen gekommen sind? Fort! Nur fort! Er geht, sich mit den Händen an die Wand stützend, dem Felsbande entlang der Wildhüter folgt ihm nicht, schaut ihm scheinbar gar nicht nach. Er klopft sogar die Pfeife! Der muß seiner Sache sicher sein! Ob er ihn schon erkannt hat? Fort! fort! ... Jetzt ist der Murmolter dort, wo die Gemsen geweidet hatten: Das Felsband endigt an lotrecht abfallender Wand;die Tiere mußten also von oben auf den Absatz gesprungen sein, wußte er ja, daß die verfolgte Gemse vor einem Absprunge von 4050 Fuß nicht zurückschreckt. Resultat: Gefangen oder Kampf auf Leben und Tod!

Er geht in eine Felsennische, um fich zu beraten und sein wildjagendes Blut ruhig werden zu lassen; denn jetzt braucht es kaltes Blut;er kann sich die höhnischen Runzeln um die Augen des Alten vorstellen! Finster blickt der Wilderer ins Bodenlose, Leere:

Ergib mi, so chumm i eppe zwee Menet is Loch zwee, zwee Menet nid uise! Zwee Menet käini Bärg! J gloib, i wird e Narr!“

Er lädt die Büchse sorgfältig, legt den Bock nieder, zieht den Kittel aus und streift die Aermel zurück.

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*[]Jetzt kommt er aus der Nische hervor. In der Rechten hält er den Stutzen. Eine unheimlich schwarze Locke liegt auf seiner Stirne; um seine Mundwinkel starrt ein Zug finsterer Entschlossenheit; seine Lippen sind blaß, und zwischen den Zühnen hält er das Waidmesser.

Vom Tale herauf klingen die friedlichen Herdenglocken und über dem Abgrunde steigt eine Alpenlerche jubelnd zum Himmel empor!

Der Wilderer legt sich platt an die Wand und schaut um die Kante: Dort steht er noch!

„Aer sell nur cho! J goh nid! Ehnder ibernacht i ufem Felse und friße s'Gämsi roih! Wenn är chunnt, denn isch es fir mich Notwehr!“So redete er sich ein.

Die Entscheidung sollte nicht mehr lange auf sich warten lassen: denn jetzt kommt der Wildhüter heran! Fast alle zehn Schritte hält er inne; er scheint so ruhig; aber sein Auge ist unheimlich kalt; die Flinte hält er nachlässig in der Hand, aber der Kolben sitzt schon in der Achselhöhle!

Der Murmolter faßt seinen Stutzen krampfhaft mit beiden Händen, den Lauf nach unten ins Tal gerichtet.

Nun macht der Wildhüter wieder einige Schritte die Entscheidung ist da!

Wessen Blut wird diesmal die Felsen röten?

Der Murmolter zieht den Hahn auf.

Zwischen beiden in der Luft gaukeln zwei Alpenfalter.

W 9 []Da geschieht etwas, was keiner von Beiden für möglich gehalten hatte: Vom Schwalmis her kracht ein Schuß! noch einer ein dritter!

Wie von einer Kugel ins Herz getroffen,zuckt der Wildhüter auf! Versteinert starrt er nach dem Schwalmis hin. Wieder ein Schuß! Noch einer!

Jetzt kommt Leben in ihn! Wie von einer Kreuzotter gebissen, schnellt er herum; im Sprunge nimmt er die gefährlichsten Stellen des Felsbandes. Jetzt ist er verschwunden jetzt erscheint er oben an der Kante: Einem Schneepfluge gleich führt der wilde Bart seinen Meterschritten voran. Er keucht nur immer das eine Wort:

„Am Schwalmis am Schwalmis!“

An den Murmolter denkt er nicht mehr; dieser aber packt den günstigen Augenblick und seine Siebensachen! Eine Minute nachher ist er auch oben auf dem Grat. Verwundert schaut er dem Wildhüter nach: Der ist schon hoch üͤber der hintern Baubergalp. Zweierlei kann der Murmolter nicht begreifen:

Die Schüsse am Schwalmis und das Gebaren des Alten!

Aber item: Er atmet und streckt sich mat einem erlösenden: Aaahh „Hesch wieder emol Glick gha, Fränzl,“ schmunzelt er zu sich selber, „jätz aber furt, eb dr ebig Jud sälig isch!“

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36 []Mittlerweile hat der Alte den Schwalmis erreicht. Hoch oben an der Ferniwand erspäht sein Geierauge eine verängstigte Gemse in unzugänglicher Felsenspalte. Wie wahnsinnig steigt er um die Nordwand herum und an den „Geißplatten“ hinauf; dort scheucht er eine zweite Gemse auf; sie ist angeschossen und flieht schweißend gegen das Rigithalgrätli hin. Er geht weiter und weiter, über Steinhalden und Gräte und Tossen, durch Runsen und Rinnen und Spalten, an Wänden und Krachen und Kanten hinauf, über Abgründe und nie betretene Gemsenpfade und weiter und weiter endlich setzt er sich auf einen Stein, stützt die brennende Schläfe auf die schwielige Faust und stöhnt:

„S'isch so Er! ... Er! ... und klüi Spur meh! furt! Wiädr Teerst, wiü dur d'Luft“

Ja, „Er“ mußte es gewesen sein und nicht allein mit wenigstens drei Kumpanen,nach Schußzahl und Zwischenpausen zu urteilen.War der Murmolter im Spiele? Nein!Hätte er ihn absichtlich fortlocken wollen, so hätte er es sicher nicht durch einen Treffschuß getan und nachher das Wild am Platze noch ausgeweidet! Aber war's denn ein Zufall oder hatte „Er“ wirklich mit so unheimlicher Sicherheit operiert? Sicher hatten sie auf seinen Weggang gewartet, und zwar

57 []auf drei Seiten des Schwalmis! Herrgott!Das war ja wie fürs Theater einstudiert!

Der Murmolter hatte mit seinem Schusse ahnungslos das Stichwort zum unerhörten Meisterstücke des kühnsten Wilderers gegeben!

138 []6. Die Sage vom „Uri-Jäger“

Dem heißen Tage folgte eine stürmische Wetternacht. Es war schon spät, als der Wildhüter in der Oberbolgenalp einkehrte; sie liegt auf Urnergebiet, am Südfuße des Schwalmis.Der uralte Bolgensepp war noch allein auf;sein Sohn, dessen Weib und Kinder, die Enkel des Alten, waren bereits auf dem Heuboden zur Ruhe gegangen. Als sie aber den Wildhüter an der Stimme erkannten, kam eines nach dem andern wieder die Leiter herab; sie hatten die Schüsse am Schwalmis gehört und die Einkehr des Alten ließ sie deshalb auf Neuigkeiten hoffen verzeihliche Neugier in dieser weltabgelegenen Alp!

Und sie sollten nicht umsonst gehofft haben;denn der alte Sepp war der Vertraute des Wildhüters. Dieser saß erst wortlos eingeduckt auf einem Holzbündel und schaute dem Alten geistesabwesend zu, wie er das Kessi auswischte.

„Witt eschli Suiffi (Molke) oder es Bätziwasser?“ fragte dieser, ohne sich umzusehen.

Da fiel dem Wildhüter ein, daß er seit Vormittag noch nichts genossen habe, und daß sein Gaumen von der wilden Jagd fast eingetrocknet sei:

139 []„Gim mer eschli Suiffi, Sepp!“

Der gute Sepp holte ihm ein ganzes Maßgwärtli voll, dazu herrliche Alpenbutter, dürres Brot und Käse. Der Wildhüter ließ es sich schmecken und sagte nach seinem Tischgebete nur kurz:

„Danki Gott, Sepp!“

Diesen aber stach schon lange der EGwunder,ohne daß er's sich merken ließ; er sah dem Murer an, daß etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein mußte.

„Hesch es sträng gha hitt?“

„Jol“

„Händ er es Schitzefäst gha am Schwalmis obe?“

„Jo, aber hitt bin i nid Schitzekenig, Sepp!“

„Wär isch denn gsy?“

„J gäb di lingg Hand, wenn i's wißt!“

Wie die kleinen Enkel aufhorchten hinter dem rohen Tische! Ihre Augen alänzaten wie schwarze Diamanten. Die junge Frau aber war eine ganz Schlaue; sie holte aqus einem uralten Bretterschranke eine Flasche Bätziwasser und schenkte dem Wildhüter, dem „Vater“ und ihrem Manne ein. Da taute der alte Murer auf. Es tat ihm wohl, daß diese guten Leute ihn gerne hatten, und er erzählte ihnen von dem geheimnisvollen Jäger, angefangen vom Tode seines Sohnes bis zum heutigen Teufelsstreich.

Und draußen heulte der Sturm!

140 []Mit offenem Munde hatten die Kleinen seiner Erzählung gelauscht, und der „Seppli“,ein rotwangiger Bube von 10 Jahren, meinte zum Schlusse:

„Das isch en schloie Bleger! Vewitschist en ächt?“

Der alte Sepp aber klopfte seine Pfeife aus und sagte so nebenbei:

„Jgloibe bald, es chennt dr Uri-MNiger gsy sy di Gschicht chunnt mer nääwe nid rächt ghiir vor !“

Ah! Die Sage vom Uri-Jäger!

Die Kleinen zogen ihre nackten Füßchen auf die Bank, und die junge Frau hüllte sich wie ein Uhu in ihr „Gefieder“, denn der „Aehni“konnte so „gruislig“ und schön erzählen von uralten Zeiten und „Geschichten“, und er schwor darauf, daß sie wahr seien.

Draußen heulte der Sturm, und hie und da flammte der grünliche Schimmer eines fernen Wetterleuchtens durch die Wandsparren. Der Aehni erzählte am liebsten, wenn es draußen stürmte; das gab seiner „Geschichte“ den stimmungsvollen Hintergrund, und wenn dann noch ein Bätziwasser dazukam, so wurden seine Bilder und Gestalten umso geisterhafter.

Die junge Frau schenkte ihm noch eins ein.Das war der zarteste Wink, den sie dem Aehni geben konnte. Er stopfte seine Pfeife und meinte dabei:

141 []„Bi somene Sturm jagt er gäreniber d'Alpe und lüogt by jäder Hitte dur s' Chemi wo käi Wihwasser isch, oder wo d'Gufe nid brav sy,“sagte er mit einem Seitenblick auf die Enkel,„dert het er Gwalt und lohd großi Stäi appve.“

„Wie isch er äine?“ fragte der Seppli, indem er sich an die Mutter drückte, obwohl er wußte, was jetzt kommen würde.

„Groß und wild wiänne Riis losid!Gheered er niid?“ Das war gewöhnlich die Einleitung, und alle horchten auf das schaurige Heulen des Sturmes; klang es nicht wie das Stöhnen einer verzweifelten Seele?

Da flog die Türe auf; die Kinder schrieen entsetzt auf; denn dort im nächtlichen Dunkel stand ein Riese der Imbühl!

„Gott griäß ech mitenand!“ sagte er ruhig,„bi chli sppot, he hesch mr kes füißes Rindliꝰ

„Griäß Gott, näi“, erwiderte der junge Aelpler, „eppenij zwee Menete chu numenine! Nimm es Glesli.“

Da setzte sich der Imbühl neben den Wildhüter und stieß mit ihm an.

„Bisch spoot hitt“, meinte der alte Murer,und die junge Frau fügte neckend bei:

„Aer wird eppe z'Liächt gsy sy!“

„Nääi“, lachte er so schalkhaft, als ob er die Anwesenden in diesem Gedanken bestärken wollte. „S'Fläisch isch iätz rarer als d'Mäidli mr müos eppe lüoge wiä mr drzüo chunnt.Bi z'Sant Jokeb unne gsy. Ha im Gasser

142 []Seppi dry Springer und e Beer (Sau) abgchoifft.“

Dann klopfte er dem Wildhüter teilnehmend auf die Schulter:

„Müdsch es nid so schwär näh, Hans!“

Wie da der Alte auffuhr:

„Was? Wäisch es scho?“

Der Imbühl aber sagte mit einem seelenruhigen Lächeln:

„Jo, i ha dr Wyrsch troffe. S'sygid schtiints e baar Schitz gange-n-am Schwalmis obe?“

War das Teilnahme oder Hohn?

„Ahni, verzellid wiiter!“ drängte der Seppli;denn die „Gschicht“ durfte um keinen Preis vergessen werden.

„He jo, verzellid eppis scheens!“ ermunterte nun auch der Imbühl, „i müos de grad wieder goh i sett bis more z'Nieder-Rickebach äne sy.“

In dieser Sturmnacht noch diesen gfährlichen Weg! Wie unverhohlene Anerkennung klang es, als der Wildhüter bemerkte:

„Kennst di jo uis wiä ne Wilderer! Schiäß mer nur niid!“ Das Letzere sollte wohl eine Anspielung auf das Schützenfest sein.

Dieser schaute den Alten lächelnd an:

„Hätt dr scho mängs chenne newäg putze,wenn i nes Gwehr hätt und uf fiif Schritt ne Chüoh truff!“

143 []Wars Scherz oder Hohn, was jetzt wieder in seinen Augen flackerte?

„Aehni!“ drängte wieder ein Kleiner. Dieser schaute auf den Imbühl; innerlich war er selbst ungeduldig geworden; denn es schmeichelte ihm, wenn ein ganzer Kranz von Zuhörern bewundernd und staunend an seinen Lippen hing,während er so gleichmütig erzählte.

„Also Sepp, mr warte scho lang los!“bat nun auch der Chappi, scheinbar eindringlich,obwohl ihn das „Zeug“ wenig interessierte und er lieber mit dem Wildhüter noch einiges „Nebensächliche“ gezellt hätte. Aber er wollte dem Alten die Freude nicht verderben und mußte deshalb ein wenig Begeisterung heucheln sie sollte bald echt genug werden!“

Da blies der „Aehni“ den Tabaksaft durch den „Beißer“, stopfte nochmals umständlich und begann dann so phlegmatisch, wie es eben nur ein alter Aelpler zustande bringt:

„Wo jäz dr Bliämlisolpfirn isch om UiriRotstock oppe, dert isch äinisch e scheeni Olp gsy.Ne fäißi scheeni Olp; mer het ere nur d'Bliämlisolp gsäit, wills di scheenst gsy isch wiit umenond. Vom Brunnistock isch e Brunne durappe gloiffe und hed di Olp gwässeret. Nur heech oppe, zwischem Brunni u Blackeninne isch e Gletscher gsy.

Uf säler Bliämlisolp het en Senn gwohnt mit siner äinzige Tochter. Aer isch riiche gsy und hed i syner Tochter es scheens Huis buiwet,

144 []fosch wiä nes Schloß, wisseter dert om Schloßstock züoche; wäge dem het er dr Nome. Sy Tochter hed Firna oder Frina ghäiße, wäißßz nimme rächt, u si isch di scheenst gsy wiit umenond. Um ihres Schleßli ume hed si nes Blüomegärtli gha wiä mr sälte ääs gseh hed. J dem Gärtli inne hed si ihri wiiße Linne-n-uisghänkt und trechnet Vo wiit häär het mer das wiiß Ziig gseh, und sie hed alls sälber gspunne-n und gwobe. Drzüo hed si gsunge, daß mers wiit umenond gheerd hed und alli Aelpler sähnsichtig uifeglost händ.“

„Wär wett oi so dumm sy!“ unterbrach hier die Sennerin den Erzähler, mit einem eifersüchtigen Blick auf ihren Mann, wie jedesmal bei dieser Stelle. Der Alte aber fuhr unbeirrt fort:

„Zu säler Zyt hend wiiter unne, uf dr jäzigen Olp Wildebutze zwee Briäder gwohnt.Dr elter hed Uiro ghäisse unn isch e wilde Yäger gsy. Dr Jinger isch brav und güote gsy und hed immer miässe d'Gäisse hiäte, we dr onder uf d'Jogd isch; är hed mäini Haddo ghäiße. Ano dozemol hed s' no wildi Uiristiäre gäh und dr Airo hed äbe vo säle dr Nomenibercho, will er mit emen Uirifähl gjagd hed, wo d'Herner no druff gsy sy wägem aatiißele (anschleichen) notirli; diä Uiristiäre hend chenne gumpe soift wiä d'Gämsi und sy grysli wildi gsy.

Up dr Jogd a dr Bliämlisolp oppe hed dr Uiro äinisch d'Firna gseh und sidhär isch erenimmer noche gstriche. Aber si hed niid welle

145 []von em wisse, will er e z'wilde und z'ugattlige gsy isch; si hätt dr Jinger liäber gho, will er so friine gsy isch; aber dä hed niid gwißt drvo.

Wo äinisch dr Uiro uf dr Jogd gsy isch,loifft im Haddo ne Gäiß drvo, dert gägem Butzetosse züoche-n-am Sassigrot. Uf eme Felsbond hed ere mege noche und isch scho hindere züoche gsy do hed si di Gäiß umgchehrt, aber do isch es käĩ Gäis meh gsy: Dr Bart hed bis ufe Bode-n-oppe glängt und d'Herner sy wildi Chruiselhoor gsy und di zwäi vordere Büi sy gstieflet gsy. Vor em Haddo isch äifoch es Butzemondli gstonde (Zwerg, Heinzelmännchen). Dr orm Büob isch erchlepft (erschrocken) und wär oppeghiid, wenn ne dr Butz nid gha hätt. Aer het ne do ine Felsspolt gfiährd, wiit, wiit ine.E Ring asym Finger hed zintet und ne dr Wäg zäigt. Do sy si an-e großi Chammere cho und dert hets glänzt und gliißnet vo Gold und Edelstääne. Dr Haddo hed zitteret, woern-er das alls gseh hed.

Dr Butz hed gsäid: Das isch olls mys und lüog mi aa dül bisch no brave. Do hesch my Ring!“ Und er het emen a Finger toh und gsäid: „Wenn d'dä Ring nid verliärisch bis zwänzgi bisch, so iberchunntsch dä gonz Schotz.Wenn n'ne verliärisch, so wird dr Stäi do drinn triäb und dr Schatz isch verlore. Und wenn d'sälber schuld bisch, so isch dos dis Aend. Wär dr Ring findt, dä hed denn s'Glick; wärne ne

46 []wäg wirft, dä hed de Flüoch. Di beese Gäister hend de Gwolt iberen.

Do hed de Butz dr Haddo wieder uisegfiährt und isch wieder i Spolt ine verschwunde, und dr Spolt hed si gschlofsse.

Dr Haddo hed dr Ring aaglüogd; er isch nume vo Aerz gsy und dr Stäi vo Christall; jäz a dr irdische Luft hed er gor nimme so gliichted wiä dinne; ober scheen luiter (klar) ischer gsy und kes Fläckli hed er gho. Woener do häi cho isch, findt er d Gäiß im Stohl inne; si isch gor nid verloiffe gsy. Aer hätts gor nid gloibt, wener nid dr Ring om Finger gho hätt.

Woner bald zwänzgi gsy isch, loifft em wieder emol en Gäiß drvo. Aer isch ere noche bis ufe Schloßstock uife. Dert hed er si verwitscht und hed grad wieder welle mit ere furt,do hed er d'Firna gheert singe und isch still gstande. Wo si uifgheert hed, isch er ufe Tossen uife go lüogen, eber si gsehi. Und do hed si ehn oi gseh und hed em gwunke mit eme wiiße Tiächli. Z'ersch hed er nid welle go, und d'Gäiß het zehrt anem; si hed gmerkt, daß eppis nid ghiir gsy isch. Aber wo d'Firna wieder aagfange hed singe, hed er si nid megeniberha und isch züonerenoppe gange und hed si Gäiß am ene Gortestedli aabunde. Do isch d Firna cho und het en im Gärtli ume gfiährt. Nochhär nimmt's en bim Orm und siht mit em uf nes Bänkli appe und hed em ollerlei Scheens

147 []verzellt. Aber hinderem e Grotzli (Tännchen)isch dr Uiro gstande und hed züglüogt und sini Oige händ blitzt wia dr Tiifl!

Af äinisch säid d'Firna: „Wos hesch do fir en Ring?“ Und dr Haddo hed ere di ganz GEschicht verzellt. Do ischt gwunderig worde und het em dr Ring abzoge und gsäid: „Zäig emol!“ J däm Oigeblick riäft dr Uiro: „Haddo! Haddo!“

Do sind si erchlepft, daz i dr Firna dr Ring oppe ghiit isch, und dr Haddo hed gonz tuich (zaghaft) gifrogt:

Wa isch dr, Airo?“ Und dr säl hed gsäit:

Chumm gschwind!“

Wohi?“ hed dr Haddo gfrogt.

Aes isch mr es Gämsi ĩ Gletscherspolt oppe ghiit; chumm mers cho hälfen uifenäh. J ho s'Säil bimer!“

Und dr Haddo hed nimmeno Ring gsinnet und isch gonge. Do sind sie mitenond ufe Gletscher uife cho. Wo si anne große Gletscherspolt dare chemid, hed dr Haddo gfrogt:

„Wo isch jäz das Gämsi?“

Do isch es!“ hed dr Airo gsäit und het em äis ghoiwe mit eme Grotzlibängl. Dr Haddo hed nume ne Gtiß uisgloh und isch zäme ghiit.Aer isch gonz om Rond gläge und sys Blüot hed iGletscherspolt oppe trepfelet. Dr Uiro hed gmäint är syg gonz tod und het ne welle mit em Bãi oppestoße. Ober do hed dr Haddo d'Oige no äinisch uifgmocht und gschruwe: „Uiro! Näi oi!“

14*[]Aber 's hed niid gnitzt. Dr Uiro het nenoppe ghiit. Denn het er i Spolt oppe glost, eb er no läbi. Wiit wiit unde-unife het er gheert riäffe:„Kain Kain Kain“ losid, gheeret er niid? Hed's nid dusse grod so gmocht?

Wo dr Haddo im Gärtli unne furt gsy isch,hed d'Firna dr Ring wieder uifgha und hed dure Stäi dure glüogt, und dr Stäi isch triäb gsy. Si het en a dr Schäibe gribe und gribe,ober är isch immer triäber worde. Do ischi toibe worde und hetne furtgsället (geworfen). Es isch ere-n-ober grod z'Sinn cho, das er jo im Haddo gheeri und het ne wieder welle go hole.

Ober i däm Oigeblick heds aagfongenärdbebne und tonnere und dr unner Täil vom Brunnigletscher isch uf d'Bliämlisolp oppeghtit und hed olls, olls zäme vergrobe.

Wenn's e so chuitet und stermt wiä grod iätz,so gheert mr mängisch eppe vo dr Bliämlisolp häre d'Firna jommere losid, wiä si im Haddo riäfft!“

„Und der Airo?“ fragte der Seppli mit glühenden Wangen.

„Dä isch grod mit em Gletscher oppe ghiit uf d'Bliämlisolp oppe. Aber är hed käi Ruäiw und si Seel müos bis om jingste Toog dur d'Olpe fahre und denn chunnt er i d'Hell. Und wenn dr Gletscher dr Haddo und d'Firna uisegschmulze hed, denn sind si erleest. Ober dr Uiro müos immer dur d'Olpe jage und hinde

9

7 []noche gheert er immer riäffe: Kain Kain losid, wiäs teent vom UNiri-Rotstock häre “

„Müdtter, hesch no Wihwasser?“ fragte der Senn seine Frau.

„Jo, i will de more wieder nohfille!“

Die Kleinen hatten ihre Beinchen an sich gezogen und sich so viel wie möglich an die Mutter gedrückt.

„Isch dos en wohri Gschicht, Aehni?“ fragte der Seppli, indem er kaum zu atmen wagte.

„Dr Knäiwislunzi het en ainisch gseh, dr UiriPger, wiäner mit ere schwarze Wulkeni dr Zingelflüoh nochegfahre-n-isch, und am Morge druif het er en gschwullni Bagge gha.“

Einen Augenblick war es still im traulichen Kreise, da fragte der Alte plötzlich:

„Wo isch dr Imbiehl?“

„Jo, wo isch er?“ fragten nun auch die andern er war nicht mehr da!

„Aer isch mäini vorig unner de Teere gstande “„Jo“, sagte der Seppli eifrig, „är hed nochem Wätter uisglüogt dert gägem Uiri-Rotstock uife und do isch er nimmenine cho!“

„Wird eppe prässant gsy sy“, meinte der Wildhüter in seiner trockenen Weise, „ääür hed allwäg nid welle steere“ Man sah nach er war fort!

Draußen heulte der Wettersturm und durch die Wandritzen zuckte der bläuliche Schein ei

5.

N []nes fernen Blitzes. Der Blümlisalpfirn aber leuchtete still und rein in die Nacht hinaus, und über ihm stand ein glänzender Stern wie ein ewiges Licht.

151 []7. Eine Verlobung

Seit einigen Wochen verkehrte der Kaspar Imbühl sehr oft im „Mond“. Er half auch bereitwillig aus, wo es nottat. Der Mondwirt war nämlich erkrankt; ein böses Leberleiden hatte ihn auf das Lager gezwungen. Da war es unvermeidlich, daß Klara eine Ueberfülle von Arbeit bekam. Aber gerade das unermüdliche Schaffen war die beste Medizin für ihre Herzenswunde: Ihre roten Wangen kamen wieder, und aus ihrer Stimme klang es wieder wie der Ton der Morgenglocke. Es war geradezu ein herzfrischer Anblick, wenn sie in der weißgeschürzten Nidwaldnertracht ihr Herrscheramt ausübte. Das fand denn der Imbühl auch!Wenn er auch scheinbar gleichgültig bei seinem Schoppen saß, so beobachtete er sie doch im Geheimen und konnte kein Auge von ihr lassen:Sie war in letzter Zeit noch viel schöner geworden. Das machte bei all ihrer lebendigen Frische der leise Schmerzenszug über ihren seelentiefen Augen.

Es war an einem Sonntag-Abend, als der Imbühl wieder im „Mond“ bei seinem Glase saßz. Die Klara wirtete so frisch und freundlich,wie immer, und doch sah sie keinen der Gäste recht; ihr Blick hing des öftern wie traumver

4 198*[]loren an dem hölzernen Kruzifix dort an der Wand; ein halbverwelktes Sträußchen Edelweiß und Männertreu steckte hinter der Dornenkrone. Doch plötzlich kommt sie an Imbühls Tisch und sagt ganz unvermittelt:

Chappi, dr Vater mecht gäreneppis mit dr rede; hättisch vilicht en Oigeblick Ziit?“

„Gäre, worum nid! Sell i grad goh?“

Jo, chumm numme!“

Sie ging voran in das Krankenzimmer, der Chappi folgte nach. Dort lag der Mondwirt tief in den Kissen und streckte ihm wehmütig lächelnd die Hand entgegen. Die Klara entfernte sich geräuschlos.

S'iisch nimme wiä alme, gäll Chappil!“seufzte der Kranke.

Wird scho eppe wieder goh!“ entgegnete Imbühl, „müosch halt e chli Geduld ha und bravenim Bett bliibe.“

Das isch es äbel Im Bett bliibe, wo so vil z'mache wär! S'Klerli schafft si fast zTod vo friäh bis spot, und s'isch doch nid alls fir nes Wybervelchli Chenntisch mr dui nid es Fahß Wy vo Luzärenunife bsorge-n-am Zystig und ne de grad aastäche? Wär doch niid firs Kleerlie!“

„Gäre, wills scho bsorge, und wenn d' sisch no eppis hesch nume gsäid!“

Dabei zupfte der Imbühl am Kopfkissen herum und glättete die Bettdecke wie eine besorgte Krankenschwester.

152 []„Wär mr rächt, Chappi“, sagte dann der Patient zögernd, „wenn di eppe hi und do chennt lo riäffe. Dr Häiwet isch do und i ho no niämer. Dr Muirer hed afe gsäid, är chemm eppe zwischenine cho hälfe, aber i sett doch no eppe zwee ha.“

„Channtsch uf mi zelle, Väli, und wenn i dr Siihandel vomenenandere müos loh bsorge.Das isch jäz e Notfall!“

„J dank dr, Chappi, wenn d' eppe no äine chenntisch uiftriibe ...“

„Isch gloib nid netig; we dr Muirer no chunnt, so wärchemer fir viär.“

„Säl stimmt soift!“ lächelte der Kranke.„Ha grad di rächte zwee verwitscht. Woni no jinger und gsunde gsy bi, hed mi gwiß nid liächt äine mege mit Schaffe, aber jäz gohds halt nimme so ...“

„Isch dr rächt, wemmer more d's Gras abhoiwe? Am Zystig gang i uf Luzäre-nappe,und am Mittwuche tiäm mer d's Häiw ine?“

„Isch mr rächt, jo; richtits nume-ny, wiä s'ech paßt!“

„Güot! Adiäh, güoti Besserig!“ Damit ging der Imbühl wieder in die Wirtschaft zurück;denn der Anblick der Klara gefiel ihm doch besser, als das aufgedunsene Gesicht des weinerlichen Kranken.

Am folgenden Dienstag-Abend trat Kaspar Imbühl wieder an das Krankenbett und meldete, daß der Wein angestochen sei. Als Stich

154 []probe hatte er ein Meielglas voll mitgenommen und reichte es dem Kranken hin. Zartfühlender kann man einem kranken Wirte gegenüber gewiß nicht mehr sein. Der Patient schlürfte und probierte, kostete und versuchte,bis das große Glas leer war und stellte es dann auf einen Stuhl.

„Wie gohts drꝰ?“ fragte der Imbühl teilnehmend, mit einem weichen Anschlag in der Stimme. „Jo, hm, ha immer gmäint, i chenn eppe hald wieder uifstoh, aber dr Dokter hed im Bart gchratzet, woni gfrogt ha, wie lang as s' no gäi. Si chene halt niit meh, d'Dekter.J gloib, i wär scho lang wieder aschur, wenn i kääne hätt. Friächer het mr almig eppe nes Giix (Schnaps) gnoh, wämmer Buichweh gha hed und dänn hets glugged. Wäg dr Wirtschaft giängs scho no, aber ds Veeh! Das isch doch niid firs Klerli!“

„Uf d'Duir (auf die Dauer) gohds allwäg nid“, meinte der Imbühl nachdenklich, „müosch scho eppenuf Hilf lüoge.“

„Jo jo, hesch güot säge, aber wiä ibercho bi der Ziit! Und de mecht i doch nid gäre-n-alls de fremde Liite-n-aavertruiwe.“

Da ging der Kaspar schnurstracks auf sein Ziel los: Er hustete dreimal und sagte dann:

„Wyme, i gloibe halt immer, s best wär,wenn s' Klerli doch no wird hirote! Grad

J F

3 []i der Ziit, wos jäde Tag cha Chriäg gäh! Hättisch jo niämr, wenn's Aernst gult!“

„Wäis scho, wäis scho, jo, hesch scho rächt aber hm, jo gang säg eres Dui!! Wirsch de scho gsehl“

„D'Hoiptsach isch, wenn Dui nid drgäge bisch! S'ander wird sich de scho eppe mache.“

„Biwahr! Aber jäde Fitzel mecht i oi nid.

Är miäßt mr de scho oi eschli i d'Oige passe!“

Da streckte der Imbühl dem Wirte die Hand hin und sagte resolut:

„Wyme, i will dr eppis säge: Dui kenntsch mi wie käi andere, und i wäis, daß d'e vernimftige Maa bisch: Säg mr nur äis graduise

Wär dr güot gnuo?“

Lange glotzte der Kranke den Riesen verständnislos an; dann ergriff er die Hand:

„Chappi! Isch dr Aernst? los (höre),käine liäber i ganz Begriäd, aber isch sie yverstande?“

„Wäiß nid, säl wird si eppe wiise, ha z'ersch Dich welle froge, wi 's rächt isch“

„Das isch brave vo Dir, Chappi; i gloib,miär zwäi chäme no uis zäme.“

„Aber säisch im Klerli no niid, gäll, sischt mäints eppe no, me häigit z'säme ne Chüohandl gmacht.“

„Näai, näi, Chappi, bisch wohl sicher! Lüog nume sälber, wi d' z'Schlag chunntsch mit ere Wäisch, si hed no käini falschi Zäh und säl hed si 14

156 []Da kam der Arzt und Imbühl ging; der Eckstein war gelegt!

Am folgenden Tag war ein Heuwetter wie auf Bestellung. Ein wolkenloser Himmel strahlte hernieder, und hoch im Aether kreisten die Bussarde, für den Kenner ein Zeichen, daß die Luft rein ist. Ueberall waren die Bauern am Heuen.

Der Nidwaldner Bauer ist kein leidenschaftlicher Arbeiter; er schafft am liebsten gerade so viel, als der Unterhalt seiner einfachen Lebensweise erfordert. Deshalb ist auch der Betrieb seiner Landwirtschaft meist noch sehr primitiv.Dies hat seinen Grund in der Genügsamkeit und in den oft sehr schwierigen Bodenverhältnissen. Damals gab es in ganz Nidwalden noch keinen Heuwagen, und in Obwalden z. B.führte der Pächter des Klosterhofes in den 1870er Jahren den ersten Heuwagen ein, und dieser Pãchter, Josef Luterbach, war ein währschafter Luzerner!

Das Heu wurde und wird noch zu einer sogenannien „Burdi“ zusammengebunden; der Heuer legt sich mit dem Rücken darauf, faßt das Seil, und mit einem gewandten Schwunge steht er mit seiner Last auf, trägt sie die Leiter hinauf und wirft sie oben durch die Lucke auf den Heuboden. Zum Schutze gegen die „Heublumen“ besitzt das leinene Ueberhämpli eine kleine Kapuze, welche beim Burditragen über den Kopf gezogen wird. Dieser und noch viele 37 []andere Gebräuche, z. B. in der Alpwirtschaft,gehen wohl bis in die ältesten Urzeiten zurück.

Im sogen. „Isenring“ draußen besaß der Mondwirt eine Matte. Der Wildhüter, Kaspar Imbühl, und die Klara zogen das Heu mit Rechen an „Wälme“ und wanden sie zu Haufen;dann zogen der Wildhüter und der Imbühi ihre Seile auf den Boden hin und beluden sie.Es ist heute noch für jeden „Länder“ eine Ehrentat, eine zweizentnerige Burdi im Schwunge zu nehmen und die Leiter hinaufzutragen; der Imbühl fuhr mit ihnen ab, als hätte er nur ein kleines Kind auf seinen Nacken gesetzt, um mit ihm „Sühroß“ zu spielen. Dabei sprach er der Klara zu, ihm recht große Burdenen zu laden, denn er wollte sich ihr heute als starken Mann zeigen, und wenn sie verwundert sagte:„Näi oi, Chappi!“ so meinte er gelassen: „Gib no chlil“

Der Wildhüter machte sich die Sache leichter und vernünftiger: Er blieb beim Normalen.

Als es bald gegen Abend ging, wollte der Imbühl noch sein Meisterstück leisten und ließ sich von Klara seinem Seile eine ganz abnorme Last auflegen.

„Aber, was dänksch oi, Chappi, bisch nid gschiid?“ wehrte die Klara und er sagte gleichmütig: „Nur s' säl dert nol“

Endlich band er; es gab eine Burdi, daß er kaum darüber hinweg sah. Da legte er sich mit dem Rücken daran und schwupp, steht mit

158 []ihr auf, trägt sie über die Matte und dann die Leiter hinauf. Er atmet schwer, hätte aber sicher im Ernstfalle noch mehr zu tragen vermocht.

Da stach den Wildhüter der Kobold, und als der Imbühl wieder kam, sprach er zu ihm und zu Klara:

„He, machet mr oi so äini!“

Die Klara protestierte besorgt:

„Abernääi, chennted ech jo bräche!“ (Einen Bruch bekommen.)

Es nützte aber nichts; der Wildhüter lud selber weiter und fragte endlich den Imbühl:

„Ischi so groß wiä dini?“

„Jo, soift so schwär, vilicht no schwärer!“entgegnete dieser, die Arme in die Seite gestemmt. Würde der Alte mit dieser Last fertig werden?

Der aber legte sich an die Burdi, zog die Beine an und stand feierlich mit ihr auf. Langsam und gemächlich schlarpte er mit ihr dem Schober zu und dort an der Leiter empor. Der Mann mußte Sehnen von Stahl besitzen. Schweigend schauten ihm beide nach, bis endlich der Imbühl bemerkte:

„Hättisch das gloibt?“

„Näi, gwiß nid! Jeh, wenn dä mit em

Merder z'säme chunnt!“

Als die Matte „grechet“ war, holte Klara das „z Fiifi“. Man lagerte sich im Schatten eines verkrüppelten Baumes und tat sich güt

JF []lich. Nachher verabschiedete sich der Wildhüter und die beiden waren allein.

Klara hatte sich ein weißes Tuch ums Haar gebunden zum Schutze gegen die Heublumen.Ihre Wangen glühten, und ihr Gesichtchen bekam von der Weiße des Schleiers einen anmutigen Schein. Wie ein Klosterfräulein stand sie vor dem Chappi, der sie vor scheinbarer Verlegenheit kaum anzuschauen wagte. Endlich aber sagte er, so wie nur um etwas zu sagen:

„Was säit der Dokter wägem Vater?“

„Ach Gott! Aer mäint, es chenn no lang go,und und“ sie schluckte mühsam „är häig nimme vill Hoffnig är sell eppe d'Andacht mache.“

„Und wenn s' miäßt sy, Klärli, daß er nimme z'wäg s chäm?“

„Gotts Name, i cha fast nid draa dänke, und doch

„Denn wärisch ganz eläi, Klärli!“

Sie lehnte traurig an den Baumstamm,neigte das Köpfchen und ihre Hände salteten sich.

„Wenn s' dr liäb Gott so will är wäis wohl, was er macht. Ha scho mängs miässe träge Uf dr Wält gits jo doch fir mich käis Glick meh.“

Die Brauen Imbühls zogen sich für einen Moment zusammen, aber kaum merklich. Dann meinte er sinnend:

160 []Aber d Wirtschaft? Und ds Land und ds Veeh? Dr Vater mag doch nimme rächt noche!“„Mr wirds dänk de miässe verchoiffe.“

„Oder was vilicht doch no gschiider wär “

„Waaas?“

„Hm! Wenn d'eppe wirdisch hirote! J däne Ziite, wo mr nid wäiß “

Da schaute sie ihn groß und ernst an, und ein stiller Schmerz lag um ihre Lippen und in ihren wehmütigen Augen.

„Chappi

Dieser blickte betroffen vor sich hin: „Eh,das wär eppe no nid zum Stärbe!“

„Aber oi nimme zum Glicklichsy!“

„Worum de nid? We zwäi enand gäre hend? Dr Herrgott macht si scho glicklich!“

Da kams fast unwillig über ihre Lippen:

„Eh, güot, so hirot doch dui. Ich bliibe ledig!“

Ich oi!“

„Dui?“ fragte sie ehrlich erstaunt und verwundert. „Worum Dui?“

„Ganz äifach: Will s'mi nid will!“

Da stach sie doch der weibliche Gwunder:

„Dich? Dich will si nid? Weli de?“

„Die säl, woni mäine!“

„Eppe s'Stalder Marie? Ujeh, die säl hätt di doch mäini scho lang gäre!“

„J will drumm käini, wo mr nocheloifft!“

„Was isch ächt de daas fir ne Prinzässin?“

191 []„Dü kenntschi oi!“

„Aini vo Begriäd?“

Der Imbühl antwortete nichts und starrte vor sich hin. Er atmete schwerer als vorhin unter der Burdi.

„Klerli“, sagte er dann mit zuckenden Lippen, „sid Johre, sid i groß bi, hani immer nume drufhie dänkt und drufhie gschaffet, gloib mrs nume, Klerli!“

„Und hesch es oi zu eppis brocht!“

„Jo, und alls isch fir niid gsy, fir niid, alls,und wenn i d'Seel und Säligkäit verchoifft hätt ...“„Chappi, das isch jäz e Sind so rede!So ne Bursch wiä dui bisch, chunnt doch an iädem Finger äini iber Chappi, lüog nid so wild s' goht mi jo niid aa, aber heschi scho gfrogt?“

„Näi!“

„Worum nid?“

„Wil i wäiß, daß es doch niid nitzt!“

Wie gebrochen stand der starke Mann vor ihr, daß sie beinahe Erbarmen mit ihm hatte.Sie nahm ihn teilnehmend beim Arme:

„Chappi, säg, kenn ich si oi?“

„Jo, Klärli, dü kenntschi oil“

„Mäintsch, wird's eppis nitze, wenn ich ihre tät züorede?“„Ganz sicher, Klärli“!Eh, so bis doch nid so tuich! J will jo gwiß

162 []gäre tüo, was i cha! Wär isches? Sägs iätz,Chappi!“ Dui, Klärli!“

Da wurde es stille. Sie war totenblaß geworden; denn sie sah, daß es ihm nur zu ernst war. Lange schaute sie ihn an, dann legte sie die Hand auf seinen Arm:

„Chappi, bis nid bees aber aber wenn dr Vater stirbt so gohn i gloib uf Rickebach uife J chennt jo doch käine meh glicklich mache.“

„Uf Rickebach uifel!“ wiederholte der Imbühl wild aufstöhnend. „Worum uf Rickebach uife? “

„Goh bätte fir Vater und Müoter und oi fir e Hansi sälig, wo so gäch hed miässeni d'Ebigkäät ibere, und oi fir si Merder, da er eppenoi no güot stirbt, dr arm Tropf!“

Es war, als ob ein Zittern durch den starken Mann ginge; nur einen Augenblick, dann hatte er sich wieder gefaßt. Dieser Mann besaß eine Energie, welche ihr Ziel erst dann aufgab, wenn es erreicht oder zerschmettert war.Er hatte jetzt einen zarten Korb erhalten, war aber nicht der Mann, der beim ersten Mißerfolg die Flinte ins Korn wirft. Er war nicht nur energisch, sondern auch ein Menschenkenner, und deshalb beschloß er einen Angriff auf die schwächste Seite des Weibes, auf die

„„

16*[]Rührseligkeit. Er nahm die Klara bei der Hand und sagte mit todestrauriger Stimme:

„Klara, Klärli, du hesch vill z'träge. J verstoh di, und bi dr nid bees, aber i wäiß äine, dä hed no vill schwerer z'träge, Klärli,bätt fir mi!“

Und dann ging er, ohne sich umzusehen;denn er wußte, daß Klara jetzt weinte!

Der Imbühl hatte sich wieder einmal nicht verrechnet. Er wußte, daß die Weiber in Liebessachen oft ganz unberechenbare Sprünge machen.

Als Klara ins Krankenzimmer ihres Vaters trat, bemerkte dieser sofort an den verweinten Augen, daß etwas vorgefallen war, und fragte teilnehmend, fast schüchtern:

„Klerli, was isch?“

„Oh, niid !“

„Verstell di nid; witts i dim Vater nid säge, Klärli?“

Da wendete sie sich verschämt zur Seite und gestand:

„Dr Imbiehl het mrnen Sirotsaatrag gmacht zwee Menet nochem Tod vom Hansi fälig!“

Sie stieß sich also an der verfrühten Zeit.Von Rickenbach sagte sie nichts. Wollte sie es dem Vater verheimlichen, oder war dieses Außenfort schon gefallen? Der Kranke zwinkerte mit seinen auch ver,wein““ten Augen und meinte halb lustig:

164 []„Isch das so schröckli? Mängs Mäitli würd vor Fräid uf ne Boim uife chlädere!“

Und da mußte sie selber lachen. Der Vater aber fuhr eindringlich fort:

„Isch eppe dr Imbiehl nid e flotte Bursch und verdient sy Sach?“

„Das scho, aber wäiß näiwe nid, es chunnt mer immer so vor, är häig so eppis wi müos i säge, so eppis Chalts i den-Oige-ninne.“

Wie scharf sieht oft das Frauenauge! Es gab eine kleine Pause: der Kranke überlegte:Also gegen das Heiraten hatte sie sich nicht sehr grundsätzlich ausgesprochen, nur die Person war noch nicht ganz im Oel! Der Alte meinte denn auch, indem er sich in seiner Decke fröhlich wie ein Igel zusammenrollte:

„Eppis Chalts i den-DOige? Eh, das wird de scho eppe warm wärde, wenn er i diini inelüogt mäintsch nid?“

Klara schwieg. Dann sagte sie, fast wie für sich:

„Was wird dr Vater Muirer dänke! Näi, Vater, i derft em nimme-n-i d'Oige lüoge,so miäßt mi schäme!“

„S'bruicht jo nid grad hitt no z'syl Dänk driber noh, dü hesch dr fry Wille. Aber gäll, Klärli, de dänksch de oi e chli a di chranknig Vater ?“

Damit war das Gespräch beendet. Der Imbühl mußte ihren Gedankengang fein erraten haben; denn er ging noch am selben Abend zum Wildhüter!

2 7 []Dieser wollte gerade zu Bett gehen, als der Chappi eintrat. Er hatte bereits einen Schuh ausgezogen, war aber so verwundert über den ungewohnten Besuch, daß er vergaß,sich des andern auch zu entledigen.

„Heh, was heds eppe gäh, Chappi? Dü lüogsch jo dry wiä ne gstochni Gäiß“

„Muirer, dü settisch mer eppis hälse!“

„Ich? J dir hälfe? Was dir nid z'Sinn chunnt gäre, wenn i cha. UNise mit däm Most!“„Muirer, dü settisch mer eppis hälfe!“Mänsch gsääͤd. J han-am mäischte Vertruiwe zu Diär und 's Klerli lost uf dich, meh as uf en äignig Vater.“

Wie das dem Alten wohl tat! Er strich sich den Bart und knurrte behaglich:

„Hme... mhm... jo..: ahaaah!::: Dert liit dr Bäri!“

„Si wird sich gloib allwäg ke chli schiniäre vor diär, wills ersch zwee Menet sithär sind.“

Der gemütliche Zug im Gesichte des Wildhüters wich einer Art Erstarrung. Der Imbühl hatte dies vorausgesehen und mit in Rechnung gezogen. Es mußte gesagt sein; besser so, als wenn es ihm erst nachher „aufgeraucht“wäre! So konnte er doch sofort wieder ein Pflästerchen auflegen:

„Sie sy jo zwor ersch verlobt gsh und dr Hansi sälig hätt gwiß oi niid drgäge,wenn sy best Frend “

166 []Der Alte saß wie in Gedanken verloren in sich gekauert; da spielte aber der schlaue Chappi seinen Haupttrumpf aus:

„Wäisch, Muirer, we miär zwäi de z'säme hend, so wird de dr säl dr säl Wilderer eppe nimme lang zable. D'VBerge kenne i jo soift so güot wiä dui sälber und ds Schiäße channtsch mi jo lehre. Wäisch, wenn i äinisch eppis will: J bar Wuche schiäß i bimäich so güot wiä dui, oder dr Murmolter vilicht,vilicht no besser!“

Da stand der Wildhüter auf und reichte ihm die Hand:

„Chappi, Vertruiwe gäge Vertruiwe! J will mers no iberlegge, und wenns Klärli will,wäisch, i diär mecht e si z'ersch no genne !“

„J dank dr, Hans. Güot Nacht! “

Der Wildhüter aber verharrte noch lange in derselben Stellung. Endlich murrte er:

„Mit däm wäiß mr doch eppe, wora mer isch.“ Und damit zog er sich auch den andern Schuh aus.

Als der Imbühl am nächsten Sonntag abend im „Mond“ saß, rieb er sich oft behaglich das Kinn und schaute hin und wieder zum Kruzifir an der Wand empor; nicht aus Anwandlungen impulsiver Frömmigkeit, sondern einfach deshalb, weil dort das Sträußchen mit Edelweiß und Männertreu verschwunden war!

Und als er wieder eines Abends dort saß,da kam der Wildhüter aus dem Krankenzimmer

37 []und blinzelte: „Chappi, sellisch oi so güot sy und gläitig cho äs hed näime-n-eppis 'gähl“

Erwartungsvoll, klopfenden Herzens trat der Imbühl ein: Der Kranke lag schmunzelnd in seinen Kissen und streckte ihm mit väterlicher Rührung die Hand entgegen. Neben dem Bette saß die Klara, wie mit Blut übergossen, und zupfte verlegen an ihrer Schürze.

„GüotenObe mitenand“, grüßte der Eintretende, „wie gohts, Vater?“

„Mir gohts eschli besser, het dr Dokter gsäid,und dir gäi's ganz güot, hed sKlärli gsäid!“

Der Imbühl war vor Freude blaß geworden; er glaubte fast zu träumen; er hatte mit einem langen und opferreichen Feldzuge gerechnet und jetzt ging das „feindliche“ Heer mit Sack und Pack zu ihm über! Schwer atmend trat er vor sie hin: „Klerli, Klerli, isches wohr? J darfs fasch nid dänke!“

Da stand die Klara auf und schaute ihn ehrlich an; dann streckte sie ihm die Hand hin:

„Chappi Im Vater z'liäb Jol“

Ein erlösender Atemzug Imbühls verriet die Seelenstimmung über die Erreichung des langersehnten Zieles.

„Aber äi Bedingig, Chappi!“

„Jo, Klerli nume-nuise drmit; i bi nid sol“

Da sagte sie bittend, aber doch fest: „Mr wartid bis nochem Chriäg, oder bis d'Zyte wieder rüäiger sind, gäll Chappi?“

168 []„Merstande!“

Plötzlich streckte der Wildhüter seinen Stoppelbart zur Tür herein:

„Sy d'Chriäsi bald riif?“

„Jo, Hans, chumm nume!“ entgegnete der ã Bräutigam und gab ihm gerührt die and.

Der Imbühl drang darauf, schon heute abend,wenn auch im geheimen, eine kleine Verlobungsfeier zu veranstalten, und niemand hatte etwas dagegen. Der Wildhüter freute sich seines Werkes und war dabei zum erstenmal wieder, nach langer Zeit, ein wenig aufgeräumt.Als man schon etliche Male angestoßen hatte,sagte er plötzlich:

„Aber, ihr händ ech jo dr Bruitkuß no nid gäh! Süh, Chappi, bisch e fuile Bleger!“

War es die Freude, daß Imbühl um einen Schein blasser wurde? Wie unter dem Drucke eines seelischen Schmerzes beugte er sich über seine Braut und küßte sie. Da griff Klara an ihre Lippen und sagte:

„Dü bliätisch mäini e chli a dr Lippe!“

Der Imbühl fuhr mit dem Zeigfinger über seinen Mund und wirklich, er blutete! Totenblaß starrte er auf seinen Finger:

„Blüot Blüot Klerli!“ Er mußte sich setzen. Man sah nach und fand, daß sein Glas ein winziges Lücklein aufwies. Bald war die Schwächeanwandlung vorüber, und sie stießen an auf eine glückliche Zukunft.

01 []Die Schießübungen zwischen dem Wildhüter und Imbühl fanden aber nicht statt; denn es traten Ereignisse ein, welche das Alltagsleben tief in den Hintergrund drängten.

159 []8. Der Bürgereid Die Franzosen kommen

Das Direktorium in Aarau verdoppelte jetzt seine Tütigkeit in Vollziehung dessen, was Nidwalden wehe tun konnte, und es begannen die Verhetzungen der helvetischen Behörden von seiten der Patrioten. Selbst der große „Menschenfreund“ Heinrich Pestalozzi gab gerade in dieser Zeit eine Druckschrift heraus, die, von heuchlerischen Augenaufchlägen wimmelnd,zum blutigen Vorgehen gegen Nidwalden hetzte.Das Urteil des Geschichtsschreibers Gut: „Nidwalden errichtet Pestalozzi wahrlich kein Denkmal. Er hat es sich selbst gesetzt, aber eine Schandsäule,“ findet wohl seine Begründung in folgenden Stellen der genannten Hetzschrift:

„An Helvetiens Volk!

Die Stunde ist da, in welcher Ihr die Rettung des Vaterlandes wahrscheinlich mit dem Blute einiger Irregeführter im Herzen gewiß nichts weniger als allgemein Böswilliger aber in ihren Taten als unverbesserliche Landesaufwiegler und Landesverräter zum Vorschein kommender Verbrecher werdet erkaufen müssen.

Ja, Unglückliche! Das Vaterland bedauert Euch, es wird Eure Witwen und Eure Wai

171 []sen an Kindesstatt annehmen. Ganz Europa hatte bisher unrichtige Begriffe von Euch und träumte sich eine jetzt noch bestehende Unschuld,Settenreinheit und bürgerliche Tugend in Eueren demokratischen Gebirgen. Bald war es ein fremder Hof, der die neue Ordnung der Dinge wieder umkehren, bald war es die Mutter Gottes, die ein unbezweifeltes Wunder zur Wiederherstellung des verlorenen Tabernakels und seiner Schaubrode und seiner Weinkrüge getan hätte. Indessen sind die Aufrührer durch ihre Berge in einer Lage, in der sie nur durch eine beträchtliche militärische Macht zum Gehorsam zurückgebracht werden können. Bürger Helvetiens! handelt einstimmig in Verbindung mit Euerer Regierung, diesen Verbrechen ein schnelles Ende zu machen. Euer Herz vereinige sich zu jeder Maßregel, wodurch die gemeinsam-eidgenössische Bundestreue unter uns gesichert und der Tollkühnheit, dem Aufruhr und der Eigengewalt Einhalt getan werden kann und getan werden muß. Die Stunde der traurigen Gewalt gehe schnell und leicht vorüber. Sobald sie vorüber, Helvetier! dann suchet in den überwundenen Bergen den Unglücklichen. Ach, wäre er vorüber, dieser Tag des Jammers!Unterzeichnet: Pestalozzi.“Mutet dieses Dokument *) edler Bruderliebe den Unbefangenen nicht an wie die Tat eines 48 42 große Pada** ä D Pihe

*4 []Maurers, der Häuser anzündet, um wieder Arbeit zu bekommen? Es läßt aber auch deutlich durchblicken, daß der Freimaurer Pestalozzi in die Pläne seiner würdigen Gönner eingeweiht war; denn bald darauf kam von Aarau her folgender Beschluß des helvetischen Direktoriums vom 20. Heumonat 1798:

„Zur Ablegung des Bürgereides wird für den Kanton Waldstätten die Zeit vom 26. Augustmonat bis 2. Herbstmonat bestimmt, jedoch die Bestimmung des Tages in der oben bestimmten Woche dem Regierungsstatthalter überlassen. Das Verzeichnis der Schwörenden,sowie der sich Weigernden und ihrer Ursachen soll eingesandt werden.“

Am 10. August erhielt Distriktsstatthalter L. Kaiser in Stans vom Regierungsstatthalter Vonmatt in Schwyz folgendes Schreiben:

„Freiheit! Gleichheit!Bürger!

Aus angebogenem werden Sie, Bürger, ersehen, daß von jedem Waldstätter vom 26.Augstmonat bis 2. September der Bürgereid solle abgelegt werden. Ich habe also den 30.Augstmonat dieses Jahres zu dieser Feierlichkeit im ganzen Waldstätter Kanton bestimmt.Trachten Sie durch gutgesinnte Geistliche und Ihre Agenten das Volk auf schickliche Art vor

7 7 []zubereiten. Sie werden in Ihrem Hauptort,und die Agenten in ihren Dorfschaften die Art und Weise dieser Feierlichkeit nach angeschlossenem Inhalt ausführen. Die Agenten werden Ihnen, und Sie mir schleunigst nach dessen Vollziehung hierüber genauen Bericht abstaätten.

Gruß und Bruderliebe.

Regierungsstatthalter Vonmatt.“

Die Würfel waren gefallen!

Durch Berg und Tal flog die Nachricht: Von Aarau ist der Bürgereid da! Wer aber erwartet hätte, daß die Empörung mit wildem Tosen aufflammen würde, der hatte sich getäuscht. Es war stille geworden in Nidwalden, die Stille furchtbarer Entschlossenheit: Lieber untergehen, als Knecht sein; lieber verbluten, als dem Glauben der Väter abschwören! Das Feuer brannte, aber es leuchtete meist nur aus glühenden Augen.

In Beckenried ruhte die Arbeit fast ganz.In Gruppen standen die Männer unter den Dachtraufen und besprachen die kommenden Möglichkeiten. Dort unter der Tenne putzt bereits einer sein Gewehr; neben ihm brennt ein kleines Feuer; sein Bube gießt Kugeln mit einer Andacht, welche ihn alles um sich vergessen läßt. Hinter seinem Holzschopfe schnitzt der Stalder Meinrad einen riesigen Knüttel zurecht. Er weiß wohl, daß die Zahl der Büchsen nicht für alle Kämpfer ausreichen wird, und er

174 []trifft mit dem Knüttel besser als mit dem Schießrohr.

Und zur unsterblichen Ehre der Nidwaldnerinnen sei es gesagt: Es gab kein unzeitiges Weibergeheul in Nidwalden. Sie kochten Speisen vor und zerrissen alte Kleider zu Verbandzeug. Doch! Dort lärmt eine ganz entsetzlich:Das Gandertrini! Mitten in einer großen Schar von Männern, Frauen und Kindern steht sie und hält ihrem Manne eine wohlgesetzte Rede.Dieser stand nämlich im Rufe, mit den Patrioten zu liebäugeln; jetzt steht dort das Trini vor dem armen Sünder wie das jüngste Gericht:

„Peter!“ sagt sie, den hagern Arm drohend emporreckend, „Peter, fifzäche Johr hani mit dr gwärcht un g'schaffet, fir ys und ysi Gufe. Aber wenn d's mit däne verfitzlete Franzose wit ha und nid mit ysne Manne do: Lüog, dert stod yses Huis und ysi Schiir! Hitt nacht zint is no aa und gohne mit de Chinde go bättle!“

Finster standen die Männer da, und der Peter gestand kleinlaut:

„Näi, Trini, so han is nid gmäint. J ha nur gsääd, „wenn d'Schwyzer und d'Obwaldner dr Aid abgläid häigid, so bruichtid miär oi eppe nid besser welle z'sy. Wenn's aber los ghod, do isch mi Hand!“

Da kommt der Murmolter durch das Dorf,diesmal mit dem Gemsstutzen auf dem Rücken.Seine Lippen sind halb geöffnet, und seine rechte Zahnhälfte scheint sich verbissen zu ha

175 []ben. Aus seinen Augen leuchtet es fast wie Wahnsinn. Und doch drängt er sich scheinbar ganz gelassen in die Gruppe, stellt die Büchse vor sich hin und stützt die verschränkten Arme darauf. Er frägt mit unheimlicher Ruhe:

„Isch vilicht i Begriäd no äine, wo mer nid chenid uf ne zelle?“

„Näi“, antwortet ein bärtiger Mann; „eppe zwelf dere Fitzle sind hit z'Nacht mit em Schiff uf Luzäre-nappe, nyn mit Froi und Chind.Was no do isch, isch güot.“

„So, isch eppe no e Verwandte vo so äim do?“„Jo“, sagte ein Josef Andermatt, „my Schwoger isch furt, isch niid schaad um en!“

„Hed er vorhär sys Zelgli verchoifft?“forschte der Murmolter.

„Näi!“

„Güot! Är wills also nid vertäidige! AÄr hed druuf verzichtet. Wenn d'en emol triffsch am Wochemärt z'Luzärenunde, oder wenn Ihr do vo sällenäine träffid, so säged ne dennD'Gmäin Begriäd, wo si i dr Not verloh häigid,syg denn niime fir sie. Und wenn nochhär wieder eppenãine well zruggcho und d'Gränze vo yser Gmäin iberträtti, so gübs denn dert es helzigs Chryz!“

Dann pfiff er eigentümlich scharf durch die Finger ein ebensolcher Pfiff antwortete, und daher kam ein hochgewachsener Bursche, fast ebenso verbrannt wie der Murmolter.

156 []„Wa isch?“ fragte er.

„Hol dis „Färnrohr“! Mer wänd emol is „Chli Lehli“ uife goh lüoge, eb si dert vilicht noh franzeseschi Gibätbiächli häigid.“

„Wuil!“ sagte der andere, „mer wändne grad nes Stoßgebättli druis vorläse gang numenafe, i chume grad!“

Aber das „Klein-Löhli“ war leer; die „Patrioten“ waren geflohen; nur die Minna war noch dort, und sie kochte den beiden „Inspektoren“ ein fürstliches Mahl, und reichlich floß der Muskateller; dann erhoben sie sich wieder zu neuen Taten

Distriktsstatthalter Kaiser setzte die Landsgemeinde auf den 29. August an; denn bis zum 3. September sollte die bedingungslose Unterwerfung Nidwaldens dem Kantonsstatthalter gemeldet werden. Der 20. August fiel auf einen Mittwoch; es war das Fest der Enthauptung des hl. Johannes, des Blutzeugen für die Wahrheit.

Der Aufzug zu dieser Landsgemeinde, nach Wil an der Aa, war diesmal ein ganz eigenartiger: Von allen Türmen läuteten die Glokken. Das Volk einer jeden Pfarrei kam unter Vorantragung des Kreuzes zur Versammlung.Von allen Wegen und Pfaden wallten sie daher,laut den Rosenkranz betend. Der „Kulturmensch“ wird darüber lachen; aber für den Kenner der tiefern Volksseele hat es etwas Ergreifendes. Ratsherr Dr. Kaspar Flühler von 177 []Waltersberg trug das Missionskreuz von Stans voran und pflanzte es auf der Erdenplatte,dem Standpunkte des Landsgemeindeführers,auf.

Noch nie hatte Nidwalden eine solche Tagung erlebt; auch die Frauen und Kinder waoren da und umschlossen den Ring.

Gleich anfangs wurde Herr Landesfürsprech Ignaz Barmettler von Buochs mit der Führung der Landsgemeinde betraut.

Nun steht er auf und tritt vor sein Volk hin;Tausende von glühenden Augen richten sich auf ihn. Langsam entblößt er sein Haupt:

„Getreues, liebes Volk von Ridwalden!

Wie jetzt in diesem Augenblicke, so werde ich einst am jüngsten Tage vor Euch stehen im Tale Josaphat, bei der letzten großen Landsgemeinde.Dann sollt Ihr mich anklagen vor dem höchsten Richter, wenn ich heute ein Wort wider Treu und Glauben gesprochen habe. Zum Himmel hebe ich meine reine Hand, daß ich Euch nur das sagen und raten will, was nach meinem Gewissen zu Gottes Ehre und zu Euerem Frommen sein wird. Beten wir zu seinem Heiligen Geiste, daß Er uns den Weg zeige, der Sein heiliger Wille ist.“

Die Männer entblößten die Häupter und die Priester sangen das Veni Creator.

Dann eröffnete Barmettler die Verhandlungen. Nichts wurde dem Volke vorenthalten;es sollte sich seiner Entscheidung voll und ganz

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bewußt werden. Alle einläßlichen Verhandlun⸗

bewußt werden. Alle einläßlichen Verhandlungen mit dem Direktorium, alle Schreiben, und zuletzt jenes der berüchtigten Auslieferung,wurden verlesen und dann erstatteten die Gesandten an das Direktorium Bericht. Man hatte sie vor der Türe stehen lassen. Die Gesandten von Schwyz habe man am 24. August vorgelassen, die Gesandten Nidwaldens aber höhnisch abgewiesen. Die schriftliche Forderung des Direktoriums aber war folgende:

1. Gänzliche Unterwerfung unter die öffentliche Gewalt, ohne Vorbehalt der Religion.

2. Auslieferung der Geistlichen und Weltlichen, die im Schreiben genannt waren und zwar in der Zeit von drei Tagen, lebendig oder tot, an das Statthalteramt Luzern.

3. Alle, welche sich diesem Beschlusse widersetzten, sollen als Verräter des Voterlandes erklärt sein und als solche behandelt werden.

Unterzeichnet war das Schriftstück von Laharpe und Mousson. In einem eigenhändigen Schreiben fügte General Schauenburg bei, daß er mit seiner Armee diesen Beschlüssen nötigenfalls in Stans Nachdruck verleihen werde.

Pfarrer Käslin von Beckenried. das Wort und sprach:

„Getreues, liebes Volk von Unterwalden!Wie Euch allen bekannt ist, bin auch ich mit zwei Amtsbrüdern auf der Liste der Geächteten,

53 []welche innert dreier Tage ausgeliefert werden sollen. Gott behüte uns, daß das Land unsertwegen in Nachteil komme, und deshalb haben wir uns das feierliche Wort gegeben, auf den Wunsch Eurer Mehrheit hin freiwillig nach Luzern zu gehen, und wir bitten Euch um Gottes Willen, auf uns ja keine Rücksicht zu nehmen “

Da ging es wie Meeresbrandung durch die Massen, und J. Barmettler stellte die Frage:

„Wer von Euch ist mit der Auslieferung der Geächteten oder einiger davon einverstanden;er möge es durch seine Hand bezeugen!“

„Keiner!“

„Wer von Euch ist dagegen und will es mit Leib und Leben verantworten?“

Da fuhren die Hände auf wie ein vom Föhnsturme bewegtes Aehrenfeld!

Nun hielt Pfarrer Käslin im Namen der Priesterschaft und der Behörden seine unsterbliche Rede über die Konstitution und den Bürgereid. Sie ist ein Meisterwerk und reiht sich würdig an die Reden des klassischen Altertums und der größten modernen Varlamentarier.

Nach dieser herrlichen Ansprache ergriff der Landsgemeindeführer wieder das Wort:

„Getreues, liebes Volk von Nidwalden!

Keiner von Euch kann jetzt mehr im Zweifel sein, ob die helvetische Konstitution den Grundsätzen unseres heiligen Glaubens und unserer alten Rechte entspreche und ob infolge

186 []dessen der Eid auf eine solche Verfassung erlaubt sei oder nicht! Wir haben dieses Jahr schon viele Landsgemeinden abgehalten, welche sich mit der Annahme oder Verwerfung der Konstitution befaßten; nun, heute ist's die letzte und entscheidende!

Nidwaldner! Ihr wißt, daß der bischöfliche Kommissar den Bürgereid als erlaubt erachtet,und daß alle andern Kantone ihn geschworen haben. Sie haben es mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Nidwaldner! Wir sind die Letzten!

Schwören wir zur Konstitution, so hört der Landesfürst auf, Landesfürst zu sein, und unser Gewissen ist belastet; denn dieser Eid widerspricht der Kapitulation, die wir am Charsamstag beschworen haben. Schwören wir nicht,so wird bald unser Blut fließen! Eine zehnfache Macht von kriegsgewohnten Horden wird über unser Land hereinbrechen und das Kind im Mutterleibe nicht schonen und nun, Nidwaldner, beten wir, bevor wir zur Abstimmung schreiten, das erste Geheimnis des schmerzhaften Rosenkranzes: der für uns Blut geschwitzt hat.

Und da fielen die harten Männer entblößten Hauptes nieder und falteten ihre braunen Hände; Barmettler betete vor und wie fernes Wogengetöse betete heute ganz Nidwalden:„ bitt für uns arme Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes, Amen!“

Und jetzt: Eine unheimliche Stille; der Landesgemeindeführer war vorgetreten:

81 []„Volk des freien Standes Nidwalden, willst du den Freiheitsbaum aufrichten und zur helvetischen Konstitution schwören, so erhebe deine Hand! “ Er schaut rings über die Massen hin „Keiner! Wer ist dagegen und will es an Seele und Leib verantworten?“

War das das Tosen eines Erdbebens? Oder das Stöhnen aus der Brust eines Titanen? Wahrhaftig! Was noch nie vorgekommen war:die Frauen und Kinder hatten in imulsiver Begeisterung auch mitgestimmt. Selbst kleine Kinder hoben ihre Händchen; auch ihr heiliges Blut wird den Opferaltar der Heimat netzen.

Lange schaute der Führer auf das wogende Meer der Hände, dann sprach er tiefbewegt:„Gelobt sei Jesus Christus Gott schütze Nidwalden! Wer will noch “ und da erstickte seine Stimme.

Da erhob sich noch ein „gemeiner“ Landmann. Jakob Ambauen von Beckenried:

„Getreue, liebe Landsleute! Machen wir ganze Arbeit! Wir wollen schwören! Aber nicht auf die helvetische Verfassung, sondern auf unsern Glauben und auf unsere alten Rechte!l Dort hat Doktor Flühler unsern Freiheitsbaum aufgepflanzt: Das Kreuz sei unser Freiheitsbaum!“

„Das Kreuz sei unser Freiheitsbaum!“

So riefen die Nidwaldner mit erhobener Schwurhand!

182 []Das Kreuz!

Nidwalden! Deine Feinde werden dich mit einem Walle umschließen, um alles zu morden,was in dir ist! Nidwaldnervolk, du armes Volk!Nidwalden! Alle deine Bruderkantone haben den Eid geschworen; du hast es nicht getan! Du kanntest die Uebermacht der Feinde und du hast es nicht getan! Mit einem einzigen Worte,nein, mit einer Handbewegung hättest du dir und deinen Lieben Gut und Leben retten können, und du hast es nicht getan! Nidwaldnervolk, du herrliches Volk!

Der blasierte Kulturmensch nennt das Verhalten Nidwaldens Wahnsinn. Wenn dies Wahnsinn ist, dann war es auch Wahnsinn, als die drei Jünglinge Sidrach, Misach und Abdenago in der Ebene Dura vor dem goldenen Götzen Nebukadnezars, allein unter den Tausenden, nicht niederfielen und lieber der glühenden Esse verfielen; dann aber war es Wahnsinn, wenn in der römischen Arena die christliche Jungfrau dem geifernden Panther entgegentrat. Nein, die Landsgemeinde vom 29. August 1798 ist ein Blatt Schweizergeschichte, das man nicht auf dem Sofa, sondern auf den Knien lesen sollte.

Die ewig denkwürdige Tagung schloß mit der Ernennung des Kriegsrates, und dieser ordnete an, daß am nämlichen Tage noch alle Zugänge und Pässe mit Wachtposten versehen würden,um gegen alle Eventualitäten gesichert zu sein.

1 11 []9. Die Helden und Heldinnen von 1798

Es war Samstag den 8. September 1798,am Abend vor dem „Schreckenstage“.

Blutig war die Sonne untergegangen, und der Widerschein ihrer letzten Strahlen hatte die Berge Nidwaldens mit Blut übergossen Blut des sterbenden Tages, von der Finsternis besiegt. Wie sie leuchten, die trotzigen Riesen,so still und feierlich, so unnahbar und rein! Ein Iheaelihen wie seit Menschengedenken nicht mehr.

„Und sie legten ihm einen Purpurmantel um und flochten eine Dornenkrone um sein Haupt.“ (Matth. 27.) Nidwalden! Heute trägst du den Purpur, morgen wirst du ans Kreuz geschlagen. Um deines Glaubens willen. Du hast dich für das Martyrium bereit erklärt; der Allmächtige nimmt dein Opfer an und schreibt heute in deine herrliche Bergeswelt ein gewaltiges Ecce Homo!

Auf einem wilden Felsvorsprung am Schwalmis steht der Wildhüter, auf sein Gewehr gestützt. Sein Gewand ist abgewettert,wie der Felsen, auf dem er steht. Er scheint aus dem Urgestein herausgewachsen. Um ihn das herrliche Alpenglühen; er sieht es nicht. Zu sei72

44 []ner Rechten ragt der Uri-Rotstock mit seinen glühenden Firnen empor wie ein Held mit blutiger Stirne; er sieht es nicht. Sein Adlerauge sieht nur das Gemsenrudel dort an jäher Felsenwand. Von unten läuten die Herdenglocken,und in das friedliche Läuten mischen sich von der Fernialp herauf die langgezogenen Töne des Alpsegens. Halb Gebet, halb Gesang, erklingen die altehrwürdigen Weisen von Felsenwand zu Felsenwand. Vom Geißbühl am Oberbauen antwortet einer, von der Zingelfluh ein zweiter. Leise senkt sich die Dämmerung hernieder.In den Tälern ist es schon dunkel, und noch glühen die höchsten Firnen im letzten Rosenschimmer. Von irgendwoher verklingt das Echo eines letzten Jauchzers. Schon leuchtet der Abendstern wie ein funkelnder Diamant in der Firnenkrone.

Da! Was ist das? Am Hörnli leuchtet ein Feuer auf! Nicht still und friedlich, wie sonst; jach fahren die aufgewühlten Lohen zum Himmel empor dort, auf der Musenalp ein zweites, am Oberbauen ein drittes, und dort und dort und dort!

Das ist Kriegsgefahr!

Von Emmeten und Beckenried heulen die Sturmglocken, und wie aufgeschreckt wimmern die Alpenkapellen ringsum mit. Von Stans her donnert ein Kanonenschuß; dumpf kracht er den Felswänden entlang, das Signal zum Sturme: Ihr Jäger und Aelpler, heran! Und 155 []jetzt! Was war das, dieser tiefe, unheimliche Ton?

Das Harsthorn von Nidwalden!

Die dunkle Gestalt dort am Felsen richtet sich hoch empor. Mit der Rechten hat er den Stutzen gefaßt, mit der Linken bedeckt er die Augen. Was ist ihm? Wahrhaftig! Was Freuden und Leiden eines halben Jahrhunderts nicht vermochten, das hat die Liebe zur Heimat vollbracht: Der Wildhüter weint!Der langangehäufte Schmerz in seiner Brust löst sich und rieselt als erlösende Perle in seinen Bart. Lange steht er so; seine Brust hebt und senkt sich, dann wirft er den Stutzen über. Das Alpenglühen ist verglommen, und doch liegt auf seiner Stirne noch ein heiliges Leuchten.Langsam und feierlich, wie von einem Hochaltare steigt er nieder. Ihr Gemsen,nun hütet euch selber, der Wildhüter geht zur Schlacht! So gegen 11 Uhr nachts kommt er in Beckenried an. Das Dorf scheint wie ausgestorben. Männer und Jünglinge, Frauen und Mädchen sind nach Stans abgezogen. Sogar das Vieh hat man ins Freie gejagt, wo es sich brüllend herumtreibt. Mag es sich den Unterhalt selber suchen, bis die Entscheidung vorüber ist; Nidwalden braucht den letzten Mann! Da und dort sieht man noch Licht:

186 []Alte und Presthafte beten dort mit den Kindern der Ausgezogenen den Rosenkranz.

Da springt ein kleines Zicklein daher und auf den Wildhüter zu. Es ist dasselbe, welches er samt seiner Fahrhabe dem Jakob Ambauen verkauft hat. Es hat ihn gewittert und läuft ihm meckernd nach. Fast dauert es ihn; bis in den Stall wirken politische Ereignisse!

Während er in Gedanken daherschreitet, erreicht er einen Achtzigjährigen. Es ist Meinrad Amstad, ehedem der erste Gemsjäger und Schütze Nidwaldens; jetzt ist sein Rücken gekrümmt und sein Scheitel ist kahl geworden;die Lippen seines zahnlosen Mundes gehen einwärts und seine Backenknochen scheinen mit altem Leder überzogen; aber wehe dem Franzosen, auf dem sein glühendes Auge ruht!Zwar zittert seine Hand; doch wenn fie den Stutzen hält, scheint die Waffe wie aufgelegt.Zwei Urenkel von 5 bis 7 Jahren begleiten ihn, der eine trägt Pulverhorn und Kugeln,der andere das Gewehr; beide führen den schlotternden Alten.

„Wa isch los?“ frägt der Wildhüter.

„Si cheme!“ war die kurze Antwort.

„Wär chunnt?“

„So en luisige Fitzel! Schoiweburg häißt er mäini. Will grad go lüoge-n-eb er uf Schutzwyti häre truwi!“

„Wi vill sinds?“

187 []„Me säid vo zwänzg tuisige! Si sygid iber en Brinig und vo Luzäre cho und häigid de Sornere d'Kanone gnoh; iäz chemesi gäge de Chärnwald abbe-n-und vo Hergiswil här he, los emol? Was esch das?“

Das scharfe Ohr des alten Jägers hatte sich jetzt noch bewährt; man hörte schwere Taktschritte.

„Das chene nur d'Seelisbärger sy d'Emmeter sy scho furt.“

Es waren wirklich 37 Seelisberger mit ihrer Fahne, welche jetzt trutzig daherzogen. Der Wildhüter schloß sich ihnen an. Das Zicklein mußte er zurückjagen, sonst wäre es ihm bis nach Stans nachgelaufen.

Mitternacht war längst vorbei, als der Wildhüter mit den Seelisbergern in Stans ankam.Dort bot sich ihnen ein wildüberraschendes Bild: Kolonnen kamen und gingen, Kanonen rasselten ab, von Frauen, Knaben und Mädchen gezogen. Es war geradezu ergreifend zu sehen,wie sich die hagern Nidwaldnerfrauen im Werktagsgewande, meist barfuß und mit gestülpten Aermeln, schlanke Mädchen und halbgewachsene Buben, wie Zughunde vor die schweren Kanonen, vor Feldschlangen und Falkonetrohre spannten; denn Pferde waren rar in Nidwalden und mußten für Eilbotendienste verwendet werden. Auch schnellfüßige Buben versahen dieses Amt. Scharfschützen, von Ladern und Proviantträgern begleitet, zogen nach ihren

188 []zugeteilten Posten; fünf brennende Scheiterhaufen beleuchteten die wilde Szenerie; über 260 Knüttelmänner waren unter die Schützen verteilt und gaben dem nächtlichen Aufzuge etwas Titanenhaftes. Das wilde Tosen und Rasseln wurde übertönt von den Kommandorufen der Führer; dazwischen ertönte der schaurige Dreiklang des Harsthornes. Das waren die Töne, bei denen einst die Lippen Karls des Kühnen erblaßt waren!

Der Oberanführer, Ludwig Fruonz von Stansstad, ein ehemaliger Wachtmeister der Schweizergarde, erteilte seine Befehle, und die Unteranführer gaben sie weiter oder zogen mit ihren Truppen ab, nach dem Drachenried, nach Stansstad, nach dem Bürgenstock, Lopperberg,Groß Aecherli ete., sogar den Juchli- und Storeggpaß hatte man mit Posten besetzen lassen.Selbst der Trieppensee (Trübsee) hatte seine Besatzung. Schnelläufer meldeten, daß bereits vereinzelte Posten mit den Patrouillen der Feinde Fühlung genommen hätten.

Der Wildhüter stellte sich sofort beim Kommando und wurde der Scharfschützenkompagnie Schmitter zugeteilt, welche nach dem Mietherschwanderberge (auch Muetterschwand) bestimmt war. Es waren 120 Schützen mit Hilfsmannschaft; sie zogen sofort ab.

Die Mietherschwand ist ein 600 bis 900 Meter hoher Bergzug, der sich von der Rotzschlucht zwischen Alpnacher See und DrachenJ []ried bis zum Kernwalde hinzieht. Auf seinem Höhenplateau befinden sich mehrere paradiesisch gelegene Bauernhöfe. Gegen Alpnach hin ist er überdies durch die Sarner Aa getrennt. Dieser Berg ist ein ausgezeichneter Beobachtungsposten gegen Alpnach, Stansstad, St. Jakob und Rohren; darum ein strategischer Punkt erster Klasse. Die Kompagnie Schmitter hatte die Aufgabe, die Mannschaft zwischen Stanserhorn und Mietherschwand gegen einen Angriff von Alpnach zu decken.

Lieber Leser! Damit Du das nun Folgende nicht in den wohlverzeihlichen Verdacht der Uebertreibung zu ziehen versucht werdest,sei auf die Ausführungen des Geschichtsschreibers Gut, „Der Ueberfall“ z. B. Seite 329 hingewiesen: „Die geübten Nidwaldner Schützen ließen ihrer nicht spotten. Mit den Musketen erreichten sie den Feind (von Mietherschwand aus!) bis an die Kirche von Alpnach.“ Nimm den Zirkel und miß die Distanz vom trigonometrischen Signal bis zur Alpnacher Kirche;es sind über 1500 Meter! Die Ueberwindung einer solchen Distanz wird wohl nur auf das Konto der schweren Musketen zu setzen sein.Und dann, lieber Leser, schlage noch auf: „Nidwalden vor hundert Jahren“, eine Erinnerungsschrift, herausgegeben vom historischen Verein von Nidwalden. Seite 35 und 36 wirst Du die Zusammenstellung der Toten finden:Auf Seite der Nidwaldner: Total 473, darun

W4,[]ter 145 Frauen, Jungfrauen und Kinder!Auf Seite der Franzosen die geradezu katastrophale Zahl von 36361 Was sprechen diese Zahlen für eine Sprache! Wie müssen sie gekämpft haben, die letzten Helden und Heldinnen der alten Eidgenossenschaft!

Es war gegen 2 Uhr morgens, an jenem ewig denkwürdigen 9. Herbstmonat, als die Kompagnie Schmitter auf Mietherschwand ankam. Im Kässpeicher des Wolfgang Gander las Pater Ildephons Zelger die hl. Messe. In voller Bewaffnung umknieten die kampfbereiten Nidwaldner den provisorischen Altar; es war ihre Todesweihe! Welch ein buntes Gemisch! Die besten Scharfschützen knieten hier neben wildbärtigen Knüttelmännern; hier der riesenstarke Senne neben dem halbwüchsigen Buben; dort der grauhaarige Aelpler neben dem blühenden Mädchen. Die ganze Nacht war Beicht gehört worden, und nun beteten sie, wie Kinder so fromm. Niemand hätte es wohl diesen Andächtigen angesehen, wie furchtbar sie heute noch die Reihen der kriegsgeübten und zwölffach überlegenen Franzosen lichten würden.

Nach der hl. Messe erteilte Pater Ildephons die große Absolution; es war ein unvergeßlicher Moment, als der schlichte Kapuzinerpater vor die todgeweihte Schar hintrat und sie feuchten Auges ermahnte, ihre Sünden nochmals zu bereuen. Dann erhob er langsam die Hand

191 []zur Lossprechung und von Alpnach her tönte Trommelwirbel und der wilde Gesang der Marseillaise.

Nach dem Gottesdienste legte sich dem Wildhüter eine Hand auf den Arm; neben ihm stand Klara. Sie hatte hier schon seit drei Tagen als Speiseträgerin funktioniert und wollte auch heute helfen, wo es nottat. Ein Leuchten ging bei ihrem Anblicke über die verwetterten Züge des Alten; denn Klara war ihm ans Herz gewachsen. Nicht weit von ihm standen der Imbühl und der Murmolter, hinter ihnen der Tschiferenmichel die ganze Gesellschaft!Klara kredenzte dem Wildhüter einen Becher Wein vom eigenen Keller und einen Imbiß;sie hatte auch diesmal wieder das Richtige vermutet.

Kaum hatte der alte Murer den Becher zurückgegeben, als Kommandoworte erschallten:Postenablösung und Verteilung der Mannschaft!

Der größte Teil der Kompagnie kam auf den südlichen Abschluß des Mietherschwanderberges. Zu äußerst, etwa dort, wo heute das Signal steht, kamen als Vorposten eine Rotte Schützen, darunter der Wildhüter, Imbühl,der Murmolter, der Tschiferenmichel und eine Anzahl Lader und Speiseträgerinnen, unter ihnen auch Klara.

Der Imbühl führte einen ungeheuren Schießprügel, von dem man wohl mit Recht glauben

192 []mochte, daß er ihn als Knüppel gebrauchen werde; denn einen sichern Schuß traute ihm doch niemand zu. Niemand? Der Tschiferenmichel warf dem Riesen und seiner Donnermaschine nicht gerade bewundernde Blicke zu.Jeder Scharfschütze (besonders die besten!) hatte gewöhnlich zwei Stutzen; während er den einen schußbereit hielt, luden zwei Buben oder Mädchen den zweiten.

Noch war es Nacht; der Himmel war überzogen, doch vergrößerte sich im Osten der gelbe Streifen zusehends. In der Richtung Wißerlen und Siebeneich hörte man Trommelwirbel und die heiseren Töne des schrecklichen Ca ira!Dort zogen die Generale Delpoint und Mainoni mit der 44. und 76. Halbbrigade gegen St. Jakob heran, um den Durchgang durch das Drachenried zu erzwingen, während Oberst Müller mit 3000 Mann gegen das Großächerli hinauf abgeschwenkt war. In beiden Truppenteilen waren je 400 sog. Schwarze, der Auswurf der fränkischen Söldlinge.

Leise hoben sich die Morgennebel; die Augen Murmolters fingen an zu leuchten wie die des beuteumschleichenden Jaguars. Gegen 4 Uhr konnte man mit scharfem Blicke bereits die Amrisse der Streuetristen auf dem Alpnacher Moos (Ried) unterscheiden. Wirklich!Dort hatten bexeits einige Rothosen Posten und Deckung gefaßt! Die Schnurrbartspitzen Murmolters zuckten leise! Jetzt lugt dort ei

J 43

][]ner vorsichtig hinter dem Streuestock hervor;da krachen zwei Schüsse, fast in derselben Sekunde; der Murmolter und der Wildhüter schauen einander an: Sie beide hatten geschossen; das Gesicht hinter dem Tristen war verschwunden; dafür schauten unten zwei Stiefel hervor. Der hatte wohl keinen langen Todeskampf gehabt!

Da streckte der Murmolter dem Alten die Hand hin:

„Muirer! Jüätz hämmer ys äinisch verstande! Hitt simmer Nidwaldner, gäll?“

Stumm drückte der Wildhüten dem Wilderer die Hand.

Aehnliche Szenen spielten sich auch auf andern Posten ab. An der March z. B., zwischen Stanserhorn und Mietherschwand, war die erste französische Vorwache, 72 Grenadiere. Sie glaubten sofort keck auftreten zu müssen und gaben angesichts der Nidwaldnerposten Feuer.Da krachte es hinter Büschen und Felsblöcken hervor, und 68 Grenadiere wälzten sich in ihrem Blute. „Zwei entgingen kümmerlich dem Tode. Sie eilten zu ihrem Kommandanten nach Kerns und meldeten: „Nur 'guckt, ist schon kaput!“Run war es Tag geworden. Die Posten hinter den Tristen (Feimen) wollten sich in Dekkung zurückziehen; aber sobald einer von einer Triste zur andern springen wollte, krachte der sichere Schuß eines Nidwaldners. In Alpnach

257 J 8 []sah man jetzt bereits rote Hosen schimmern; es waren die 1800, welche gestern Abend dort eingezogen waren, darunter 400 von der berüchtigten „schwarzen Brigade“.

Dort am Schlierenwäldchen unter Alpnach tummelt ein französischer Offizier sein Pferdchen; es ist ein Garde-Grenadier-Hauptmann mit weißen Hosen und rotem Busche. Das wäre was für einen Scharfschützen! Dem Murmolter läuft fast das Wasser aus dem Munde.Aber es ist einfach zu weit! Das Pferd könnte man allenfalls mit einer schweren Muskete noch treffen, wenn es stillstehen würde! Aber was nützte das? Der Offizier war allen aufgefallen und soeben seufzte der Murmolter:„Uuhh! Wenn er oi nur um Gotts Wille ne chly gägem Riäd züoche chäm! Är miäßt si de more nimme rasiere!“

„Das wär eppis fir en Imbiehl hihihih!“grinste der Tschiferenmichel.

Der Imbühl hatte auch hingeschaut, die verschränkten Arme nachlässig auf seine Feuerxesse gestützt. In seinen Augen lag etwas Eigentümliches. Jetzt tritt er vor und greift zu seinem Prügel. Scheinbar ungeschickt steht er da.Jetzt zieht er den Hahn auf.

„Bis doch gschiid, Chappi!“ ruft der Michel,„de weckisch jo alli Chind bis is Äntlibüoch ibere! Gehnd ewägg, är schiäßt bimäich!“

Klara hatte sich errötend abgewendet; es

135 []genierte sie doch, daß „Er“ sich so ungeschickt benahm.

Und wirklich krachte die schreckliche Feuerspritze und dann und dann ward's totenstill! Alle schauten wie erstarrt auf den Schützen; denn dort am Schlierenwäldchen war der französische Offizier vom Pferde gestürzt,wie vom Blitze getroffen! Und merkwürdig!Jetzt stand der Imbühl nicht mehr so schwerVO zu sein. Wie angewurzelt stand er da, den Kopf mit den blitzenden Augen lauernd nach vorn gebeugt. Kaum war der Schuß verhallt,so lud er wieder, und zwar ohne dabei einen Blick auf seine Büchse zu werfen; starr war sein Auge nach dem Schlierenwäldchen hin gerichtet; er lud also „nach dem Griffe“; das tut nur der gewandte Gemsjäger bei Verfolgung des Wildes!

Um den gefallenen GardeOffizier hatte sich ein Rudel Soldaten angesammelt; da krachte ein zweiter Schuß Imbühls, nicht wahllos in die Rotte hinein; denn als sie nun auseinanderstoben, lag nur einer von ihnen, aber regungslos, und keiner getraute sich mehr zu den zweien.

Der Michel machte nicht gerade ein intelligentes Gesicht, als er jetzt fragte:

„Chappi bisch Wa isch? Imbiehl Wa isch daaas? Tiifl! Es het si bimäich,di mäinäidige Blegere!“p 120 []Da wandte sich der Imbühl um und entgegnete ruhig lächelnd:

„Michel, hitt isch nid Schitzefäst! Hitt goht's um Nidwalde!“

Lange, mit unverhohlener Bewunderung schaute auch der Wildhüter auf den unheimlichen Schützen. War so etwas möglich? Und diesem hatte er Schießunterricht angetragen!Merkwürdigerweise verhielt sich der Murmolter dabei ganz ruhig; nur ein geheimnisvolles Lächeln brachte die äußersten Haare seines Schnurrbartes in zitternde Bewegung.

Es war aber nicht die Zeit, sich langen Betrachtungen hinzugeben; denn in diesem Momente krachte ein Kanonenschuß von St. Jakob her. Es war das verabredete Zeichen der Franzosen für den allgemeinen Angriff.

Den rechten Flügel der Angriffsarmee zwischen Stanserhorn und Mietherschwand kommandierte General Delpoint. Ihm unterstanden die 76. Halbbrigade mit über 2000 Mann und einer Abteilung Schwarzer aus der 44.Halbbrigade. Den linken Flügel vom sogen.„Marchthürli“ bis an den Mietherschwanderberg befehligte General Mainoni. Das Vorgehen und die Formation dieses Flügels konnte man von der Mietherschwand aus bequem überblicken. Es waren mehrere tausend Mann von der 106. Brigade als Nachhut (Reserve) und die andere Hälfte der Schwarzen von der 44.Halbbrigade als Angriffskörper.197 []Die gesamte Angriffsarmee der Franzosen gegen Ennetmoos (zwischen den genannten Bergen) war in drei weit hintereinander aufgestellte Divisionen, jede zu drei Gliedern (3 Manm hoch), geschieden.

Auf den genannten Kanonenschuß hin feuerten sämtliche Nidwaldnerschützen, welche sich gegen die March hin aufgestellt und verbarrikadiert hatten, und zwar mit dem Erfolge, daß das erste Glied der Franzosen wie unter einem Sensenstreiche fiel und noch eine große Zahl der zweiten und dritten Reihe zusammenbrach! Die Schüsse der Franzosen, auch die der Kanonen, waren fast wirkungslos, weil zu hoch gerichtet.

Als die französischen Truppenführer die furchtbare Sicherheit der Nidwaldner Schützen erkannten, sahen sie ein, daß sie im geordneten Kugelwechsel unfehlbar den Kürzeren ziehen müßten, und ordneten sofort den Bajonettsturm an; es war das Einzige, was sie retten konnte!

Auch die Abteilung in Alpnach setzte in richtiger Erkenntnis der Sachlage sofort zum Sturme an. Voran schritt auch hier eine Kolonne von 400 Schwarzen. Der Sigrist zu Schorried wurde von ihnen in Hemd und Hosen als Wegweiser mitgenommen. Er durfte die Betglocke in Schorried diesen Morgen nicht läuten. Im Sturme kamen sie über das Alpnacherried; die Stutzen auf Mietherschwand krachten einmal zweimal: Wie entwur

53*48 []zelte Rotrüben lagen ihre Opfer auf dem Moose hingestreckt; aber der weitaus größte Teil erreichte den Hinterberg und Kohlwald,am Fuße des Mietherschwanderberges, und forcierte die Höhen. Noch einmal oder zweimal konnten die Büchsen geladen und abgefeuert werden, dann kam es für die Vordersten zu einem fürchterlichen Handgemenge, während sich die hintern Reihen noch der Schußwaffen regelrecht bedienen konnten; denn die Vordern standen naturgemäß tiefer als die Hintern.Bald stiegen dichte Säulen von Pulverdampf zum Himmel empor und Berg und Tal erzitschmetternden Waffen, vom Krachen der Musketen und Kanonen.

Drüben an den Höhen hinter Alpnach und am Pilatus sammelten sich Scharen von Zuschauern aus Obwalden und Luzern, die dem schrecklichen Schauspiele zuschauen wollten. Wie Starenschwärme bedeckten sie dort die höher gelegenen Wiesen und Abhänge, um die letzten dnden der alten Eidgenossenschaft fallen zu ehen!

Dreimal warfen die Wackern auf Mietherschwand die Franzosen den Berg hinab, ihnen Felsblöcke und einen Hagel von Handsteinen nachschickend. In den vordersten Reihen raste der Murmolter, indem er sich mit geschwungenem Kolben, das „Gweidmesser“ zwischen den Zähnen, durch die Reihen der Kämpfenden 99 []wand; der Schaum troff von seinem Munde,und viele kriegserprobte Franzosen wichen vor seinem Blicke zurück. Neben ihm stand gewöhnlich der Imbühl, wie ein gereizter Löwe mit seinen „Pranken“ um sich schlagend. Wer hätte diesem Riesen eine solche Gewandtheit zugetraut! Der Wildhüter schoß meist in Deckung, nach jedem Schusse seinen Standpunkt wechselnd; so wollte er seine Kräfte mit kalter Ueberlegung für den furchtbaren Endkampf aufsparen!

Schon jauchzte der Murmolter in rasender Siegesbegeisterung; schon jauchzten die unũbertrefflichen Scharfschützen; die Reihen der stürmenden Franken waren erschreckend gelichtet, und schon mußten die Offiziere ihre Mannschaften mit der Waffe in der Hand zum Sturme antreiben da kam die schreckliche Enttüuschung:

Die französischen Sturmkolonnen an der March hatten mit ihrer zehnfachen Uebermacht gegen St. Jakob hin die dünne und stark gelichtete Front der todesmutigen Kämpfer eingedrückt; zum Teil überrannt; Noch kämpften die Nidwaldner Helden dort weiter, einen blutigen Verzweiflungskampf, aber das Gros der Feinde ergoß sich gegen Ennetmoos, um dort auf die zweite Stellung der NRidwaldner einzustürmen. Und das mußte man den französischen Offizieren lassen: Sie verstanden den Krieg. Sofort löste sich von den dortigen Ko290 []lonnen eine Abteilung los und stürmte den Mietherschwanderberg in der Mitte! Da gab es für die Mannschaft auf Mietherschwand nur eine Möglichkeit der Rettung: Schleunigster Rückzug bis an die Zingel- und Drachenfluh,sonst kamen sie unfehlbar zwischen zwei Feuer!

In richtiger Erkenntnis der Lage gaben denn auch die Führer sofort den Befehl zum Rückzuge: Ueber die Berggüter „Zingel“, untere und obere „Rüthi“ ging die wilde Jagd dem Abgrunde der Zingel- und Drachenfluh entgegen. Die fränkische Abteilung von Alpnach gewahrte natürlich sofort die Wendung der Dinge, und drängte, vereint mit der neuen Hilfskolonne, die inzwischen den Bergrücken erstiegen hatte, in rasender Wut nach: Mit blitzenden Bajonetten, unter Absingen der Marsaillaise, stürmte sie gegen das Häuflein todgeweihter Kämpfer.

Dort, an der Zingel- und Drachenfluh kam es zu einem furchtbaren, entsetzlichen Handgemenge.

Viele waren schon auf dem Wege gefallen,von den Franzosen zertreten und durchstochen worden, einige konnten sich in die nahen Abhänge und Wälder an der Mietherschwand retten; aber noch hielt die Elite in todessicherem Ringen aus! In letzter Todesnot!

Jetzt legt der Wildhüter los: Bajonette splittern, Säbel klirren und Gewehre bersten;markdurchdringende Todesschreie übertönen 201 []den Schlachtenlärm. Sein Hemd ist blutig, von mehreren Stichen und Streifschüssen zerrissen,und noch steht er kämpfend im dichtesten Knäuel.Ein kurzer Seitenblick zeigt ihm den Murmolter, wie er von einem Dutzend gefällter Bajonette gegen die furchtbare Tiefe der Zingelfluh gedrängt wird; dort steht auch noch der Imbühl, wie eine Fluh, seinen schweren Stutzen wie einen Besenstiel schwingend da fühlt der Wildhüter einen Schlag gegen die rechte Brustseite, einen brennenden Schmerz der Atem versagt ihm eine Ohnmacht legt sich auf seine Augen. Wie durch einen Nebel sieht er noch,wie der Murmolter die Bajonette unterläuft,einem französischen Offizier den Schädel zertrümmert und mit zwei Schwarzen über die Zingelfluh stürzt zwei entsetzliche Todesschreie dann hört er nichts mehr.

So endete der Heldenkampf im Ennetmoos,auf Mietherschwand so endete er an andern Posten!

Die alte Eidgenossenschaft sinkt hin, sie ringt im letzten schweren Atemzuge unter dem Fußtkritt fremder Legionen.

Doch nahe beim Rütli, da hatte noch der alte Schweizergeist gelebt. Stolzes Frankreich! Wäre nur die halbe Schweiz von diesem Geiste Winkelrieds beseelt und eünig gewesen,deine Lorbeeren wären verblüht!

Am See, am Bergabhange haben Nidwaldens Männer seit dreizehn Stunden gekämpft.

4

2 []Doch ach, der Tod ist dir beschieden, starkes, hochherziges Volk. Keiner ergibt sich, keiner achtet der Wunden, der Sterbende hält den letzten Seufzer zurück.

Da bringt endlich die fränkische Uebermacht und die Nacht, die düstere letzte Nacht, die Niederlage. Die Männer von Nidwalden liegen hingestreckt am Boden, wie einer Eiche zersplitterte Aeste nach tobendem Sturm. Jetzt sind sie tot außer den wehrlosen Wesen. Der Soldat hat beendigt, der Metzger beginnt!

Frauen, Greise, kleine Kinder heben ihre ohnmächtigen Hände empor an den Stufen der Altäre, sie richten empor ihre Augen, ihre Seelen, ihre Gebete zu Gott, zu Gott, der einst ihre Väter errettet. Der Priester mit weißem Haar trägt das Kreuz in ihre Mitte, Tränen durchfurchen seine greisen Züge und er sagt zu ihnen: Ihr lieben Kinder, seid gesegnet, ihr Armen, in kurzem seid ihr vielleicht Märtyrer! Und sie sind es geworden!

Auf einmal wird die Nacht taghell erleuchtet. Eine rote Wolke steigt, sie wächst, sie wälzt sich über Berg und See und Tal. Feuer! Es ist der Höllenschein, der dem blutigen Eisen leuchtet. Schützend hatte die Nacht die unschuldigen Opfer noch barmherzig verborgen; jetzt wird es ep jetzt Hand ans Werk, hochherzige Solaten!Das Waisenkind, dessen Vater verblutete, der fiebernde Kranke auf seinem Lager, Priester,203 []die heute den Sterbenden beigestanden, Frauen und Greise, Kinder sie werden hingeopfert.Herr gib ihnen die ewige Ruhe und die Krone!

6 []10. Des Mörders blutige Sühne

Ein frischer Morgenwind rauschte in den Eichenkronen auf Mietherschwand, als der verwundete Wildhüter von seiner Betäubung erwachte. Der Kolbenschlag eines Franzosen auf den schon Liegenden hatte zwar den Nidwaldnerschädel nicht zertrümmert, aber die Ohnmacht verlängert. Jetzt regt er sich und greift nach seinem Kopfe; Haare und Bart sind von geronnenem Blute teilweise zusammengebacken;sein Gehirn kocht, seine Brustwunde brennt wie glühendes Eisen und die Zunge klebt ihm vor Durst am Gaumen eine Folge des Blutverlustes. Seine blutunterlaufenen Augen starren verständnislos umher; lange kann er seine Situation nicht begreifen; nur mählich dämmert es in ihm.

Er zieht aus der Rocktasche ein Fläschchen mit Branntwein und kühlt den heißen Gaumen.Der starke Naturschnaps rüttelt seine Lebensgeister auf.

Da, horch! Was war das für ein Schrei?

Jetzt jetzt wieder! Und dann ein entsetzliches Stöhnen! Dort, aus dem Busche kommt es; dort muß einer liegen. Der Wild255 []hüter versucht sich aufzurichten; zweimal fällt er wieder zurück; aber sein eiserner Wille siegt:Beim dritten Male geht es. Zwar ist er noch schwindlig; er taumelt wie ein Betrunkener;aber auf seine Büchse gestützt, kann er sich mühsam vorwärts arbeiten; schwerfällig hinkt er hinter den Busch: Ja, da liegt einer, ein riesiger Nidwaldner. Aber, wie sieht er aus! Der Wildhüter kennt ihn erst nicht; denn der Mann,der da liegt, ist blutüberströmt; noch sickert es aus seiner Brustwunde; die Kleider sind dort verbrannt; er muß also einen Schuß aus allernächster Nähe, wohl im Handgemenge, erhalten haben. Mit der Hand bedeckt er das Gesicht;jetzt wieder das markdurchdringende Stöhnen.Wie muß dieser Mann gekämpft haben; er ist mit Wunden und Rissen bedeckt; jetzt hebt er die Hand vom Gesichte Jesus! Er hat keine Augen mehr! Diesen Schuß hat er wohl bekommen, als er schon lag! Ein Franzose hatte im Vorwärtsdringen dem Gefallenen den Gewehrlauf an die Schläfe gehalten, wie eine verbrannte Haarlocke vermuten ließ. Beide Augen samt der Nasenwurzel waren fortgerissen. Es war ein grauenhafter Anblick.

Er liegt auf dem Rücken; wie ein neugebornes Kind greift er mit den Armen in der Luft herum! Der Wildhüter hat schon manches gesehen; jetzt aber steht er tief erschüttert da! Wie mochte der da für seine Heimat gekämpft haben! Der Alte kniet nieder und

2 V []träufelt ihm Branntwein in den fiebertrockenen Mund. Jetzt erst erkennt er ihn:

„Bisches dui, Chappi? “

8 b biehbbh

„Müdosch halt stärbe, Chappi. Dänk a d'Ebigkäit! Bätt eppis und beriih d'Sinde! S'isch jäz käĩ Gäistliche do.“

Da hauchte es fieberheiß:

„ Icha nid nid stärbe

„Worum nid, Chappi? Drickt di no eppis 2*

„Ohh d'SHell d'SHell ... isch isch scho im Chopf inne !“ Er greift nach seinem blutigen Schädel.

„Chappi, müosch nid verzwiifle! Dr Häiland verziäht dr scho bätt eppis! J will mit dr bätte: Vater unser, där dü bisch im Himmel, ghäiligt wärdn däin Name “

Da zuckte der Sterbende auf wie ein getrektener Wurm; er hebt sein Haupt ein wenig, als ob er lauschen wollte:

„ Muirer! Muirer bisch es duiꝰ? 7“„Jo, arme Chappi, si häm mi oi 'troffe bättemer eppis zsäme: ... zukomm ys däin Räich, däin Wille gschächi...“

„Muirer i ha dr Hansi gstochen und abbeghiit. Ich ich vbis gisy

207 []Der Wildhüter glotzt wie geistesabwesend auf den blutigen Körper nieder: Ist der Mann da vor ihm wahnsinnig geworden? Spricht er im Delirium? Aber nein! Er stützt sich mit letzter, keuchender Kraftanstrengung auf den Ellenbogen, und ...

„ Muirer! Dobe am am Schwalmis obe oh i cha nid stärbe Muirer, um Christi Barmhärzigkeit wille !“Er sinkt wieder ein.

Der Wildhüter ist aufgestanden; er ist ein ganz anderer geworden. Mit verschränkten Armen stützt er sich auf sein Gewehr und starrt auf den Schwerverwundeten nieder. Seine Lippen sind blaß, seine blutunterlaufenen Augen schwarz und fieberhaft.

„Dui dui? ?“ Mehr kann er nicht sagen und es klingt fast so unheimlich hohl wie der vorige Schrei des Sterbenden. Seine harten Fäuste ballen sich, daß das Blut aus ihnen zurückweicht. Der also! Der! Soll er ihn noch erwürgen, ehe er von selbst ....7

Der Wildhüter bückt sich nieder und reißt den Sterbenden gewaltsam empor:

„Chappi! Stand uif!“

Der Chappi will gehorchen, wie ein Kind;er will sich aufrichten; aber es wäre ihm nicht gelungen, wenn ihn der Alte nicht mit steinharter Hand emporgerissen hätte. Selber schwer verwundet, führt er den Sterbenden

2 []wohin? Halb eingesunken ächzt der Imbühl neben ihm her, wankend, mit schlotternden Knien. Wie wenn ein kraftloser Greis einen Betrunkenen führt. Ein herzzerreißender Anblick!

Jetzt geht der Wildhüter mit ihm dort am alten Kreuze vorbei, und dann Herrgott! Will er mit ihm über die Zingelfluh?Soll er, wie sein Sohn am Schwalmis droben?Sgeiland am Kreuze! Verhülle deine Augen! Bis an den äußersten Rand führt er ihn. Dann frägt er mit furchtbarer Stimme:

„Chappi! Wäisch wo d'bisch?“

„ 5 h näi! mach schnäll!“

Chappi, de stohst z'usserst uf dr Zingelfluoh

Chappii Hed dr Hansi niid meh gsäid, eb er abenischꝰ?“

Ohhh !Wie er auffstöhnt, bei der Erinnerung an jene Stunde!

„Chappi! Was, was hed dr Sansi gsfäid,woner so gschruwe hed? “

s„äiland Jesus Christus! “

„Sisch niid?“

- Näi!“

Da fällt der dunkle Blick des Wildhüters auf das alte Kreuz: Der hölzerne Heiland hat von einem Franzosen einen Kolbenschlag erhalten und ist davon eingeknickt, faft wie, wie der Imbühl; die abgebrochene rechte Hand hängt an ihrem Wundmal am Nagel hernieder.

209 []Finster, voll Empörung schaut der Wildhüter auf das Kreuz: Ein Gotteslästerer hat dort den Heiland geschlagen, ihn, der im Sterben noch seinen Todseinden verziehen hat verziehen hat!

„Chumm!“ sagt er nach einer unheimlichen Pause und zieht sein Opfer fort, an das Kreuz.„Wäisch, was das isch, Chappi? “

„S'Zingelchryzl“ Da entzieht er dem Alten seine Hand und hält sich mit beiden Armen am Kreutz, als fürchte er, umzusinken. Dann streckt er ihm die Hand wieder hin:

„Muirer!“

Noch einmal holt der Wildhüter tief Atem,und dann, dann legt er langsam seine schwielenharte Hand in die seines sterbenden Todfeindes. Ein Stöhnen der Erlösung ringt sich aus dessen Brust:

5 5 sväiland Jesus Christus!“ Langsam, ruckweise sinkt er ein dann ist er still er ist tot; Nidwaldens kühnster Wildschütze hat ausgerungen!

Noch immer hält der Wildhüter die Hand des Toten. Sein Auge ist wieder weich geworden,so weich, wie noch nie in seinem Leben, lange blickt er so, mit tränengefüllten Augen, zum geschlagenen Christus empor, dann öffnen sch seine Lippen:

„Häiland Jesus Christus! Straf en nid wäge sällem!“210 []Nidwaldnerglaube, du unberührtes Edelweiß, lebst du noch

In der Brust des Wildhüters aber ist wonniger Friede, und auf seiner blutigen Stirne liegt wieder jenes Leuchten wie damals am Schwalmis, als ihn das Harsthorn rief!

Da taucht hinter einem Busche das Gesicht eines Feldscherers auf; er sieht den Imbühl am Kreuze eingesunken und davor den Alten mit gefalteten Händen.

„Isch er gstorbe?“ frägt er leise, auf den Imbühl deutend.

„Für Nidwalden!“ entgegnete der Wildhüter fest und stolz.

Der Feldscherer untersuchte die Wunde des Wildhüters und verstopfte sie mit gequetschtem Spitzwegerich. Ob sie gefährlich sei, darnach fragte der Alte nicht einmal vielleicht auch deshalb nicht, weil er es wohl besser wußte als der Scherer. Dieser schlich sich bald fort, um nach andern zu suchen, die seiner Hilfe bedurften, trotz der beständigen Todesgefahr; denn immer noch durchstreiften blut- und beutegierige Rotten die Schlupfwinkel und Wälder des Mietherschwanderberges. Von Stans her aber leuchteten blutige Feuergarben und röteten den dichten Qualm, der wie eine Donnerwolke über Nidwalden lag. Was dem Gemeztzel entgehen konnte, flüchtete in die Berge und entlegensten Schluchten. Nidwalden war ein großes Grab geworden, und noch immer wüteten die Brin

211 []ger der „Freiheit und des Völkerglücks“. Die Feder sträubt sich, von dem zu erzählen, was die Nacht verhüllte und der Tag beleuchtete!l

Lange blieb der Wildhüter am Rande der Zingelfluh stehen. Was tun? Dort unten in der Tiefe liegen zerschmetterte Menschenkörper, Freunde und Feinde, sich noch im Tode umarmend. Da kommt dem Alten unwillkürlich ein Gedanke: Wo liegt wohl der Murmolter? Er geht suchend dem Rande entlang und späht, wo etwa Abstürze möglich waren: Ein grausiges Bild! Dort, ja dort liegen die zwei Schwarzen,die mit ihm hinunter mußten; sie sind gebrochen und zerschmettert, wie die unnatürliche Lage ihrer Glieder zeigt, aber vom Murmolter keine Spur! Hatte er die zwei Schwarzen im Sturze so dirigiert, daß ste beim Aufschlagen als UAnterlage dientenꝰ Sie vielleicht deshalb mitgenommen? Beides war ihm wohl zuzutrauen.Tatsache aber war, daß er noch nicht unter den Todesschatten wandelte! Plötzlich aber bleibt das scharfe Auge des Wildhüters an einer Stelle haften. Starr blickt er hin; seine Lippen werden noch bleicher; seine Gestalt scheint einzusinken: Dort unten an der Felswand liegt Klaras jugendliche Gestalt! Im Tode noch umklammert sie die Fahne, die gestern morgen noch auf Mietherschwand geflattert hat. Richt zehn Schritte davon entfernt liegt ihr Körbchen, womit sie den Muden und Verwundeten Labung zugetragen hatte.

212 []Stöhnend entringt sich der Atem der verwundeten Brust des Alten; dort liegt sie, die er von allen Wesen auf Erden noch am meisten geliebt hatte! Sie ist hingegangen zu Nidwaldens großen Toten; sie hat ihnen Nidwaldens Fahne gebracht und auch die weiße Fahne ihrer reinen Seele; beide hat sie in furchtbarer Entscheidung dem nicht mehr menschlichen Feinde entrissen! Nidwaldens Boden hat Märtyrerblut getrunken!

Da krachen vom obern Mietherschwanderberge her einige Schüssel Wie die Geieraugen des Alien aufblitzeni Dort muß noch Kampf sein! Kampf mit jenen Teufeln, deren Eisen fich auch vor der Kindesunschuld nicht senkt,Kampf mit jenen, die cuch sein Liebstes auf Erden in den Abgrund getrieben, Kampf mit jenen “

Nochmals faßt er den Stutzen mit nerviger Faust und geht in Deckung vor, nochmals hat sein eiserner Wille über das Fleisch gesiegt: Er hinkt fast nicht meht, und das Brennen der Wunde stachelt seine verhaltene Wut! In der Richkung von Ratsherr Vonbürens Hofstatt fährt Rauch auf! Weiter! War das nicht ein Hilferuf, ein Verzweiflungsschrei? Vorwärts! Schweißtropfen perlen über seine Stirne und lösen das getrocknete Blut wieder auf. Jetzt ist or hinter dem letzten Busche und bleibt wie angewurzelt stehen! Hat denn Satan mit seinen Verworfenen den Söllenkerker verlassen? Dort 213 []brennt schon der Dachstuhl, drei „Schwarze“durchstechen beim Brunnen die Leiche eines Mannes; zwei andere kommen soeben wie beutebeladene Hunnen aus der Haustüre. Ein sechster schleppt ein junges Weib an den Haaren nach, und dieses Weib preßt ein kleines Kind an ihre Brust. Ihre Verfassung zeigt, daß sie sich bis zur Verzweiflung gewehrt hat und lieber in den Flammen bleiben, als mit diesen Unmenschen das Haus verlassen wollte. Da läßt einer der Erstgenannten von der Leiche ab,kommt johlend hergesprungen, entreißt dem unglücklichen Weibe das Kleine und wirft es an die Scheiterbeige. Das Weib wehrte kaum mehr; es schien dem Wahnsinn nahe. Da kommt der Korporal dieser Höllenrotte und setzt ihr das Bajonett auf die Brust Da kracht der Schuß des Wildhüters! Herrgott! Hat seine Hand gezittert, oder war das Absicht? Er hat dem Entmenschten den Schuß Imbühls beigebracht! Ein gräßliches Heulen! Zu Tode erschrocken stehen die andern da, die vertierten Menschen. Wie sie aber sehen, daß der alte,halbgebrochene Mann allein ist, erwacht in ihnen der Hyänenmut: Sie stürzen sich auf ihn los und umringen ihn wutknirschend, mit gefällten Bajonetten. Dieser zieht sich, seinen Kolben schwingend, an das brennende Haus zurück. Dort schlägt er um sich wie Uli Rotach.Die Franzosen wollen ihn bei lebendigem Leibe verbrennen lassen! Schon fallen glühende Bal214 []ken links und rechts von ihm nieder; schon versengen fallende Brandschindeln seine Haare seine Kleider rauchen da, ein Sprung! Er steht mitten unter seinen Peinigern; er schlägt noch einen nieder. Ein Schuß! Der Alte greift an die Brust, sein Gewehr entfällt ihm und Heiland! Jesus Christus!l Wie eine entwurzelte Wettertanne stürzt er nieder Der Wildhüter von Beckenried ist tot!

Jedoch die bluthündische Wut der Franzosen ist damit noch nicht gestillt! Wo ist das Weib?Dort hat es das Kind aufgerafft und flieht in wahnsinniger Angst dem Walde zu, die Vertreter der „großen Nation“ mit ihren Bajonetten hintendrein. Schon ist der vorderste bis auf zehn Schritte hinter ihr da taucht das rauchgeschwärzte Gesicht Murmolters hinter einem Felsblocke auf: Wehe euch! Sein Stutzen fliegt an die Wange, ein Knall! Der vorderste überschlägt sich und kugelt den Abhang hinunter; die drei Nachfolgenden stutzen; aber schon ist der kühne Wilderer mitten unter ihnen.Einen schmettert er sofort nieder, einer kann in die Büsche entweichen, der dritte sinkt in die Knie, bittet mit erhobenen Händen um Gnade und bekommt sie; der Vertreter der „Hochkultur“ Frankreichs von dem ‚halbwilden; Nidwaldner, dem „Rebellen“! Und drüben in Stans fließt das Blut dieser „Halbwilden“ in Strömen und droben auf den Höhen fahren neue 215 []Hütten in qualmender Glut auf, angezündet von den „Aposteln des Völkerglückes“!

Mit gespanntem Hahn kommt der Murmolter zum brennenden Hause zurück: Wer mag wohl der Tote sein? Er muß sich bis zum letzten Atemzuge gewehrt haben, wie sein Aussehen zeigt. Er wendet den Leichnam, um sein Geficht zu sehen: Der Wildhüter! Lange schaut er ihn an, bewundernd; noch im Tode hatte dieser zwei blühende Menschenleben gerettet. (Das Kind, nach der Chronik hieß es Matthias Vonbüren, kam wunderbarerweise mit dem Leben davon).

Sie sind tot, die Helden und Heldinnen von 1798. Siegend sind sie in den Tod gegangen;denn für eine große Idee untergehen ist Sieg!„Nidwalden besiegt, geschlagen die Schlacht!“Wohl riefen's die Franken um Mitternacht In bechertrunkenem Wahne;

Doch nicht im Lager der Franken; nein,

Tief unten zerschellt am Felsgestein

Fand man die blutige Fahne.

Im Arm den Schaft, am Felsgestein Zermalmt, so lag beim Frührotschein

Die Fahnenwache, die schöne;

Zu grüßen schien ihr Mund so bleich:

Nun werbt um mich im Geisterreich,Nidwaldens tote Söhne! (Franz Niederberger)

Ihr aber, ihr großen Toten von 1798, erhebt euch und gießet euern Geist in die Herzen jener Manner, welche jetzt im Weltenbrande Helvetiens Marken schirmen!


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TextGrid Repository (2023). Swiss German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-gsw). Der Wildhüter von Beckenried. Roman aus Nidwaldens letzten Tagen vor 1798: ELTeC Ausgabe. Der Wildhüter von Beckenried. Roman aus Nidwaldens letzten Tagen vor 1798: ELTeC Ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001D-474A-F