Leipeig Verlagsbuchhandlung von J. J. Weber 1865.340 [] Inhaltsherzeichnizs.

Erstes Capitel.

Das Gaißmädchen und die Stiefmutter.Sweites Capitel.Morgenroth Regen prophezeit .Drittes Capitel.Hülfe bei großer Noth.biertes Capitel.

Annemareili wird von allerlei Uebel befreit und kömmt sich wie eine Prinzessin vr.

Fünftes Capitel.

Der erste Dienst und der kleine Johanneslein Sechstes Capitel.

Seite

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Hülfe und noch einmal

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Der zweite Dienst; oder es ist nicht Alles Gold, was glänzt 64 Siebentes Capitel.Ein Tröster in hellblauer Jacke ...Achtes Capitel.Ein Spaziergang. Joseph kehrt ein; Annemareili auch, aber an anderm Ortee 8

30 Neuntes Capitel.Annemareili spart, ein Vetter erscheint am Horizonte ..Sehntes Capitel.Der Vetter ist auf die Sparkassen nicht gut zu sprechen.alte Bekanntschaft erneuert sich ..

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119 [17]Inhalisverzeichniß.Seite Elftes Capitel.Geschichte des Schmidtrudi. ..

126 Swölftes Capitel.

Fortsetzung, oder ein Tyrann vergreift sich an den Menschenrechten des Rudi und bringt ihn ins rechte Geleise .. 143 Dreizehntes Capitel.

Aussichten zu einer Heirath. Reise in die Heimat bei Sonnenschein. Warum aber Rudolf dem Annemareili das Päcklein nicht träst.. VVVE dierzehntes Capitel.

Die Schwiegermutter. Herbstnebel. Annemareili giebt nach 174

Fünszehntes Capitel.Ein Stärkrer tritt auf; die Schwiegermutter ebenfalls.. 187 Sechszehntes Capitel.

Genesung. Eine Nückzahlung der Sparkasse, die reich macht.

Auch der Stiefbruder findet einen Meister. 196 []Dienen und Werdienen. [] Erstes Capitel.

Das Gaißmädchen und die Stiefmutter.XE eigentlich kein so übles Kind gewesen, wenn's auf seinem Kopfe nicht so gar wie in einer Brombeerstaude ausgesehen und man die natürliche Farbe seiner Backen erblickt hätte. Denn wußte es wirklich etras vom Kämmen und Waschen, so war's höchstens vom Hörensagen; jedenfalls hatte es sich nie erkältet dabei, noch weniger aber erhitzt. Das Mädchen gehörte einem armen Weber, war indeß bei noch ärmeren Leuten verkostgeldet, weil ihm die Mutter gestorben, noch ehe es zwanzig Wochen alt gewesen und der Vater seitdem keine Haushaltung mehr führte, sondern im Verding arbeitete. So sah denn keine Seele zu Annemareili,zeigte ihm nichts, hieß es nichts, als auf der Waide die Gaißen hüten und etwa im Felde ein wenig Unkraut jäten. Es wuchs wild auf, glücklich und zufrieden mitten im Unrath, und wenn ihm die Leute auch auswichen,das war ihm gleich, seine Gaißen leckten ihm doch die []4.

Hände und hatten es nur um so lieber. Es fiel ihm nicht im Schlafe bei, daß es, das Annemareili, ebenso gut hätte sauber sein können als die andern Kinder im Dorfe. Diese andern Kinder waren ja auch nicht wie es bei allem Hudelwetter draußen im Freien, saßen in der Stube auf der Ofenbank oder spielten in Scheunen am Schermen, wenn ihm der Morast über den nackten Füßen zusammenlief, schliefen in Betten, wenn es neben dem Säustall auf einem Laubsacke lag und sich nothdürftig mit verdorbenen Lumpen deckte. Aber es wußte nichts Bessres und war zufrieden, jodelte hell auf,wenn andre Leute schnatterten vor Kälte oder fast zergiengen vor Hitze und ein kalter Erdäpfel, den es erhielt,oder ein halbreifer Aepfel, den es fand, waren ihm Leckerbissen, daran es wohl lebte, mit seinen elfenbeinweißen Zähnen drein fuhr, daß Jedem, der es sah oder hörte,das Wasser im Munde zusammenlief. Nie eine kranke Stunde hatte es gehabt das Mädchen, und rüstig war's,daß es keinen Buben fürchtete, nicht einmal ältere als es war. Es hatte kein Camerädchen, denn den Mädchen war's zu ungeschlacht, mit den Buben aber bekam es gleich Händel, wenn die es so behandeln wollten, wie sie mit den andern Mädchen umgiengen. Zu des Krämers Heinrich allein verrieth es einige Hinneigung. Der Heinrich war ein schwächlicher Knabe, und es schmeichelte dem Stolze des kräftigen Mädchens, ihn gegen seine stärkeren Genossen in Schutz zu nehmen bei den Streitigkeiten, die sie unter sich hatten. So fielen deßwegen [5] mit des Schmidt Rudi, einem stämmigen Burschen, mehr als einmal hitzige Raufereien vor, und trug Annemareili in der Vertheidigung seines Schützlings Beulen wie Taubeneier davon, so lief dafür der Gegner mehrere Tage mit den blutigen Mälern von Annemareili's Nägeln im Gesichte herum. Für solchen Schutz war der Heinrich natürlich wieder erkenntlich, vergalt ihn mit Aepfeln,Brot, Nüssen, wodurch sich dann eben ein gewisses Verhältniß von Freundschaft bildete, das einzige, welches das Mädchen noch mit Jemand Anderm als mit seinen Gaißen unterhielt.AVDDDD und sorgenlos wie Wenige, aber auch verwildert wie kein andres Kind im Dorfe. Da änderte sich sein Schicksal, doch nicht gerade zum Besten. Der Vater heirathete zum zweiten Mal und trieb sein Gewerbe wieder auf eigne Faust. Natürlich zog nun das Mädchen zu ihm und es schien am Anfang für Annemareili wohl auszuschlagen, kam es doch wieder in eine Haushaltung und unter Menschen, die ein wenig zu ihm sahen und es nicht nur mit dem lieben Vieh laufen ließen. Es kostete zwar genug Schläge bis Annemareili begriff, es müsse jetzt wieder zu Hause bleiben und im Hause arbeiten, könne nicht mehr von Morgen früh bis in alle Nacht hinein im Freien herumziehn. Nun hatte es Spuhlen zu machen für den Vater und Tschuder zu spinnen, mußte Wasser tragen, fegen, hie und da der neuen Mutter an die Hand gehen. Den Winter über [6]wurde es sogar in die Schule geschickt, lernte aber nicht viel mehr, trotz dem, daß es nicht dumm war, als was eben beim Durchfahren von einem Ohre zum andern unterwegs hängen blieb: ein wenig Lesen, Rechnen soweit die zehn Finger langten und Schreiben fast gar nichts.

Von all diesen Plagen sah Annemareili immer nur die Stiefmutter als Ursache an, um so mehr, da es von dieser auch am meisten gescholten und bestraft wurde. Es war daher nicht nur besonders übel auf sie zu sprechen,sondern zeigte ihr in seinem Trotze noch seine Gesinnung durch die geringe Achtung, dadurch, daß es Alles schlecht ausführte, was die es hieß, und ihr nicht leicht etwas zu Liebe that. Die zweite Frau von Annemareili's Vater kehrte darum natürlich auch immer deutlicher und rauher die Stiefmutter heraus gegen das ungezogene Kind, um so rauher als sie ohnehin nicht die sanfteste war, hatte sie doch bald sogar den eignen Mann der Art unter den Daumen gekriegt, daß er kaum mehr seine Tochter in Schutz zu nehmen wagte. Gab sich deßwegen Annemareili seinerseits bei Allem wenig Mühe und hielt sich in nichts gegen die Stiefmutter für verpflichtet, so wurden dafür bei der wieder die guten Worte selten, es sauste ein Klapf um Annemareili's Ohren, da wo andre Mütter zu ihren Kindern gesagt hätten: „Hör einmal, Annemareili!“ und Ohrfeigen am Morgen, Schläge zum Mittag und Prügel für den Abend wurden die gewöhnliche Kost.

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So lernte das Mädchen eigentlich nicht viel Andres als die Stiefmutter ärgern, wie harmlos es früher auch gewesen. Es hatte deßwegen noch nicht gerade ein böses Herz, mehr ein unvernünftiges, denn mit dem, daß es ja nur gegen die Stiefmutter so sei, glaubte es sich zum Voraus schon vollkommen gerechtfertigt. Auch die Reinlichkeit machte keine auffallenden Fortschritte. Wohl gab ihm die Stiefmutter deßwegen alle Schandnamen,dafür aber selber kein gutes Beispiel in dem Punkte;Schandnamen indeß kämmen nicht, noch waschen sie,wenn's auch tropft davon, und Annemareili dachte halt gleich wieder: es sagt's nur die Stiefmutter! und nahm's drum um so weniger an.

Das Leben, das Beide zusammen führten, war demnach kein gar erfreuliches, der Vater, der zwischen ihnen inne stand, hatte es aber vielleicht noch am allerschlechtesten, denn er bekam Vorwürfe von beiden Seiten zu hören. Anfangs versuchte er zu besänftigen: das war Oel in's Feuer, dann schwieg er und nur wenn sein Weib dem Annemareili einen Schemel nachwarf,oder den Besenstiel auf dem Rücken zerbrach, nahm er sich zusammen und schalt: das komme ihm doch bald zu arg! Am Ende verließ er seine Arbeit bei derlei Anläßen und schüttete im Wirthshaus ein Glas Wein auf seinen heimlichen Verdruß. Hierdurch aber ward nicht nur nichts gebessert, sondern noch verschlechtert,nämlich der Erwerb und um so mehr, da mit der Weberei ohnehin keine Seide zu spinnen war.[8]Zu Allem kam dann noch, daß Annemareili ein neues Brüderlein bekam und das Jahr darauf sogar ein zweites. Das erste Kind das kam, wurde wenigstens von der Mutter mit freundlichen Augen angesehen, vom Vater nur so halb und halb. Das zweite dagegen,das kaum ein Jahr warten gekonnt, kam Niemandem willkommen, war's doch bis jetzt schon knapp genug zugegangen in der Haushaltung! Der Vater seufzte mehr und gieng öfter in's Wirthshaus, darin er freilich jetzt für einen Halbbatzen Brenz trank, statt des Schoppen Weins von früher. Die Mutter sah nur um so saurer und unwirscher drein, je freundlicher das unwillkommene Knäblein sie anlächelte, denn sie erblickte eine neue und überflüssige Sorge in ihm und hätte jedenfalls lieber ein Mädchen gehabt anstatt eines Bübleins, was sie beim Bestellen wahrscheinlich übersehen. Annemareili endlich, ja Annemareili war das Einzige im ganzen Hause, welches dem armen Würmlein noch ein gutes Wort gab, ihm ein freundlich Gesicht zeigte, es schweigte,wenn es schrie. Wie das kam? War's aus Schadenfreude vielleicht, wie die Mutter meinte, daß es einen Verbündeten bekommen, der ihm die Stiefmutter ärgern helfe? Nein, dafür war Annemareilt zu gerade und sein Herz zu unverdorben, wie trotzig es daneben auch sein mochte; vieleher erbarmte es das arme hilflose Ding, das ja auch Niemand hatte der's liebte, oder ihm hold war, gerade wie Annemareili nicht. Kurz, das Mädchen fühlte sich hingezogen zu diesem Stiefbrüderlein,[9] und es nährte es, trug es, gab ihm den ersten Kuß,den es je einem Menschen gegeben, ja, was das allerauffallendste war, es wusch es sogar und sorgte ihm für reine Kleidung, freilich nicht rein, ganz genau was eine Vorgängerin in der Stadt so nennt, sondern ein wenig was ein Annemareili rein heißen konnte. Darüber indeß empfand das Annemareili doch eine kleine Schadenfrende, daß der Kleine gegen Niemand so lächelte wie gegen das Mädchen und mochten Vater und Mutter anwesend sein und die Mutter ihm den saftigsten Lutscher vorhalten, es streckte gleich die Arme gegen Annemareili,sobald dieses nur in die Stube trat und spornte und schrie, bis es bei ihm war. Dieses jedoch hatte sich mit all dieser Liebe, der eigenen wie des Bübleins seiner,doch nicht satt gegessen; das will heißen: als der Verdienst geringer, der Mäuler mehr und die Bissen darum schmäler geworden, als die Stiefmutter das wenige Brot, das im Hause war, für ihre eignen Kinder zuerst verwandte,da bekam das Madchen mehr denn ein Mal empfindlichen Hunger zu spüren. Es war ohnehin stark gewachsen und im Alter dazu, hätte den ganzen Tag essen mögen,nicht aber des Nachts ohne ein Tünklein in's Bette gehen. Schon öfter war es drum heimlich über den Brotlaib gegangen, oft aber auch von der Stiefmutter hart gescholten und bedroht worden deßhalb. Hatte es sonst schon wenig auf die Stiefmutter gehört, so übertäubte jetzt der Hunger noch vollends ihre Stimme, und eines Morgens, da Annemareili die Stiefmutter auf der [10]Holzbühne glaubte, stand es auch wieder vor der offenen Tischschublade, in der einen Hand das Messer, in der andern den ziemlich zusammengeschmolzenen Brotlaib.Unglücklicherweise trat da von der Küche her die Mutter unversehens in die Stube und unter einem Schwalle von Scheltwörtern war sie über dem erschrockenen Mãdchen her, riß ihm Brot und Messer aus den Händen und schlug ihm mit diesem hart über den nackten Arm. Ein Schrei Annemareil's war Alles: das Blut schoß über den Arm herunter, dunkelroth und heiß aus einer tiefen Wunde hervor. Die Stiefmutter erschrak Anfangs wohl ein wenig, aber gleich darauf schalt sie: es geschehe der Diebin Recht, sie komme doch noch an den Galgen und es sei nur Schade, daß es nicht tiefer gegangen! Annemareili aber fagte jetzt kein Wort mehr, es wickelte nur seine Schürze um den stark blutenden Arm und gieng dann zur Thüre hinaus. Denselben Tag zeigte es sich nicht mehr und Niemand fragte weiter nach ihm.

Von da an ward es stille, sprach fast nichts mehr,gab auch weniger Anlaß zu Streit, den Arm trug es noch einige Tage lang verbunden und als die Lumpen zum ersten Mal weg waren, zeigte sich ein halbfingerslanger breiter rother Streifen an der verwundeten Stelle.

Eines Morgens kam das Mädchen nicht in die Stube herunter, es ließ sich den ganzen Vormittag nicht blicken,die Stiefmutter war an dem Verschlage, drin es schlief,vorbeigegangen und hatte die Thüre nur angelehnt, das Bette leer gefunden, nirgend war ein Annemareili zu []sehen. Um die Mittagszeit fand es sich gleichfalls nicht ein, vergeblich hatte das kleine Stiefbrüderlein mehrmals nach ihm geschrieen und endlich, gegen Abend, auch der Vater gefragt. Sie wisse es nicht und laufe dem Trotzkopf nicht nach, antwortete die Stiefmutter, war aber gleichwohl ein wenig unruhig, als es auch Nachts noch nicht zurückkehrte, hatte es sich doch in den letzten Paar Tagen auffallend stille und in sich gekehrt gezeigt. Und als da der Vater, der im Wirthshause sich Muth geholt,sagte: das sei ihm doch überlegen, wenn man ihm sein Kind so zum Hause hinaussprenge, wie es scheine! da ersticke die Frau ihre eignen Gewissensbisse mit einer Fluth von Vorwürfen und Schimpfreden über die Entwichene, und daß der Schade nicht groß sei, wenn sie auch gestohlen worden, das aber sei leider nicht zu fürchten!Noch zwei, drei Tage zeigte der kleine Knabe Ungewöhne,der Vater tröstete sich damit, Annemareili könne es leicht besser bekommen an einem andern Orte (das gieng ihm aus dem Herzen,) und was die Ungewißheit über des Mädchens Schicksal betraf, so half ihm über diesen Punkt sein gewöhnliches Mittel, das er im Wirthshause fand.Daß bei der Stiefmutter die Lücke noch gerin a2war,versteht sich von selbst.[]Zweites Capitel.

Annemareili findet daß Morgenroth Regen prophezeit.Annemareili inzwischen war über Berg und Thal gewandert. Früh mit der Sonne hatte es am ersten Tage sein armseliges Lager verlassen, war, die Schuhe in den Händen tragend, die Treppe hinuntergeschlichen,vor der Kammer, drin der Vater und das kleine Stiefbrüderlein schliefen, noch einen Augenblick stehen geblieben,hatte gehorcht und als es weiter gieng und aus der Hausthüre hinaus, sachte und verstohlen, wie ein Dieb, da war's mit der Schürze über die Augen gefahren. Hinten an den Häusern vorbei, über die Matten, um nicht bemerkt zu werden, hatte es sich schnell aus dem Dorfe gemacht. Auf der Anhöhe, bei den drei alten Nußbäumen, von wo das elterliche Haus zum letzten Male zu erblicken, kehrte sich Annemareili noch einmal um und sah zurück. Aber als brenne ihm der Fußboden unter den Füßen, so eilte es auf der andern Seite den Hügel hinunter und das Haus, das Dorf mit allem drin war verschwunden, der Kirchthurm mit dem eisernen Kreuze drauf war das Letzte, was noch eine Weile zu Annemareili hinüber guckte. Dafür aber that sich eine ganz neue Landschaft auf, mit andern Feldern, andern Dörfern [15]und Bergen, glühend roth strahlte drüber der Himmel,wie mit Purpur begossen die einzelnen Wölkchen, es war dem Mädchen, als gienge jetzt vor ihm eine neue herrliche Welt auf, der es entgegeneile; die Pracht aber prophezeite Regen.

Annemareili rannte getrost in den Tag hinein, achtete nicht einmal des Weges besonders, so lange dieser nur von heim wegführte, obgleich es eigentlich nach der Stadt wollte, drin viel Tausend Menschen seien und schon manch ein arm Mägdlein oder Bürschlein sein reichliches Brot gefunden. Ob nun dieser Weg, den es gerade gieng, dahin führe, wußte es freilich nicht so genau, es meinte ja. Mehrere Stunden war es gelaufen, trotz dem es ein warmer Tag war und die Hitze bald in drückende Schwüle übergieng, daß ihm das Gesicht glühte und die Füße es zu brennen anfiengen. Aber lange achtete es dessen nicht, stärkte sich mit dem Gedanken an seine Freiheit wieder die müden Glieder und kams ihm gar zu sauer vor, so dachte es an daheim, wo's ja zum sauren Leben noch Schläge obendrein gekriegt hatte.

Gegen Mittag jedoch konnte es nicht mehr weiter,hinter einem einzelnen Hofe, ein wenig von der Straße abseit, setzte es sich in's Gras. Mit geballten Wolken hatte sich der Himmel dicht umzogen, erdrückend war die Luft, kein Vogel pfiff, kein Mücklein summte, wie erstickt lag die Natur ringgum, dumpf und stumm, und Annemareili hatte noch nichts gegessen heute, nur Wasser [14]getrunken hie und da ein Paar Schlücke an einem Brunnen im Vorbeigehn, war gelaufen so lang es gekonnt, daß ihm sein Herz jetzt wie ein Hammer klopfte und die verwilderten nassen Haare wirr über's erhitzte Gesicht hiengen.So lag es da, als die Bäurin des Hofes gerade vom Felde heim kam und an ihm vorbeischritt nach der Wohnung, verlechzte schier und hatte doch kaum das Herz, die Frau um etwas Essen anzusprechen, denn geheischen hatte es noch nie, bei aller Armuth nicht. Mit einem Gemisch von Mißtrauen und Theilnahme blieb die Bäurin vor Anunemareili stehen und fragte mit einem scharfen Blicke, was es hier suche? Auf die Antwort,daß es müde sei und heute noch nichts gegessen habe,fragte die Frau weiter, wo es herkomme und hin wolle?Das Eine aber durfte Annemareili nicht sagen und das Andere wußte es ja selber nicht bestimmt und gab darum stotternd einen undeutlichen Bescheid, der die Bäurin nur stutziger machte und sie sah es für eine herumziehende Dirne an, die zu einer der Vagantenfamilien gehöre,welche jetzt die Gegend unsicher machten. Solche Gäͤste aber sieht Niemand gerne in der Näͤhe seines Hauses,auch die Bäurin nicht; indeß mit ihnen es ganz verderben durch ein kurzes Abweisen, scheuen auch wieder viele Leute, namentlich auf dem Lande, aus Furcht vor ihrer Rache. So schüttelte drum auch die Bäurin wohl den Kopf, blieb auch beständig in der Nähe der Fremden und schalt einen der Knechte, daß sie immer den Ringgi mitnähmen auf's Feld, er gehöre an die Kette hinter's [15]Haus! holte aber dabei doch ein großes Stück Brot und ein Becken Milch aus der Stube, die sie dem zweideutigen Gaste vorsetzte. Annemareili verschlang die Speise und war im Hui fertig damit, so daß die Geberin jedenfalls zu der Ueberzeugung kam, möge die Dirne sein wie und wer sie wolle, die Wohlthat sei gewiß nicht am unrechten Platze gewesen. Die Blicke aber,mit denen die Bäurin das arme Mädchen beobachtete,die Redensarten, die ihm zu verstehen gaben, daß sie ihm nichts weniger als traue, thaten diesem doch wehe,um so weher, da sie von Jemand kamen, der ihm Gutes erwiesen. Denn je seltener Annemareili dergleichen noch erfahren, ein um so empfänglicheres Gemüth hatte es dafür. Darum vermochte es auch nicht aufzubegehren über dieses Mißtrauen in seiner Ehrlichkeit, wie es doch so gerne gemocht, aber um so tiefer wurmte es der Argwohn im Innern. War auch sein Leib erquickt worden, es trug eine schmerzende Wunde im Gemüthe mit fort, als es sich so bald möglich wieder aufmachte und für's Essen kleinlaut bedankte. Lange noch sah ihm die Bäurin nach, ob es nicht etwa auf einem Seitenwege sich zurück gegen den Hof schleiche?

Es gieng hart, bis die brennenden Füße wieder recht im Gange waren, und immer schwärzer zogen sich oben am Himmel die Wolken zusammen. Als hiengen die alle über seinem Herzen, so schwer wurde es dem Mädchen zu Gemüthe und es dachte schon etwas häufiger nach Hause als am Anfange seiner Reise, wo es noch den [] 16 leichten Muth und die getroste Hoffnung im Herzen,in allen Gliedern Frische und Kraft verspürt. Die aber waren nun durch die Müdigkeit und die Hitze und die schwarzen Wolken fast völlig aufgezehrt. Der Abend nãherte sich und Annemareili wußte nicht, wo übernachten und ob ihm Jemand werde Obdach geben gegen das Ungewitter? Dieses wenigstens habe ihm daheim nicht gemangelt! dachte es schon. Da flammte es fürchterlich roth vom Himmel hernieder, ein schmetternder Krach erschreckte die einsame Fußgängerin und eine geraume Weile noch rollte dumpf und schwer der Donner nach,als ob Kanonen über eine lange hölzerne Brücke führen.Dicke Tropfen folgten bald, die Blitze und Donner kamen häufiger, hier, dort, die Tropfen verwandelten sich in Streifen, die Streifen in Güsse. Verwoöhnt war Annemareili just nicht, darum auch nicht gleich ausser sich, stundenlang schon war es ja ehedem im Regen draussen auf der Waide gestanden oder im nassen Grase gesessen bei seinen Gaißen; es stand darum auch nicht besonders unter, sondern schritt durch das Unwetter keck drauf los, daß ihm bald das Wasser aus den Haaren troff und den Nacken hinunter rieselte über den erhitzten Leib. Sie that ihm im Gegentheil wohl, diese Kühlung,und der Tumult am Himmel und auf Erden paßte gerade zu seiner Stimmung. Das Gewitter dauerte bis gegen die Nacht, wo dann Annemareilt in die Nähe eines Dorfes kam, triefend von Regen, bespritzt bis an die Schultern von Koth, am ganzen Leibe keinen einzigen [17] trocknen Faden mehr. Weiter gehen konnte es nicht,Geld hatte es keines und es war auch nirgends bekannt;so mußte es sich auf die fremde Barmherzigkeit verlassen.

Es stand im Dorfe; in der untern Stube eines stattlichen Bauernhauses brannte schon Licht, Vater,Mutter und ein Trüpplein Kinder saßen um den runden Tisch herum, drauf eine gewaltige Schüssel mit Suppe dampfte, worein Jedes seinen Löffel tunkte. Lange sah ihnen Annemareili mit hungerigen Blicken zu, endlich faßte fich's ein Herz und klopfte an's Fenster. Der Mann kam und öffnete: was es gebe? fragte er. Und als das Mädchen um ein Nachtlager im Stalle bat,schüttelte er den Kopf: er nehme bei Nacht und Nebel niemand Fremden mehr in sein Haus auf! und damit schloß er wieder das Fenster. Annemareili gieng verblüfft weiter, klopfte noch hier an, dort an, mit immer leiserem Finger, immer kleinrer Hoffnung im Herzen und wurde hier und dort noch abgewiesen. Die Fenster schlugen ihm klirrend vor der Nase zu, an einem Orte flog noch eine Drohung nach, an einem andern, wo mildre Leute wohnten, dagegen ein Stücklein Brot, als Loskaufsschilling gleicham. Von mehrern andern Häusern schreckten es die Hunde zurück, die ihm lautbellend gegen die nackten Füße fuhren und ihm sich zu nähern verwehrten. Noch bei einem der äußersten Häuser stand unter der Stallthüre ein Mannsbild mit einer Pfeife im Maul; es war dunkel, Annemareili meinte, es sei der Bauer,denn es wußte nicht, daß nur Knechte aber nie die

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Dienen und Verdienen.

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Meister sich erlauben im Stalle zu rauchen, und fragte darum, ob es hier nicht ein Plätzchen finden könne zum übernachten, um Gotteswillen!

Freilich, wenn du keine Häßliche bist, komm' nur in meine Kammer da neben dem Stall an! lachte eine rohe Stimme, daß Annemareili erschrak, es wußte nicht warum. Als aber eine freche Hand nach ihm langte,riß es sich mit kräftigem Stoße los und lief davon,was es vermochte, und weit von dem Dorfe erst stand es wieder stille; doch die Kniee zitterten dem starken Mädchen noch, daß es sich kaum drauf halten konnte.

Trüben und geängstigten Herzens wanderte es jetzt weiter, nicht wissend, wo sein müdes Haupt niederlegen.Da stand an der Straße ein leeres Heuhäuslein, freilich mit hartem steinigen Boden und von allen Seiten dem Winde zugänglich. Annemareili stieg durch das verVEcke. Es war eine lange, lange Nacht, die es hier verbrachte, und was Alles in ihm vorgieng, wäre schwer genau anzugeben, denn es schoß gar Mancherlei durcheinander und von eigentlichem Schlafe war keine Rede.Eine Weile wurde es noch von dem Gedanken gequält,es sei in Gefahr hier und eine bisher ungekannte Furcht überfiel es, obwohl es schon oft nicht besser übernachtet als dießmal, da es noch Gaißen gehütet und doch immer getrosten Muthes gewesen war. Wehte jetzt der Wind durch die Spalten und Ritzen dürres Laub oder einige zurückgebliebene Heuhalme über den Boden, so hielt [19]Annemareili lange und furchtsam den Athem an um zu lauschen, pfiff es gar um das Häuslein oder klapperte mit einer losen Planke, so fuhr es zusammen. Recht hilflos und verlassen kam es sich vor, wußte nicht wo Beistand finden und Schutz, da die Menschen alle es abgewiesen. Zum Herrgott müsse sich wenden wer verlassen und hilfsbedürftig sei, der helfe auch den Armen!so etwas war Annemareili noch von der Christenlehre her in der Erinnerung geblieben, es hatte das aber bis jetzt nicht gebraucht, weil es sich weder je gefürchtet,noch auch besonders hilfsbedürftig oder unglücklich vorgekommen war. Nun aber fühlte es so etwas und darum dachte es auch an das Wort des Pfarrers und sagte alle Gebetlein her, die es halb oder ganz auswendig wußte, daß ihm der Herrgott helfen möge und es beschütze in der Nacht, ihm zu essen gebe und es den andern Tag doch ein Dienstlein oder sonst ein Unterkommen finden lasse! Neben dem Hunger und der Furcht,die Annemareili litt, begann es bald auch noch zu frieren in seinen nassen Kleidern, die allmälig an ihm trockneten,darum dem armen Muödchen diese Nacht noch viel endloser vorkam, war es doch die erste, die es nicht schlafen konnte! Gegen Morgen erst fiel es in einen kurzen bangen Schlummer, darin es wilde Träume ängsteten.Es kam ihm vor, die Bäuerin, von der es am Morgen die Milch erhalten, heiße es ins Haus treten, es könne dienen bei ihr. Wie es aber über die Schwelle schreiten will, hält es Jemand am Rock hinten, es kehrt sich um,2 *[20]eine schwarze Gestalt steht hinter ihm und es fürchtet sich, will sich losreißen, da hört's das Gelächter wieder,das es letzten Abend so' erschreckt und es springt in der Angst nach der Küche zurück und zu der Bauernfrau.Statt der steht aber plötzlich die Stiefmutter da mit dem großen Brotmesser und schlägt nach ihm, daß der Schmerz brennend durch seinen Arm zuckt. Ins Freie hinaus will es jetzt rennen und kommt auf die Wiese, dort bellen ihm jedoch schon eine Herde Hunde nach mit feurigen Rachen und glühenden Augen, die haben sich von den Ketten losgerissen, schleppen sie klirrend nach und kommen immer näher. Die Matte jedoch ist ohne Ende und kein Bäumlein, kein Busch darauf, nur am Himmel droben schwarze zerrissne Wolken, die bis auf den Boden herabhängen und es finster machen ringsum. Je schneller Annemareili laufen will, um so weniger kommt's vom Flecke, kann die Beine nicht mehr heben,alles Springen hilft nichts, immer näher gellt das Geheul,immer näher das Klirren der Ketten, die Erde zittert,die Wolken versperren den Weg, dumpf rollt der Donner,Rack! da kracht ein Schlag und Annemareili fährt erschrocken auf von seinem harten Lager, zitternd und steif an allen Gliedern, im Innersten durchfroren, mit wüstem Kopfe. In der Ferne rasselte die Post, der Postillon knallte von Zeit zu Zeit mit der langen gewaltigen Peitsche,das Määdchen rieb sich die Augen, die sich nicht recht öffnen wollten vor der Schwere, die heute darauf lag und der Hitze, die drin brannte. Es stand auf, schüttelte seine [21] armseligen Kleidlein zurecht und trat traurig aus dem zerfallenen Heuhäuslein in die kalte graue Morgendämmerung hinaus. Wenn es brav laufe, werde es erwarmen und ihm besser werden! tröstete sich Annemareili und lief denn wieder drauf zu. Aber heute wollte das Gehen nicht so wohl ausgeben wie gestern, schon daß es alle Halbstunden absitzen mußte, brachte es wenig vorwärts. Das Laufen fieng jetzt an ihm zu verleiden:es sei weit genug von Hause! meinte es, als wollte es doch nicht ganz die Heimath aufgeben, in der es wenigstens ein sichres Obdach gehabt. Irgendwo sitzen bleiben und ausruhen, ein Paar Tage hinter einander, das hätte Annemareili jetzt am liebsten mögen, so müde war es. Darum beschloß es, am ersten besten Orte sich nach einem Dienste, wär's auch nur beim Vieh, umzusehen,und bat den lieben Gott, ihm doch ein solch Plätzlein zu verschaffen, es wollte ihm dankbar sein für's ganze Leben. Wenn nur bald so ein Ort käme! wünschte es und blickte sehnsüchtig über. die Straße in die Ferne.Da stand hinter einem Hügel, um den der Weg bog,auf einmal eine stattliche Mühle, die Sonne schien hell auf die weißen Mauern, in den aufgeräumten und saubern Hof hinein, der Morgenwind fuhr durch die hohen Pappeln, die davor standen und aus dem Kamin zuoberst auf dem Dache wirbelte ein feiner blauer Rauch.Unten war ein Fenster offen und Tauben spazierten gurrend und pickend auf dem Gesimse herum, dahinter aber, in der Stube, stand eine stattliche alte Frau in [722] schneeweißen Hemdärmeln, die streute den Thierlein Brosamen hin. Annemareili fragte die Frau, wie weit es noch habe bis nach dem nächsten Orte? und als es hieß,eine gute Halbstunde, mußte Annemareili ein betrübtes Gesicht gemacht und der Frau gar nüchtern vorgekommen sein, denn diese fragte: ob's etwa ein Schüsselein Caffe wolle, es sei noch da? Hätte auch Annemareili gewußt,was Complimente sind, es hätte jetzt keine gemacht und so lange es heute schon marschiert, war es noch nie so rasch gelaufen als von der Straße die steinernen Stufen hinauf und bis in die Stube hinein.

Eine gewaltige dreibeinige Caffekanne, spiegelblank,stand noch auf dem Tische neben dem großen geblümten Milchhafen. Das „Mannenvolk“ hatte erst gefrühstückt und die Großmutter besorgte nun das Abräumen, währenddem die Kinder und Großkinder schon wieder an der Arbeit waren. Scheu sah sich Annemareili in der saubern Stube um, als spüre es selber, dahinein passe es eigentlich nicht recht. Keine Hühner spazierten hier auf den Dielen umher, am Ofen hiengen keine Lumpen oder Strumpfe zum Trocknen, die Vorhänglein an den Fenstern waren schneeweiß, die Scheiben blank, den Spiegel mit den großen Kornähren dahinter, hatten die Fliegen nicht undurchsichtig gemacht, sowenig als sie die Vorhänge um das große zweischläfrige Bette getüpfelt, auf dem Geschirre über dem Känsterlein lag kein fingersdicker Staub, im Gegentheil, es war wie Crystall so rein lauter Dinge, welche dem Mädchen ganz fremdartig vorkamen,[23] wenn es auch nicht genau sagen konnte, warum. Deßhalb auch mußte die Großmutter es nöthigen zuzulangen,und sie füllte ihm ein Schüsselein bis oben an den Rand.Das Warme that Annemareili gar wohl in seinem leeren und durchfrorenen Magen, auch wenn der Caffe trüber und die Milch blauer gewesen wären. Sogar das Herz thaute ihm auf davon; vielleicht aber war daran auch die Art und Weise Schuld, mit der die Großmutter zu ihm sprach. Es wußte nicht wie's kam, aber dieser Frau mußte es Alles sagen, was sie nur wissen wollte von ihm, manchmal ehe sie nur recht gefragt, und doch hatte es einen Respekt vor ihr wie bisher noch vor Niemandem sonst. So erzählte es denn, wie es einen Dienst suche und gab nicht undeutlich zu verstehen, daß es gerne hier bliebe, wenn man es brauchen könnte. Die Großmutter aber schüttelte den Kopf. Wir machen Alles selber, entgegnete sie, haben niemand Fremden; sieben Kinder besorgen Feld und Mühle, sie, die Großmutter,rüste das Essen. Alles gehe leichter und in der halben Zeit, wenn man es ohne Dienstboten machen möge,Keinem sei da etwas zu viel, saure Gesichter gebe es selten, Verdruß und Streit noch weniger und was gemacht werde, das werde recht gemacht und nicht halb. Aber wenn sie auch Diensten brauchte, und hiebei sah die Frau das Mädchen an, daß das meinte, ihr Blick dringe ihm bis in's Herz hinunter, so möͤchte sie Annemareili doch nicht: Eines, das seinen Eltern fortgelaufen in Unfrieden, bringe keinen Segen in ein Haus! Und [24] als Annemareili krebsroth wurde und die Augen niederschlagen mußte, war's als habe die Großmutter Mitleid mit ihm: sie rieth ihm ernst, aber milde, wie nie noch eine Mutter zu dem armen Mädchen gesprochen, wieder heimzukehren, nicht um daheim zu bleiben, sondern um in Frieden zu scheiden vom Vaterhause.

So gerührt Annemareili war, diese Zumuthung weckte in ihm all den alten Groll und Widerwillen gegen die Heimath und es wehrte sich lebhaft dagegen: Die Stiefmutter sei gar eine böse und würde es nur auslachen und ihre Freude daran haben. Die alte Müllerin drang hierauf nicht weiter in Annemareili, sondern sagte bloß: mir ist, du müssest noch allerhand erleben und nicht nur Angenehmes; wohin du aber laufen magst,da denke wenigstens nur, daß du Einem nicht entläufst und an den halte dich, so wird's dir am Ende nicht so schlimm gehen, auch wenn du Umwege machen mußt.Jetzt behüt dich Gott, und da nimm dieß Stück Brod noch auf den Weg! Das arme Mädchen säumte sich hierauf nicht länger, stand auf und dankte, vor der Thür draussen kam es sich aber wieder doppelt hilflos und verlassen vor.

Nach Verlauf einer guten Halbenstunde, denn in den Beinen lag's Annemareili heute wie Blei so schwer, war das Städtchen erreicht, darin das Mädchen sein Heil zu versuchen beschloß; noch beim Eintritt hatte es seine Bitte um ein Plätzlein dem lieben Gott wieder in Erinnerung gerufen. Das Städtchen war weder besonders groß noch gar schön und stattlich: Hühner [25] spazierten über die Straßen, Misthaufen rauchten hin und wider neben den Häusern, viele der Einwohner lebten von Landbau und kamen auch wie Bauern daher,nicht wie Herrenleute. Aber gleichwohl vermochte das arme Annemareili nirgend anzukommen, überall sah man das unreinliche, verwahrloste Mädchen an vom ungestriegelten Kopfe bis zu den schmutzigen und zerrissenen Schuhsohlen, schüttelte schweigend den Kopf oder sagte kurz Nein. Als es an einem Orte anhielt: nur als Viehmagd möge man es probieren mit ihm! hieß es mit einem Blick auf seinen Anzug: sie hielten ihr Vieh reinlicher als nur so!

Annemareili's Hoffnung, sein Muth schwanden immer mehr; wenn es wieder irgendwo anfragte, so that es das so kleinlaut, als wisse es zum Voraus, es sei nichts und da trauten ihm die Leute nur um so weniger und sahn es um so scheeler an. Wer weiß! wäre es keck aufgetreten, hätte von seinem besondern Ungefäll gejammert, viele Worte gemacht, wie es ein ganzes Koffer voll Kleider gehabt und ihm die von der Meisterin,welche es mit Gewalt im Dienst halten wollen, noch nicht herausgegeben, oder ihm sonst gestohlen worden;wie es um seiner Tugend willen stehenden Fußes aus einem zwölf Neuthalerigen Platze gelaufen, kurz,hätte Annemareili in dieser Tonart gesprochen, es hätte vielleicht eher ein Unterkommen gefunden. Aber wie sollte Annemareili jetzt zu so einer Sprache kommen?es war ihm ja ganz anders zu Muth in seinem Herzen,[26]kam sich selber schlecht und gering vor, wie so Jedermann im Widerwillen sich von ihm abwandte, denn es sah noch obendrein erbärmlich aus: das Roth seiner Wangen drang nicht mehr durch die unsaubre Kruste hindurch, die Augen waren trüb und schläfrig, stand es irgendwo, so mußte es sich halten, anlehnen vor Müdigkeit. So eine Magd aber stellt Niemand an,denn wer auch nicht besonders auf Reinlichkeit achtet,der lugt dann wenigstens auf ein Paar kernhafte Arme und strotzende Gesundheit.[]Drittes Capitel.

Hülfe und noch einmal Hülfe bei großer Noth.Annemareili wußte nicht was anfangen, noch wohin sich wenden. Nirgend fand es Aufnahme, war krank,konnte hier nicht bleiben und nach einem andern Orte nicht hinkommen, keine Seele nahm sich seiner an oder rieth ihm. Auf dem ganzen Erdboden habe es Niemanden, der es mit ihm wohl meinte! so kam's jetzt dem armen Mädchen vor in seiner Noth. Als es sich darum weiter fortschleppte auf der Straße, wußte es nicht, was oder wohin eigentlich es wollte, es hatte nur im Sinne so lange zu gehen, bis es umfalle und sterbe,Kunn ganz sturm war es im Kopf, sah den Weg unter den Füssen nicht mehr deutlich, stolperte auf dem ebnen Boden, wie Wellen siedendes Wasser schlugs ihm an die Schläfe, in die Augen fuhr's ihm wie pures Feuer, daß es zeitweise gar nichts sah, oder nur schwarz Alles, die Füße zitterten, es gerieth in den Straßengraben ohne zu wissen wie? Dazu schoß es ihm wie Nadeln durch die Narbe, welche es noch von dem Brotmesser hatte, der Arm schwoll zusehends, ward roth, steinhart und es klopfte drin wie in einem [28]Hammerwerke. Immer wilder tobte die Krankheit in Annemareilis Blut, je länger und je hastiger es lief,es wußte nicht, wem es begegnet war unterwegs, wußte nicht, wie lange es so fortwankte, kaum des Dorfes achtete es, in das es nun kam, aber wie es darin hinter das letzte Häuslein gerathen und da auf einem Haufen Späne hingesunken, das hätte es nimmer sagen können, denn eine tiefe Ohnmacht bedeckte alle seine Sinne.

Lange mochte es so da gelegen sein, ohne Bewußtsein, von Niemandem bemerkt, denn es war schon finster,als ein altes Weiblein mit einer Laterne aus der armseligen Hütte schlich nach dem Spänhaufen, darauf Annemareili lag, sich eine Handvoll davon zum Kochen seines dünnen Nachtsüppleins zu holen. Das gute Frauelein erschrak erst, wollte davon laufen und Mordjo schreien im Dorfe, als es da im Scheine seiner trüben Laterne etwas wie ein Mensch liegen sah, faßte sich aber, wie Alles stille war, doch ein Herz und hin und Annemareili gerade in's Angesicht. Da regte sich das Mädchen, seufzte ein Paar Male tief und schlug die Augen auf, verwundert und scheu bald die Späne anblickend, darauf es saß, bald das alte Mütterlein, bald ängstlich in die Nacht hinaus schauend.Die Frau aber, die nun wohl merkte, daß das fremde Mädchen krank sein müsse und vor Elend auf den Spänhaufen niedergesunken, half ihm mitleidig aufstehen und führte es in das Stüblein hinein. Anne[29] mareili klapperte im Fieber mit den Zähnen und vermochte kaum sich in die Hütte zu schleppen. Das Fraueli aber, eine arme Wittwe, hieß es hier in den alten zerfallenen Lehnstuhl sich setzen, den sie ihm an die warme Kunst gerückt und gieng an den Kochherd hinaus, ein Häfelein Thee kochend zum Schwitzen. Und als Annemareili von dem Thee getrunken, da theilte die Wittwe ihr ärmliches Bette und machte aus der bessern Hälfte dem Mädchen ein Lager am Boden und half ihm aus den Kleidern. In brennender Hitze und dann in schüttelndem Frost warf sich die Kranke noch lange auf dem Bette herum, bis sie in einen unruhigen Schlummer fiel, waährend die arme Frau noch spät bei dem trüben Lämplein am Spinnrade saß und spann, dann aber mit halblauter Stimme einen Psalm las und sich selber auch zur Ruhe legte.

Am andern Morgen fühlte sich Annemareili allerdings ein wenig wohler als an dem Abend vorher,aber es war doch krank und der Arm sah gar bedenklich aus und schmerzte bis hoch in die Schulter hinauf.Der Caffe, den nun die Wittfrau kochte, war freilich nicht der bessre, aber wär's auch dreimal theurerer gewesen, oder gar solcher, wie ihn nur allein der Großtürk selber trinkt, er hätte Annemareili doch nicht gemundet, dann soll's ein sicher Zeichen sein, daß sie wirklich krank sind und nicht bloß in der Einbildung.Das mußte auch die Wittwe so ansehen, als sie zu dem [30]Mädchen sagte: Ich wollte dich gern behalten und ein Paar Tage pflegen, wie es Christenpflicht ist, so arm und übelmögend ich bin, doch das wird nicht so schnell gehen und einen Dokter vermag ich nicht zu zahlen,der aber ist wohl nöͤthig, zudem fehlt dir hier, beim besten Willen, so Manches was nothwendig, um dich so bald möglich wieder gesund zu machen und ohne Letze; ich bin eben nicht für Kranke eingerichtet. Aber von hier nach der Stadt ist nicht gar weit, es giebt wohl auch Gelegenheit zum Aufsitzen unterwegs, denn heute ist Markttag. In der Stadt wohnen gute Leute und die haben einen so schöͤnen Spital wie vielleicht mancher Fürst kaum einen Palast; geh du in Gottes Namen dorthin und bitte, daß sie dich aufnehmen, so bist du am besten versorgt.

Annemareili meinte, es könne nicht zahlen und sei fremd, da werde man's nicht aufnehmen, sonst würden schon viele Leute von andern Orten sich auch haben aufnehmen lassen und es jedenfalls zu spät kommen.

Das mag wohl sein für gewöhnlich, erwiderte die Wittwe, doch du mußt auch ein Vertrauen haben in die Hilfe unsres Herrgottes und die Barmherzigkeit der Menschen. Ich weiß, daß schon mehr als ein armes fremdes Bürschlein, ohne einen Rappen Geld in dem Spital ist aufgenommen, ja noch mit Kleidern oder einem Zehrpfennig auf die Reise entlassen worden; von Zemandem aber, der auf der Straße dort zu Grunde gegangen, hab' ich noch nie gehört.[]Annemareili machte noch einige Einwendungen: es meine, in Spital gehen wäre nicht gerade nöthig, wenn's etwas Dokterzeug zum Stärken hätte und etwas, das ihm das Kopfweh vertreibe und den inwendigen Brand lösche und dann für seinen Arm ein wenig Trusenbranntwein zum Einreiben, so würde ihm bald wieder besser werden. Das Fraueli aber glaubte das nicht und auf den ersten Schuß treffe es der beste Dokter selten, zudem koste das Alles Geld. Mach was du willst, schloß sie, aber da fährt der Staudenhans mit einem Wagen Mist vorbei nach seinem Acker, dem kannst du aufsitzen hinten und dann hast du noch eine halbe Stunde bis in die Stadt, es giebt vielleicht wieder Gelegenheit!

Halb freiwillig, halb genöthigt stand Annemareili schon vor der Thür und der Staudenhans ließ es aufsitzen auf Empfehlung der Wittwe, die in der Hütte wieder verschwand, ohne daß Annemareili nur dazu gekommen wäre ihr noch zu danken für ihre Barmherzigkeit.

Langsam zogen der Stier und der Gaul vor dem Mistwagen und unter dem einförmigen hüst Lise! und hüst Stern! hatte Annemareili Zeit genug, über seine Lage und seinen Zustand nachzusinnen, die ihm heute noch viel verlassener und trauriger vorkamen als am ersten Tage. Annemareili hatte auch gar kein Vertrauen mehr, trotz der Barmherzigkeit, die es eben erst bei dem armen Fraueli so zur rechten Zeit erfahren.[32]Es erinnerte sich zwar wieder, daß der Pfarrer daheim gesagt, man dürfe nie verzweifeln, Gott verlasse Niemanden und sei dann gerade am nächsten, wann's am schlimmsten zu stehen scheine. Ja, das könne so ein Herr gut sagen in seiner Stube drin und hinterm Ofen, so Einer wisse nicht was Alles einem armen Mädchen begegnen könne und wie's ihm dann zu Muthe sei, wenn es zu allem noch so elend erkranke!Ob es denn nicht vertrauensvoll gebetet zu Gott, daß er ihm ein Plätzlein verschaffe, nur ein geringes? und er habe ihm doch keines verschafft, ja hab' es noch krank werden lassen obendrein und nun komm' es ärger und immer ärger trotz allem Beten; wenn es nur schon todt wäre!

Nach solchen Ausbrüchen der Ungeduld und des Schmerzes aber sank dann die lodernde Flamme des Unmuthes plötzlich wieder zusammen zu einem ganz kleinwinzigen Aschenhäufchen, denn handkehrum wieder D als daß Gott besonders seiner achten sollte. Ob es leide oder fröhlich sei, lebe oder sterbe, kümmere auf der Welt keine Seele, geschweige den großen Herrgott im Himmel, der auf andres zu sehen habe als auf so ein elendes Mädchen. Das sei traurig, wohl, aber darüber beklagen dürfe es sich nicht, es habe Ihm ja lange genug auch nicht nachgefragt!

Und bei diesem demüthigenden Gefühle seines Unwerthes, was der erste Schritt der Erkenntniß ist, sah [] 38 Annemareili jetzt auch seine Heimath, den Vater, ja sogar die Stiefmutter mit andern Augen an als bisher.Es hätte nun nicht mehr sagen können, „es ist nur die Stiefmutter!“ sah auch nicht einzig nur an dieser Fehler und Härten und Flecken. Waren diese gleichwohl nicht weggewischt, so drückte es jetzt der Balken im eignen Auge doch viel zu schwer, als daß es gewagt hätte nach dem fremden Splitter zu langen. Da ihm nicht anders zu Muthe war als, es müsse sterben in seiner Verlassenheit, so drangen ihm schwere bittere Thränen aus den heißen Augen und nur der Gedanke brachte noch einige lindernde Erleichterung, daß es doch auch etwas verzeihen konne: das Unrecht, das man ihm gethan und das es jetzt in seiner Zerschlagenheit so gerne vergeben wollte.

Unter diese trüben Erinnerungen seines Lebens und Treibens daheim mischte sich ein einziger heller Strahl und fiel dem Mädchen wohlthuend auf's wunde Gemüth, seine Liebe und Sorgfalt nämlich, die es dem kleinen Stiefbrüderlein erwiesen. Es kam ihm vor, das Kind müsse gestorben sein, hatte es den Knaben doch drei Tage lang nicht besorgt, und eben darum müsse es jetzt auch sterben, ihn zu pflegen in der Ewigkeit.Dieser Gedanke war Annemareilis einziger Trost, seine alleinige Hoffnung, daran hielt es sich, wenn dumpfe Verzweiflung sich seiner bemeistern wollte, wie denn immer von den hellsten Stellen auf Erden das himmlische Licht am ersten sich widerspiegelt!Dienen und Verdienen.[]Oehä! rief hier auf einmal, mitten in Annemareilis schwere Gedanken hinein, der Staudenhans seinem Stern und Lisi zu, denn er war an seinem Acker angelangt. Stern und Lisi hielten still und Annemareili stieg vom Wagen, zu Fuß noch den Rest des Weges zu machen. Da gieng es freilich gar langsam und mühselig ab Fleck und die schweren Gedanken drückten nur noch mehr auf die ohnehin so zitternden Beine.Als nun aber plötzlich die Thürme der Stadt vor Annemareili standen und die unzähligen Häuser sich ausdehnten vor ihm in der weiten Ebne mit den blauen Bergen hinten dran und den vielen blauen Rauchwölklein, die über den rothbraunen Dächern schwebten, da fiel dem armen Mädchen doch Alles noch um Vieles drückender auf's Herz. In dieser großen Stadt, bei diesen wildfremden Menschen, Herrenleuten obendrein,hier sollte es, das blutarme, kranke, verwahrloste,überall ausgestossene Annemareili Aufnahme suchen?es, das dem geringsten Bäuerlein für sein Vieh zu hüten zu schlecht gewesen, es, das keinen Funken Muth,keine Spur von Vertrauen in sich selbst besaß, das nichts als zur Last fallen konnte? Solches wollte Annemareili durchaus nicht in den Kopf und es bedauerte schon, daß es der armen Wittwe so bereitwillig gefolgt:das sei wohl ein gutes Fraueli, aber doch gar unverstäundig und unerfahren!

Ohne Hinderniß, unbemerkt sogar kam Annemareili zum Thor hinein und gieng durch die langen Häuser[35]reihen hin, mitten unter den vielen Menschen sich doch wie in einer Wildniß vorkommend. Es fragte nach dem Spital und da wies man es die Gasse hinunter,dann rechts, dann wieder geradeaus, hierauf über einen Platz, darnach die zweite Straße links kurz es hätte Annemareili vor der Explication gesurrt im Kopf, wenn der auch in viel besserm Stande gewesen wäre als er in Wirklichkeit war. Von Zeit zu Zeit wieder fragen und nur auf die ersten Worte merken jedesmal, brachte das Mädchen noch am Besten vorwärts und am Ende denn auch soweit, daß es richtig vor dem Spitale stand.Indeß Annemareili hatte sich alte graue Mauern vorgestellt mit trüben, vergitterten Scheiben drin und einem zerfallnen Bänklein davor, auf dem Sieche und Krüppel herumhockten. So ein Haus aber sah es nirgend, sondern im Gegentheil ein langes prachtvolles Gebäude mit hohen Fenstern und großen hellen Scheiben, das die halbe Straße einnahm, und so, wie es dachte, daß ein König ein Haus haben müsse. Es fragte darum wieder einen Vorbeigehenden, wo der Spital denn eigentlich sei? Der lachte und hieß es sich nur umkehren, so steh' es davor! und wäre das kein bestandener,ernster Mann gewesen, der ihm diesen Bescheid gab,Annemareili hätte jedenfalls geglaubt, man halte es zum Besten, denn gerade dieß große königliche Gebäude sollte ja der Spital sein.

Daß dadurch der Muth des armen Mädchens nicht außerordentlich wuchs, sondern es sich noch einmal ganz

43*[36]ernstlich besann, ob es wirklich hier sich melden wolle,ist ziemlich wahrscheinlich. Wäre es ein klein wenig wohler gewesen und nicht schier umgesunken vor Schwäche, es hätte nimmer an der großen Spitalglocke geschellt, denn gleich zur offnen Thüre hineinzugehen, so frech war es doch nicht. Auf das Läuten,das Annemareili durch alle Glieder fuhr, kam ein ältrer Mann heraus und fragte es nach seinem Begehren.Es möchte gern in Spital, habe eine grausame Schwäche und Schmerzen im Kopf und im Arm, antwortete das Mädchen, nicht wenig erschrocken, daß man ihm das nicht zum Voraus schon ansah.

Wo's den Aufnahmsschein habe vom Arzte, und ob der wegen der Bezahlung unterschrieben sei, oder ob es Geld habe zum hinterlegen?

Von dem Allem hatte und wußte Annemareili nichts und sah den Fragenden an, ziemlich wie aus den Wolken herabgefallen.

Eh das Alles in Ordnung sei, fuhr jener trocken fort, könne vom Eintreten nicht die Rede sein und es solle nur wieder umkehren!

Das hab' es ja wohl gewußt, dachte Annemareili mit einem tiefen Seufzer bei sich im Stillen, die Wittfrau hab' es mit dem Spital sich nur vom Halse schaffen wollen und nun sei es übler daran als je:weit weit weg von Hause und mitten in einer großen Stadt, drin es weder Weg noch Steg wisse und keine Sterbensseele kenne! Und es kam ihm fast vor, der [37]Mann wolle ihm das Thor der Rettung und Seligkeit verwehren und es in's zeitliche und ewige Verderben stoßen, wie er es so unter der Thüre abwies.Es kehrte darum auch nicht gleich um, sondern, im Innersten erregt, mit überströmenden Augen, aber zugleich auch mit einer verzweifelten Entschiedenheit, über die sich's nachher selber wunderte, erklärte es, hier bleiben zu müssen, es könne nicht mehr fort! Der alte Mann indeß war nichts weniger als hart, wenn er auch ein wenig kurz gewesen, da er eben gar manchen Bescheid den Tag über zu geben hatte, zudem hatte er sich ja bloß an seine Vorschrift und an die Ordnung des Hauses gehalten. Als nun aber das fremde Mädchen so nöthlich that und auch wirklich elend genug aussah, hieß er's gleichwohl ihm folgen, führte es zum Arzt, nachher zur Verwaltung und da war wohl von Bezahlen die Rede, indeß am Ende vom Liede, und Annemareili selber wußte nachher nicht mehr recht wie Alles gegangen, am Ende vom Liede wurde die Kranke aufgenommen und in ein Zimmer gewiesen.[]Viettes Capitel.Annemareili wird von allerlei unebel befreit und kömmt sich wie eine Prinzessin vor.Wies Annemareili war, als es in einem hellen großen Saale mit nur wenig Betten und Kranken sich gebor gen fand, nicht mehr gehetzt ward, sich nicht umherschleppen, nicht betteln mußte, nur um ein Stücklein trockenes Brot oder ein elendes Lager zu finden, das kön nen sich nicht viele Leute vorstellen. Es konnt' es selber lange nicht glauben, sich nicht drein finden, meinte zu träumen. In einem Bette lag's, wie es seiner Lebt age ke ines gesehen, geschweige gehabt, so weich und so sauber Jedes. Eine besondre Wärterin reichte ihm Alles, was es brauchte, wie einer vornehmen Frau, Mixtur, Suppe,zu seiner Zeit ein jedes, gab ihm dabei freundli che Worte, verband seinen bösen Arm, wusch ihm das Eßgeschirr, bettete ihm, kurz, pflegte es wie eine Mutt er ihr Kind. Und so ergieng's jetzt dem gleichen Annemareili, das bisher Jedermann im Wege gestanden,nichts als Schimpfnamen und Scheltworte erhalten, das von allen Menschen verachtet worden und im Un rathe hätte können zu Grunde gehen, dem man ein jedes

[39]

Bißlein Brot mißgoönnt. Hier zum ersten Mal fiel dem Mädchen seine Unreinlichkeit und Unordentlichkeit auf.Früher hatte es nichts Andres gewußt, hatte nichts Bessres gesehn, hier aber, wo die Leintücher wie Schnee so weiß, wo ein Jedes sein Plätzchen hatte, das Geschirr,die Fensterscheiben blinkten, der Boden so sauber war,daß man hätte darauf essen können, hier wurde Annemareili ganz roth, als die Wärterin seine armseligen unsaubern Lumpen mit einigem Ekel aufhob und in den Fingerspitzen hinaustrug. Aber nicht nur mit den Kleidern war nicht Alles in der besten Ordnung, in den wirren Haaren hatte sich ebenfalls eingeschlichen, was auf einen ordentlichen Kopf nimmer gehört und diese zappelnde Unordnung hatte sich in dem Gehürst der Haare ungestoört vermehrt wie Mehlthau, wenn die Sonne in einen Regen hinein scheint. Das, fand selbst Annemareili, gehöre sich eigentlich nicht und schämte sich deßhalb besonders. Indeß gelang es den wiederholten Anstrengungen der Wärterin und einen handfesten engen Kamme auch hier Ordnung zu schaffen und der Verwilderung Einhalt zu thun.

Bei der Ruhe, in dem guten Bette mit der passenden Kost und der sorgsamen Pflege besserte sich's zwar mit der Krankheit ziemlich bald, das Fieber hörte auf,der Kopfschmerz verzog sich, die Schwäͤche ließ nach, nur der böse Arm machte noch längre Umstände. Die schlecht geheilte Narbe hatte sich in weitem Umkreise entzündet und die Geschwulst mußte endlich eingeschnitten werden.[40]Dieß und ein Dutzend Blutsauger, nachher warme Ueberschläge, schafften übrigens bald Linderung der gröbsten Schmerzen, die Heilung dagegen gieng nicht so schnell von Statten. Alle Tage zwar kam der Herr Dokter,manchmal zwei Mal sogar, an das Bette, sah die Hand an, reinigte sie, drückte auch wohl dran herum, daß Annemareilt auf die Zähne beißen mußte, dann wurde Alles wieder sorgfältig und säuberlich verbunden, kurz,zu einer Prinzessin hätte man nicht besser sehen können.

Freundlich war man mit Annemareili obendrein, so freundlich wie mit andern Kranken, und doch waren solche darunter, die Bürgerskinder waren oder in den vornehmsten Häusern in Dienst standen und von ihren Herrschaften in zweispännigen Kutschen besucht wurden.Was dem Määdchen auch besonders auffiel, das war,daß die Herren Dokter alle Tage über sen Befinden und den Gang der Krankheit etwas aufschrieben, denn daß man je einen Buchstaben von ihm schreiben würde,hätte es sich nimier eingebildet.

Als Annemareili besser war und nicht mehr nur den grauen Schleim zu essen bekam, sondern Gemüse,Fleisch und zwei Mal Caffe, mit Zucker sogar, als es das Bette verlassen und herumgehen durfte, da fieng ein wahres Herrenleben für das Mädchen an. Allerhand war aber vorher in ihm vorgegangen, der Spruch, der grad über seinem Bette an der Wand stand: „Glaub'nur feste daß das Beste über dir beschlossen sei!“dieser Spruch hatte zuerst auch in seinem Kopfe an[41]gefangen aufzuräumen, wie die Wärterin und ihr Kamm auf demselben. Es hatte zuerst freilich nur an sein leibliches Leiden gedacht, wie da Alles viel besser gegangen als es sich vorgestellt, und es gerade auf dem besten Wege war zur Rettung, da es gemeint, elend zu Grunde gehn zu müssen und keines Senfkornes groß mehr Hoffnung gehabt. Dieß war aber nicht Alles,nicht einmal die Hauptsache, das erkannte Annemareili immer mehr und deutlicher, je länger es im Spitale verblieb. Wie wenig Kinder sonst mochte das Mäãdchen verwahrlost sein, kannte zur Nothdurft nur die grob gedruckten Buchstaben, vom Schreiben war keine Rede,von Nähen und Stricken auch nicht, und dieß Alles verstand doch jedes Andre in dem Krankenzimmer, mochte es nun her sein von wo es wollte. Dumm hingegen war Annemareili doch nicht, hatte seine gesunden Sinne,war wohl roh und ungeschult, aber gelehrig und begriff Alles, meist schon am Anfang. Es ließ sich's daher gerne gefallen, daß ihm die Wärterin auf ein Stück Papier Buchstaben hinschrieb, ihm sagte, die hießen so und so und nun solle es sie nachmachen. Die Feuerhaken wurden bald kleiner, die Klexe seltener, man konnte einzelne Buchstaben, die leichtern, richtig erkennen;kurz, es gieng nicht sehr lange, so lag an einem schönen Morgen die Bibel vor Annemareili und es schrieb daraus ab. Mit dem Nähen und Stricken giengs freilich langsamer, denn hiezu brauchte es beide Hände und den linken Arm, den man ihm fest eingewickelt, konnte es [42]geraume Zeit gar nicht außer der Schlinge tragen. Je mehr die Wärterin ihrerseits sah, das Mädchen gebe sich Mühe und begehre etwas zu lernen, mit um so größerm Eifer gab sie ihm zu Dem und Jenem Anleitung, ließ es in der Stube nachhelfen, sprach wohl auch mit ihm von seiner Zukunft und Annemareili seinerseits hätte nicht höher geschworen als bei seiner Lehrmeisterin, konnte ihr nicht dankbar genug sein und vergalt ihr mit dem Einzigen, das es besaß, dem rückhaltlosesten Vertrauen, der kindlichsten Hingebung. Es bekam selber nun immermehr das Bedürfniß sich nützlich zu machen, Dienste zu leisten, nicht blos der Wärterin,sondern auch den andern unbehilflichern Kranken, denn der Geist der Thätigkeit war über das Mädchen gekommen und es wollte mit dem guten Willen wenigstens von seiner großen Schuld, darin es stand, Einiges abzahlen.Es war als wolle es zeigen, es sei im Grunde doch kein so hergel aufnes und verwahrlostes Mädchen, wie es geschienen, sondern mit dem Unsaubern habe es auch sein strubes und unordentliches Gebaren abgelegt. Darum war es denn bei seinen Mitkranken wohl gelitten und die Genesenden hatten ihre Freude und eine Kurzweil daran, in Diesem oder Jenem Annemareili einen guten Rath zu geben, es etwas Neues zu lehren, irgend eine Ecke an ihm abzuschleifen, denn es ist ein süßes Gefühl sich Jemanden zu verpflichten und dabei die eigene Ueberlegenheit in ein helles Licht zu setzen. Wie viel darum auch an Annemareili zu hobeln, feilen und [43] zu polieren war, so genug Hände waren bereit, es hierin ja an nichts fehlen zu lassen und es gehörte vielleicht des Mädchens kernige und gesunde Natur dazu und sein aufgeräumter Kopf, um nicht vor lauter guten Meinungen und Rathschlägen doch irre zu werden und neben dem Nutzen nicht auch eine gute Portion Nachtheils in den Kauf zu kriegen.

Als endlich der Herr Doktor eines Morgens beim Besuche dem Annemareili erklärte, es könne nun wieder austreten, da fuhr diesem wohl ein Stich durch's Herz,als fürchte es, nun sei sein schöͤner Traum zu Ende.Allein das war doch nur so im ersten Augenblicke, gleichsam um dem Mädchen den Unterschied zu zeigen, der zwischen dem Annemareili sei, das in den Spital getreten, und demjenigen, das nun denselben wieder verließ.Das austretende Annemareili war ein ganz andres als das eintretende, auch von Gesundheit oder Krankheit abgesehen. Um von Außen anzufangen, so hatte sich's,was man sagt, herausgegessen, auf dem Kopfe sah es nicht mehr aus wie in einem vorjährigen Vogelnest,vielmehr waren die Haare glatt gekämmt, versteht sich auch unbevölkert, das Gesicht ohne Kruste, so sauber gewaschen, daß die Backen noch einmal so roth schienen als früher und sogar die Augen lautrer draus hervorschauten. Die Kleider waren rein, ganz, sahen freilich etwas zusammengelesen aus, denn ein gut Theil davon hatte es vom Spital erhalten, weil seine Fetzen das Waschen nicht überstanden hatten und jetzt im Alte[44] lumpentroge ausruhten von den Strapazen. Die natürliche Gutmüthigkeit, die gesunde Natur lugte dem Mädchen jetzt unverschmiert aus dem Antlitz und gewann sich das Zutrauen im Voraus, besonders da noch etwas Andres nebenzu mit herausguckte: so eine Art Muth in die Zukunft, eine gewisse Achtung vor sich, ein Vertrauen zu sich selber, das Gefühl, es könne und werde noch was Rechtes aus ihm werden, es sei schon auf dem guten Wege dazu und tappe nicht mehr blind und dumm in der Irre darnach. Andre Mägde hatte es kennen gelernt, wußte worauf es ankomme, hatte gleich gemerkt,woran es ihm hauptsächlich gefehlt und darum mit allem Eifer seiner guten Natur darnach gestrebt. Annemareili konnte jetzt wenigstens stricken und nähen, was Gröberes war, ja sogar schreiben! wußte was Ordnung sei, was aufräumen, ein Zimmer auslüften und reinigen bedeute,hatte erfahren was Staub sei und daß man denselben nicht liegen lasse bis er das Uebergewicht bekomme und abfalle, ebenso wenig als daß man Messer und Gabel nur ablecke um sie zu reinigen und daß die Teller nicht halb so wasserscheu seien, wie es sich bisher vorgestellt. Während seines Aufenthaltes im Spital hatte es sich nach einem Dienste umgesehen, freilich nicht gleich für zwölf Neuthaler, denn wenn es schon zehn Mal besser war als da es von Hause fortgelaufen, so gab es sich doch nicht für eine Magd aus, die alles aus dem Fundament verstehe, der auf Himmel und auf Erden nichts mehr zu lernen übrig geblieben, eine Hauptköchin, im Stricken [] 45 und Nähen Jeder überlegen, und nur die Hälfte Holz und Butter wie gewöhnliche Mägde brauchend. Nein,für so Eine, wie es deren zu Hunderten giebt, stellte sich Annemareili nicht hin, jetzt erst fühlte es ja recht,wie gar viel ihm noch fehle, es nicht wisse, wie in hundert Dingen noch, welche Andre gleichsam mit der Muttermilch eingesogen, ihm seine Verwahrlosung nachgieng und es der Nachsicht, der Weisung, des Unterrichtes fast bei jedem Schritte bedürfe. Jetzt erst sah es auch ein, warum es als Magd nirgend ankommen gemocht, und es konnte nun den Leuten, die es so kurz und mißtrauisch abgewiesen, dieß nicht einmal so übel nehmen.

Zu diesem ersten Anfange der Weisheit hatten ihm redlich seine verschiednen Lehrmeisterinen im Spital verholfen, die es alle mit viel größerm Respekt ansah, als ein halbjähriger Student seinen Professor. So begnügte sich denn Annemareili in seiner Bescheidenheit mit einem geringen Plätzlein bet einem jungen, nicht sehr wohlhabenden Handwerker, der bisher keine Magd gehabt,dessen Frau aber, seit sie ein kleines Kind bekommen,nicht mehr allein die Haushaltung besorgen konnte.Gleichwohl sah das Mädchen diesen ersten Dienst in der Stadt nicht viel weniger wichtig an, wie ein General seinen ersten Feldzug, den er unternimmt. Muth und Vertrauen und doch wieder ein heimliches Bangen zuweilen und ganz im Innern, ob die Kräfte auch der großen Aufgabe gewachsen, und wie es gehen werde?[46]dieß sind die Gefühle, welche unter der Feldherrnuniform mit den Orden drauf so gut das Herz ein wenig schneller klopfen machen, als unter dem geschenkten und geflickten Tschopen Annemareilis. Dachte da aber Annemareili an seine frühere Lage zurück und wie es ihm ergangen,durch alle Trübsal hindurch zu seinem Besten, dann verlor sich jenes Bangen und immer trat an dessen Stelle ein getrostes Vertrauen und eine herzinnige Dankbarkeit durchwärmte sein ganzes Wesen.

Beim Austritt aus dem Spitale, als es den Abschied nahm, wurde es noch besonders gefragt, ob es gut besorgt worden von der Wärterin? und ob es mit dem Essen zufrieden gewesen, oder aber etwas zu klagen habe?in dem Falle solle es Alles herzhaft heraussagen. Auf diese Frage sah Annemareili Anfangs ziemlich einfältig aus, denn was damit wirklich gemeint war, verstand es durchaus nicht. Nachher aber, als es sich besonnen über den Sinn, da erschrak es fast, daß es Jemand so frage; als käme etwas drauf an: noch nie hatte man sich um seine Meinung bekümmert, keine Seele es je gefragt, ob es zufrieden sei, oder nicht? und hier im Spital hatte es ja nicht einmal einen Kreuzer bezahlt,war um Gottes Barmherzigkeit willen aufgenommen und gepflegt worden, wie eine Fürstin so gut, hatte ein Bette gehabt und zu essen, wie noch nie seinen ganzen Lebtag, war an Leib und Seele aus Unordnung und Schmutz gezogen worden zu einem ordentlichen Menschen; dieß Alles, und da frage man noch, ob es zufrieden []sei? oder ob es was zu klagen habe? Annemareili konnte das nicht fassen, es übernahm es, denn sein Herz war ihm durch den Abschied von seiner Zufluchtsstätte ohnehin schon schwer und bewegt genug; die Thränen schossen ihm in die Augen, Thränen, wie es noch nie solche geweint, denn es war nicht Schmerz, nicht Zorn,nicht Traurigkeit, sondern etwas ganz Andres, das sein Innres eigen ergriff und wobei ihm doch gar seelenwohl war.A neuen Dienst ein. Vieles gab's da zu lernen und besonders von Anfang. Es mußte, wie mam' heißt, unten durch, in Alles, was in einer Haushaltung mit einem kleinen Kinde vorkommt, die Finger stecken und bei viel Sorgen und Arbeiten des Tages und auch weniger Ruhe des Nachts, verdiente es nur einen geringen Lohn,so daß es eine gute Weile dauerte, bis es sich nur einige Kleider und Wäsche anzuschaffen vermochte. Aber der Lohn war für Annemareili einstweilen nicht die Hauptsache, sondern die Ordnung, der Fleiß, die Reinlichkeit,das Erlernen der gewöhnlichen Hausgeschäfte, und darin war seine Frau die rechte Lehrmeisterin, die nicht bloß sagte, thu Das und Jenes, und dann aus dem Hause lief oder sich nicht weiter darum kümmerte, nein, sie griff selber mit an, zeigte wie ein Jedes recht gemacht werde, ließ sich und Andern kein Gras wachsen unter den Füßen, sondern wußte jede Minute, am frühen [] 48 Morgen, wie am Abend, zu etwas zu benützen. Annemareili seufzte mauchmal, aber wurde davon nicht magrer und die freien Augenblicke schmeckten ihm nur um so besser. Jeden andern Sonntag Nachmittag hatte es für sich, konnte hingehn wohin es wollte; das war jedesmal ein Freudenfest. Nicht weil es etwa irgendwohin zum Tanze gieng, oder in lustige Gesellschaft, auf einen Spaziergang, zu einem Glase Wein; nein, an diesen SonntagNachmittagen wanderte Annemareili nach dem Spitale, zu seiner Wärterin, die es so wohl besorgt und den ersten Stein zu seinem Glücke gelegt, denn als ein solches erschien dem Mädchen jetzt sein Loos, wenn das gleichwohl nur in einem strengen Dienste bestand.Daß es dieser Wärterin zeigte, wie ihre Mühe nicht vergebens gewesen, noch an eine Unwürdige verschwendet worden, das war seine größte Freude und es hatte das Gefühl, daß dieß auch der beste Dank sei.

So war Annemareili eine brave rechtschaffene Magd geworden, und wenn es auch keinem Menschen gegenüber dieß in ein besondres Licht setzte, so that es ihm doch wohl, wenn die Wärterin dieß und jenes Gute an ihm neu bemerkte und lobte, hatte die es doch auch von seiner übeln Seite lange genug gesehen! Darum war es denn ebenfalls ein besondres Fest, als es später, an Kleidern wohl versehen, mit den ersten Paar Neuthalern,die es auf die Seite legen konnte, in den Spital wanderte,sie sorgfältig aus einem Papier wickelte und sein Orakel,[49]die Wärterin, fragte, wie es wohl das Geld am besten nach Hause an den Vater schicken könnte? Im geheimen Rathe wurde beschlossen, es dem Herrn Pfarrer des Orts zuzustellen, damit der dann nach Gutfinden und worin es am zweckmäßigsten sei, den Vater daraus unterstütze und die sauer erworbnen Thaler nicht beim Wirthe in's Faß fielen. Annemareili schrieb einen Brief dazu,worin es auch die Stiefmutter um Verzeihung bat für den Verdruß, den es ihr so manches Mal gemacht, das kleine Brüderlein aber ließ es ganz besonders grüßen.Der Brief lag verschlossen vor Annemareili, es blickte lange wie in Gedanken darauf hin, denn durch das Schreiben war es wieder in die alten Zeiten zurück versetzt worden. Wie eine andere Person sah es sich die Treppen hinunter, von Hause fort und aus dem Dorfe schleichen, sah sich unterwegs von Aller Augen argwöhnisch und geringschätzig angesehen, abgewiesen an jedem Ort, und wie es krank, elend und hilflos auf dem Spänhaufen lag, dann in Kleinmuth und Verzweiflung, vom Fieber geschüttelt, durch das Stadtthor einzog und erschrocken vor dem prächtigen Spitale stand. Dieß sah es Alles im Geiste; es sah aber auch , und seine Augen glänzten wie von einer innern Sonne, die ihm aufgieng, es sah auch deutlich und mit einem Ueberblick, wie dann doch dieß Alles zu seinem Besten umgewandelt worden, ohne sein Zuthun und ohne sein Verdienst freilich. Und wenn es den Dienen und Verdienen.[50]alten Spruch schon nicht wirklich aussprach, er wurzelte doch lebendig in seinem Herzen und durchdrang es mit der unwiderstehlichen Kraft der eigenen Erfahrung,der Spruch nämlich: die Wege des Herrn sind wunderbar![]Fünftes Capitel.Der erste Dienst und der kleine Johanneslein.Zwei Jahre waren es schon, daß Annemareili bei der jungen Handwerksfrau in Dienst stand, obwohl ihm seine Bekannten am Brunnen und auf dem Markte mehr als ein Mal zugeredet, doch einen bessern Platz zu suchen, das heißt einen wo es mehr Lohn bekomme oder größere Freiheit habe, sich nicht so schinden müsse Tag und Nacht und dabei doch nichts verdiene. Es war zwar nicht, daß das Mädchen keinen Sinn dafür gehabt, größern Lohn zu erhalten oder sein Loos zu verbessern. Bei der Sparsamkeit, mit der es jeden Kreuzer zur Seite legte in sein Lädlein und sich das Nothwendige kaum gönnte, mußte ihm ein einziger Neuthaler mehr eine gewaltige Lockung sein. Und wenn es bis in alle Nacht hinein zu handtieren hatte, und mit saurer Arbeit dazu, ja, wenn es sich endlich müde zu Bette gelegt und dann erst noch dem Kinde, das es bei sich hatte, ein Paar Mal aufstehn sollte, da war es keine kleine Versuchung für Annemareili, von andern Mägden zu hören, wie sie von Abends neun Uhr an in einem Zuge schlafen könnten bis Morgens um halb

4*[52]Sieben und dabei doch ihren großen Lohn kriegten;oder wenn es sah, wie diese Glücklichen Stunden lang sich da und dort verplauderten und erst noch jeden zweiten Sonntag wenigstens frei hatten, abgesehn von dem halben Tag in der Woche zum Arbeiten für sich,wãhrend ihm jeder freie Augenblick so knapp und spärlich zugemessen war. Mehr als ein Mal, wenn das arme Annemareili am schönen Sonntagnachmittag oben in dem niedern Dachstüblein alleine zu Hause saß, das kleine Kind, den Johanneslein, den es zu hüten hatte,auf dem Arm, und es schaute durch's Fensterlein hinunter auf die Straßen, wo andre Mägde im grösten Staate, wie Damen, mit fliegenden Bändern, Schwal und gestickten Hauben, wenn nicht gar Hüten, vorbeizogen nach diesem, jenem Vergnügungsorte, oder es hörte sie lachen und scherzen unter einander oder mit Handwerksgesellen und Bedienten, Bekannten und Landsleuten; mehr als ein Mal war sich da Annemareili gar verlassen von aller Welt und fast unglücklich vorgekommen in seinen dürftigen Kleidern, in dem ärmlichen Stüblein, fern von aller Erholung und allem Vergnügen. Selbst Neid und Unzufriedenheit waren schon nahe an sein Herz herangekrochen, darum, daß nur es bei dem schönen Wetter und dem Feiertage müsse zu Hause sitzen und des Kindes warten, Alles unten so vorbeiziehe und keine Seele an die arme Magd da oben denke. Es hatte ja auch Sinn für die Lust und Heiterkeit des Lebens, welche ihm versagt waren, hatte [53]redlich sechs Tage gearbeitet und die Ruhe des siebenten Tages so wohl wie nur ein andrer Christenmensch verdient.Am Sinne dafür fehlte es also Annemareili nicht,daß es jenen Reden seiner Bekannten nicht mehr Gehör gab und den ärmlichen Dienst bei dem Handwerker vertauschte gegen einen einträglichern oder nur bequemern,jetzt da es doch nicht mehr das ungeschlachte, rohe und unwissende Mädchen war, dem das geringste Haushaltungsgeschäft, der einfachste Küchendienst, ja nur Geschirr waschen und Treppen fegen als etwas Neues und Unerhörtes vorkam, oder das Mund und Nase aufsperrte,wenn es vernahm, man wichse die Schuhe wirklich jeden Tag und sogar bis daß sie glänzten. Zwar gab es sich noch nicht für eine sogenannte Hauptköchin aus, weil es ja nun eine Suppe kochen könne, ohne sie zu versalzen,oder einen Eierkuchen backen, der nicht halb verkohlt oder wie ein Stück nasses Leder so zähe war. Nein,dafür gab sich Annemareili nicht aus und verlangte darum auch nicht gleich zwölf Neuthaler, Meß und Neujahrgeld nicht gerechnet, ein Paar Schuh zu sohlen extra und Trinkgelder. Aber gar wohl wußte es, daß es auf einen größern Lohn, als es jetzt empfieng, könne Anspruch machen, ohne nachher, wenn's an's Leisten komme, wie ein Stockfisch dastehr zu müssen. Dieß wäre nicht zu fürchten gewesen und deßhalb hätte es Annemareili auch schon wagen können. Aber neben all Dem hatte es eben noch einen andern Sinn, der immer [34] wieder über jene Gelüste und Verlockungen die Oberhand gewann. Die Bequemlichkeit machte bei ihm nicht Alles aus und auch das Geld nicht Alles. Es erinnerte sich zum Beispiel noch, wie viel es dieser seiner ersten Herrschaft verdanke, wie die brave Handwerksfrau es aus einem unwissenden verwahrlosten Wildfang herangezogen zu einer ordentlichen Magd, die nun in Küche und Haushaltung Bescheid wußte. Es war dankbar genug um einzusehen, wie diese seine Ungeschicklichkeit mit Geduld getragen, seine Unwissenheit freundlich belehrt, seine Verkehrtheit zum Rechten gewendet und sich keine Mühe verdrießen lassen, ihm Jedes zu zeigen und es zu lehren was in Allem der Brauch, auch in seinem Reden und Benehmen, wie grob und ungeschlacht die von Haus aus waren. Die Frau hieß es bei dieser Zucht deßhalb nicht gleich Esel und Kuh und Trampelthier oder noch ärger,wenn es etwa Das und Jenes nicht wußte oder in etwas verstieß, lachte es auch nicht aus, noch weniger lud sie ihm mehr auf als zu thun möglich war. Und überdieß hatte es ja die Frau selber in Allem nicht besser, noch machte sie fich's leichter, obwohl sie doch keine von den Stärksten war, sondern manchmal kränkelte. Sie nahm im Gegentheil Annemareili öfter ein schwer Stück Arbeit ab, wenn sie merkte, dieses komme nicht wohl zu Schlag damit, oder gönnte auch ihm eine Erholung, ein Vergnügen, indeß sie als Frau ohne Murren und Poltern that, was eigentlich Sache der Magd war. Ja, als sich das Mädchen im Winter einmal stark erkältet, da hieß [55] sies, wie unbequem es ihr natürlich war, doch gleichwohl in's Bette liegen, besorgte seine Geschäfte und machte nicht nur kein saures Gesicht, noch trieb sie der Kranken mit beständigem Fragen, ob's denn noch nicht bald besser gehe? den schweren Angstschweiß aus, sondern brühte ihr vielmehr Thee an, gab ihr von den eignen wärmern Bettstücken und schonte sie selbst noch einige Zeit als es schon wieder ordentlich gieng. Gerade wie eine leibliche Schwester wurde Annemareili gehalten und das empfand es gar wohl und nahm's darum auch seinerseits dann nicht so genau, wog nicht mit der Goldwaage ab, ob es etwa zuviel arbeite für den geringen Lohn, oder ob es sich bei einer vornehmern Herrschaft nicht besser befinden würde als bei der gemeinen? Gewiß, in diesen zwei Jahren hatte es eine mühsame Zeit durchgemacht, aber doch keine böse, und wenn täglich das Wort an ihm sich erfüllte: im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen! und das Brot war trocknes, so wurde es ihm doch unverkümmert und von Herzen gegönnt und ebensowenig auch versäuert, wo dann der erste Bissen schon im Halse würgt und nicht hinunter will. Das mußte Annemareili allerwegen fühlen: seine Herrschaft habe ein Herz für seine Leiden wie Freuden und stehe nicht zu weit von ihm entfernt um zu begreifen, das was ihr wehe thue, das thue auch einer armen Magd nicht wohl. Darum ja fühlte sich Annemareili in der Familie nicht als eine fremde Person, sondern wie daheim, nahm Theil an Jedem und [56]that sein Möglichstes zum gedeihlichen Fortgang, den es wie sein Eignes im Auge hatte. So gieng es ihm denn auch sehr nahe als das einzige Kind, der kleine Johanneslein, zu kränkeln begann und um so näher, da es den Kleinen bisher zum großen Theil allein gepflegt und um sich gehabt. Das Büblein war Annemareilt auch sehr zugethan: wenn schon die eigne Mutter ihn auf dem Schooße hatte, mit ihm spielte, ihn herzte und das Mädchen kam gerade zur Thüre herein, so zappelte und schrie der Kleine gewiß so lange, bis es ihn auf den Arm genommen, zum großen Leidwesen der eignen Mutter.Annemareili dagegen bildete sich freilich hierauf nicht wenig ein, wenn es auch gegen Niemanden etwas davon verlauten ließ als gegen den Johanneslein selber durch vermehrte Liebkosungen. Dieses Kind nun erkrankte immer schwerer und nahm zusehends ab, wie wenig bedenklich das Uebel am Anfang auch geschienen. Lange wollte Niemand an die Gefahr glauben, Annemareili am längsten nicht, doch immer hagrer wurden die Wangen, die Glieder fielen immer mehr und mehr ab,auch ungeduldig, empfindlich und launisch wurde der sonst so gut geartete und zufriedne Knabe. Seine liebsten Spiele sah er nicht mehr an, sogar Annemareilis Zärtlichkeit und Scherze gewannen ihm kein Lächeln mehr ab, weinte er im Gegentheil doch ein Mal ärgerlich, als es die Arme aus purer guter Meinung zu erzwingen suchte. Jetzt, wenn ihn seine Wärterin auf dem Schooße hielt, begehrte er im Bettchen zu liegen [57] und befand er sich im Bettlein, so sollte ihn Annemareili aufnehmen und herumtragen; kurz, unausstehlich war der Kleine in seinem Kranksein, das er ja nicht verstand,sondern nur immer meinte: dann werde ihm wohler sein, wann mans ihm anders mache als ers gerade habe. Aber wäre seine Launenhaftigkeit noch viel größer gewesen, die Mutter wie Annemareili wären doch gerne nicht ungeduldig geworden, wenn sie nur die Hoffnung auf Besserung hätten hegen können.

Genügte ja schon ein halbzufriedner Blick, ein bittendes Wort, das der Kleine an die Eine oder Andre wandte um für lange wieder alle Mühe zu versüßen und die ermüdende Geduld zu erfrischen. An diesem Krankenlager legte Annemareili die Probe ab von der Stärke seiner Anhänglichkeit, die keine erzwungne war,noch eine aus bloßem Pflichtgefühl, sondern welche als natürliche Dankbarkeit rein aus der Tiefe eines unverdorbnen Herzeus kam. Deun jetzt mangelte ihm nie die Freiheit: lange mochten andre Mägde spazieren gehn, es fiel Annemareili nicht von ferne ein, von dem Bettlein seines Pfleglings weg zu begehren. Aengstlich horchte es jeden Augenblick des Nachts nach dem Odem des Kindes, stand unzählige Male freiwillig auf und schlich an das Krankenlager heran, nur um zu lauschen,oder dem Johanneslein eine Erquickung anzubieten, wenn er zu wachen schien, seine Kissen sanft zu recht zu legen und dachte mit keinem Gedanken an alle die Bekannten,die bis an den heslen Morgen ununterbrochen fortschlafen [58]konnten. Wie gerne würde es selbst nichts gegessen haben, wenn nur das Büblein wieder Etwas hätte wollen zu sich nehmen! Ja, aus seinem Lädlein, mit den mühsam zusammengesparten Batzen, langte es sogar ein Paar Kreuzer heraus und kaufte bei einem unten auf der Straße stehenden Gipsfigurenhändler eins der Häslein, die so lustig mit dem Kopfe wackelten, einzig um dem Johanneslein doch eine Freude zu machen und ihm wieder einmal ein Lächeln abzugewinnen. Aber mit aller Sorgfalt besserte es gleichwohl nicht, im Gegentheil: Jedem mußte es bald klar werden, daß es mit dem Liebling der Familie zu Ende gieng. Gar traurig sah's da in der kleinen Haushaltung aus. Hier zu Hãupten des Bettleins lehnte sich die Mutter über ihr krankes Kind und weinte heimliche heiße Thränen, dort trat Annemareili leise auf den Zehen mit dem Süpplein für den jungen Patienten in die Stube und nicht vom Rauche allein waren die Augen so geröthet, die gleich, wenn auch etwas verstohlen, nach dem Knäblein ängstlich sich hinkehrten. Den Vater sah man am seltensten, er konnte nicht sein einziges Kind sterben sehen,aber wie nahe es ihm gieng, das zeigte sich am deutlichsten beim Essen, wo Annemareili nachher fast ebensoviel in der Schüssel wieder abtrug, als es vorher auf den Tisch gestellt. Wenige Tage noch, die in dieser Beklemmung zugebracht wurden und die bange Erwartung, die quälende Angst löste sich, erst in heftige und [59]laute, bald jedoch in stille aber anhaltende Trauer: der Knabe war gestorben.

Etliche Wochen nach diesem betrübten Ereignisse waren Annemareili und die Handwerksfrau allein in der Stube, die ihnen nun öde und wie ausgestorben vorkam. Die Frau las die Kleider ihres Johanneslein selig aus dem Kasten zusammen um sie, eingepackt in eine Kiste, droben auf dem Estrich aufzuheben, da sie hieunten doch nur Platz wegnahmen und die frische Wunde täglich blutig aufrissen. Bei diesem Anlasse hieß die Frau das Annemareili mit Gelegenheit jetzt auch nach einem andern Dienste sich umsehen, da sie ja nunmehr Alles allein besorgen koönne! setzte sie mit einem schweren Seufzer hinzu. Annemareili erschrak beinahe,als es diesen Bescheid vernahm, so begreiflich und natürlich es ihn auch finden mußte und so nahe ihm früher oft der Gedanke gekommen war, diesen Dienst mit einem bessern zu vertauschen. Die Frau bemerkte das und darum stellte sie ihm vor, wie leicht es einen viel einträglichern Dienst, als es einen hier bei ihr gehabt,werde finden, und daß es ihr selber schon lange Leid gethan, ihm, von wegen der theuern Zeit und dem geringen Erwerbe, am Lohne nicht haben zusetzen zu können. Gut gehn werde es ihm gewiß, es habe das an ihnen verdient, und möge kommen wer da wolle und nachfragen, so werde sie ihm stets das beste Zeugniß ertheilen und das mit einem guten Gewissen, so viel sage sie ihm offen zum Voraus. Als Annemareili klagte,[60]es sei nicht bekannt, wisse nicht wie es anstellen, noch an wen sich wenden? da versprach ihm die Handwerkerfrau sich dafür umsehen zu wollen. Der Frau Säuberling ihre Lisebeth zum Beispiel reise nach Hause zu ihrer Mutter, die auszehre; dort wäre ein Dienst wie man ihn nur wünschen könne, wenn da anzukommen wäre:reiche Leute, wenig zu thun, niemand als Mutter und Tochter; zehn Neuthaler zum mindesten gebe es dort und auf die leichteste Art von der Welt!

Schön und rosenfarben malte die gute Frau Alles aus und doch war ihr das eigne Herz so trübe und schwer, denn nun sollte auch noch Annemareili von ihr,die einzige Seele, außer dem auf der Arbeit meist abwesenden Manne, mit welcher die kinderlose Mutter von ihrem Johanneslein selig sprechen konnte, welche den Kleinen auch so recht lieb gehabt und ihr darum befreundet und als ein Trost erschien. Annemareili aber ließ sich das Furwort bei Frau Säuberling gerne gefallen und wie's beim Anstellen und Anbringen von Dienstboten geht, bald fand sich Gelegenheit, ein Wort gab das andre und die angehende neue Magd sollte sich zeigen. Sie gieng auch richtig hin. In dem Säuberlingischen Hause war es allerdings vornehmer und schöner als bei der wenig vermöglichen Handwerkerfamilie,wo weder weiße gestickte Vorhänge noch Teppiche zu finden gewesen und man dem Boden eben gar wohl ansah,wie nicht nur mit gestickten Pantöffelein darauf herum gelaufen wurde, sondern mit Schuhen, Stiefeln, und [] 61 zwar tüchtig genagelten. In solch ein Haus war Annemareili bisher noch nie gekommen, und nun sollte es vielleicht gar drin dienen und wohnen: darüber erschrak es schier, zu gleicher Zeit aber lief ihm doch auch das Wasser im Munde zusammen. Als es sich zum ersten Male vorstellte, war die Frau Säuberling gerade aus der Kirche gekommen, hielt das Liederbüchlein noch in Händen und Hut und Schwal waren noch nicht abgelegt,vor lauter Eifer und Verwunderung, worein sie des verwittweten Doktors Curio Verlobung mit der Erzieherin seines kleinen Kindes, einer LandpfarrersTochter,unerwartet versetzt hatte. So eben hatte sie diese Neuigkeit von einer Freundin erfahren und zeigte sich nun ganz außer sich darüber, daß der Doktor sich so wegwerfe an eine Magd, hätte er doch noch ganz andre Parthien machen können! Ihre Tochter, die Jungfer,oder wie man sagen mußte, Fräulein Emeline, rümpfte das Näslein und gestand, daß sie sich nie viel aus dem Curio habe machen können, sondern ihn immer für eine gemeine Natur gehalten; es wäre deßhalb Schade gewesen, wenn er ein anständiges Frauenzimmer geheirathet hätte! Dieß Alles wurde vor Annemareili verhandelt,das sich durch den verächtlichen Ton fast noch mehr als durch die Worte selbst in seinem Innern unangenehm berührt fand, ohne indeß klar zu begreifen, warum eigentlich?Noch peinlicher aber war das Verhör, das es nun selber zu bestehn hatte: aus welchem Orte es her sei?[62]Was Alles es verstehe und nicht verstehe? ob es einen Liebsten habe? wo es bisher gedient und warum es fortgekommen? Als es da Niemanden als nur die Handwerksfamilie nennen konnte, wäre der ganze Handel beinahe zu Wasser geworden und bloß weil Frau Säuberling selber so in Noth war wegen der plötzlichen Abreise ihrer Lisebeth und man doch selten „was Rechtes“ in der Zwischenzeit des Diensthalbjahres finde! entschloß sie sich,eine Magd anzunehmen die bisher nur in „Burgershäusern“ gedient und es also mit dem Mädchen zu wagen.

Annemareili konnte demnach sogleich eintreten, als ihm vorher noch ein Vorwurf über seine zu große Jugend gemacht und mit Himmel und Hölle gedroht worden, wenn sich je ein Mannsbild seinethalben auf hundert Schritte dem Hause nähern sollte. Mit schwerem Herzen verließ es seine erste Herrschaft: wie sauer ihm bei der manchmal auch der Dienst geworden, beim Scheiden konnte es doch die Thränen nicht zurückhalten. Es wußte zwar selber nicht warum? aber es waren nicht einzig die Beklommenheit und das Herzklopfen, womit es den neuen Dienst antrat, welche ihm seinen Weg erschwerten. Dieß Gefühl hielt freilich auch nicht zu lange an, Annemareili hätte nicht ein neunzehnjähriges unerfahrnes Mädchen sein müssen, das sich nun schon als eine gemachte Magd ansah, die ihren schönen Lohn habe und bei der reichen Herrschaft auf dem besten Wege sei noch mehr, ja eine Hauptmagd oder eine Kammer[63]jungfer sogar zu werden. Es war nicht mehr das arme hergelaufne Mädchen, das sich mußte herumstoßen und zu Allem gebrauchen lassen, auf das Niemand achtete,das nichts verstand, als Gnade und Barmherzigkeit betrachten mußte jedes freundliche Wort, jedes Bißlein Speise oder jeden Batzen Lohn. Dieses Gefühl, es sei nun etwas geworden und die Ueberzengung, Jedermann müfse es ihm auch ansehn, was es zu bedeuten habe, gewannen in Annemareili bald die Oberhand über alle andern Empfindungen und behaupteten sie eine geraume Zeit, so daß es lange seinen neuen Dienst durch keine andre Brille betrachtete, als durch diese seiner Eitelkeit und seines Selbstgefühles. Und so blieb es noch eine Weile von dem falschen Lichte geblendet, als schon hin und wieder lange dunkle Schatten auf seine Dienstbahn fielen und unter den Rosen die spitzen unbarmherzigen Dornen hervorstachen. Denn nicht wenig hart hielt es und bedurfte manches empfindlichen Beweises, bis sich Annemareili eingestand: ach, mit dem beffern, das heißt vornehmern Dienste sei doch nicht Alles gethan! und hie und da in unbewachten Augenblicken sich zu sehnen begann nach seinem frühern Leben in dem engen und beschränkten Haushalte der Handwerkerfamilie. Was änderte es, daß es dieser Sehnsucht einzig das Aushängeschild alter Anhänglichkeit vorheftete!stak hinter diesem doch gleichwohl die aufkeimende Unzufriedenheit mit seinem jetzigen Schicksale.[]Sethstes Caypitel.Der zweite Dienst; oder es ist nicht Alles Gold, was glänzt.Bei Frau Sauberling hatte Annemareili wohl groöͤßern Lohn und bessres Essen, auch weniger schwere Arbeit;indeß vom Essen allein lebt der Mensch nicht, nach schwerer Arbeit aber schmeckt die Ruhe besser als nach leichter und mit Geld läßt sich nicht Alles kaufen, oft nicht einmal so viel als ein freundliches Wort umsonst erhält. Dieß sollte das arme Mädchen immer deutlicher und unverkennbarer erfahren. Sa, schien Annemareili der Haushalt, das Leben und Betragen seiner Herrschaft wohl vornehm, so mußte es nach und nach immer deutlicher empfinden, wie auch es selber ebenfalls vornehm behandelt werde, was ihm freilich nicht so schmecken wollte.Nachdem Annemareili ein Paar Wochen im Hause und nicht mehr der neue Besen war, der Alles recht kehrt, und ebenso die Frau und Jungfer wieder in ihr altes Geleise gekommen, denn auch Herrschaften sind neue Besen, da hatte es hundertfältig und tagtäglich die Gelegenheit sich zu überzeugen, wie nicht Alles Gold [65] sei was glänze. Es war weniger, daß es sich in den Dienst nicht zu schicken wußte, oder daß ihm derselbe zu schwer fiel: bei seinem hellen Kopfe und anschicklichen Wesen fand es sich ziemlich leicht auch in das Neue,begriff bald was gemeint war und weil es wohl aufpaßte, war ihm das Nachmachen keine Hexerei. Mehr als ein Mal brauchte man ihm selten etwas zu zeigen oder zu sagen und das Commandieren und Anweisen war ja weder für Frau Säuberling noch für die Jungfer Emeline eine besonders leidige oder ungewohnte Sache;in dem Punkte hätten sie vielmehr ein ganzes Regiment Soldaten in Athem halten und den getrilltesten Exerciermeister zu Schanden machen können. Es fehlte Annemareili einzig an einem Dutzend Hände und einem Halbdutzend Ohren mehr und es wäre Alles gut gewesen, am Mund und an der Zunge, die diese gehörig in Anspruch genommen, hätte es schwerlich gefehlt. In der Bibel heißt es zwar nur, Niemand könne zwei Herren dienen! von zwei Frauen ist nirgend die Rede;wahrscheinlich jedoch nur darum, weil das eine Unmöglichkeit ist, die sich von selber versteht. Die Beiden waren wohl gleich wunderlich, aber wann die Eine am Ende eben doch müde werden und nachlafsen mußte,rückte dann die Andre hervor, noch frisch und mit andern Befehlen, anderm Tadel und neuen Launen. Hielt die Mutter besonders die Küche im Auge und sah in der Hanshaltung bis in die kleinste Spalte hinein, daß ia Alles spiegelblank glänze, nirgends ein Stäublein Dienen und Verdienen. 5 [36]liege, alle Häfelein nach der Größe, denselben Weg gekehrt, in Reih und Glied standen und gerade soviel Scheitlein Holz unter der Pfanne braunten, als sie im Sinne trug; so gab hingegen Jungfer Emeline mit ihrer eignen werthen Person zu schaffen. Und bald riß Annemareili beim Kämmen sie zu sehr an den Haaren oder scheitelte krumm, bald roch es, wenn es schnell aus der Küche springen und aufwarten mußte, unausstehlich nach Rauch oder Zwiebeln, die es eben zerschnitten. Ein ander Mal waren die Schuhe nicht blank genug gewichst,das Bette schlecht aufgeschüttelt und die Leintücher nicht glatt gezogen oder das Fenster im Zimmer zu lange oder zu wenig lang offen gewesen; kurz, der Faden gieng da nie aus. Annemareili hatte noch Vieles zu lernen und Dienstboten müssen sich's einmal gefallen lassen, nach der Herrschaft sich zu richten und von der fich weisen zu lassen. Dieß war es auch nicht so sehr was Annemareili kränkte, als vielmehr der Ton und die Geberden, womit derlei gesagt wurde. Sprachen in seiner Anwesenheit Mutter und Tochter von ihm, so hieß es immer nur „die Magd.“ Die Magd kamn dieß thun, soll dorthin gehn, muß Jenes ausrichten!Annemareili wußte nun gar wohl, daß es die Magd sei und wollte keineswegs eine Mamsell vorstellen, auch schämte es sich seines Standes nicht. Indeß bei solchen Gelegenheiten mit dem Namen sich nennen zu höͤren,welchen es in der Taufe bekommen, wäre ihm doch lieber gewesen. Es konnte sich zwar nicht recht sagen warum?[67]aber so kam es sich selber immer wie fremd vor in dem Hause und als gehöre es nicht herein, als nehme Niemand auch nur ein wenig Antheil an ihm, besonders da ihm scheinen wollte, dieses Wort werde obendrein mit einer Art von Geringschätzung ausgesprochen. Es wurde überhaupt Weniges in einem freundlichen Tone abgethan, in zutraulichem gar nie, sondern meist so, als wäre es wunder welch Vergehen von Annemareili, das nicht schon im Voraus zu errathen was man zu ihm sagte. Gewöhnlich sah auch Frau Säuberling das Mädchen, wenn sie mit ihm zu sprechen hatte nur halb von der Seite an, Jungfer Emeline freilich gar nicht, außer wenn sie recht in Zorn gerathen. War dieses der Fall, dann wurden die Worte nie sehr abgewogen: das und das sei gut für's Vieh! beim Lumpenpack wäre Solches der Brauch! ob es im Stalle auferzogen worden? derlei Redensarten waren weder sehr selten noch von den beleidigendsten, was für eine dicke Haut auch sie voraussetzten.

Am schlimmsten indeß ergieng es Annemareili, wenn Eine der Beiden sich unwohl befand, Kopfweh oder Zahnweh klagte oder sonst angegriffen war: da wollten die Launen auch gar kein Ende nehmen. Bald trat dann das arme Mädchen so schwerfällig wie ein Elephant auf und schmetterte alle Thüren expres heftig zu,oder, trat es leise ein, so erschreckte es durch sein Schleichen und plötzliches Dastehn. Der Thee war zu stark angebrüht oder nur bloßes Lauwasser. Annemareili stand

5 *[58]alle Augenblicke da, hatte Maulaffen feil, machte sich überflüssig, oder ließ sich nie blicken, zeigte keinen Funken von Theilnahme, ließ seine Herrschaft verrebeln, kurz benahm sich wie ein völliger Barbar. Und doch hätte von Rechtswegen die ganze Welt Theil nehmen sollen an dem Nervenkopfweh und den Athem an sich halten und auf den Zehen schleichen und verweinte Augen haben aus reinem Mitgefühl, geschweige denn nur so eine Magd.

Freilich, wenn etwa diese einmal krank war, da nahm keine Seele Notiz davon, Niemandem fiel dabei ein, daß nur ein wenig Schonung ihr gar sehr wohl thäte. Es schien, als müsse Annemareili entweder gar keine Nerven haben, oder jedenfalls die zu wenig, welche Frau Säuberling und Jungfer Emeline zu viel besaßen. Wenn es auch den ganzen Tag innerlich gefroren und kaum einen Löͤffel voll Suppe gegessen, das hinderte nicht, daß es Nachts ein oder zwei Mal aus dem Bette herausgeklingelt wurde, der Jungfer ein Glas Zuckerwasser anzumachen, oder den Vorhang besser zu schließen, durch dessen Spalte gerade der Mond in's Zimmer schien.Waren ihm vor Kälte die Hände aufgesprungen, oder darum nicht aus der kalten Küche in die Stube hereinkommen, und war es gar Freitag, so mußte auch mit der geschwollnen Backe gefegt werden, Flur und Treppen, hiegegen war kein Kraut gewachsen. Es gehörte dieß einmal zur Ordnung: nicht rein mußte es sein im [69]Hause, sondern gefegt am Freitag, das war die Hauptsache. Wer aber glaubte, Annemareilis Herrschaft habe darum ein fühlloses Herz gehabt, der würde sich gröblich irren. Er hätte es nur ein einzig Mal mit anzusehn brauchen, wie das Schoßhündlein, der kleine Ami, gepflegt und bemitleidet wurde und die zärtlichsten Schmeichelnamen erhielt, und der dringendste Verdacht wäre sogleich verschwunden. Lief das gute Thierlein gelegentlich zur Thüre hinaus und mußte draußen warten, bis sie wieder sich öffnete, oder es kratzte dran, so war da des Bedauerns kein Ende und mehr als ein Mal erhielt die Magd, die oft den ganzen Tag in keine warme Stube kam, einen scharfen Verweis wegen ihrer Unbarmherzigkeit, bei solchem Wetter den Ami vielleicht zwei Minuten lang draußen stehn und warten zu lassen.An Ami wurden aber nicht nur die zärtlichsten Worte verschwendet, sondern er erhielt auch an Essen die besten Leckerbissen; wenn er sie nur abnahm galt es für eine Tugend! Den Tag über hatte er sein warmes seidnes Nestlein, am Ehrenplatz beim Fenster natürlich! darin er sorgfältig gegen jedes Lüftlein geschützt ward, während er die Nacht gewöhnlich zu Füssen und im Bette von Frau Säuberling selber schlief. Kurz, wäre Annemareili nur der Abfall von all dieser Fürsorge und Zartlichkeit zu Theil geworden, es würde sich keinen bessern und angenehmern Dienst haben wünschen können. So aber diente diese Verschwendung nur dazu, ihm seine Lage um so schwärzer und seine eigne Behandlung um so [70]kränkender erscheinen zu lassen, denn von sonst rohen

Menschen würde es das Alles nicht so schwer aufgenommen haben, als es hier that, war es ja nichts weniger als verwöhnt. Und immer greller und empfindlicher stach der Unterschied hervor zwischen diesem Dienste und dem frühern bei der Handwerkerfamilie, an den es nun öfter und lebhafter zu denken begann und Vergleichungen anstellte, bald in jedem einzelnen Falle.Wie manches Mal sehnte es sich im Stillen nach jener braven Bürgersfrau! Hatte es dort gleich einen mühseligen Dienst gehabt, es war doch auch fast wie ein Familienglied gehalten worden, das seinen ehrlichen Antheil empfieng an Freud und Leid, am gleichen Tische mit Allen gegessen und nicht in der kalten oder nassen Küche allein, als wäre es räudig oder doch von einem schlechtern Teige. Und daß seine Herrschaft selber Alles,auch Last und Mühsal, mit ihm getheilt, das war ihm ein größrer Trost gewesen als es sich jemals vorgestellt.Dort war es sich wenigstens wie ein Mensch vorgekommen und nicht wie ein Hund! sagte Annemareili in seinem Mißmuthe mehr als ein Mal. Es habe wohl viel zu arbeiten gegeben, aber dann sei man doch zufrieden gewesensmit ihm, hab' ihm ein gutes Wort geschenkt und ein freundlich Gesicht gemacht und Ruhe gegönnt, von kranken Tagen, in denen es wie ein eignes Kind besorgt worden, gar nicht zu reden. Hier dagegen,bei aller Vornehmheit und ein bittrer Strom wallte in des Mädchens Herzen auf und überschwemmte [71]ihm mit seiner trüben Fluth alle Zufriedenheit und allen Muth, sogar die Billigkeit. Denn je rosenfarbner ihm nun sein alter Dienst erschien, um so mächtiger schwoll auch der Widerwille gegen den jetzigen und um so schwärzer malte es sich Jedes darin aus. Ein Mal aber so weit, gieng es bald noch weiter und zu weit, und fand Anlässe zu Dutzenden um Aergerniß daran und Das und Jenes schwer zu nehmen, was es früherhin entweder leicht abgeschüttelt, ja gar zum Guten statt zum Bösen gewendet hätte; legte es doch Vieles, das nicht so böse gemeint war, in seiner Verstimmung in Uebel oder als beabsichtigt aus. Bei dieser Gemüthsrichtung war es begreiflich, daß das Mädchen immer am empfindlichsten sich verletzt fand, wenn es von seiner frühern Herrschaft beleidigend sprechen hörte, woran es Frau Säuberling und ihre Tochter nicht fehlen ließen und jene nur mit „gemeine Leute“ betitelten oder Annemareili bei jedem Anlaß vorwurfsvoll und geringschätzig bedeuteten: es befinde sich hier nicht in einer Handwerksboutique, wo Alles gut genug sei! Seine Anhänglichkeit mochte Solches nicht verwinden und jetzt zu allerletzt, da es, neben der Gereiztheit über die eigne Unbill, in solchen Vorwürfen zugleich lebhaft das Unrecht fühlte, das jenen Handwerksleuten angethan wurde. Denn war es bei ihnen auch etwas knapp hergegangen, so hatten doch überall,bei aller Einschränkung, Ordnung und Rechtschaffenheit geherrscht und daß die Hausfrau nicht Fünfe grade sein DDD[2] weniger aber dieses jetzt das arme Mädchen war, das Gott danken mußte, nur irgendwo unterkriechen und ein Plätzlein finden zu können, wo es vor Elend und Hunger geschützt sei, um so mehr verbitterte es sich auch und stellte es sich seiner jetzigen Herrschaft entgegen. Sein Herz erkühlte und es that seinen Dienst mehr nur aus einer angewohnten Art Schuldigkeit, weil es einmal dafür da und bezahlt war, aber ohne innern Trieb, der besser aufpaßt als das Auge des wachsamsten Herrn je es vermag, ohne guten Willen und ohne die innere Hinneigung gegen seine Herrschaft. Ja, an die Stelle von Liebe und Wärme waren vielmehr Feindseligkeit und Kälte bei ihm eingezogen und es war eine unnütze Magd geworden, in dem Sinne, wie vom unnützen Knechte die Rede ist, solchem nämlich, der nichts thut als (wie man sagt) seine verdammte Schuldigkeit. Das sei ja, was man allein verlangen könne! meinen Viele. Wo aber auf diese Art gedient wird, da bleibt's nicht lange bei der eigentlichen Schuldigkeit stehn, sondern es wird von dieser Schuldigkeit immer mehr und mehr weggemarktet und sie schrumpft nach und nach so zusammen, bis sie,man merkt oft gar nicht wie bald, als nackte Schuld dasteht. Wo man froh, wenn Etwas nur abgethan ist,und dann nicht lange sieht wie eigentlich, da fehlt es hier gewöhnlich irgendwo, dort ist Etwas übersehen,vergessen worden: es hat sich halt nicht von selbst gemacht oder ist nicht gleich auf den ersten Anlauf gerathen!So sehr nur sie selber an Allem Schuld sind, der Knecht [73]und die Magd, werden sie doch so ungeduldig oder böse darüber, als geschehe ihnen wunder welches Unrecht!So ergieng's auch dem Annemareili: die Vorwürfe und Anklagen und Zurechtweisungen hatten es am Anfang vielleicht öfter ungerecht getroffen, nun aber, nachdem es von der treuen Magd zum verdroßnen Miethling herabgesunken, mochten sie nur zu oft ihren guten Grund haben. Freilich, wie viel eigentlich auch davon der Herrschaft auf deren eigne Rechnung zu setzen war,bleibt eine andre Frage und das Abwägen in solchen Fällen ist schwer: Eins arbeitet eben dem Andern merkwürdig fleißig vor oder kommt ihm entgegen. Der Tadel und die Vorwürfe trugen natürlich bei Annemareili nicht viel zur Besserung bei, sie liefen über seine Haut hinunter wie Regentropfen über eine Oelstande, war ihre Kraft doch schon längst verbraucht worden, damals nämlich, als man das Mädchen mit Unrecht oder um Kleinigkeiten willen gescholten. Jetzt, da der Wolf wirklich da war, half alles Schreien nichts mehr, Annemareili war es zu gewöhnt, glaubte nicht daran, auch wo es hätte sollen und bereute nur was es jemals davon zu Herzen genommen. Dafür mußte es freilich gewärtig sein, und war es wirklich, am Ende noch aus dem Dienste geschickt zu werden. Im Grunde war ihm das gar nicht unlieb,tröstete es sich doch jetzt: Plätze gebe es genug und leicht einen bessern! Dabei gedachte es Dessen, was es nun zu leisten vermöge und ließ es im Uebrigen beim Alten be[]wenden, das heißt, nährte neuen Groll, neuen Widerwillen,neue Gleichgiltigkeit im Herzen.

Während auf diese Art Annemareili sich seinen gegenwärtigen Dienst so schwer als möglich schuf, vor lauter Bemühen ihn so leicht als möglich zu machen und sich daneben jene erste Zeit bei der Handwerkerfamilie wie ein Paradies ausmalte, während dem sehnte sich Frau Säuberling nicht minder lebhaft nach ihrer frühern Magd,der alten Lisebeth, im Stillen sowohl als auch laut bei allen möglichen Anlässen. Im Herzen wohl müßte es dieser gethan haben, hätte sie nur die Hälfte all des Lobes gehört, das sie als die Vortrefflichkeit selber schilderte, etwas das ihr früher nie eingestanden worden!Begreiflich giengen diese Erhebungen stets Hand in Hand mit den Klagen über Annemareili. Daß aber dieses gleichwohl immerfort noch im Dienste behalten wurde,mochte doch seine Ursache darin haben, daß eben Frau Säuberling derlei Unzufriedenheiten auch etwas gewohnt sein mußte und sie dadurch nicht so sonderlich angegriffen wurde oder, auf Erfahrung gestützt, nichts Besseres nachher erwartete.

Gleichviel, Herrschaft und Magd machten sich einmal das Leben herzlich sauer, mit allem Fleiße. Am meisten litt indeß Annemareili, das ja sonst nichts hatte, woran es sich schadlos halten konnte, das nur auf sich angewiesen war, nicht hierhin gehen und sich erholen oder mit Dem und Jenem zerstreuen und wieder erheitern konnte, das »eben einem fremden Willen unterworfen []blieb. Es sah in des Mädchens Herzen bald nicht mehr allein gegen seine Herrschaft so feindlich wild und unzufrieden aus, diese Stimmung verbreitete sich auch weiter hin. Eins hieng am Andern, mit oft unsichtbaren Faden,aber untreunbar. Wenn jetzt Annemareili, in seiner Entfremdung von der Herrschaft, den Dienst nicht mehr als Hauptsache ansah die ihm am nächsten lag, der Aerger, der Groll, die eigne innre Unzufriedenheit, die damit verbunden waren, arbeiteten doch an ihm überall und Gefühle bekamen wieder bleibend die Oberhand, die es seit dem Verlassen seiner Stiefmutter nicht mehr genährt hatte. Sie machten es unglücklich und verstimmt, auch außer dem Dienste, gereizt und empfindlich noch gegen Andre als nur gegen Frau Säuberling und Jungfer Emeline;sogar gegen die Wärterin im Spitale, welche es doch stets gut mit ihm gemeint und vor der es immer einen so großen Respekt gehabt, daß es bei nichts Höherm geschworen hätte, als bei deren Aussprüchen. Dieser Wärterin, die es noch immer von Zeit zu Zeit besucht,hatte es wohl auch über seinen bösen Dienst geklagt:wie es nichts recht machen könne und so launisch und geringschätzig behandelt werde. Seine Freundin hatte ihm erst zur Geduld gerathen und nachher, als es sich noch leidenschaftlicher beklagt, formlich zugesprochen und es an seine frühere Lage und den ehemaligen Zustand erinnert. Sie schlug ihm auch Stellen in der Bibel auf und wies sie ihm, wie die: ihr Knechte seid unterthan den Herrn, nicht allein den gütigen und gelinden,[76] sondern auch den wunderlichen! oder jene, da der Engel zur Hagar spricht, die gezüchtigt von ihrer Frau,der Sara, davon gelaufen: Hagar, Sarai Magd, wo kommst du her und wo willst du hin? Sie sprach:ich bin von meiner Frau Sarai geflohen. Und der Engel des Herrn sprach: kehre wieder zu deiner Frau und demüthige dich unter ihre Hand! .... Auf Derlei wußte Annemareili freilich nie viel zu erwidern, darum schwieg es dazu, aber etwas Fremdes legte sich dabei allmälig zwischen sein bisheriges hingebendes Zutrauen und die Wärterin. Ja es wurde sogar empfindlich,meinte im Stillen: so eine Wärterin habe lange gut reden, gut zusprechen, die sitze im Warmen, wisse nicht was Alles eine Magd sich müsse gefallen lassen, die alle Augenblicke abhängig sei von der fremden Laune vornehmer Leute, welche nicht wüßten wo hinaus vor Langeweile. Oder es dachte gar: die Wärterin nimmt gegen mich Partei, sie hält's mit den Vornehmen, und die Besuche im Spital nahmen ab, wurden nicht nur seltner, sondern auch immer kühler und kürzer,Annemareili konnte es selbst nicht sagen wie? So war es denn einerseits ganz wieder das alte Mareili geworden,nur hatte es nicht mehr das harmlose kindliche Herz,das es doch damals bei aller Verwahrlosung und Verwildrung und trotz Schmutz und Lumpen noch besessen;es schüttelte nicht mehr Alles so leicht ab oder schlug es in den Wind, sondern ließ sich nun jede Freude dadurch vergällen, fühlte sich einsam, verlassen und []ausgestoßen, mit einem Worte, recht elend und unglücklich und dieß bei all dem größern Lohne, nach dem es sich einst so gesehnt, und mitten in dem vornehmern Dienste,um den es bei seiner frühern Herrschaft andre Mägde so manches Mal beneidet.[]Sithentes Capitel.

Ein Tröster in hellblauer Jacke.Es war in dieser traurigen Zeit, daß Annemareili eine neue Art von Bekanntschaft machte. Um Mannsleute hatte es sich bisher wenig bekümmert und wenn ihm Der oder Jener zuweilen auch ein Compliment gemacht, sich zärtlich gezeigt oder einen kleinen Scherz erlaubt hatte, so war es Annemareili nie eingefallen,etwas Besondres darin zu erblicken und ein Gewicht darauf zu legen; gewöhnlich war schon die Minute nachher Alles wieder vergessen! Fleisch, Brod und Milch wurden jeweilen in's Haus geliefert und so hatte schon das tägliche Sehen und Verkehren ganz von selbst eine Art Vertraulichkeit zwischen dem Mädchen und dem Fleischer, Milchmann und Bäcker begründet, die aber lange bloß eine ganz äußerliche blieb und nichts weniger als innig wurde. Als indeß Annemareilis Unzufriedenheit sich stets häufiger in einem unwilligen Gesichte,einem schlechtunterdrückten Seufzer oder in verweinten Augen kund gab, da war es natürlich, daß jene Bekannten sich nach der Ursache erkundigten und auf ihre Weise Antheil nahmen an dem Kummer, der nur zu [79]bereitwillig in Anspielungen und Klagen gegen die Herrschaft sich Luft machte. Der Bäcker vor allen zeigte sich sehr mitfühlend, konnte Annemareili nicht genug bedauern, machte ein Gesicht gerade als gienge all das Unrecht ihn selber an, ja noch doppelt, und sprach weiche freundliche Worte, wie nur das theilnehmendste Herz sie einzugeben vermag. Daß er zwischenein wacker auf Annemareilis Herrschaft loszog, gehörte nothwendig dazu, um ihm die volle Anerkennung und das ganze Zutrauen der geplagten Magd zu gewinnen. Und wie ein Pfarrer verstand es der Joseph zu trösten, was für ein junges und lustiges Blut er sonst war. Annemareili aber schüttete das Herz stets rückhaltloser vor ihm aus,that ihm doch dieses freundliche Mitleid, jener beleidigenden Geringschätzung gegenüber, jetzt so besonders wohl und ward ihm ein Labsal zu einer Zeit, in der es sich allein und verlassen vorkam und von Niemandem geliebt in der weiten weiten Welt. Doch mit der Freude an dieser Theilnahme schlich sich auch sachte ein Wohlgefallen an dem Joseph selber ein und es war dem Mädchen bald weniger darum zu thun, das Herz zu erleichtern, als um das Vergnügen des Zusammenseins mit dem neuen Freunde selber, in dessen Gegenwart die alte Unzufriedenheit und das bittre Gefühl der Verlassenheit sich mehr und mehr verminderten. Durchlief doch auch dieser seinerseits rasch die Stufen der theilnehmenden Seele, des wohlmeinenden Freundes, des

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Vertrauten, bis er zuletzt nicht gar weit von der des zärtlichen Liebhabers angelangt war.

So kam es, daß Joseph gar oft länger unter der Hausthür weilte, als unumgänglich nöthig war, das benöthigte Brot, oder die Semmelwecklein, abzugeben und daß Annemareili die Rappen und Batzen schon lange wieder in seinem Beutelchen und das Beutelchen im Sacke hatte, während doch der Bäcker noch immer bei ihm stand und sie sich eine Menge mittheilen mußten,das weder auf die Weiße des Mehles, noch auf die Luftigkeit des Teiges sich bezog. Natürlich blieb es hiebei nicht: es war merkwürdig, wie auch zu andern Zeiten Annemareili gerade das Brennöl oder der Pfeffer oder Lampendochte ausgiengen und es sich nothwendig dann just damit versehen mußte, wann der Joseph eben unten am Hause vorbeispazierte; wie gleicher Weise den Joseph sein Weg so oft am Brunnen vorbeiführte, wann Annemareili eben Wasser holen wollte und da wartete,nicht anders wie die leibhafte Gefäͤlligkeit, bis alle andern Mägde ihre Zuber gefüllt.“ Ja, manche Maaß floß noch über den eignen Zuber hinaus, während dem das Mädchen hinter'm Brunnstock, in noch reichlicherm Gusse als die Röhre das Wasser sprudelte, mit dem Bäcker von den eignen Angelegenheiten sich unterhielt. Mehr als ein Mal traf sich's sogar am Abend, wann der messingne Glockengriff noch blank zu putzen, oder die Steinplatte vor'm Hause der Frau Säuberling zu fegen,die Straße Samstags zu kehren war, daß auch da wieder [81]der theilnehmende Joseph sich in der Nähe befand und natürlich eine Weile stehn bleiben mußte um Annemareili doch auch ordentlich bedauern oder freundlich grüßen,trösten und von seiner Aufrichtigkeit und seinem Wohlwollen unlerhalten zu können. Und wer wollte es dem armen Mädchen in solchen Fällen zum schweren Vergehen anrechnen, wenn es den Glockengriff eben Glockengriff sein und ruhig hängen ließ, in die Steinplatte keine besondern Vertiefungen hineinrieb und das Straßenpflaster nach Kräften schonte, damit es nicht noch holpriger werde?

Geraume Zeit spann sich dieß Verhältniß so fort,da drohte ihm plötzlich Gefahr von einer unerwarteten Seite. Vreneli, eine Bekannte Annemareilis, die in der Nachbarschaft diente und seine Landsmännin war,sagte zu diesem eines Abends beim Wasserholen, als der Joseph eben erst weggegangen: ich glaube der Bäcker macht dir jetzt den Hof, Annemareili? Hat er denn die Lene, die beim Goldschmied an der Silbergasse dient,nicht mehr zu seinem Schatze? Und als Annemareili ein unangenehmes Befremden hierüber nicht ganz zu verbergen vermochte, fügte die Freundin noch warnend bei: nimm dich nur in Acht, er ist ein Schlimmer und du wärest nicht die Erste, die er wieder sitzen ließe!Dieß gab Annemareili die Besonnenheit und den Muth zurück. Es gebrauchte sie um seine Gleichgiltigkeit auszudrücken und die Versicherung zu geben, an dem Bäcker liege ihm nicht halb soviel als Vreneli meine, er sei auch

6 [82]gar nicht sein Liebster, bewahre! im Gegentheil!und seinetwegen könne er sich heute noch an zehn Andre hängen. Man sei noch nicht versprochen, wenn man ein Mal zwei Worte zusammenrede!

Vreneli war erfahren genug, um das Alles ohne Widerrede anzuhören und nur halbmerklich auf den Stockzähnen zu lachen und das gerade Gegentheil davon zu glauben. Gegen den Joseph selber, als es ihn wieder sah, benahm sich Annemareili dann freilich nicht so gleichgiltig und kühl. Am Anfang zwar wohl auch,that fast, es kenne ihn nicht mehr, verlor kein überflüssiges Wörtlein, Ihh und Nein war so ziemlich Alles.Aber hinter dieser frostigen Begegnung brannte ein heißes heißes Feuer, das der Eifersucht, und es züngelte gar bald durch die starre Decke hindurch in allerlei Anzüglichkeiten und Sticheleien, bis dann zuletzt die nackten Vorwürfe und die Aufkündung aller Freundschaft nachfolgte und Annemareili ihren Verehrer hieß der Lene seine Aufmerksamkeiten und Zartlichkeiten erweisen, dort würden sie besser am Platze sein! Joseph merkte nun was für ein Wind hier vorbeigepfiffen, aber er war nicht der, welcher vor einem Winde zitterte. Was denn das bedeuten solle? fragte er wohl verwundert, aber gelafsen wie das gute Gewissen selber. Ja, er habe einmal die Lene nicht ungern gesehen, sei sogar spazieren mit ihr gegangen. Das hab er theuer genug bezahlt,Weg und Steg habe sie ihn nachher verfolgt und es sei ihm schier unmöglich geworden, sich von der ver[83]liebten Person wieder loszumachen, nachdem er gesehen,sie sei nichts als eine Gans, die sich viel einbilde auf ihre helle Haut und die katzgrauen Augen und auf ihre Gestalt, die mit einem Besenstiel die gröste Aehnlichkeit habe. Hoffährtige Kleider besitze fie wohl, das sei wahr, aber er trage nur Mannskleider und keine Weiberröcke, darum hülfe ihm Lenens einziger Vorzug wenig oder nichts!

In diesem Tone gieng's noch eine Weile fort, der Lene läutete es gewiß Sturm in den Ohren, Annemareili aber hörte es gar zu gerne, wie über die Nebenbuhlerin losgezogen ward mit allem Spott und wie der Joseph hoch und heilig betheuerte, nur Narrenthei mit ihr getrieben und sie zum Besten gehabt zu haben. Es unterbrach ihn deßhalb auch nicht, eine Weile lang, selbst nachdem der Zorn sich ganz gelegt, sondern spielte noch die Ungläubige fort und machte mit aller Anstrengung ein recht saures Gesicht, nur um noch neue Ehrentitel der Lene zu vernehmen und die eignen vortheilhaften Seiten dagegen immer glänzender herausstreichen zu hören. Nach diesem allem ward natürlich der Friede und das frühre Verhältniß wieder gründlich hergestellt,ja, Joseph hat nur noch mehr Boden gewonnen bei Annemareili als vorher. Eine besondre Liebeserklärung oder ein Versprechen erfolgte zwar auch jetzt nicht zwischen den Beiden, so wenig als dieß früher einmal geschehen,aber immer mehr hatte sich eine Vertraulichkeit, ein Verständniß festgesetzt, die im Grunde doch nichts Andres

6 *[84]bedeuteten und es bedurfte sicher nichts als noch eines ganz zufälligen Anlasses, um unzweifelhaft auch dem Blindesten, wie zum Beispiel dem Annemareili selber,des Kindes wahren Numen kund zu geben. Dieses Tupflein auf's J ließ denn auch nicht zu lange mehr auf sich warten.

Wie glänzend für das Verhältniß diese erste Gefahr war abgeschlagen worden, eine zweite drohte von Seiten der Herrschaft Annemareilis, die mit dem, Frauenzimmern in solchen Punkten eignen, Scharfsinne schon längst etwas gewittert hatten, ohne aber auf Bestimmtes gekommen zu sein, da eben der Bäcker durch seine officielle Stellung hinlänglich gesichert blieb. Annemareili versalzte wohl fast regelmäßig die Suppe, ließ die Milch in's Feuer laufen, Gemüse anbrennen, war oft nirgend zu finden, blieb bei Einkäufen oder Aufträgen die dreifache Zeit aus und schien seinen Kopf zuweilen hundert Stunden weit entfernt vom übrigen Körper zu haben. Dieß Alles weckte nicht nur einen Verdacht, sondern bekräftigte ihn auch nach und nach bis zur Gewißheit, eine eigentliche Thatsache jedoch kam dadurch noch nicht an's Tageslicht.

Es wäre vielleicht noch lange so fortgegangen und Frau Säuberling wie Jungfer Emeline hätten sich vergebens die Köpfe zerbrochen, wenn nicht zufällig eines Abends in der Dämmerung erstre ihre Magd im Höflein hinten bei einem Mannsbilde überrascht hätte, noch zur rechten Zeit, ehe beide unter dem vorspringenden Dache [83]des Holzschuppens vor der Nahenden sich zu bergen vermochten. So waren sie überrascht, eine halbzornige und scheltende, halb furchtsame Stimme verrieth dieß nur zu gewiß. Frau Säuberling schrie von Landjägern und Polizei, von Lumpenpack und Kerlen und erhob einen Lärm nicht anders, als wären Diebe und Mörder eingebrochen in ihr Haus bandenweise; vermochte sie doch in der Dunkelheit den Verwegnen nicht zu erkennen.Dieser aber, durch das Geschrei in Schrecken gesetzt,ersah seinen Vortheil, schwang sich beim Holzhaus über die niedrige Mauer und flüchtete durch die noch offen stehende Hinterthür auf die Straße hinaus und in's Freie, während Annemareili, verlegen wie ein begossner Pudel, den nun um so saftiger werdenden Ergüssen und Ausbrüchen der Frau Säuberling Stand halten mußte. Daß Emeline, durch den Lärm herbeigezogen,über das Unerhörte das sie vernahm, in heftige Krämpfe verfiel, verbesserte die Lage der Unheilstifterin keinesweges. Emeline sowenig als ihre Mama, konnte sich ein schwärzeres Vergehn von einer Magd denken, als das einer sogenannten Bekanntschaft oder Liebschaft und eines Stelldichein „hinterm Haus und Höflein“, wie es in jenem alten Liede heißt, das immer jung bleibt.Jedes Andre wäre Annemareili vielleicht noch verziehen worden, nur dieß nicht, besonders auch, wie es in der Strafpredigt ausdrücklich hieß, weil noch Alles ohne Wissen und hinter'm Rücken der Herrschaft in Dunkel und Verborgenheit vor sich gegangen! als wäre es [86]sonst der Brauch, bei Dergleichen einen Trompeter vorauszuschicken. Daß Annemareili eine schlechte Person genannt ward, eine Dirne, die den Mannsleuten nachziehe und sie locke, die weder Ehre noch Reputation im Leibe habe, das war gar nicht das Aergste was jetzt das Mädchen zu hören bekam, auch nicht die Drohung, man werde es mit dem Landjäger zur Stadt hinausführen lassen, wo es dann seinem „Kerle“ nachlaufen könne!Mochte der erste Unwille und die Aufwallung, welche Alles in einem viel grellern und nachtheiligern Lichte erscheinen ließen, mit Schuld sein an diesen verletzenden Vorwürfen, Annemareili, das sich vom grösten Schreck erholt, war sich gleichwohl zu wenig eines wirklichen Unrechts und einer Unehrenhaftigkeit in diesem ganzen Handel bewußt, fühlte zusehr all den alten Groll jetzt mit einem Male in sich aufkochen, um diese Beschimpfungen und Drohungen ruhig einzustecken. Zugleich aber weckte dieser Angriff,zum ersten Mal ihm selber deutlich, auch das schlummernde Bewußtsein, es habe den VJoseph wirklich lieb und das Verhältniß zu ihm sei nicht bloße Freundschaft,wie es bisher gemeint, sondern etwas Innigeres und Bindenderes. Dieß verlieh aber dem Mädchen jetzt nur um so größern Muth, schämte es sich doch desselben nicht nur nicht, sondern war im Gegentheile stolz darauf und bereit, tapfer dafür zu kämpfen. Wie damit Oel in's Feuer gegossen wurde, ist indeß bald errathen.Zu der Leichtfertigkeit und Zuchtlosigkeit komme nun noch Frechheit und Unverschämtheit! meinten die Beiden und [87]fuhren um so heftiger über Annemareili her, das natürlich auch warm ward und sich nicht allein auf die Vertheidigung beschränkte. Kurz, hin und wider fielen scharfe Hiebe, Keines wollte was schuldig bleiben, ein Wort gab das andre, ja, die flinkste Feder hätte es bald aufgeben müssen Jedes nachzuschreiben, ein scharfes Ohr sogar nur Alles zu hören, geschweige zu verstehen,besonders wenn die Zwei oder alle Drei zu gleicher Zeit sprachen, schrien, schalten. Soviel indeß ward dabei doch ausgemacht und das Ende vom Liede: Annemareili suchte auf Johanne einen neuen Dienst und Frau Säuberling eine neue Magd, Punktum!

Auf dieses Hagelwetter trat einige Zeit Stille ein,wie es gewöhnlich geht und Herrschaft wie Magd sparten ihre Worte, nicht anders als wären sie Gold. Annemareili verrichtete den Dienst gut, zum Trotz gut, und Frau Säuberling und Emeline tadelten und commandierten nichts, auch aus Trotz. Wenn sich beide Parteien nur aus anderm Grunde, als aus purer Unzufriedenheit gegen einander so benommen hätten, es würde sich kein erträglicheres noch angenehmeres Leben haben denken lassen. Bloß hie und da so ein kurzes schnauziges oder trocknes Wort, eine halbe Frage, die wie ein Vorwurf klang, zeigten, daß es unter der ruhigen Oberfläche nichts weniger als heiter und friedlich aussah.Zubald nur kam auch Alles wieder in's frühre Geleise,beide Theile um ein gutes Stück erbitterter und feindseliger als vorher, so daß sich ein Jedes im Ernst auf [88]die Erlösungsstunde am Johannistage sehnte und auch gar kein Hehl daraus machte.

So stand es etwa acht Tage vor Johanne, an einem Sonntag Morgen, da Annemareili bereit war in die Kirche zu gehen und sich mit seinen Geschäften darauf eingerichtet hatte. Um einer der gewöhnlichen Kleinigkeiten willen war wieder ein heftiger Auftritt vorgefallen,am heiligen Feiertage sogar. Das Mädchen, schon im Kirchenputz und das Gesangbuch in Händen, wurde erst noch tüchtig ausgescholten und ihm das Gedächtniß an beleidigende Worte und Hader, als Vorbereitung gleichsam zur bevorstehenden Sonntagserbauung, auf den Weg mitgegeben. Zwar hatte es noch unter der Schwelle Einiges, das es hierauf schuldig zu sein meinte, herausgeben wollen, aber schmetternd war ihm die Thüre vor der Nase zugeschlagen worden. So gieng es voll Zorn und Feindschaft wohl in die Kirche, ob es aber gar viel von der Predigt vernommen und beim Unservater sehr andächtig gewesen, ist die große Frage, lag ihm doch beim Verlassen der Kirche der alte Groll noch aller unverdaut im Magen.

Siehe, da an der Ecke des Gäßleins steht der Joseph und scheint auf Annemareili zu warten, tritt ihm auch richtig entgegen, wie er seiner ansichtig wird und grüßt es und ladet es ein zu einem Spaziergange auf heute Nachmittag. Annemareili war noch nie mit Joseph zusammen spaziert und so nothwendig es auch gerade heute sein schweres Herz erleichtern und das erlittne

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Unrecht einer mitleidigen Seele anvertrauen sollte, so sperrte sich gleichwohl in seinem Innern etwas gegen den Vorschlag und verbot ihm gleich Ja zu sagen.Wenn sie Jemand anträfe, was man da denken würde?wendete es darum erst sich selber und dann gegen den Jofeph ein. Nein, es schicke sich das nicht, so allein! Der Bäcker aber suchte auf alle möͤgliche Weise diese Bedenken auszureden und als er am Ende versicherte, seine Schwester werde ja auch dabei sein und wahrscheinlich noch bringe die das Vreneli mit und dessen Bruder, da wurde Annemareilis Widerstand schwächer und schwächer,bis es zuletzt ein schüchternes Ja sagte. Nur die feierliche Bedingung stellte es dabei, Abends zur rechten Zeit wieder zurück zu sein: die Herrschaft gehe in eine Visite heute und es müsse dann noch eine Suppe kochen! So ward Zeit und Ort der Zusammenkunft abgeredet und das Mädchen sah mit eben so viel Freude als Unruhe und heimlichem Herzklopfen beidem entgegen. Es achtete sogar in dieser Erwartung weder der unfreundlichen Gesichter noch der lieblosen frostigen Worte, die es inzwischen daheim hinzunehmen hatte, so kräftig drang selbst durch diesen trüben kalten Nebel verklärend und wärmend die milde Sonne der Liebe, welche auch über das Herz eines armen Annemareili himmlische Strahlen gießt.[]Ichtes Capitel.Ein Spaziergang. Joseph kehrt ein; Annemareili auch, aber an anderm Orte.Als Nachmittags zur festgesetzten Zeit Annemareili unter dem Thore sich einfand, wartete hier bereits der Joseph seiner. Aber er war ganz allein und da das Mädchen einigermaßen verlegen nach seiner Schwester und nach Vreneli fragte, so hieß es: erstre könne nicht mitkommen, ihre Frau sei krank geworden, das Vreneli aber und sein Bruder seien schon versagt gewesen. Nach Ueberwindung von einigem Widerstreben, wozu es jetzt doch nicht mehr die Zeit war, und nach der wiederholt abgegebenen Versicherung, ja bald wieder umzukehren,giengen denn die Beiden einzig weiter; Annemareili erst befangen, einsylbig, von Joseph entfernt und hie und da nach den Leuten sich umschauend, die ihnen begegneten oder nachfolgten, mehr als ein Mal auch das Nastuch vor den Mund haltend, als wolle es sein Gesicht,oder wenigstens seine Verlegenheit, dahinter verbergen.Um so mittheilender und zuthunlicher war dagegen der [91]Joseph und nahm sich auch in seiner neuen hellblauen Jacke, dem buntseidnen flatternden Halstuche und dem weißen Hütlein über'm Ohr, gar nicht übel aus; soviel mußte selbst seine Begleiterin bei all ihrer Verlegenheit eingestehen. War nun dieß die Ursache oder daß er so liebreich nach dem Unrecht, das Annemareili erst heute wieder erlitten, sich erkundigte und sich's sehr zu Herzen nahm, oder aber wirkte der heitre schöͤne Sonntag, der kein Wölklein am Himmel trug, so wohlthätig auf das arme Mädchen; gleichviel, es thaute nach und nach auf und vergaß allmälig alle Bedenklichkeit und scheue Zurückhaltung.

Schon lange war Annemareili nicht mehr spazieren gewesen, nicht mehr draussen durch Flur und Feld gegangen zu seinem Vergnügen und nun noch gar an der Seite Dessen, den es aufrichtig liebte. Noch nie waren ihm die Wiesen so lieblich grün erschienen, die fernen Berge so mit einem eignen Dufte übergossen, so prächtig und zauberhaft der Wald, worin sonst nur das dürre Reisig als Brennholz seine Theilnahme erweckt. Heute schien ihm ja jedes Blümlein zuzulächeln und es mit besondrer Bedeutung anzublicken, nicht bloß als Futter, das die Geißen gerne fressen. Alle Herrlichkeit und aller Reichthum der Welt, daran es bisher vorbeigegangen, wie an verschlossnen Schätzen, rings lagen sie nun vor ihm offen; was es sonst nicht beachtet, was ihm ganz gleichgiltig gewesen, heute fiel's ihm auf, heute kam es ihm merkwürdig vor. Ganz anders, meinte es,[92]scheine jetzt die Sonne als in allen den zwanzig Jahren,die es schon auf der Welt gelebt: milder, erquickender,duftender! Es nahm jetzt Theil an Allem wie an seinem Eigenthume, was ihm sonst fremd gewesen, was höchstens nur seinen Neid erweckt; mit einem Worte: neue Sinne schienen in dem Mädchen aufzuwachen, die es zu einem neuen Menschen umwandelten.

Vor diesem sonnigen, neuerstandnen Frühlingstage in und um Annemareili schwand nicht nur immer mehr die steife Zurückhaltung und spröde Blödigkeit, sondern auch der ganze trübe, freudlose Winter seines Dienstlebens und alles Dessen was daran hieng. Abgestreift lagen Bitterkeit und Aerger, mit Sorgen und Mühen auf einem kleinen unscheinbaren Häuflein, weit weit hinten, und zwischen diesem grauen Häuflein und dem Mädchen wogten jetzt die Saatfelder, blühten und grünten die Matten, rauschten schattige Bäume und klangen die süßen schmeichelnden Worte des Geliebten. An Annemareili war da keine Spur mehr von der hart gehaltenen, gescholtnen und fremder Laune bloß gestellten,mißvergnügten Magd zu finden, es lebte und webte ja allein in den seligen Gefühlen des zum ersten Male liebenden Mädchens, dem eine neue herrliche Welt in das scheu sich oöffnende Herz eindringt. In dieser Seligkeit schwelgte und verlor sich die Glückliche und wie sie sich darin vergaß, so gedachte sie auch nicht der Zeit,nicht ihres Dienstes, der ja so gar nicht paßte zu dieser Stimmung, zu dem Himmel, worin sie lebte.[93]Aber Joseph selber, ohne es zu wollen, erinnerte Annemareili daran und riß es aus seinen selbstvergessnen Liebesträumen. Ueber eine einsame offne Anhöhe waren die Beiden durch ein lichtes Gehölz alter Eichen gewandert, auf dessen hellgrünem Rasen die Schatten der Blätter und Zweige mit den durchdringenden goldnen Sonnenstrahlen spielten und sie jagten, je nach der Laune des lauen Windes, der bereits leise die Nähe des Abends anmeldete. Sie traten eben wieder in's Freie und schritten über die Wiese den Hügel hinunter, dem Dorfe zu, das grade zu ihren Füssen lag. Es sei Musik im Schlüssel und lustige Gesellschaft! sagte da Joseph und lud seine Begleiterin ein zu einem Glase Wein und dann zu einem Tanze. Dieß weckte Annemareili plötzlich auf, paßte doch weder der Wein noch die Trinkstube noch das Gedränge und Getöse des Tanzsaales zu seiner Sticamung. Mit dem Erwachen aber trat ihm auch die ganze übrige Wirklichkeit wieder vor Augen, sein Dienst und daß es zur rechten Zeit in der Stadt sein müsse. Indeß war es doch nicht allein dieses bloße Pflichtgefühl, sondern eben mit jener innre Widerwille gegen den Wirthshauslärm und die vielen Augen dort,und die Furcht vor der Störung seines stillen Glückes,was das Mäͤdchen so entschieden und fast nöthlich auf's Nachhausegehn dringen hieß. Dort auf dem Tanzboden gehörte ja sein Joseph ihm nicht mehr ganz einzig an,und dort waren eine Menge fremder Menschen, vor welchen es sich verbergen und verstellen mußte. Joseph [94]jedoch schien diese Bedenken nicht zu theilen, ja nicht einmal recht zu verstehen, denn er meinte wirklich, nur Aengstlichkeit und Dienstrücksicht seien die Ursachen des Widerstrebens. Deßhalb auch suchte er Annemareili dieselben auszureden: Wenn auch die Herrschaft schelte,daß es zu spät nach Hause komme, das lasse sich ja leicht abschütteln, fressen könnten sie es doch nicht und in wenig Tagen sei Johanne. Es wäre thöricht fich um eine Lust zu bringen, Dank werde ihm doch keiner dafür; wer sich sechs Tage lang abschinde und halb todt ärgre, der dürfe sich am siebten Tage wohl ein Vergnügen erlauben, dafür sei ja eben der Sonntag da.Es sei gerade Recht, den Narren einmal einen Possen zu spielen, so erführen sie, daß man sie gleichfalls cujonieren könne wenn man wolle!

Dieß Zureden Alles paßte eigentlich nicht auf Annemareilis Bedenken, aber es beschwor den in der Tiefe ruhenden Groll herauf und wie mit einem Zauberschlage standen all die erlittnen Unbilden grell vor des Mädchens Seele, zuvorderst die Mißhandlung am heutigen Morgen. Ein süßes Rachegefühl überwältigte schnell die milden und liebevollen Empfindungen, welche sein Wesen noch den Augenblick zuvor so ganz ausgefüllt und Hand in Hand damit trat das Bestreben auf, dem Liebsten einen Gefallen zu thun und ein Opfer zu bringen, sich und ihm zum Beweise wie ganz es ihn liebe.Was es denn sonst auf der Welt habe? warf es selber die bittre Frage der Unruhe und der abmahnenden [] 95 Stimme seines bessern Innern entgegen, das sich gleichwohl noch widersetzte und Annemareilis Herz mit einem unerklärbaren Bangen erfüllte.

Unter diesem ungleichen und immer matter werdenden Kampfe der doppelten Versuchung mit dem zum ängstlichen Gefühle zusammengeschrumpften Gewissen,hatte sich das Mädchen von Joseph stets näher an das Dorf herannöthigen lassen. Die Schatten der Bäume fielen schon länger über die Wiese hin, rundum war es stille, nur die grellen Geigenstriche, welche wilde Tanzweisen spielten, drangen vom Wirthshause zu den Beiden herüber und sie sahen in der Ferne an den offnen Fenstern des Saales mit rasender Eile die Paare vorüberwirbeln. Josephs Begier schien sich daran noch ungestümer zu entzünden, während Annemareilis Kampf dadurch mehr erschwert ward. Er drängte stärker, legte seinen Arm um das Mädchen und blickte ihm mit heißen Blicken und doch so zärtlich in die Augen, dann neigte er sich flüsternd zu seinem Ohre. Annemareili zitterte im Sturme der erregten Gefühle, heftig klopfte ihm das Herz, es hielt sich fest am Geliebten und widerstrebte doch und fürchtete sich vor ihm, und da er's noch heftiger in den Arm preßte, fuhr es erschrocken zusammen.Er aber lachte hierüber halb, halb spottete er, daß es so einfältig thun könne! Wider den eignen Willen folgte ihm das Mädchen Schritt um Schritt, das erste, das zweite Haus des Dorfes lag schon hinter ihnen, immer schriller und näher erklang die lustige Musik. Da ver[236]stummten auf dem Tanzboden die Geigen und, Pfeifen einen Augenblick, es folgte eine Pause, lautlose Stille herrschte und auch das gefangne und geängstete arme Annemareili athmete einen Augenblick freier auf. Mit einmal erhob sich ganz in der Nähe eine laute Stimme.Das Mädchen stutzte, erschrak, ihm war als rief ihm seine eigne Mutter selig, wenigstens hatte es diesen Klang schon ein Mal gehört vor langer langer Zeit, so bekannt kam er ihm vor und es wußte sich doch nicht zu befinnen darauf. Unbeweglich mußte es stehn bleiben,allem Drängen von außen und von innen zum Trutze,mußte lauschen, denn diese Stimme übertönte alle andern Stimmen, die es noch erst betäubt hatten. Und doch war es nur die zitternde Stimme eines alten Weibleins, das laut seinen Psalm zur Abendandacht vor sich hinlas, gerade in dem niedern Stüblein vor defsen Fenster Joseph und Annemareili in dem Augenblicke standen. Unwillkürlich hatte letztres hineingeblickt in das arme Kämmerlein: an dem schweren braunen Tische saß eine alte Bauernfrau in dürftigem Sonntagsstaate, den Rücken dem Fenster zugekehrt, vor sich aber ein dickes Buch offen. Auch dieses Buch mit dem Messingbeschläge dran, der Tisch, jenes ärmliche, aus hundert Lappen zusammengeflickte Bette, der hohe zerfallne Lehnstuhl, das Spinnrad dort am Kunstherde, Alles dieß hatte ja Annemareili auch schon ein Mal gesehen.Gefesselt starrte es vor sich hin und hieng der dunkeln verwischten Erinnerung nach, die nun so ganz nahe und [97] unmittelbar vor seinen Augen stand und wozu es doch den Schlüssel nicht finden konnte. Da vernahm es die Worte:

„Meine Augen sehen stets zu dem Herrn, denn er „wird meinen Fuß aus dem Netz ziehen. Wende dich zu „mir und sei mir gnädig, denn ich bin einsam und elend.„Die Angst meines Herzens ist groß, führe mich aus „meinen Nöthen. Siehe an meinen Jammer und Elend „und vergieb mir alle meine Sünde! Schlecht und „recht, das behüte mich, denn ich harre deiner! “

Annemareili klangen diese Verse nicht anders als spräche sie eine Stimme in seinem eignen Herzen. Das Weiblein aber wandte sich da auf ein Mal gegen das Fenster und wie ein Blitzstrahl fuhr's durch des Mädchens Seele, denn plötzlich stand ihm wieder vor den Augen, wie es einst bettelarm, todtmüde und von Krankheit gebrochen an dieser selben Stelle, wo es jetzt sich fand, ohnmächtig auf den Spänhaufen niedergesunken,wie auch eben jenes Weiblein es gewesen, das seiner sich erbarmt, in dieß Stüblein da es aufgenommen, jenes Bette mit ihm getheilt, hinter jenem Spinnrade in dem hohen Lehnstuhle dort an seinem Lager gewacht und das gleiche dicke Psalmenbuch vor sich aufgeschlagen gehabt,mit der zitternden Stimme daraus gebetet und der Kranken und Verzagenden Trost zugesprochen. Dieß Alles drängte sich jetzt in einen einzigen Augenblick und einen einzigen Gedanken zusammen, der so gewaltig wirkte, daß der Zauber, worin das junge Herz gefangen gelegen,jählings daran zerschellte. Es kam Annemareili nicht Dienen und Verdienen.[98]anders vor, als es befände sich zum zweiten Mal in Lebensgefahr: seelenangst ward ihm, die arme Wittwe aber stand da wieder als sein rettender Engel vor ihm.Erschrocken raffte es sich auf, riß sich los von seinem Liebsten, seine zärtlichen wie seine spöttischen Worte vernahm es nicht mehr, es rannte davon ohne Umsehn, der Stadt zu. In einem raschen Gange eilte es nach Hause,sah unterwegs nichts und beachtete Niemanden, an wie viel Leuten es auch vorbeistürmte. Mancher gemächlich heimkehrende Bürger hatte ihm wohl nachgeblickt und behaglich gesagt: da pressierts! Oder ein Andrer: die muß noch das Nachtessen kochen und hat sich verspätet!Aber von dem Allem hatte Annemareili nichts gehört,nur die Geigentöne zuckten noch im Ohr und vor seinen Augen wirbelte und tanzte es, bis es endlich erhitzt und athemlos am Thore anlangte. Hier erst mäßigte sich sein Schritt, sammelte es sich wieder und athmete tief auf.Daheim ließ es sich von seiner Herrschaft geduldig ausschelten ob seiner Verspätung und alle spitzen und unfreundlichen Worte nahm es heute stillschweigend hin;das heimliche Gefühl der Sicherheit, wie dunkel es auch sein mochte, ja das der Errettung, wußte es gleich nicht recht wovor? diese verdrängten jede andre Empfindung.Der Joseph aber war seiner Liebsten nicht nachgerannt,sondern erst verdrießlich und unwillig stehn geblieben,hatte etwas von Narrheiten in den Bart gebrummt und von Gans, am Ende war er dann allein in den Schlüssel hinauf gegangen.[99]Am Dienstag Morgen traf Annemareili das Vreneli am Brunnen an, als es Wasser holte. Dieses erzählte,wie's am Sonntag so lustig gewesen im Schlüssel zu ...*, wie närrisch sei da getanzt worden; es habe keinen (Tanz) versäumt, rühmte es, ein Paar nagelneue Sohlen seien soviel als durch. Der Joseph sei auch dort gewesen und wie der hab's Keiner getrieben; warum Annemareili nicht mit ihm hingekommen? Ob sie vielleicht zusammen etwas gehabt? Denn als es jenen nach seinem abwesenden Schatze gefragt, hab' er nur so leicht weg und mit Lachen geantwortet: Annemareili werde wahrscheinlich in's Betstündlein müssen am Abend! Hingegen hab' er ärger als je, und daß es Allen aufgefallen, der Lene wieder den Hof gemacht, die er doch sonst sitzen lassen und sie nachher auch nach Hause begleitet;die Allerletzten seien die zwei fortgegangen. Er sei halt ein kurioser Kauz, aber doch der lustigste Vogel und man könne ihm nicht gram sein, wenn man auch wollte nicht.Erst vor einer Stunde, fuhr Vreneli fort, als keine Bemerkung Annemareilis erfolgte, erst vor einer Stunde sei es auf dem Markte gewesen, habe noch Suppenhafengemüse holen müssen und sei da der Lene begegnet. Der arme Narr lebe ganz wieder auf und bringe den Mund nicht zusammen vor Freude; sie habe ihm gleich ein Halstuch gezeigt, welches ihr der Joseph verehrt und das wenigstens vier alte Franken gekostet, es sei ganz Seide!

So plauderte VBreneli noch eine geraume Weile in den Tag hinein, Niemand gab ihm Antwort als die 7*[100]sprudelnde Brunnröhre, ja Niemand sogar hörte mehr auf seine Worte, denn vor dem armen Annemareili giengen Brunnstock und Vreneli und Straßenpflaster, die Häuser und die Menschen, Alles im Ring herum. Wie es da den Wasserzuber auf den Kopf gehoben, wie es nach Hause, die Treppe hinauf nach der Küche und dann in sein Kämmerlein gekommen, davon wußte es kein Wort und hätte keine Auskunft darüber geben können,wenn man ihm das Messer an den Hals gesetzt hätte,nicht. In seinem Kämmerlein aber brach es zusammen, fiel auf's Bette hin und raufte sich die Haare, schlug fich die Faust in's Gesicht, schluchzte und rang die Hände,bis endlich ein Strom von Thränen hervorstürzte und den wilden Kampf löste. O, wenn es nur sterben könnte!wimmerte es verzweiflungsvoll; war es ihm doch so ganz darnach zu Muthe. Aber ein gesundes zwanzigjährig Mägdlein stirbt nicht so leicht, wenigstens an der Krankheit nicht, woran Annemareili jetzt litt. Nachdem es sich recht müde geweint und ihm leichter geworden, wie elend und unglücklich es sich noch fühlen mochte, elender und unglücklicher als sonst ein Mensch auf Erden, da regte sich doch gleich wieder in ihm auch jener Trieb, der gegen den Tod kämpft, der den Lebenssatten, welcher sich in's Wasser stürzt, zwingt, die Arme zum Schwimmen zu gebrauchen. Dieser Trieb hieß es, seine alte und beste Freundin, die Wärterin im Spitale, wieder aufzusuchen, die es schon so lange nicht mehr besucht, sondern ganz vernachläßigt in der letzten Zeit, die ihm seither wohl hie [101]und da einmal in Gedanken erschienen, die es aber nicht freundlich empfangen, sondern vor der es sich verläugnet,ja, der es wohl gar den Rücken gekehrt hatte, als fürchte es ihre Warnung, ihre Mißbilligung. Diese Scheu, die Furcht des bösen Gewissens, war nunmehr verschwunden,weggewaschen von den bittern heißen Thränen, und das Mädchen fühlte sich jetzt gerade zu dieser treuen Freundin hingezogen, bekam just eine Sehnsucht nach ihrem Zuspruch, ihren Ermahnungen, lag doch hart hinter denselben, dieß wußte Annemareili, auch die warme Theilnahme, der freundliche gute Rath und der mildernde Trost.

Und es täuschte sich darin nicht, sondern fand bei der Freundin den Halt und all die Anleitung und Unterstützung, welche nach dem ersten Schmerzausbruche nöthig wurden um sich wieder zurecht zu finden und nach allem Irrsale den richtigen Weg zu betreten und zu verfolgen. Wohl stimmte Annemareili am Anfang nicht völlig in den Trost ein: es möge Gott danken, daß die Versuchung so an ihm vorübergegangen und der Unwürdige noch zur rechten Zeit sich in seiner wahren Gestalt gezeigt! empfand das arme Mädchen doch zu schmerzlich nur was es eingesetzt und verloren.

Auf seinen neuen Dienst aber, in den es nun trat,war der Einfluß dieser Erschütterung und innern Einkehr der beste: in aller Stille lebte Annemareili vor sich hin, mied alle „Bekanntschaften“, zur Seltenheit nur machte es einen Spaziergang mit einer Freundin dahin [105]oder dorthin an einem Sonntagnachmittag, nie aber an Vergnügungsorte, wo es laut hergieng. Um so häufiger und lieber dagegen besuchte es die Wärterin im Spitale,die ihm wieder Alles geworden und noch mehr als sie nur jemals gewesen. Bei solch eingezogenem und sittsamem Wesen ward Annemareili bald auch wieder gewissenhafter in seinem eigentlichen Dienste, benahm sich nicht mehr als der verdrossne Miethling und wurde darum selber wohl auch gelitten und gehalten und verblieb Jahre lang bei derselben Herrschaft. Es hatte in der Folge freilich wieder gute und böse Dienste, ehrbar und treu aber war es in jedem und nicht nur auf dem Papier, das sein Abschiedszeugniß enthielt.

Und allmälig und unversehens heilte so unter der kühlenden lindernden Hand der Zeit auch die tiefe Wunde,die Annemareili für unheilbar gehalten: sein Unglück kam ihm selbst nicht mehr so bitter und beklagenswerth vor, ja an den nackten Dornen schlug sogar hie und da wieder das kräftige und frische Grün der Hoffnung und des Lebensmuthes aus. Wie Annemareili sich zum zweiten Mal gerettet gefunden, so glaubte es jetzt auch mit stets lebendigrer Ueberzeugung: so wie es gegangen, sei es gut gegangen und Alles besser geworden, als es nur gedacht und es je verdient.[]Heuntes Capitel.

Annemareili spart. Ein Vetter erscheint am Horizonte.Als so nach längerm Auf- und Niederwogen die Wellen in Annemareilis Herzen sich geglättet und ihre ruhige Fläche wieder einnahmen zwischen den Klippen und Sandbänken der Leidenschaft und der Freudlosigkeit, da war es allerdings nicht zu verkennen, daß das Mädchen im Ganzen doch ernster geworden war.Der heitere leichte Sinn, der wohl in Leichtsinn ausgeartet und in das heftige Feuer der Leidenschaft aufgelodert, der aber auch mit kindlicher Unbefangenheit und Frische die Eindrücke der umgebenden Welt aufgefaßt und wieder zurückgestrahlt, dieser Sinn, jetzt geläutert, aber auch gehärtet im Feuer der Erfahrung,richtete sich immer mehr und mit Vorliebe auf das Währhafte und Tüchtige. Und zwar im innerlichen Leben wie im äußerlichen. Mied Annemareili laute Lustbarkeit und gieng weit lieber der Sammlung nach als der Zerstreuung, und einer ernsthaften Unterhaltung vor einer leichtfertigen, so zog es auch äußerlich ein einfaches aber dauerhaftes Kleid dem Flitter- und Scheinstaate entschieden vor und beneidete nie seine Genossinen, die [104]es in Putz und Mode überholten. Die natürliche Folge hiervon war, daß es weniger Ausgaben als Andre hatte, kleinre sowohl als seltnere, weil ja die soliden Stoffe auch länger hielten. Dadurch aber, und bei der geringen Neigung nach kostspieligen Vergnügen,sammelte sich in seiner Sparbüchse ein von Halbjahr zu Halbjahr stets anwachsender Schatz. Die fleißige Magd erstaunte, als sie zuerst, wie unversehens, diese Entdeckung machte; denn nicht sowohl um zu sparen und Geld anzusammeln hatte sie weder dem Putze noch der Vergnügungssucht gefröhnt, sondern ganz nur aus innrem Sinne, aus dem Ernste ihrer Lebensauffassung, wenn sie es auch nicht mit diesem Namen nannte, was als Herzens- und Gewissensstimme aus der Tiefe in ihr sprach und regierte.

Sieht eine arme Dienstmagd den mit Händearbeit sauer verdienten Lohn als Häuflein selbsterworbnes Geld vor sich liegen, so ist ein erhebendes Gefühl nicht allein natürlich und verzeihlich, sondern ganz gerechtfertigt. Auch für Annemareili war es die gesegnete Ernte der Saat seines Fleißes und seiner Mäßigung und die innre Befriedigung der erfüllten Pflicht schloß sich gerne an dieses gleichsam sichtbare Zeichen und Zeugniß.Der Schatz war ihm lieb, denn wie viel nicht knüpfte fich daran, in Freud und Leid! Wer handkehrum durch einen Wurf, ein Spiel, ein Wagniß Geld scheffelweise gewinnt, der hat freilich nur einen ganz schlechten Begriff von dem Gefühl einer Magd über den sauer verdienten [105]Thaler. Kalt sieht er den Haufen an, ob auch gierig,mit den Sinnen nur, aber nicht mit dem Herzen, denn es lebt ihm ja nichts darin, der Schatz hat keine Geschichte, keine Berechtigung, er ist halt nur gewonnen,nicht verdient, wenn man die beiden Worter schon oft genug verwechselt. Und wie Annemareili sein Schatz lieb war, so trug es ferner den Wunsch, und er mehrte und verstärkte sich, ihn zu wahren und zu vergrößern.Auch das ist recht und löblich, denn auch in äußerlichen Gütern müssen Ernst und Ordnung walten und sie sollen dem Herzen angelegen sein, sind doch auch sie anvertraute Pfunde. Um diese erlaubte Liebe des Besitzes und Mehrens zeitlicher Schätze aber zieht sich eine feine scharfe Linie, jenseits der die sündhafte und abgöttische Liebe sitzt mit lachendem lockendem Angesicht,das Auge voll verführerischen Glanzes und den Mund voll Versprechungen. Diese sucht das Herz über die Grenzlinie hinüberzulügen auf ihr heidnisches Gebiet,der Weg ist ja so eben und glatt, nur der scharfe feine Strich dazwischen. Hat sie es geblendet hinübergelockt,so reckt sie ihre Riesenarme aus und zieht es immer näher an sich, an ihre versengenden Blicke, ihren giftigen Odem, ihre eisige Brust. Schwer entwindet sich der Gefangne und findet wieder den Rückweg und seine Rettung.Ob auch Annemareili sich wird blenden lassen oder ob seine Liebe zu seinem Schatze die Probe bestehen wird? Einstweilen hütete es diesen noch gelassen: die Anfechtung [106]tastete ihm noch nicht daran. Als es den erhaltnen Halbjahrlohn dem frühern beilegte, das es in einer alten Holzschachtel in der Tiefe des Kastenfußes wohl verwahrt hatte, da wog es wohl das schwellende und schwerer gewordne Säcklein mit sichtlicher Zufriedenheit;indeß es langte doch wieder ein großes Silberstück heraus und legte es bei Seite, damit auf die nahe Weihnacht dem Vater und dem Stiefbruder eine freundliche Christbescherung zu kaufen und heimzuschicken. Und als der Thaler so nebenaus auf dem Tische lag, da lächelte Annemareili nur noch inniger und zufriedner denn zuvor,als der fröhliche Geber, den Gott lieb hat.

Das Christgeschenk war Vater und Bruder sehr willkommen gewesen; Annemareili erhielt von dem kleinen Stiefbruder einen Brief voll Dankes und Lobes über die schöne Gabe; man habe sie im ganzen Dorfe bewundert! Die Schwester müßte es doch gut haben und in der Stadt Geld wie Steine verdienen! habe der Schneiderpeterli gesagt, der die Profession jetzt aufstecken und eine Wirthschaft anfangen wolle; schrieb der Junge.Annemareili mußte über den kindischen Brief und über des Schneiderpeterlis gute Meinung unwillkürlich lächeln;doch ein wenig fühlte es sein Selbstgefühl dadurch doch gekitzelt und gedachte seines geheimen Schatzes. Nicht lange nachher langte ein zweiter Brief aus der Heimat an; die Frau reichte ihn Annemareili, als es eben vom Markte nach Hause zurück kam. Verwundert besah es die fremde Handschrift und studierte das Schreiben darauf [] 107 allein in der Küche. Die Suppe, die noch nicht gesalzen war, blieb nun auch ungesalzen, dafür brannte aber das Gemüse etwas an und da es keine Aepfelschnitze waren, noch gelbe Rüben, denen ein braunes Käpplein wohl ansteht, sondern Kohl, so schüttelte die Herrschaft über dieß ungewöhnliche Ereigniß den Kopf,zwar nur stillschweigend, weil ja jedem Menschen einmal etwas Menschliches begegnen könne. Als aber Nachts die Betten im Schlafzimmer nicht aufgedeckt waren,am folgenden Mittag der Salat ohne Essig auf den Tisch kam, und Annemareili, das Vergessne gut zu machen, den Oelkrug hinstellte, da schien der Frau doch etwas nicht richtig zu sein, besonders da sie der Magd zwei und dreimal dasselbe wiederholen mußte, was sonst nie der Fall gewesen. Abends nach dem Kaffetrinken,da Annemareili, wie gewohnt, in der Stube die Tassen spühlte und eben eine noch nicht gewaschne Tasse mit dem Abtrockentuch auswischte, begann denn, nach einem langen forschenden Blicke in das zerstreute Gesicht des Mädchens, die Frau ihrem Erstaunen Luft zu machen.

„Aber Annemareili“, sprach sie freundlich, „wo fehlt es dir denn auch? Du scheinst ja die Gedanken ganz verloren zu haben?“

Und als Annemareili roth ward, aber schwieg, fuhr sie fort: „Hast du vielleicht ungute Nachrichten von Hause erhalten? ich will nicht hoffen; aber seit dem Briefe, den du von daheim bekommen, bist du wie verwandelt. Kann ich dir was rathen oder helfen, so [108]weißt du wohl, du hast mich noch immer bereitwillig gefunden; aber nicht, daß ich in ein Geheimniß dringen wollte, behüte!“

Annemareili stand mit seiner Frau auf gutem Fuße und in Manchem hätte es ihr schon vertraut und ihren Rath begehrt, denn es spürte, obwohl sie Respekt verlangte, war sie doch nicht hochmüthig, und obgleich sie die Herrschaft war, zeigte sie ihm stets ein wohlwollendes und freundliches Herz. Dabei hatte sie ihren Beistand nie aufgedrängt, sondern immer nur angeboten und dem Mädchen den freien Willen gelassen ihn anzunehmen oder nicht, weil sie kein erzwungnes Vertrauen mochte.Annemareili erinnerte sich auch jetzt manches guten und uneigennützigen Dienstes der verständigen und wohlwollenden Frau, und so lockten denn die freundlichen einladenden Worte bei seiner Verlegenheit und Unruhe bald das alte Vertrauen hervor, so daß es rückhaltlos Alles mittheilte:

Allerdings war der erhaltne Brief an der Umwandlung Schuld, der Brief aber kam von Niemand Andrem als dem Schneiderpeterli, einem etwas entfernten Vetter Annemareilis, der nun auf einmal den theilnehmenden und vorsorglichen Verwandten ihm gegenüber herauskehrte, von seiner Liebe und seinem Wohlwollen für Annemareilis Mutter selig sprach, und wie er diese Gesinnung von je auch auf die Tochter übergetragen und deßhalb über deren gegenwärtiges Wohlergehen sich so sehr freue, als ob's sein eignes Kind beträfe. Nach [] 100 dieser gar schönen Einleitung, die für Annemareili ziemlich neu war, kam denn noch die Nutzanwendung, die aber nicht sehr erbaulich klang, wie überzuckert sie aussah. Der Schneiderpeter brauchte nämlich Geld für seine neu angefangne Wirthschaft, er hatte zwar mehr als genug, aber nicht flüssig, es stand noch aus bei guten Freunden, denen er's jetzt nicht wohl zurückverlangen konnte, ohne sie in Verlegenheit zu setzen, was er nicht wollte. Da hatte er gedacht sich an das liebe Bäslein zu wenden, das sein Geld doch nur todtliegen hatte, von fremden Leuten mochte er nichts wissen,Annemareili aber gehörte zur Verwandtschaft, da würde es ihm nicht mißdeutet, er kenne sein gutes Herz. Zudem gönnte er auch niemand so den Vortheil wie diesem, denn er begehrte es nicht umsonst, behüte! Vier Procent Zins wollte er ihm zahlen, oder wenn es das lieber hätte, auch vier und ein halbes: die Anlage sei so sicher als eine und wenn es das Geld zurückverlangte,jeden Augenblick, es brauchte nur zu winken. Die nächste Woche am Freitag gedachte der Schneiderpeter in die Stadt zu kommen, die Handschrift gleich mitzubringen und das Geld dagegen mitzunehmen; er verließ sich darauf, da es ja ihnen beiden gleich dienlich wäre.Unten am Briefe stand noch ein P. 8S: Annemareili sollte Niemand davon sprechen, der Vetter fürchtete, Andre könnten es übel nehmen, daß er nicht bei ihnen angeklopft hatte.

Dieses Alles enthielt der Brief, welchen Annemareili [110] nach einigem Zögern seiner Frau zu lesen gab und den ihm der Schneiderpeter geschickt, obwohl nicht selber geschrieben, nach der saubern Handschrift und dem unleserlich darunter gekritzelten Namen zu urtheilen. Stillschweigend faltete die Frau nach dem Lesen das Papier wieder zusammen und sah das Mädchen an, dann fragte sie ruhig, was sie zu thun gedenke?

Aber das war es ja eben, was dem armen Annemareili die Gedanken genommen und es aus dem ordentlichen Geleise gebracht hatte. Es sah wohl ein, daß sein Geld leicht wo besser und sichrer koöͤnnte angelegt werden als bei dem Schneiderpeter, wie großmäulig der von seiner neuen Wirthschaft reden mochte und von seinem Geldüberfluß, kannte es ja die Verhältnisse des verkümmerten Männleins genau genug. Dann aber leider gehörte dieser doch zur Verwandtschaft, ob er sich früher,da es als verwildertes Mädchen die Geißen gehütet und von der Stiefmutter mißhandelt worden, gar wenig oder nichts seiner angenommen, sondern erst jetzt Theilnahme zeigte, da es die nicht brauchte. Auf dem Lande gilt ein Vetter noch mehr als in der Stadt und die Verwandten hängen fester zusammen; der Schneiderpeter brauchte Geld und Annemareili hatte vorräthiges unbenützt im Kastenfuß liegen: auf das Gesuch nur so kurz Nein sagen konnte es doch auch nicht, denn einen andern Grund, als den des Mißtrauens, wußte es kaum anzugeben, dieses aber schickt sich am wenigsten einem leiblichen Vetter gegenüber. Daneben hatte Annemareili [] 111 auch schon so etwas von Anlagen und Zinsen gehört,und wie dadurch das ausgeliehne Geld sich ohne Mühe und Arbeit mehre. Solches könnte es wohl brauchen,so gut wie Andre, aber es ahnte ihm auch, es werde dabei auf allerlei noch ankommen, auf Sicherheit und Verfatz und die Art der Verschreibung, kurz auf Dinge,von denen es nichts verstehe.

Die Frau hatte es ruhig seine Meinungen und Bedenken aussprechen lassen. „Ich verstehe diese Dinge auch nicht“, sagte sie darauf, „es sind Geschäftssachen der Männer; auch den Schneiderpeter kenne ich nicht,aber was er da von sich schreibt und wie von dir, das giebt mir nicht die beste Meinung von ihm. Schon daß er sein Handwerk verläßt und eine Wirthschaft anfängt ist kein gutes Zeichen. Dann schmeichelt er dir, während er etwas von dir begehrt, das gefällt mir eben so wenig.Wie weit du ihm aber nun als Verwandten verbunden bist, weiß ich nicht, allem nach zu schließen, standet ihr euch doch nie sehr nahe, so daß du wohl auf deine Sicherheit sehen darfst bei dem Gelde, das du mit Arbeit verdienen müssen: einmal wirst du noch froh über deine Ersparniß sein. Ob und wie aber Sicherheit bei dem Vetter zu erhalten wäre, daß du ihm gefällig sein könntest,das weiß ich nicht, da muß jemand rathen, der sich auf Derlei versteht; wenn es dir nicht unlieb ist, so will ich mit dem Herrn deßhalb reden, als Kaufmann wird er's am besten wissen.“

Annemareili gedachte nicht, wie viele andre Mägde [112]und Knechte und Arbeiter, das Gegentheil von dem was ihm die Herrschaft rieth und für das Beste hielt, andre, die in ihren Brotgebern ihre natürlichen Feinde zu sehen meinen, welche immer nur eigensüchtige Zwecke verfolgen aber nie den Vortheil ihrer Dienstleute im Auge haben. Es hatte eben auch das gute Gewissen,selber auf den Nutzen der Herrschaft zu sehen und somit auch den Glauben, daß diese auf den seinigen achte,dermalen man niemand hinter einer Thüre sucht, hinter der man nicht selbst schon gestanden. So hatte es denn ebensowenig dießmal weder Bedenken noch Mißtrauen gegen die Worte der Frau; allein nun gleichfalls dem Herrn die Sache mitzutheilen, das war doch etwas Andres.Es verkehrte ja überhaupt fast nie mit diesem, und wenn es auch Respekt vor ihm hatte und kein Mißtrauen,eine gewisse Scheu hielt es doch zurück, die eignen Anliegen ihm mitzutheilen: das werde ihm jedenfalls zu wenig sein, um den Sparpfennig einer armen Magd sich zu bekümmern, und sich ernstlich des Bischen Geldes in seiner Spindellade anzunehmen, er, der alle Tage die große eiserne Kasse mit den sieben Schlössern auf und zuschloß und das Geld haufenweise ausgab und einnahm.

Die Frau indeß meinte, diesen leise geäußerten Bedenken gegenüber, Annemareili solle sie nur machen lassen, möge es ihr den Brief anvertrauen, so wolle sie schon mit dem Herrn reden. Das Mädchen mußte nun wohl oder übel willfahren, im Stillen aber dachte es doch, es wollte, es hätte nichts von der Sache [] 113 gesagt, es sei ja am Ende sein Geld und andre Leute brauchten nichts dazu zu reden.

Mittags, als das Essen abgetragen, war, begann denn der Herr auch sogleich selber von der XC heit zu sprechen, freundlich und einläßlich, dabei aber in seiner Meinung sehr entschieden. Daß ihm das Anleihen des Schneiderpeters noch weniger einleuchtete als am Morgen seiner Frau, ist leicht zu errathen: ihm zu willfahren wäre für Annemareili der kürzeste Weg um seine Ersparniß zu kommen! behauptete er geradezu, denn von einem ordentlichen Unterpfand sei ja keine Rede. Die runde und sichre Art, in der der Herr von der Angelegenheit sprach, als von einem Geschäfte und nicht einer Herzenssache, machte auf das Mädchen einen Eindruck und es konnte nichts dawider einwenden, aber sie hob ihm seine Verlegenheit doch nicht so völlig.Die Scheu bezwingend und das Herz in beide Hände nehmend, fragte es, was es aber dem Vetter sagen solle?es könne doch nicht vorwenden, daß es das Geld nicht habe, und thue es das nicht, so lasse der ihm keine Ruhe bis er es dennoch ihm abgeschwatzt.

Der Herr indeß meinte trocken: „Doch, daß du das Geld nicht habest, das gerade mußt du ihm sagen!“

Und als Annemareili ob der zugemutheten Unwahrheit stutzig und verblüfft dreinsah, fuhr er fort: „Ich will dich nicht zum Lügen verleiten; geh nach der Ersparnißkasse und lege dort dein Geld ein. Damit fängst du zwei Fliegen auf einen Schlag: du stellst dein ErDienen und Verdienen.3 [114]spartes vor den Klauen des Vetters sicher und aller andern Vettern der Art, und dann machst du es dir nutztragend.“

Annemareili hatte zwar schon von der Ersparnißkasse gehört, aber es war ihm nie eingefallen, daß diese auch ihm zu gute kommen könnte. Da seine Vorstellung davon etwas dunkel und unklar war, so hatte es auch einiges Vorurtheil dagegen, ein Mißtrauen eher als ein Zutrauen, obwohl es nicht recht wußte warum; vielleicht dur weil es eine Kasse und keine Person war, und sich von ihr nichts Andres vorstellen konnte, als daß sie schwarz sei und von Eisen und mit verschiednen Schlössern und Riegeln versehen sei. Vor den Fingern des Schneiderpeters sicherte nun eine solche Kasse das Geld schon, das begriff Annemareili, aber sie sah ihm auch so darnach aus, als wenn es selber dann ebenfalls nicht mehr recht Herr über seine Sache sein würde. Es sagte darum auch, daß es nicht wisse, wann es selher etwas von dem Gelde brauchen werde und da könne es schwerlich nur so schnell abkünden. „Warum nicht ?“fragte sein Herr; „jeden Augenblick kannst du holen von dem deinen, so viel du brauchst, ohne Abkündung,für dich und wenn du's begehrst, wie du auch jeden Augenblick dazu legen kannst, selbst die kleinste Ersparniß,ein Franken, wird angenommen und Rechnung darüber geführt, und er trägt alsbald ebenfalls Zins, abgesehen davon, daß viele kleine Beiträge einen großen ausmachen.“[115]R noch nicht bekehrt: Das sei wohl schön, aber Solches gebe Schreibereien und Verrechnungen, auf die es sich nicht verstehe und werde immer mit Unkosten verbunden sein.

„Darum brauchst du dich nicht zu kümmern,“ erwiederte hierauf der Herr, „laß du getrost die dafür sorgen, welche das verstehen und einmal sich der Sache angenommen. Viele Hunderttausende kleiner und großer Ersparnisse sind so eingelegt und viele Hunderttausende schon wieder daraus gezogen worden, Tag für Tag, das ist das Geschäft. Sachkundige Männer besorgen es und sorgen für die gehörige Sicherheit der Anlagen nicht nur,sondern auch drüber hinaus, daß nichts kann verloren gehen. Unkosten aber macht dir Alles das gar keine.“

Das Mädchen wußte nicht mehr viel zu entgegnen,nur schüttelte es etwas ungläubig den Kopf: umsonst werde man es doch wohl auch nicht thun, es will Jeder für seine Mühe belohnt sein und besonders Leute die einen nichts angehen!

Da sah es aber der Herr groß und ernst an, daß es fast erschrak. „Wenn du in der Kirche dein Almosen giebst, was bekommst du dafür?“ fragte er ruhig,

„und letzthin, als ich dich antraf, wie du der alten Holzhackersfran den schweren Korb, darunter sie fast zusammensank, vom Markte nach Hause trugst, was gab fie dir dafür? sie gieng dich ja auch nichts an!“

Annemareili ward roth: so was sei nichts als Nächstenpflicht! sagte es endlich.[] 116 „Gut! Annemareili, die haben Andre eben auch, nicht nur du allein. Wenn man einem braven Knecht, oder einer fleissigen Magd, zu einem Nothpfennig behülflich ist und ihre Ersparnisse mehrt und schützt vor Blutsaugern und Betrügern, oder vor ihrem eignen Leichtsinn,wenn man ihnen an die Hand geht, in der Zeit der Noth sich selber mit Ehren zu helfen oder zu einer Unterstützung im Alter, so ist das auch nichts als Nächstenpflicht und Nächstenliebe und die Bezahlung dafür keine andre als der Gotteslohn. Diesen sucht das Eine so, das Andre so sich zu verdienen, ein jedes nach seinem Vermögen.“

Annemareili schwieg beschämt und sein Herr drang auch nicht ferner in es, sondern ließ ihm freien Willen,demRathe zu folgen oder nicht. Den andern Morgen aber,als es auf den Markt gehen sollte, das benöthigte Gemüse einzukaufen, hatte es sein Geldschächtelchen in der Hand und fragte die Frau, wie es das nun anstellen und was sagen müsse, wenn es sein Geld in die Ersparnißkasse einlegen wolle? es verstehe das nicht. „So viel ich weiß wird das einfach sein,“ entgegnete die Frau, „du kannst deutsch und die Herren dort auch; da sagst du denn, du habest da dein Geld und wollest es einlegen, sie möchten dir ein Sparnißkassenbüchlein geben.Das bekommst du gleich und vorn drin steht dein Name und was du hinträgst, wird sofort drein eingeschrieben und von dem bezeichneten Datum an trägt es dir Zins.Bringst du nachher Neues nach, fünf Franken oder ein Franken, so werden die jedesmal dazu geschrieben in das [] 117 mitgebrachte Büchlein und am End vom Jahre ein Strich drunter gemacht, die Einlagen zusammengezählt und der Zins dazu geschlagen.“

Mit einigem Herzklopfen und auch einiger Scheu,seinen heimlich ersparten und im Dunkel des Kastenfußes bisher verwahrten Schatz an's Licht zu tragen und vor die Augen fremder Menschen, legte Annemareili nun in der That sein Geld in der Sparkasse nieder und war sehr verwundert, als ein angesehner Herr, der bei seiner Herrschaft öfter aus und eingieng, sich sogleich freundlich zu ihm wandte, da es verlegen an der Thür stehen blieb und wartete, es nach seinem Begehren fragte, ihm bereitwillig das Büchlein ausfertigte,das Geld abnahm und eintrug, Alles, als wenn er ganz eigens nur auf das Annemareili gewartet hätte.Ueber Verhoffen gut lief Alles ab und das Mãdchen gieng mit ganz eignem Gefühle, sein Büchlein in Händen, das erste Mal von der Sparkasse nach Hause.Nun hatte es Geld gar an Zins, es, die ehmalige Geißenhüterin, das nicht einmal das zerfetzte Röcklein, das es allein trug, sein nennen konnte, geschweige etwas Andres, es, das alle Welt nur verachtet und als das Geringste geschätzt. Es war frohen und hohen Muthes,aber aus Demuth, nicht aus Hochmuth, indem es fühlte,wie auch ein kleiner Besitz doch ein mächtiger Halt sei,ein Anker gegen die Brandung des Lebens und seiner Stürme, der Zufälle, bei hellem Himmel aber und günftigem Winde ein förderndes Segel. Mit seiner Ersparniß[] 118 kasseneinlage, dem greifbaren Lohne seines Fleißes und Wohlverhaltens, stand es nun in der Mitte der menschlichen Gesellschaft, gleichsam im großen Verkehr der Welt und nicht mehr so allein und nebenaus, lieh es doch Geld und zog dafür Gewinn. Fröhlich, und mit dem Vorsatz nun erst recht haushälterisch und sparsam zu sein, um bald eine Zulage hintragen zu können, eilte es nach Hause und versah seinen Dienst nur um so pünktlicher und auch freudiger.[]Zehntes Capitel.

Der Vetter ist auf die Sparkassen nicht gut zu sprechen. Eine alte Bekanntschaft erneuert sich.Nach ein paar Tagen stellte sich zwar freilich der Schneiderpeter ein, vor dessen Erscheinen es Annemareili immer heimlich gebangt. Er wollte mit dem Bäschen, als er die Frau in der Nähe merkte, „wegen Familienangelegenheiten“ unter vier Augen sprechen und fragte es dann, freundlich wie der liebe Tag: es werde seinen Brief erhalten haben und er komme nun, das Geld zu holen und ihm anzulegen, wie er versprochen;niemand gönnte er es so wie ihm! Die glatte Freundlichkeit wurde zwar bald etwas holpriger, als das liebe Bäschen dem Vetter, mit einiger Verlegenheit, aber doch leichten und heimlich frohen Herzens, mittheilte, es habe kein Geld in Händen, sondern dieses sei bereits angelegt; es thue ihm leid! fügte es nicht gar aufrichtig hinzu.Als der Schneiderpeter nun auf seine Nachfrage erfuhr,wo das Geld liege, ward er fast ungehalten. Er hab's doch gedacht! Die Donnerskassen kämen jetzt überall auf und saugten den Schweiß der armen Leute ein, sie seien hungriger als Kirchenmäuse, die Herren hätten

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überall die Finger drin, sie wüßten aber wohl warum!Das schade indeß nichts, fuhr er, sich besänftigend, fort,man konne künden, jeden Tag, und er garantiere dem Bäschen einen größern Zins als die Kasse, weil er keinen Profit an ihm machen wolle, er würde sich schämen.Vier und ein Halbes vom Hundert zahle er, und wenn's sein müßte auch fünf; es komme ihm nicht drauf an,selbst wenn er dabei Schaden hätte, nur der Kasse zum Trutz, die Alles fressen wolle! Solches aber begehrte Annemareili durchaus nicht, es wollte niemand in Nachtheil bringen, zu dem hab' es ihm die Herrschaft gerathen und besorgt, es selber verstehe ja dergleichen nicht. Und als der Schneiderpeter nun noch zudringlicher wurde, und behauptete, er aber verstünde es, und er rathe es ihm aus purer Wohlmeinenheit, da wußte sich das Mädchen nicht anders mehr zu helfen als durch den etwas boshaften Rath: he nun, so möge er mit der Herrschaft darüber reden. Dazu schien aber der menschenfreundliche Vetter nicht sehr geneigt zu sein, er wurde vielmehr krebsroth vor Zorn und fieng an über die Herrschaften im Allgemeinen und im Besondern zu schimpfen, daß es Annemareili schwarz vor den Augen wurde. Mit dem hochmüthigen Stadtpacke wolle er nichts zu schaffen haben, er kenne die Aristokraten, die nur für ihren Geldsack ein Herz hätten und alle andern Menschen unterdrücken möchten. Das Bäsbchen solle doch nur nicht so dumm sein und auf deren Rath hören,[121]im Gegentheil, gerade das Entgegengesetzte thun, was sie ihm angäben!

Dem Bädchen aber schien es, es kenne seine Herrschaft doch besser als der Herr Vetter und das sagte es ihm auch in ehrlichem Unwillen rund heraus und wie es schon hundertmal erfahren, daß sie es wohl mit ihm meine, von der Unterdrückung aber Besondres noch nichts wahrgenommen habe.

Dieß war jedoch nur Oel in's Feuer. Der Schneiderpeter, dem das Geld Annemareilis immer weiter wegzurücken schien, fieng nun an über das Mädchen selber herzufahren. Er schalt nun auf einmal über Undank und wie er es daheim schon darstellen werde mit seinem Hochmuth und seiner Verachtung der Verwandtschaft;es sei schnell eine vornehme Stadtmamsell geworden kurz, es wäre noch ein viel weitläufigeres Schimpfregister gezogen worden, wenn nicht gerade zur rechten Zeit die Frau in die Küche gekommen, welcher der Besuch des Vetters etwas lange zu dauern schien, und die Annemareili aus der Verlegenheit errettete und dem zärtlichen Schneiderpeter die Trennung erleichterte. Denn Angesichts der Frau vom' Hause ließ er den Rest seiner verwandtschaftlichen Wohlmeinenheit unansgevackt und drückte sich ziemlich kurz hinweg, etwas von Gemeinderath und Vogt vor sich hinbrummend.

So war und blieb Annemareili vor dem Schneiderpeter und seinem Freundschaftsanleihen glücklich gerettet und es erkannte nun erst aus dem ganzen Benehmen [122] des Vetters, wie gut ihm die Ersparnißkasse zu Statten gekommen und wie klug und wohlmeinend der Rath seiner Herrschaft gewesen. Noch klarer aber wurde ihm dieß, als nach nicht zu langer Zeit der Schneiderpeter gerichtlich ausgekündet wurde, trotz seiner einträglichen Wirthschaft und seinen ausstehenden Geldern. Die Handwerker, welche ihm gebaut, legten Beschlag auf sein Haus und wer ihm sonst noch geliehen, kriegte wenig mehr als das Nachsehen.

Den Gang nach der Ersparnißkasse aber wiederholte Annemareili in der Folge von Zeit zu Zeit, regelmäßig je an den Tagen nach der halbjährlichen Halbjahrverrechnung; indeß auch zwischenein nicht selten, denn da und dort erhielt es von Gästen des Hauses, oder als Meß- und Neujahrgeschenke und bei andern besondern Anläßen, von der Herrschaft kleinre Geldbeträge. Das Meiste hievon, das heißt Alles was es nicht für sein nothwendiges Bedürfniß, oder etwa einmal zu einem Geschenke an die Seinen auf dem Dorfe, brauchte, das wanderte als neue Anlage den bekannten Weg, der dem Mädchen nun nicht mehr fremd und sauer vorkam. Im Uebrigen verfloß das Leben der fleissigen und eingezognen Magd sehr regelmäßig und einfach, eine Woche wie die andre und ein Monat wie der andre. Sie fühlte sich dabei nicht unglücklich, viel weniger sogar als früher,wo sie gemeint, es müsse von Zeit zu Zeit, und zwar in immer kürzern Zwischenräumen, etwas Besondres, Neues oder Lustiges, wenigstens Andres, geben,[123]sonst sei es auch gar zu eintönig und langweilig im Leben.

Annemareili hatte sich auch wieder einmal nach einem Lohntage an der Ersparnißkasse mit dem grösten Theil seines Erwerbes eingefunden, und da gerade, wie es an solchen Tagen der Fall ist, sehr viel Einleger schon da waren, es aber an solchen Sparkassen auch wie in Paris geht: Eins nach dem Andern! so setzte sich das Mädchen einstweilen auf's Wartebänkchen und blätterte zum Zeitvertreib in seinem Einlagebüchlein. Es achtete nicht darauf, wer neben oder hinter ihm stand und etwa auch noch in das Büchlein gucken konnte.

„Mit Verlaub, Jungfer, es scheint wir seien Landsleuten, redete da plötzlich eine fremde Mannsstimme ganz aus der Nähe das Annemareili an. Es schaute erstaunt auf: ein kräftiger, wohlaussehender Mann mit starkem schwarzen Bart, einfach aber gut und reinlich gekleidet,sah es halb forschend, halb lächelnd an. Er war ihm schon früher aufgefallen: als es an der Kasse sein Büchlein vorgewiesen, war der Mann ebenfalls in seiner Nähe gestanden und hatte es seitdem öfter angesehen und im Auge behalten, bis er jetzt das Wort an es gerichtet: „Ich bin auch von Schwellbach; Ihr kennt wohl den Schmidt-Rudi nicht mehr!“ fuhr er fort,da er keine Antwort erhielt. „Als Kinder haben wir uns wohl gekannt und zusammen gespielt, noch mehr aber gelegentlich uns gebalgt, besonders wegen des Krämers Heinrich, den Ihr in Schutz nahmt. Es scheint [124]wir haben uns seit der Zeit beide verändert, daß Ihr mich nicht wieder kennt“, fügte er bei, indem sein Blick auf Annemareilis reinlichem und angenehmem Aeußern mit Behagen ruhte.

„Wie? Ihr wäret der Schmidtrudi?“ frug Annemareili verwundert und sah nun allerdings auch ihn schärfer und prüfend an.

„Derselbe der manch übles blutiges Mal im Gesicht von Euch heimtrug und manches Büschel Haar in Euren Händen gelassen!“ lachte der Mann, „wenn wir als zwei gleich harte Steine etwa unsanft uns zu reiben kamen.“

Immer mehr und immer lebhaftere Zugenderinnerungen tauchten in den Beiden auf und die trennenden Jahre verschwanden zwischen ihnen, bis zur schmalen Brücke, die sie leicht überschritten. Nichts aber führt schneller zusammen als diese Vergegenwärtigung und Auffrischung gemeinsam verlebter Ereignisse, aus der Kinderzeit vor Allem. Und so war auch rasch ein gegenseitiges Vertrauen, eine nähere neue Bekanntschaft aus der alten unterbrochnen entstanden, nur noch verstärkt durch die, wenigstens äußerlich gleichartige, Umgestaltung der beidseitigen Lebensverhältnisse. Der wilde Bube und das verwahrloste Mädchen begrüßten sich nun nur um so wärmer als braver Knecht und ehrbare fleissige Magd an der Ersparnißkasse, in welcher sie die Frucht ihrer Tüchtigkeit, den entbehrlichen Theil des Verdienstes,zugleich niederlegten.[125]Der ehemalige Schmidtrudi, oder Rudolf, wie er jetzt kurzweg genannt wurde, und Annemareili verließen gemeinsam die Sparkasse und wenn letztres dießmal etwas später nach Hause kam, war vielleicht nicht allein der große Zudrang im Gebäude der Anstalt Schuld daran,wie seine Brotherrschaft in ihrer guten Meinung von ihm stillschweigend annahm. Und als die Zwei sich endlich trennten, mit dem sichtlichen Wunsche sich bald wieder zu begegnen, da dachte noch lange Eines über das veränderte Schicksal des Andern nach, sowie über die eigne Umwandlung und die langsam aber gewaltig wirkende Macht der Zeit und der Verhältnisse.[]Elltes Cuapitel.

Geschichte des Schmidtrudi.Der Schmidtrudi war in die Stadt gekommen als sein Vater starb und die Schmidte, der vielen Kinder und der darauf stehenden Schuld halber, verkauft werden mußte. Er mochte nicht auf dem Lande bleiben und am allerwenigsten in dem Dorfe, denn einerseits sagte ihm das Bauernleben nicht zu, anderseits sträubte sich sein Stolz dagegen, als Knecht oder Geselle da zu dienen,wo er als Sohn eines Handwerkers und eines im Grunde geachteten Mannes bisher seine Zeit verbracht. Lieber nach der Stadt gehen! dachte er; dort kenne ihn niemand und habe schon mancher arme Bursche sein Glück gemacht.Rudolf, das älteste der Geschwister, war ein kräftiger und flinker Bursche, dem man's ansah daß er was leisten könne und auch keineswegs auf den Kopf gefallen sei.Leicht fand er darum einen Dienst und was ihm da als Knecht aufgetragen wurde, ward ihm ebenfalls leicht,fast nur zu leicht, denn da er keiner Anstrengung bedurfte, ward er übermüthig und ließ es am rechten [127]Ernste fehlen. Das Leben in der Stadt, der verhältnißmäßig ordentliche Lohn und das Beispiel Andrer unterstützten seinen ursprünglichen Hang zur Sorglosigkeit und zu ungebundnem Leben. Versäumte er damit einmal auch etwas, er hatte es ja bald wieder eingeholt und wenn er's lustig haben könne, warum sollte er sich's schwer oder eintönig machen? fragte er.

So wendete er seine Kräfte und seinen guten Kopf oft und immer lieber zu Dingen an, die mit dem Arbeiten nicht viel gemein hatten, ja die diesem feindlich waren, indem sie die Zeit und Lust dazu benahmen.„Man lebt nur einmal!“ war seine Entschuldigung, wenn der oder jener Uebelstand aus seinem Leichtsinne sich ihm fühlbar machte. „Man lebt nur einmal,“ sagte er auch,obwohl etwas kleinlauter wie bisher, als ihm nach wiederholter Warnung sein Meister den Dienst kündete und er sich, nicht gerade mit dem besten Zeugnisse versehen,nach einer neuen Anstellung umsehen mußte. Herren giebt es beinahe soviele als Knechte, auch der Rudolf fand einen Zweiten, obwohl er gestehen mußte, nicht gerade den besten Tausch gemacht zu haben: der Lohn war etwas geringer, die Arbeit schwerer und rauher.Trotz dem faßte er den Entschluß, und zwar ganz aufrichtig, sich in dem neuen Dienste besser zusammen zu nehmen und weniger leichtsinnig zu sein, damit er nicht noch mehr zurückkomme; denn soviel Einsicht und Ehrlichkeit besaß er, um den rechten Weg vom falschen zu unterscheiden.[128]In der That gieng es nun eine Weile auch ganz ordentlich: die Neubesenzeit legte er zu völliger Zufriedenheit zurück und auch als er einmal zu straucheln anfieng, raffte er sich bald wieder zusammen, vierzehn volle Tage lang. Von da an aber war es ihm doch fast unmöglich im neuen Geleise zu bleiben, das alte, tiefgefahrne kreuzte es alle Augenblicke. Womit sollte er auch die Abende ausfüllen, an denen er keine Beschäftigung hatte? Zu Hause bleiben, das war zu langweilig,zudem wäre nirgend ein Plätzlein für ihn gewesen, außer in seiner niedrigen finstren Dachkammer, wo er nur die benachbarten Kamine sah und sich kaum zu rühren vermochte. Nach der Arbeit aber hat jeder Mensch gern seine Erholung. Rudolf suchte sie auswärts, da er sie zu Hause nicht fand. Auswärts, und wo war das anders möglich als im Wirthshaus: dort bot sich auch Gesellschaft und Unterhaltung. Freilich nicht auf trocknem Wege, aber einen Schoppen darf man sich ja auch gönnen, neben dem Weine, welchen der Herr verabfolgt!meinte der Knecht, und wenn nicht aus Bedürfniß, doch des Vergnügens halber und wie gesagt, weil er zum Wirthshaus einmal gehörte. Die Unterhaltung war hier öfter eine ganz vortreffliche, bei der Rudolf Alles vergaß, seinen Schoppen in Gedanken gleichsam trank und auf einmal, noch frühe oder doch mitten in der besten Unterhaltung, ein leeres Glas vor sich sah. Ein zweiter Schoppen zeigte sich in diesen Fällen nicht allein am Platze, sondern war dringendes Bedürfniß, vornehmlich [129]wenn in dem Discurse Rudolf eine erste Rolle übernommen, was allmälig immer häufiger geschah. Es gieng selbst bei Gelegenheit über den zweiten Schoppen und über die erlaubte Ausbleibezeit hinaus und die Folge war nicht nur der Casse Rudolfs nachtheilig, sondern auch seiner Stimmung, bald auch seiner Stellung, in Betracht der Vorwürfe und des Verdrusses, welche er sich damit bei seinem Herrn zuzog. Der Gescholtene hatte zwar gerade bei diesen wichtigen Anlässen im Wirthshause gelernt seine Rechte zu vertheidigen, hatten sich doch die Verhandlungen häufig genug um die Ansprüche der Dienenden und die Pflichten der Herrschaften gegen diese gedreht. Das Selbstgefühl trat hier keineswegs gegen die Bescheidenheit zurück, die Ungleichheit der verschiedenen Stände wurde als schreiende Ungerechtigkeit erkannt und dabei die Mittel und Wege erörtert, wie da das Versehen der Vorsehung möglichst gut zu machen sei,durch gesinnungstüchtige Selbständigkeit und Wahrung der Menschenrechte vor Allem, begleitet von gelegentlicher Grobheit. Es ist natürlich, daß, je mehr Fortschritte Rudolf in dieser Schule machte, es um so schlimmer mit seinem Dienstverhältnisse wieder ward, kann sich doch sogar ein Professor nicht in allen Fãchern zugleich auszeichnen! Als weitre Folge hievon aber ergab sich, daß Rudolf mitten in einer Auseinandersetzung mit seinem Herrn über ihre beidseitigen Rechte und Pflichten,von diesem kurzweg den Abschied erhielt, was von seinem Dienen und Verdienen.

3 [130]Standpunkte wohl schreiendes Unrecht, daneben aber auch eine große Unbequemlichkeit war.

Mit einem zweiten ziemlich kühlen Zeugnisse versehen,blieb ihm nichts übrig, als wieder einen neuen Zwingherrn zu suchen, sonach seinen dritten Dienst.Rudolf suchte und suchte, es wollte sich nichts ihm Entsprechendes finden lassen. Eine Weile schon war er 0 das ihm bei der Abrechnung noch zugekommen (denn er hatte ziemlich oft und viel davon vorausbezogen), gieng bei diesem Brachliegen noch vollends drauf. Es kam Noth an Mann,die Zeit des Dienstwechsels war schon vorüber, es stand wenig Gutes mehr zu erwarten, jedenfalls war die Wahl keine große mehr. Plötzlich zeigte sich da Etwas: der alte Steinmann hatte seinen Knecht verloren, unerwartet durch Tod, dessen Platz war frei. Der alte Steinmann zwar, der im Großen mit Colonialwaaren handelte und auch daneben einen Kramladen hielt, war als ein schrecklicher Aristokrat und Tyrann verschrieen,und von dem verstorbnen Anton hatte es Niemand begreifen können, daß der fünfzehn Jahre bei ihm ausgehalten. Rudolf sträubte sich darum lange, ehe er sich entschloß, bei dem Alten anzuklopfen, aber als ihm das Wasser der Noth täglich höher und höher an den Mund stieg, mußte er sich doch zu dem Schritte entschließen.Er tröstete sich erst: Dem wolle er's schon sagen was Recht sei! nachher: am Ende sei man ja nicht verhei[131] rathet und wenn's fehle, so sei's doch inzwischen ein Unterkommen gewesen!Herr Steinmann war allerdings ein eigener Kauz,wie sie nicht mehr Dutzendweise umherlaufen. Er kümmerte sich nicht viel um die Leute und um das was Mode oder neuer Brauch verlangten. Von allgemeinen Grundsätzen und Theorien und Systemen wollte er nichts wissen, dafür hatte er seinen sehr entschiednen Willen und traf's mit dem Blicke seiner scharfen hellgrauen Augen auch ohne System meist ziemlich richtig. Kurz und rauh, im Aeussern von stattlicher Gestalt, flößte er mehr Respekt und Scheu ein, als daß er eben anzog,wenn schon in den markigen Zügen etwas verborgen lag, das eher einnahm als abstieß.

Als Rudolf zu dem Alten in das Ladenstübchen trat, sich für den erledigten Dienst zu melden, hatte er beinahe ein Gefühl, wie wenn er in eine Drachenhöhle trete. Herr Steinmann war gerade am Rechnen und als da Rudolf fein Anliegen vorbringen wollte, tönte ihm gleich, ohne daß der Alte ihn nur ansah, ein trocknes, im tiefften Basse gesprochnes „Geduld!“ entgegen,welches dem Eintretenden fast wie ein Prophetenwort in die Ohren und das Herz klang.

Rudolf hatte sonst einen ziemlich kecken Blick, von Hause aus schon und durch das Gefühl seiner Menschenwürde noch verstärkt, dem alten Krämer (wie er ihn nannte) hielt er aber gleichwohl nicht lange Stand.Ja, wie dieser bei dem Examen ihn so recht auf's Korn 9*[132]nahm, verwirrte er sich beinahe, wie sehr auch das Unabhängigkeitsgefühl sich sträuben mochte und den Prüfenden als Zopf, als Filz und Tyrannen recht tief herabzudrücken bemüht war. Auf die Frage des Kaufmanns nach den Dienstzeugnissen, reichte ihm Rudolf diese zwar mit ziemlicher Entschiedenheit dar. Als der Alte nun aber noch die Brille aufsetzte, auf seine ohnedieß scharfen Augen, hielt der Muth wieder nicht Stich und verflog von Augenblick zu Augenblick immer vollständiger, schien jener die, sonst ziemlich kurzen, Schriftstücke doch gar zu buchstabieren. Endlich sagte Steinmann trocken, indem er das Papier dem Besitzer zurückreichte: „Ich gebe sonst nicht viel auf gute Zeugnisse, die aber sind nicht einmal gut.“ Was wollte er damit sagen? Rudolf wußte es nicht, er konnte darum auch nicht auf seine frühren Herrschaften schimpfen, wie er es zuerst im Sinne hatte.Dann war von den Bedingungen, dem Dienste und der Hausordnung die Rede. Es gab da wieder nichts zu markten, oder sich vorzubehalten, denn die zehn Gebote in ihren Steintafeln waren nicht bestimmter und unabänderlicher gegeben, als was der alte Kaufherr als seine Ordnung und seinen Willen kundgab. Und doch waren nach Rudolfs innerster Ueberzeugung unwürdige und erniedrigende Bedingungen darunter. Der Knecht durfte z. B. außer und zwischen den festgestellten monatlichen Lohntagen nie einen Batzen auf Abschlag verlangen,wenn schon er ihn bereits verdient. Abends sollte er ferner zu Hause bleiben, das Ladenstübchen sei gewärmt,[133]da könne er Caffe erlesen oder Tüten kleben, die ihm extra bezahlt würden, oder aber für sich etwas lesen und schreiben bis um halb Neune, wo es Zeit sei zu Bette zu gehen, damit man am Morgen wieder früh genug möge aufstehen. Wünsche er aber einmal Abends ausnahmsweise ausser Haus zu gehen, so müsste gefragt werden; daß es zu oft geschehe, könne nicht sein. Die Aufkündung auf vier Wochen finde gegenseitig nach Belieben statt, nur müsse Rudolf seines Theils dieselbe nach den ersten acht Tagen wiederholen, in dieser Zwischenzeit könne man sich besinnen, wenn ein übereiltes Wort gesprochen worden, was bei jungen Burschen etwa vorkomme.

Solches und noch Weitres mußte Rudolf sich gefallen lassen, denn wie tyrannisch auch und entehrend er es fand, die Verlegenheit war zu nöthigend, daneben die Löhnung eine anständige, so daß er knirschend einwilligte,DEr schwieg und hatte nicht einmal Lust, von seinen Menschenrechten diesem Manne gegenüber zu reden;fühlte er doch, es wäre da jedes Wort nur Verschwendung; der Sinn dafür fehle ja ganz!

Rudolf trat somit seinen neuen Dienst an, nahm sich zusammen und ließ sich ohne ein Wort der Widerrede Alles gefallen, aus nacktem Trutze, denn er hätte dem alten Aristokraten nicht den Gefallen gethan, daß der etwas zu brummen gefunden wider ihn. Das Gleiche hatte er zwar bei seinem vorigen Herrn auch so gethan,[134]nur hatte der Trutz Alles recht zu machen dort nicht sehr lange angedauert, der alte Leichtsinn hatte ihn bald wieder verdrängt. Hier aber schien es anders gehn zu wollen, der Trotz hielt an, ob nun die strenge Hausordnung und der Mangel an Gelegenheit zum Ausarten dran Schuld war, oder die Person des Herrn, welche den Trotz wach erhielt, selbst als ein guter Theil davon unmerklich in Etwas übergegangen war, das fast eher wie Respekt aussah. Denn in der That, bei aller Strenge und Genauigkeit im Dienste, bei aller Eigenmächtigkeit und Starrheit des alten Kaufherrn, Rudolf fand Dienst und Herrschaft besser, als er anfangs nur zu hoffen gewagt; konnte der Brummbär doch nebenzu sogar freundlich und gemüthlich sein, sobhald man ihm nur seinen Willen that. Eine Art Wohlwollen guckte ihm nicht allein aus den hellen Augen, in der That auch zeigte sich bei mehr als einem Anlasse ein solches unverkennbar, war es in einer Erleichterung, einer Vergünstigung, einer Zulage oder sonst einer Rücksicht. Nur das konnte Rudolf seinem Herrn nicht verzeihen, daß ihn der fast immer wie ein Kind, wenigstens wie einen halb ausgewachsnen Knaben, behandelte und gerade dann am meisten, wo Rudolf das Bewußtsein hatte, seine Menschenwürde und Selbständigkeit am besten gewahrt zu haben. Aber da begegnete er richtig immer einem spöttischen Lächeln, einem halb mitleidigen Achselzucken,das ein Wort der Erwiederung nicht der Mühe werth hielt, oder einem Ausdrucke (wenn der Alte gar guter [135]Laune war), der nichts weniger als wie ein Lob auf den an Tag gelegten Charakter klang. Wie sehr Rudolf sich einerseits hierüber ärgerte, es lag anderseits wieder eine solche Eigenthümlichkeit darin, daß er sich daran gewöhnte, mit dem alten Kauze eine Ausnahme machte und sich's schließlich mit immer weniger Unwillen gefallen ließ.

Ueber ein halbes Jahr gieng es so leidlich ohne besondre Zwischenfälle. Rudolf war in der Zeit seinen wunderlichen Herrn mehr gewohnt geworden und im Dienste überhaupt erwarmt. Der Hafer begann ihn zu stechen. Wofür er eigentlich lebe? fragte er, als er ein Häuflein Geld beisammen hatte und sich erinnerte,wie selten er sich in der verflossnen Zeit lustig machen können, denn daß er zufrieden und im Grunde auch behaglich gelebt, brachte er nicht in Anschlag. Er werde dem Alten wohl einmal die Ehre anthun müssen! entschloß er sich und ein paar Tage nachher hielt er richtig um einen freien Abend an: ein Freund von ihm sei in der Stadt angekommen, morgen verreise er wieder.Die Anfrage kostete einige Ueberwindung und etwelches Herzklopfen, von der Nothlüge ganz abgesehen. Wider Erwarten aber lautete der Bescheid sehr günstig. Er habe nichts dagegen, sagte Herr Steinmann, wenn Rudolf einen Abend die Woche ausgehe, und Seinesgleichen sehe; am liebsten freilich wär's ihm, wenn er den Abendsaal für Handwerker und Dienstleute besuchte, der in der Stadt eröffnet sei und wo sich Belehrung und an[1386] ständige Unterhaltung beisammen fänden; indeß er wolle nichts vorschreiben!

Rudolf erwiederte nichts hierauf, er nahm nur den zugestandnen Abend in Beschlag, mit der Abendschule hatte es gute Ruhe: der Schule sei er Gottlob entwachsen, dachte er, und er wisse wohl, wie es in solchen Anstalten zugehe, sie seien im Interesse der Herren eingerichtet, die Arbeiter zahm und in der Gewalt zu erhalten und sie zu verhindern, ihr Wohl nach ihrem eignen Sinne zu besorgen und zu besprechen. Der Kaufmann fragte auch nicht weiter nach der Abendschule und so blieb's dabei. Rudolf besuchte seine alten Freunde in der Schenke und rettete so sein Selbstbewußtsein und seine Freiheit, das heißt, er ließ sich von den ehemaligen Leithämmeln wieder in's Schlepptau nehmen und trat von Neuem in die sumpfigen Fußstapfen, denen er nur durch die Noth und den äußern Zwang enthoben worden.

Es blieb auch nicht bei dem einen Abende. Alle sieben Tage war ein Sonntag, den Rudolf in der Regel frei hatte. Die Eisenbahn führte ihn da leicht und schnell überall hin an die umliegenden Vergnügungsorte in Extrazügen und zu ermäßigten Taxen, stets aber gegen Baargeld. Erholung, das heißt Zerstreuung,ward ihm immer mehr zum Bedürfniß: Wer sechs Tage sich geschunden, der dürfe am Sonntag sich wohl was gönnen! räsonierte er wieder. Und neben dem freien Abend in der Woche und dem Sonntage wußte er bald noch mehr als eine Stunde zu erübrigen, auch den Herrn [137]heimlich drum zu beluchsen, sei's wann ihn der an einer Arbeit wähnte oder aus dem Hause mit einem Auftrage gesandt hatte. Rudolf erhielt seinen ordentlichen Lohn;vei seinem frühern eingezognen Leben hatte er auch etwas auf die Seite legen können, obschon er in der Anschaffung von Wäsche und Kleidern allerhand nachzuholen gehabt. Sein Herr, der das gemerkt, hatte ihn nun einmal beim Auszahlen gefragt, was er mit dem Gelde anfange; ob er nicht in die Ersparnißkasse lege? Rudolf dachte: das sei sein Geld, er könne damit machen was er wolle, es gehe niemand was an, am wenigsten den Herrn; Geld an.Zins sei wohl schön und bequem,aber die paar Franken, die er einlegen könnte, trügen doch nichts ab, da lohne es sich nicht der Mühe; als wenn Jeder tausend Franken zu einem ordentlichen Anfang in der Hand hätte, der die Sparkasse benützt.

Nun brauchte er sich freilich nicht zu besinnen, was er mit seiner Ersparniß anfangen wolle. Die Schoppen die er trank summierten sich zu Maaßen, und wenn er Sonntags auf der Eisenbahn wie ein Herr fuhr. es giebt viele Stationen unterwegs, wo Wirthshäuser sind, so wollte er auch wie ein Herr leben und da genügte ein Schöpplein nicht mehr, auch der mit dem Eisenbahnfahren gewonnenen Zeit wegen nicht; ein zweiter Schoppen und etwas Kaltes dazu waren beinah unvermeidlich. Ebenso kosteten nun die feinren Herrenkleider,welche Rudolf zu dem Herrenleben nothwendig anschaffen mußte und die ihm in der That ganz wohl anstanden,[138]ein Beträchtliches mehr, als die frühre einfachre Gewandung. Diese Ausgaben alle summierten sich gleichfalls;Summa Summarum, es gieng damit der regelmäßige Verdienst regelmäßig drauf und allmälig das von früher zur Seite Gebrachte ebenso, Rudolf wußte selbst nicht wie, er mußte sich sehr darüber wundern. Er habe halt zu wenig Lohn! machte er bei sich aus und das nährte seine Unzufriedenheit gegen die Herrschaft, die allein daran Schuld sei, noch mehr. Ja, wenn der Durst einmal so recht im Mißverhältniß stand zu dem Geldvorrath, wenn unvermuthet eine Gelegenheit eintrat,im ungünstigen Augenblick, so geschah es, daß Rudolf beim Wirth oder einem guten Freunde Schulden machte, keine wichtigen natürlich, aber es waren doch Schulden und es geschah immer häufiger und ohne viel Besinnen. Denn um alles Geld nicht hätte er dem alten Filze, seinem Herrn, die Ehre angethan, vor dem Monatsende von seinem Lohn auf Abschlag zu verlangen,auch nicht wenn es dieser nicht beim Dingen ganz bestimmt sich verbeten gehabt hätte.

Daß man sich indeß für nichts verschwören darf,erfuhr auch Rudolf, nicht auf die erfreulichste, aber jedenfalls auf sehr eindringliche Weise. Es hatte eine arge Schlägerei gegeben; ob bei einer Auseinandersetzung oder Vertheidigung der Menschenwürde? Rudolf behauptete unschuldig dazu gekommen zu sein, wenn wohl auch nicht davon; jedenfalls war's im Wirthshaus gewesen. Einer der Streitenden hatte Verletzungen davon [139]getragen, die ihn längre Zeit für die Arbeit unfähig machten; es war vielleicht auch der Unrechte gewesen,der getroffen worden; kurz, der Mißhandelte drohte mit einer gerichtlichen Klage und da die Arbeitsunfähigkeit über eine bestimmte Zeit gedauert, stand eine ziemlich scharfe Bestrafung durch Einkerkerung in Aussicht. Dem mußte womöglich vorgebeugt werden und der Wirth machte zwischen den beiden Parteien den Vermittler,hatte er doch auch den Wein dazu hergegeben, der die Koöpfe so erhitzt. Der Geschlagne ließ sich endlich durch ein tüchtiges Schmerzengeld geschweigen und versprach von der Klage abzustehen, aber es müsse sofort gezahlt werden. Ob Rudolf doppelt so viel oder doppelt so schwere Schläge ausgetheilt? er mußte wenigstens den größren Theil der Entschädigung übernehmen. Und das traf ihn im schlimmsten Momente; schon die Rechnung des Wirthes für Getränk und zerbrochnes Glaswerk hatte seine Baarschaft auf die Neige gebracht.Vergebens suchte er den unerwarteten Gläubiger auf den nächsten Monatsschluß zu vertrösten und schwur, daß es ihm jetzt nicht möglich sei zu zahlen. Dieser nahm keine Vernunft an. Bürgschaft wollte für Rudolf auch niemand leisten, da er als Schuldenmacher keinen sonderlichen Credit hatte. Gleichzahlen oder vor Gericht genommen werden, mit der Aussicht auf Gefangenschaft,das blieb die einzige Wahl und innert zehn Stunden mußte entschieden werden. Es blieb halt doch nichts anders übrig als bei dem alten Tyrannen, dem Steinmann die [140]Hülfe zu suchen, allerdings ein saurer Schritt; aber jeder seiner Freunde, an den sich Rudolf wandte, wies ihn an diesen: er brauche sich nicht zu bedenken, er könnts da wieder abverdienen und am Ende sei's ja sein Geld das er erhalte!

So unbefangen als möglich, im Innern aber mit schlotterndem Herzen, trat denn endlich der Knecht vor den und den künftigen Monatslohn vorzustrecken: es habe ihn ein guter Freund, dem er's nicht abschlagen könne, von wegen frühren Verbindlichkeiten, darum angesprochen!Der Kaufherr rutschte die Brille von der Nase an die Stirn hinauf und sah Rudolf an ohne ein Wort zu sagen, lange, lange; eine halbe Ewigkeit däuchte es diesen und aus allen Falten des runzligen Gesichtes schienen verdächtige Nebel aufzusteigen. Endlich sprach er gelassen: „Du weißt was ich bei deinem Diensteintritt ausbedungen und auch was ich dir inzwischen angerathen. Du bist deinem Kopfe gefolgt und steckst nun in der Verlegenheit; ich will dir was sagen, das gilt, merke dir's: für dießmal geb' ich dir das Geld, aber unter der ausdrücklichen Bedingung, daß du von nun ab den Drittel deines Lohnes in die Ersparnißkasse einlegst,nicht um wieder Schmerzengeld zu zahlen (es schien hier das Auge des Kaufherrn einen Blitz zu schießen), aber damit du deine Mutter, wenn sie dich um Beisteuer an [] 141 den Hauszins angeht, nicht wieder mit leeren Händen fortzuschicken brauchst, wie letzthin im Höflein hinten!“

Rudolf stand bei dieser Rede nicht nur wie Butter in der Sonne, sondern es schien ihm, am jüngsten Gericht müsse Einem so zu Muthe sein, wenn da die geheimsten Sünden an's Tageslicht gezogen würden. Im Gefühle seiner Schuld wußte er nichts bessres zu thun als daß er versuchte aufzubegehren, daß er von seiner Unschuld sprach und wie er zu wenig Lohn habe, da hier in der Stadt Alles so theuer, und Andre auch,und ohne so viel Wesens, den Lohn zum Voraus zögen;wie er aber noch gar in die Sparkasse einlegen könne,das sehe er vollends nicht ein, er lasse sich nicht zwingen, er sei kein Kind mehr, es könne Jedem einmal ein Ungefäll zustoßen, der Mutter aber habe er schon mehr als einmal geholfen!

So gieng's durcheinander bis der Kanfherr endlich aufstand und dem Rudolf fast um die Hälfte größer schien als gewöhnlich, so daß er unwillkürlich verstummte.Um so kräftiger fieng dafür der Alte an und kanzelte den aufbegehrerischen Knecht herunter, indem er ihm sein Sündenregister vorhielt, daß dem Hören und Sehen vergieng. „Freilich bist du kein Kind,“ sagte er, „denn ein Kind nimmt wohlgemeinten Rath an und läßt sich noch leiten zum Guten. Du aber bist viel zu dumm,.folgst lieber deiner eignen Unvernunft und wo ein böser Bube dir was Ueberzwerches vorschwatzt, nimmst du's auf als Prophetenbeere und rennst blind in den Sumpf,[142]auch wenn du den Kopf an die Ecken und Wände anstößest, daß dir schwarz vor den Augen wird. Du bildest dir auf deine Beulen gar noch was ein. Anfangs warst du auf dem guten Wege und konntest es zu was bringen, aber du willst lieber ein Lump werden und zum *æ** gehen; das ist doppelt dumm. Sieh, ich will dich in's rechte Geleise bringen, weil du mich dauerst und gar zu einfältig bist; wills thun wider deinen Willen und deiner Unvernunft und der fremden Verführung zum Trutz!“

Rudolf brannte da auf: so lasse er sich nicht kommen, lieber künde er, es gebe noch andre Dienste, niemand habe ihm dergleichen je gesagt!

„So sag' ich dir's;“ unterbrach ihn der Kaufmann und fügte ruhig aber fest hinzu: „Ich glaube wohl daß dir's nicht schmeckt, auch kannst du machen,was du willst, gehn oder bleiben, soweit bist du dein eigner Herr!“

Und als der Gescholtne wieder von Neuem beginnen wollte, fügte er bei: „Jetzt geh! ich will nichts mehr hören; willst du aus meinem Dienste treten, so kannst du mir's nach Abrede in acht Tagen wieder sagen, bis dahin hast du Zeit dich zu besinnen!“[]Zwölltes Capitel.

Fortsetzung, oder ein Tyrann vergreift sich an den Menschenrechten des Rudi und bringt ihn in's rechte Geleise.Rudolf gieng, er war in peinlicher Lage: sein Ehrgefühl fand sich, vielleicht am unrechten Orte, jedenfalls zur unrechten Zeit, gewaltig angegriffen. So geringschätzig hatte ihn der alte Zopf und Knicker behandeln dürfen! Das koönne er sich nimmer gefallen lassen;man sei in einem freien Lande und nicht bei Sklavenhaltern; was der Aristokrat sich eigentlich einbilde? Lasse er Solches ruhig auf sich sitzen, wahrlich, so müsse er sich in Zukunft Alles gefallen lassen, auch daß man die Schuhe an ihm abwische! Nein, lieber und hier blieb der Gedankenfluß Rudolfs plötzlich stecken. Was lieber? fortgehen, in einen andern Dienst treten! Wohl; aber auch gleich einen solchen finden? und vorher erst in's Gefängniß spazieren, zur Empfehlung!

Rudolfs Selbständigkeit und Charakter kamen in bedeutende Gefahr. Vergebens sagte er sich: wenn er jetzt ducke, müsse er sich in alle Zukunft selber verachten.Aber trotz diesem lauten und heftigen Schimpfen und

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Sichsträuben flüsterte ihm inwendig und ganz im Stillen eine Stimme, der Alte meine es am Ende gar nicht so böse; Complimente zwar mache er keine, das sei richtig,aber ein klein wenig Recht, wer wisse? habe er vielleicht doch! Und dann das Geld, das verdammte Geld, das nothwendig war und zwar bald Rudolf hörte schon in der Ferne die Kerkerschlüssel rasseln. Er entschloß sich zu einem Mittelwege, wie er meinte: einstweilen zu bleiben, aber dran zu denken und die erste Gelegenheit zu benützen (wenn er nur erst einmal aus der Klemme sei), und dem Alten den Sack vor die Thüre zu werfen,mit Glanz natürlich, indem er dann in kräftigen Worten seine Ehre wieder herstellte.

Hiebei blieb es denn und der achte Tag gieng vorüber ohne daß der Gekränkte seine Dienstkündung wiederholte, hatte er doch ein wenig sogar das Gefühl wie nach einer Blutsreinigung oder einem kalten Bade,wobei man sich, der guten Wirkung unbeschadet, ja auch gelegentlich schüttelt. Am Tage darauf rief ihn der Kaufherr nach dem Frühstück in's Ladenstübchen; sie waren alleine, noch keiner der Angestellten sonst anwesend.

Der Alte werde jetzt schadenfroh triumphieren, wenn er ihm das Geld gebe! dachte Rudolf in verbissnem Ingrimm. Der Alte aber war so trocken und geschäftsmäßig, wie wenn er einen Frachtbrief über eine Sendung Caffe diktirte. Er zählte einfach zwei Monatslöhne auf den Tisch: da sei das Geld! war Alles was er dabei sprach. Jetzt sehe man daß der Wuchrer kein Herz habe,[145]sondern an dessen Stelle einen Goldklumpen! grollte hierüber der Andre und machte wenigstens ein Gesicht darnach, wenn er auch nichts zu sagen wagte.

Der laufende Monat und der nachfolgende, so wie der dritte verliefen ohne jeden Zwischenfall. Rudolf machte so wenig Worte als mööglich, und gab sich alle Mühe daß auch der Kaufherr nichts zu sagen fand, er war ein wahres Muster von einem Knechte: der Alte müsse noch recht empfinden was er an ihm habe und verliere, wenn er ihm einmal künde. Es war wieder Samstag geworden, der gewöͤhnliche Zahltag und Rudolf trug eben das mit reinem Sande frisch gefüllte Spuckkästchen in das Ladenstübchen, als ihn sein Herr bleiben hieß.

„Hier der Monatslohn“, begann er in seinem vertrakten Geschäftstone, „nach Abrede behalte ich einen Drittheil davon zurück, du trägst ihn nach der Ersparnißkasse und verlangst ein Büchlein dafür. Mit dem was dir baar in Handen bleibt, kannst du auskommen“. Obschon Alles genau so verabredet war, wallte es in Rudolfs Adern doch von neuem; sein Herr aber langte nach ein paar Silberstücken, die auf der Seite lagen. „So viel du einlegst, lege ich ebenfalls für dich ein; schon lange hätte ich dir den Lohn aufgebessert,nicht weil du mit dem Bisherigen nicht ausreichen kannst,sondern weil du mehr verdienst; aber ich wollte das Geld nicht weggeworfen sehen. Laß Beides jetzt auf

Dienen und Verdienen.[146]der Sparkasse einschreiben und gieb mir dann das Büchlein zum Aufbewahren.“

Gerieth Rudolf je in seinem Leben aus der Fassung,so war es dießmal, wußte er doch nicht, ob er zürnen oder danken sollte? ob der Alte sein Wohlthäter oder sein Todfeind sei? Während er sich verwirrt zurecht zu finden trachtete, trat ein Kunde und Bekannter seines Herrn in das Ladenstübchen und Rudolf konnte nun nichts Andres thun, als das Geld nehmen und damit hinausgehen. Nachmittags händigte er dem Kaufmann das Büchlein der Sparkasse ein, welches dieser schweigend,indeß mit zufriednem Gesichte, in sein Pult verschloß.

Beinahe von diesem Tage an gieng mit Rudolf eine Revolution vor; aber keine plötzliche und schnelle, sondern eine ganz allmälige und ruckweise. Noch grollte er häufig genug dem „wunderlichen Kauze“ und seiner „tyrannischen Laune“; er fand es schreiend Unrecht, daß ihm die freie Verfügung über seinen verdienten Lohn entzogen werde.Er schalt und spottete: es werde auch viel herauskommen bei alle dem Knickern und Entbehren und wie viele Millionen Zins so ein paar lumpige Fränklein am Ende des Jahres wohl abwerfen würden? Die Herren sollten doch ihre Nasen lieber in den eignen Hafen stecken s.v., statt in einen der sie nichts angehe!

So schalt und haderte der unwirsche Knecht noch lange, während er im Herzen schon geraume Zeit umgewandelt war. Daß er nun Geld an Zins habe,kitzelte halt doch auch seinen Ehrgeiz und nachdem er [147]nur erst ein paar Einlagen gemacht und die Posten gelegentlich zusammenzählte, kam er sich schon nicht mehr ganz so vor wie der Vogel auf dem Zweige. Jetzt solle ihn sein Herr wieder so schrauben wollen und solche Bedingungen vorschreiben! drohte er zwar noch rachgierig; indeß schon das nächste Mal legte er selber etwas mehr als den bedungnen Theil freiwillig in die Sparkasse ein. War es Zufall? Als er das Büchlein nachher dem Herrn wieder zur Aufbewahrung gab, erhielt er von diesem des andern Tages einen Auftrag, der ein artiges Trinkgeld eintrug. Damit könne er nun einmal sich ein Gutes thun! dachte Rudolf in der ersten Freude; nachher aber wußte er eigentlich doch keinen rechten Anlaß, wollte dieß und das daraus kaufen; für's Eine war's zu wenig, für's Andre zu viel, das Dritte brauchte er nicht nothwendig, so daß er am Ende allen Wenn und Aber ein Ende machte, indem er das Geld einstweilen in die Sparkasse legte: er konne es ja dort immer wieder holen! Aber er holte es nicht, so wenig als ihn dieser Ausweg jemals reute.

Als er nach einem Lohntage dem Kaufherrn das Sparkassenbüchlein wieder einhändigen wollte, schob es ihm dieser zurück: er könne es nunmehr selber aufbewahren!Der Knecht wußte nicht, wie das wieder gemeint sei,gut oder böse? „Er hab' es ihn ja nicht geheißen zu Handen nehmen, wenn's dem alten Egoisten zu viel Mühe mache; aber da er's habe, wäre es doch keine zu große Zumuthung, daß er es nun auch behalte. Gleich

10*[148]viel, er wolle nun zeigen, daß das Büchlein in seinen Händen gerade so sicher aufgehoben sei als in dem Pulte mit dem Verxierschlosse dran!

So haderte jetzt Rudolf, dem es fast leid that, daß er wieder zum unumschränkten Herrn seines Geldes gemacht wurde, derselbe Rudolf, der zuvor in der Bevogtung die himmelschreiendste Tyrannei erblickt hatte.Die Zeit in der er seinem Herrn den Sack vor die Füße werfen wollte, war eigentlich auch schon längst da, es hatte sich aber immer keine Gelegenheit finden wollen,wie verhext keine, gerade jetzt, wo er doch so gerüstet war,während sich deren früher, in seiner mißlichen Lage, zu Dutzenden geboten. Der gute Rudolf ahnte freilich nicht, daß er der Gelegenheitmacher gewesen und es jetzt nicht mehr war. Sodann mußte er im Verlaufe allmälig doch darüber stolpern, daß sein Herr, ob der zwar nie dergleichen that, mit ihm es nicht halb so übel meine, vielmehr auf seiner Leute Nutzen sehe,und auch auf des Rudolfs seinen und ihm gern behülflich sei. Warum auch that er das, der alte Aristokrat?Es war das lange für den Mißtrauischen ein Räthsel,welches ihm viel Kopfzerbrechens kostete, bevor er, fast von selber, auf das Einfache fiel: der Kaufherr meine es gut mit ihm und es müsse demselben an einem ordentlichen Knechte eben mehr liegen, auch im eignen Vortheile, als an einem unordentlichen.

So war denn das Uebelaufnehmen oder Uebelauslegen mehr nur ein Aeußerliches, wo es sich bei Ge[149] legenheit etwa noch zeigte, so aus alter Gewohnheit und sollte fast eher eine Rechtfertigung des frühern eignen Betragens sein, als eine Anklage gegen dasjenige des Herrn. In der That aber verzog doch der Nebel des Mißtrauens sich immer dünner und dünner in Rudolfs Gemüth und Verstand und da stellte bei dem siegenden Sonnenschein auch Alles was er sah rings um sich und in sich, im Hause und in der Welt, stets in hellrem Lichte in klarerer und dabei richtigerer Gestalt sich dar.In dieser kam es ihm fast wie eine neue Welt vor, fand er doch jetzt Beziehungen, Zusammenhang, Gründe,wo er zuvor aus trübem gestaltlosem Grau nur Vereinzeltes und oft ungeheuerlich Verzognes erblickt, einen schroffen Giebel mit einem rostigen Blitzableiter, ein Kreuz, eine verwitterte Mauer, einen bodenlosen Abgrund oder ein in der Luft schwebendes Thurmdach.Ueber dieß Alles machte sich Rudolf zwar kaum eine klare Vorstellung, aber, was folgenreicher und für ihn mehr werth war, er erlebte es, es trat ihm unbewußt in Saft und Blut. Aus Saft und Blut aber werden ja alle Theile des Menschen ergänzt, ernährt und erneut und so fand denn auch die allmälige Umwandlung seines ganzen Wesens, seiner ganzen Auffassung des Lebens und von dessen Verhältnissen statt: eben von innen heraus, durch die kleinsten Adern, zu klein um nur zu pulsiren, die die Lebensstoffe bloß durchsickern lassen an die verschiednen Organe.

Das Sparkassenbüchlein, das ihm Anfangs so schweres [150]Aergerniß bereitet, konnte er nun mit einer fast andächtigen Freude in den Händen halten und sich halbstundenlang an den schwarzen Schwänzen und Ringlein und Haken der trocknen Zahlen weiden. Wohlgefällig überschlug er auch wieder einmal so nach einem Geschäftszahr bei der Zinsverrechnung, was er das Jahr über erspart und eingelegt und wie viel, jährlich steigend,der Zins betrage. Wie auf einer Leiter, immer höher,stiegen da in dem Büchlein, von der ersten Seite bis zur letzten, die Ziffern des Guthabens an Einlage und Zinsen und Rudolf stellte gleich auch, dem gewiegtesten Finanzminister zum Trutz, das rosenfarbenste Budget für die Zukunft. Dann betrachtete er wieder die letzte Zahl der letzten beschriebnen Seite, seinen jetzigen Vermögensstand und verglich die vierziffrige fette Summe mit der magern ersten Einlage zuoberst auf dem erslen Blatte. Unwillkürlich mußte er über den Gegensatz lächeln, da er sich erinnerte, wie schwer ihm am Anfang die kleine Ersparniß gefallen und was für ein Vergnügen er jetzt empfinde, wenn er einen weit stärkern Betrag seines Lohnes sich freiwillig abziehe. Wieder einen Blick auf die lange Zifferreihe, mit den dazwischen eingeschobnen Zinsen werfend, schien es ihm gleichwohl ein Räthsel, ein halbes Wunder, in verhältnißmäßig so kurzer Zeit diese einzelnen kleinen Beiträge zur namhaften Summe angewachsen zu sehen. Er mußte die einzelnen Posten in'ss Auge fassen, um des natürlichen Schlüssels gewiß zu sein. Und nun konnte er es fast [1531]gar nicht begreifen, wie nicht Jedermann gerne spare:es sei so leicht! mache so viel Vergnügen! meinte jetzt derselbe Mensch, der mit Gewalt hatte müssen dazu gezwungen werden. Behaglich weilte er bei den einzelnen Einlagen, den regelmäßigen und außerordentlichen, und erinnerte sich da und dort des besondern Anlasses, der ihm dieselben ermöglicht. Er freute sich an den schwellenden Zahlen wie der Landmann an dem Gedeihen und Wachsthum seiner Früchte und labte sich an dem Eingeheimsten wie dieser, auch bevor er noch davon kostete.

Solche und ähnliche Betrachtungen stellte Rudolf mit seinem Sparkassenbüchlein in der Hand an; er hätte auch noch in ganz andren sich ergehen und weitre Folgen des Sparens in's Auge fassen können, die freilich nur mit Geheimschrift zwischen den Zahlen des Büchleins zu lesen waren. Z. B. hätte er fragen können: wie er bei diesem seinem Sparen denn überhaupt weggekommen,wie gelebt? So gar entsetzlich bedauerlich doch nicht.Er würde dann haben gestehen müssen, es im Grunde nicht schlechter gehabt und auch sich nicht unzufriedner gefühlt zu haben, jetzt, da er ein Drittheil und oft noch mehr seines alten Lohnes sich abgeborgt und in die Kasse gelegt, als zu der Zeit, wo er mit dem Ganzen nicht recht ausgelangt.

Er hätte sich auch nur ganz äußerlich umsehen können:zwar trug er nicht viel Staat, keine katzengoldnen Hemdknöpfchen und vergoldete Uhrketten, keine buntgeblümte seidne Weste und spinnwebige Halsbinde, sogar das Tuch [152] seines Rockes war mehr solid als fein; aber seine einfache und auf die Dauer abgesehne Kleidung trug auch keine Wein und Schmutzflecke, sauber und ordentlich war Alles und das schneeweiße Leinenhemd machte in seiner derben Frische gleichwohl eine weit vortheilhaftre Gattung, als die ehmaligen gefältelten und fogar gestickten, zerknitterten Vorhemdchen. Alles an Rudolf verrieth, daß es da sei um auszudauern und nicht um heute zu paradieren und brillieren und morgen für immer die Flügel hängen zu lassen. Alles auch schickte fich wohl zusammen, und nirgend schrie etwas Nagelneues unter Abgetragnem, oder vielmehr frühzeitig Verdorbnem,hervor nach Errettung. Rudolf sah allerdings jetzt weit mehr einem ordentlichen und wohlgestellten Knechte gleich,als einem gefehlten Herrn, aber es war das merkwürdiger Weise was er gerade wollte, und worin er seine Ehre suchte und es nimmermehr verläugnete. Er bewies mit seiner ganzen Erscheinung wieder die alte Wahrheit, daß die Leute, welche aus Häuslichkeit wenig ausgeben, gar nicht diejenigen sind, die am dürftigsten oder unvortheilhaftesten aussehen, indem sie auch in Besorgung des Aeußerlichsten, ihrer Kleider, sorgfältig, genau, ordnungsliebend sind, Acht geben und schonen. Denn das Aeußere ist doch meist immer der Wiederschein des Innern! Diese fernere Betrachtung hätte Rudolf bei seinem Sparkassenbüchlein ebenfalls über sich anstellen können. Und wenn er da vom Kleide unter den Rock und das Hemde bis in sein Herz würde hineingeblickt haben, die Um[153]wandlung, das heißt der Unterschied gegen früher, wäre ihm noch weit augenfälliger entgegengetreten. Merkwürdige Entdeckungen wären zu machen gewesen. Rudolf hätte da nimmer den alten leichtsinnigen, genußsüchtigen und doch stets unzufriednen Menschen gefunden, der die Arbeit als eine Last ansah, die man so nothdürftig als nur immer angeht abzumachen suchte. Er hätte dafür einen zuverläßlichen Burschen wahrgenommen, der zu Allem, was ihm aufgetragen war, ordentlich sah, besonnen und vorsichtig war, seine Ehre drein setzte recht viel und Großes anvertraut zu erhalten und das Zutrauen zu rechtfertigen, der überlegte, aufpaßte, kurz den Verstand walten ließ, wo er früher in den Tag hinein gelebt.An Stelle des Leichtsinns würde er Neigung zu Ernstem,zu Belehrung und Bereicherung nicht allein durch Geld,sondern auch durch Kenntniß entdeckt haben, an Statt der Unzufriedenheit ernstes Streben vorwärts zu kommen und die Zuversicht in die Zukunft, die nicht mehr neblig und ungewiß war, nicht windig oder trübe, auch nicht trügerisch. Neben dem Gelde und dessen klingenden Zinsen hatte das Sparen all diesen ganzen großen Gewinnst abgeworfen. Wer wollte nicht sparen? mußte Rudolf wieder fragen, ob er auch nur einen kleinen Theil dieser Schätze, nämlich nur den in der Sparkasse aufgehobnen, so überblickte und in Betracht zog.

Ein Gedanke noch drängte sich jetzt immer deutlicher und mächtiger aus der Tiefe des Herzens oder Kopfes hervor bei Rudolf, ein Gedanke, der, wie ein zweiter [154]Napoleon, die andern Gedanken, die ihn Anfangs überragt, rasch in Schatten stellte und als Vafallen zu beherrschen begann, der königliche Gedanke an seine einstige Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Früher war dieser Wunsch zwar auch schon aufgetaucht, aber als Phantasiegebilde ohne Halt und Körper, als ein Feenmärchen,an das er doch selbst nicht glaubte und das ihn daher nur zu unzufriedner Begierde aufzustacheln vermochte.Jetzt aber erhob sich hinter der langen Reihe der Zahlen seines Büchleins, die sich, über das Papier auswachsend,in die däͤmmrige Zukunft hinauszogen, der Gedanke als etwas Wirkliches, Körperhaftes, ob noch duftig und in unsichren Umrissen, Rudolf wußte auch nicht genau,worin dessen wirkliches Wesen bestand, wie man ja in weiter Ferne auch nur einen ungewissen Fleck sieht und kann nicht bestimmt sagen, ob es ein Baum, ein Thurm oder eine Kirche, sondern nur, daß es kein bloßes Luftgebilde ist. Wie seine Selbständigkeit sich gestalten,welche eigne Existenz er sich gründen werde, das konnte auch er nicht sagen, es fehlte ihm aber, das erkannte er zugleich mit einiger Unruhe, hiezu Eins noch namentlich, welches die Sparkasse ihm nicht bot, nämlich mehr Bildung, mehr Schulkenntniß als ihm sein ziemlich vernachläßigter Jugendunterricht verschafft hatte. Zwar etwas von dem Gefühle verspürte er, daß er nun wohl ohne Schande und Spott seinen eignen Herrn und Meister würde vorstellen können, nachdem er sich in der Unterordnung unter den fremden Willen bewährt, denn [155] der frühre Uebermuth, das Herrschen zu verstehen ohne das Gehorchen gelernt zu haben, war ihm, bei allem Knurren gegen seinen Herrn, doch wie von selbst wipfeldürr geworden.

Zum Glücke war Rudolf keine Natur, die sich leicht durch Schwierigkeiten abschrecken ließ, wo es ihm wirklich Ernst war. Er war weder zu träge, noch zu gleichgültig, noch schämte er sich am unrechten Orte,hielt sich auch nicht für zu alt zum Lernen. Er beschloß darum herzhaft an's Werk zu gehen, inzwischen mehre sich in der Sparkasse ja nur sein Schatz. Einer der Commis, der eine vorzügliche Handschrift schrieb, verfertigte ihm Vorlagen für die Schönschrift, welche der alte Schüler dann oft Abends, wenn ihm die Arme von der harten Arbeit müde geworden, im Ladenstübchen beim einsamen Lampenscheine nachzumachen sich befließ.Auch leichtre und dann etwas schwerere Rechnungsexempel ließ er sich als Vorbilder wie als Aufgabe geben und zerbrach sich manche Abendstunde den harten Kopf daran. Wie groß war seine Freude wenn da eine Seite sauber geschrieben vor ihm lag oder eine schwere Rechnung endlich endlich glücklich gelötst wurde! Er hätte sich aber auch gar zu gerne andre, weitre Kenntnisse verschafft. Wohl wußte er von Büchern, worin Vieles stehe, was ihm wissenswerth schien, aber er kannte diese Bücher nicht, konnte nicht die tauglichen von den untauglichen unterscheiden und vor Allem dieselben sich nicht verschaffen. Da wußte er keinen Rath und an [156]den Herrn zu gelangen, scheute er sich theils, theils mochte er ihm auch nicht so recht, wie man sagt, die Ehre darum anthun; vielleicht würde er doch nur abgewiesen oder ausgelacht!

Es war wieder im Beginne des Winters und der langen Abende. Eine gemeinnützige Gesellschaft, welche für Arbeiter und Handwerksgesellen Sonntagsschulen eingerichtet hatte, sandte eine Einladung an alle Meister und Herren, ihre Angestellten zum Besuche dieser Unterrichtsstunden aufzufordern. Als Rudolf Abends sein stilles Plätzlein im Ladenstübchen wieder einnehmen und an den gestellten Rechnungsaufgaben kauen wollte, fand er gerade da, wo er zu sitzen pflegte, diesen Aufruf.Er las und las ihn noch einmal: das war ja gerade was ihm fehlte und was er suchte! Aber wer hatte die Aufforderung ihm hingelegt? Wohl niemand als sein Herr! Jedoch warum? mußte er fragen. Hãtte man ihm nicht das Wort gönnen dürfen, wenn es gemeint war daß er die Gelegenheit benütze? Indeß mußte Rudolf bei einigem Besinnen gestehen, Herr Steinmann habe ihn ja schon vor Jahren zu dem Besuche der Abendschule veranlassen wollen, er jedoch in Trotz und Mißtrauen sich dagegen gesträubt. So entschloß er sich zu fragen und einen abschlägigen Bescheid erhielt er natürlich keinen; in der Abendschule aber war er bald einer der Fleißigsten und Gelehrigsten, er kam nicht nur rasch,sondern auch leicht vorwärts, weil Alles planmäßig und mit vortrefflichen Mitteln getrieben wurde.[]Dreizehntes Capitel.

Aussichten zu einer Heirath. Reise in die Heimath bei Sonnenschein. Warum aber Rudolf dem Annemareili das Päcklein nicht trägt.In diesem guten Geleise befand sich Rudolf schon seit geraumer Zeit, als ihn Annemareili kennen lernte.Unter der Selbständigkeit, die er anstrebte, begriff er richtig einen eignen Hausstand mit ein, macht doch ein jolcher erst den rechten und ganzen Mann aus. Er hatte mit ruhigem Wohlgefallen sein Auge auf das wohlgebildete und doch so gesetzte Mädchen geworfen, das fast so eifrig wie er sich Ersparnisse auferlegte und dieselben auf die gleiche Weise nutzbar zu machen suchte.Die Landsmannschaft und frühere Bekanntschaft, so wie die Annäherung durch die wiederholte Begegnung, verwandelten das allgemeine Wohlgefallen bald genug in eine bestimmte Absicht, auf die er nun immer näher hinzusteuern trachtete.

Annemareili seinerseits/ machte in seinem Gefühlsleben einen ähnlichen Gang durch, dieselben Gründe sprachen ihm auch für eine günstige Beurtheilung und Aufnahme des ehmaligen Gespielen: der gesetzte ordent[158]liche Mann, voll der besten häuslichen Anlagen, mußte ihm ja schon um der leidigen Erfahrungen an dem leichtfertigen Bäcker-Joseph einen vortheilhaften Eindruck machen, die Gemeinsamkeit ihrer Schicksale war kein minder kräftiges Anziehungsmittel; kurz bei den beiden vorsichtigen Leutchen entwickelte sich in verhältnißmäßig kurzer Zeit ein beinahe inniges Verhältniß, das zugleich auch alle Bedingungen für den erwünschtesten Erfolg zum voraus in sich zu tragen schien. Allerdings, ein gewisses jugendliches Aufflammen hatte die Beiden nicht zusammen geführt. Ein herzliches Vertrauen, auf gegenseitige Sicherheit gegründet, verhinderte vielleicht gerade durch seine ruhige Wärme jene Leidenschaftlichkeit und jene stürmischen Gefühle, wie diese sich bei jüngern und weniger von der Erfahrung berührten liebenden Herzen zu finden pflegen.

Wie viel Gemeinsames aber die Beiden auch in äußern und innern Schicksalen besaßen, auf wie gleichem Standpunkte sie jetzt, da sie sich fanden, zu stehen schienen, der Unterschied zwischen ihnen war doch, daß sie dahin eigentlich den umgekehrten Weg gemacht hatten.Annemareili war durch sein häusliches, fleissiges und eingezognes Leben zu der Sparkasse gelangt, Rudolf hingegen durch die aufgezwungene Sparkasse zu einem ordentlichen, arbeitsamen und ehrbaren Wesen. Denn das ist ja der doppelte Segen derartiger Sparanstalten,daß sie ebensowohl dem im Schweiße des Angesichts erworbenen Nothpfennig einen sichern Zufluchtsort bieten,[] 159 und auch größern Ersparnissen einen Sammelpunkt gegen eigne Schwäche und fremde Verführung, als daß sie anderseits eine Schule sind, den Sinn für Häuslichkeit und Arbeitsamkeit zu pflanzen und zu fördern,sowie den Widerstand gegen die Genußsucht zu erleichtern. In diesem Sinne ist der Besitz auch ein Sporn zu guten Gewohnheiten; das hat schon mancher Arbeiter und mehr als ein Dienstbote zu seinem Heile erfahren können.

Seitdem aber Annemareili und Rudolf, erst stillschweigend und bald in erklärter Uebereinstimmung einem bestimmten Ziele, ihrer Verbindung und der damit beginnenden Selbständigkeit entgegen giengen, vermehrten sich noch ihre Anstrengungen. Fast ängstlich sahen sie auf jeden Batzen, den sie als Baustein an ihr künftiges Glück sammeln könnten, und um so genauer vermieden rückbringeni können: vor Allem jede Ausgabe, die nicht.unvermeidlich nothwendig war. Ein wahrer Wetteifer entfaltete sich zwischen den Beiden, indem Annemareili wohl merkte, wie viel seinem Verlobten an jeder Ersparniß lag und es ja ihm seine Liebe dadurch darlegen konnte.Das Hauptvergnügen neben dem Sparen war ihnen das gemeinsame Plänemachen für die Zukunft, wobei es an Ueberschläägen und Berechnungen nicht fehlte, häufig genug gefolgt von einer neuen Anstrengung zur Mehrung ihres Vermögens. Dieses, von beiden Theilen zusammengeschossen, betrug bereits eine artige Summe,[160]mit der sich im Nothfalle schon etwas anfangen ließ.Es war aber auch eine solche erforderlich für den Zweck,der sich eben als die schönste Gelegenheit bot. Rudolf war in seinem Heimatdorfe gewesen und brachte bei der Rückkehr von dort die Kunde mit, daß der Krämer, ihr ehmaliger Jugendfreund Heinrich, seinen Kramladen zu verkaufen gedenke, weil er nie Lust am Handeln gehabt als ein stiller und scheuer Mensch und, ledig wie er war,sein Leben auf eine ihm mehr zusagende Weise zu führen wünschte. Er suchte nur einen Liebhaber, dem er Haus und Geschäft zu annehmbaren Bedingungen abtreten könnte, und Rudolf hatte vorläufig mit ihm die Angelegenheit im Allgemeinen besprochen. Aufgeregt, aber in guter Stimmung, war Rudolf in die Stadt gekehrt und benützte die erste Gelegenheit mit Annemareili die Sache in ernstliche Erwägung zu ziehen. Da galt es denn den Anwurf für Haus und Geschäft nebst den ersten Einrichtungen des jungen Haushaltes in Berechnung zu ziehen; eine weitre Summe zum Betriebe durfte ebensowenig übersehen werden. Dieses Alles drohte aber,auch im bescheidensten Maße ausgeführt und bei der grösten Einschränkung des jungen Paares, die verfügbaren Mittel mehr als zu erschöpfen. Der Sache selbst fühlte sich zwar Rudolf wohl gewachsen; sein Besuch der Abendschule sowohl, als der langjährige Aufenthalt in dem Hause und Geschäfte Steinmanns, hatten ihn zu dem was die Führung eines Kaufladens betrifft, hinlänglich fähig gemacht, manches kleinre Kaufmännische,[] 161 was sonst Commis besorgen, war durch das Zutrauen seines Herrn, Rudolf bereits schon anvertraut worden und hatte ihn tiefer in das Handelswesen eingeführt.Das konnte ihm jetzt trefflich zu statten kommen, wie er denn auch mit dem Kramladen keineswegs, was man sfagt, die Katze im Sacke kaufte. Gleichwohl machte ihn der Geldpunkt etwas ängstlich, er fürchtete, mit den Ersparnissen doch nicht genügend auszureichen. Sein früherer leichter Sinn, sein kecker Muth schienen ihn ganz verlassen zu haben. Er rechnete und rechnete, konnte nicht vorsichtig genug sein; die Zinse des stehenbleibenden Capitales drückten ihn schon im Voraus, in allen Gliedern empfand er es, daß er bereit sei einen sehr entscheidungsvollen Schritt zu wagen. So war Rudolfs Herz und Kopf fast völlig von dem abzuschließenden Vertrage eingenommen und es wogte darin auf und ab. Heute hoffte er und war guter Dinge: die Bedingungen des Kaufes seien ja so günstig als moöglich, für die Haushaltung in der ersten und schlimmsten Zeit brauche er so viel wie nichts, die meisten Waaren liefre ihm sein bisheriger Herr zu den vortheilhaftesten Preisen und mit Zahlungsterminen, die er selber bestimmen könne. Morgen dagegen überkam den armen Rudolf wieder ein entsetzliches Bangen und grenzenloser Kleinmuth: er sah Alles fehlschlagen, ein Gewirr von Verlegenheiten, eine Last von Schulden drohte ihn zu ersticken und zu erdrücken; er wünschte den Kramladen in's Pfefferland und wollte lieber sein Leben lang Knecht 11

Dieneun und Verdienen.[162]bleiben, als mit solchen Aengsten Herr sein. In kürzerm Wellenschlage machte Annemareili diese Schwankungen alle mit, indem es, bei der eignen Unkenntniß, seine Stimmung an der des Verlobten absah. Mit diesem freute es sich an der ständigen Zunahme ihres bescheidnen ersparten Vermögens; etwas aber schien ihm dabei doch auch zu fehlen und sogar eine kleine Furcht schlich ihm in's Herz. Diese Besorgniß hatte eine tiefre Wurzel als bei Rudolf. Wenn diesem die äußre Sicherheit noch nicht begründet genug erschien, zagte Annemareili wohl auch, allein es sagte: an Gottes Segen ist Alles gelegen! Dieß gab Rudolf zwar zu, aber er meinte doch: wenn sonst Alles in Ordnung sei, werde dieser Segen nicht fehlen, wo man Recht thue und das Seine ehrlich erwerbe; Das sei ja gerade der Lohn der Rechtschaffenheit! was man denn sonst vor einem Diebe oder Schelmen oder Lumpen voraushätte? Auf Solches schwieg denn wohl Annemareili, aber es hatte es ja nicht so gemeint. Indeß gieng unwillkürlich und fast ohne vieles Zuthun die Angelegenheit durch alle diese Klippen und Sandbänke hindurch der endlichen Abwicklung entgegen, indem mehr als ein Berg sich von selber zu ebnen schien, sobald man sich ihm nahte, und mehr als ein gefahrdrohendes Riff unschädlich in die Tiefe versank, noch bevor das Lebensschifflein Annemareilis und Rudolfs nur daran gestoßen.

Unter allem Erwägen und Sorgen und Zweifeln waren daher die Zwei doch soweit gekommen, daß sie [163]bereits den Tag festgesetzt, an welchem fie gemeinsam in ihrer Heimatgemeinde sich einfinden wollten, um mit den Behörden die nöthigen gesetzlichen Schritte zu vereinbaren und den Kramladen, sowie ihre häusliche Einrichtung an Ort und Stelle gemeinsam einzusehen und zu besprechen. Zu diesem wichtigen Gange hatten sie von ihren beidseitigen Herrschaften, die um den Zweck und das Ziel wußten, die Erlaubniß, sowie einige nöthige Anweisungen bereitwillig erhalten. Die Eisenbahn führte sie bis etwa zwei Stunden von Schwellbach,wohin ein freundliches Nebensträßchen zwischen Bergwiesen und am Waldsaume hin über die Anhöhe weg abzweigte. Es war im Herbste: Aster und Tausendguldenkraut blühten am Wege, der mit wilden Rosenbüschen stückweise begrenzt war, an denen aber jetzt nur feuerrothe Hagebutten an den langen dornigen Ranken über den Fußpfad sich hinneigten. Die hellgrüne Wiese, mit dem kurzen dichten Grase, prangte voll Herbstzeitlosen,die von dem freundlichen Sonnenschein erwärmt, nicht halb so frostig an den Winter mahnten, wie sonst ihre Art ist; hie und da stand auch ein einzelner Baum Bergkirschen, der jetzt tief in purpurnem Blätterschmucke prangte. Vogelsang war freilich nicht mehr viel zu hören. Wenn zwar da und dort noch ein Fink oder eine Meise in's Gebüsch oder über den freien Anger nach dem Walde zuflogen, geschah das ohne viel Aufhebens und meist zu praktischen Zwecken: sie trugen irgend eine Beere, ein ver spätetes Würmlein als Beute zu Neste.11*[164]Die Spinnen allein schienen ihr Webegeschäft noch in schwunghaftem Flore zu betreiben, den vielen Fäden und Netzen nach zu urtheilen, welche sie von Halm zu Halm und von Ast zu Ast hinzogen, als sollten nicht nur sämmtliche noch vorhandne matten Fliegen und Mückchen jetzt gefangen werden, sondern auch die Menschen,bald eine Nase in den Netzen, bald war eine Augsbraune umsponnen, oder ein Mund mitten im Sprechen durch ein paar derbe überzwerche Fäden plötzlich geschlossen. Es giengen übrigens nicht viel Leute des Weges;nur in der Ferne, auf einem tiefen Acker, waren Weiber und Männer und Kinder am Erdäpfelaushacken,noch weiter unten pflügte ein Knecht und sein eintöniges Hüst und Hott drang weit durch die herbstliche Stille dahin.

Annemareili und Rudolf bogen eben aus dem Hohlwege, der durch ein Stückchen Wald nach der freien Höhe führte, von wo der Ausblick in die Ferne und in das jenseitige Thal sich öffnete. Sie waren schweigend heraufgekommen, schweigend blieben sie jetzt auch stehen, wie überrascht von dem was sie sahen, obwohl ihnen Weg und Gegend nichts weniger als neu waren.Aber der längre Aufenthalt in der Stadt, in den engen Straßen und den hohen Mauern hatte ihnen die Augen für den ländlichen Reiz geschärft, altbekannt und doch frisch, und von dem herbstlichen sonnigen Dufte verklärt, machte Alles einen eigenthümlichen Eindruck auf [] 165 sie. Da unten am Fuße des schon in Gelb und Roth prangenden bergigen Laubwaldes, der quer auf der saftgrünen Wiese lag, stand ihr Heimatdorf, der Kirchthurm mit dem eisernen Kreuze und die braunrothen Dächer schon von der Sonne beleuchtet, während die Mauern noch in blauen Schatten standen. Dem Bache entlang zog sich Buschwerk, von einzelnen Erlen überragt, hinten wölbten sich in sanften Linien und nur selten von einer gelben Fluh unterbrochen, die hügligen Berge,von Dunkelblau in dämmrigen Duft sich abstufend, nach ihrer Entfernung. Der Kirchthurm ragte über die tiefste Einsattelung des Gebirgzuges hinaus und schien neugierig durch die Lücke in die weite Welt draußen blicken zu wollen. Mancherlei Gedanken stiegen in den beiden Wanderern auf, denen diese aber, jedes für sich, stillschweigend nachhiengen: die einen flatterten in dem frischen Morgenwinde leicht über die Höhen dahin, andre hafteten schwerer und zäher, neue drängten unwillkürlich nach an die Stelle der entfliehenden. Es wogte und spielte und kämpfte in den Herzen fast wie in der Luft, Hoffnung und Frende dort mit Sorge und spannender Erwartung, wie hier die wärmenden Sonnenstrahlen mit der Morgenkälte, die aus den schattigen Theilen der Landschaft, wo sie hartnäckig Posto gefaßt, sich nicht wollte vertreiben lassen.

Annemareili trug ein Päcklein, in grau Papier gewickelt und mit einer Schnur zusammengebunden, während sein Begleiter ledig gieng. Ein andermal hätte [166]Rudolf die kleine Last seiner Verlobten jedenfalls abgenommen, dießmal that er's nicht, bot es nicht einmal an; konnte es unbemerkt geschehen, so warf er sogar einen halb ärgerlichen Blick darauf. Als sie den Entschluß gefaßt, den Besuch in ihrem Heimatdorfe abzustatten, hatte Annemareili in guten Treuen von den Geschenken mit Rudolf zu sprechen angefangen, die sie den Ihrigen, wie üblich, bringen könnten; jedenfalls dem Stiefbrüderchen, doch auch der Stiefmutter würde es gerne etwas verehren; der Vater war seit zwei Jahren todt. Was Rudolf den Seinen zu bringen gedenke? fragte es, als dieser stille schwieg. Fast etwas verlegen erwiderte er: er wüßte nicht was die Mutter besonders noöthig hätte, zudem fange er Dergleichen nicht gerne an, besonders jetzt nicht, da sie zu dem Ihren sehen müssten und für sich selber kaum ausreichen würden; es dünkte ihn, es wäre am besten, sie dächten erst an sich, es helfe ihnen ja auch niemand und man wisse nicht, was Alles noch an einen komme!

Annemareili konnte an sich bis auf's Aeußerste abbrechen und dabei fröhlichen Herzens sein. Etwas Anderes aber war es an Andern zu sparen; das vermochte es nicht. Es hätte sich schon vor den Leuten und seinen Verwandten geschämt, diesen, die so dürftig waren,nicht etwas zu kramen, es, dem es ja wohl gieng. Noch mehr aber verwehrte ihm dieß das Gutmeinen und Wohlwollen seines Herzens. Wußte es doch wie erwünscht ihnen ein Geschenk kam, wie angelegt auch es war und [167]b wie sie es erwarteten. Dem Stiefbruder, der in Unterricht gieng, hatte es Tuch zu einem Rocke bei seiner Confirmation zugedacht, der Stiefmutter zu einer Schürze für den Sonntag; es wäre ihm unmöglich gewesen mit leeren Händen vor sie zu treten. So sah es nur die Freude, die es verbreitete, und nicht den kleinen Abbruch an einer Summe, deren zukünftige Verwendung nur farblos im Allgemeinen ihm vor Augen stand.Und konnte es auch den Grund weder sich selbst klar machen, noch weniger ihn bestimmt angeben, so fühlte es deßhalb nicht minder lebhaft, daß es Recht habe und leistete so Widerstand gegen Rudolfs Bedenken, die sich ja auch nicht geradezu ihm hindernd in den Weg zu stellen wagten.

Diese Lust Annemareilis, andern Freude zu machen,und seine Liebe zu Rudolf ließen deßhalb auch keine tiefere Mißstimmung in ihm aufkommen, und es trug sein Päcklein getrost selber, durch den schönen Herbsttag vollends zur Heiterkeit aufgelegt. Sein Schweigen jetzt war mehr ein bräutliches: das Herz war so voll, so erwartend,so von neuen Eindrücken umlagert, daß es ihm wohl that, nur stille in die blaue Ferne, auf die hellgrünen Matten hinblicken zu können und auf das Dörflein hinunter, darin es seine Jugend verbracht und wo ihm nun ein zweites schönres und reichres Leben aufgehen sollte.

Rudolf seinerseits hatte freilich einen andern Grund des Schweigens, er hatte etwas zu verarbeiten: einen kleinen Aerger über Annemareilis unzeitige Generosität,[68]wie er es nannte, und dann ein Heer von Sorgen, Bedenken und Zweifeln, die beim Anblick des Dorfes, seines künftigen Aufenthaltes, wie böse Dünste aufzusteigen schienen und sich drückend über sein Hirn lagerten. Die nahende Entscheidung machte ihm diese Stimmung nicht erträglicher und in seiner Schwarzsichtigkeit las er aus dem Schweigen der Verlobten nichts als eine Bestätigung des eignen Mißbehagens und Besorgens.

Ohne Mahnung, ohne Verabredung, aber als hätte nun Jedes muthig seinen Entschluß gefaßt, schritten die Beiden rüstig dem Dorfe und dem heutigen Ziele zu.Nur bei den drei alten Nußbäumen, wo das Mädchen bei seiner Flucht vom Hause sich noch einmal umgekehrt und seine väterliche Wohnung noch einmal angeschaut,nur dort weilte Annemareili auch jetzt wieder einen Augenblick. Die Erinnerung jener langverflossnen Zeit wachte mit einmal lebendig in seiner Seele auf und es sah sein eignes verwahrlostes, aber jugendliches, Bild,wie das eines fremden Menschen vor dem geistigen Auge aufsteigen. Aber es schwieg; nur als Rudolf den Fußweg einschlagen wollte, der hinter den Häusern schneller nach der Mitte des Dorfes führte, drang es fast erregt darauf, den breitern aber weitern Fahrweg einzuschlagen,als fürchte es sich den abgelegnern Pfad jetzt zu begehen,auf dem es heimlich wie ein Dieb seiner Zeit sich davon geschlichen.

Wie sie sich vorgenommen, giengen die Verlobten zuerst zum Krämer, um vor Allem das Geschäftliche ims [169]Reine zu bringen. Wie war er verkommen, der gute Heinrich! Seit den manchen Jahren, die es ihn nicht mehr gesehen, schien er Annemareili gar nicht gewachsen,ja eher noch kleiner geworden zu sein. Nur sein Gesicht war welker und die Züge älter; er sah aus wie ein Stück verlegner Waare seines Kramladens. Einiges Leben kam jedoch in das stille trockne Antlitz durch die unerwartete Begegnung mit der ehmaligen Freundin,wenn der Strahl der Freude, als ein matter Wiederschein, auch etwas mühsam durch die Jahre der Trennung drang und sich in den, der Jugendlichkeit entwöhnten Zügen nur nothdürftig behauptete. Da sei doch der Rudolf ein andrer Mensch! mußte Annemareili unwillkürlich denken, als es die beiden Jugendgenossen neben einander sah und verglich. Auch bei der geschäftlichen Verhandlung über diesen und jenen Punkt zeigte sich der Unterschied: Rudolfs gewandte Entschlossenheit, sein durchgreifender Wille zwangen bei mehr als einem Anlasse den schwächern und blödern Heinrich zum Nachgeben und Willfahren. Unwillkürlich kam es hiebei Annemareili vor, die Zweie stritten sich wieder wie in der Knabenzeit und der Schmidtrudi mißbrauche seine Uebermacht gegen den Schwächern. Ja es wandelte das Mädchen mehr als einmal an, wieder dem Unterliegenden wie ehmals zu helfen und den Rudolf, zwar nicht mit Kratzen und Haarraufen zur Räson zu bringen,wohl aber durch einen ernstlichen Zuspruch, eine Mahnung oder eine Vorstellung seiner unbilligen Eigensucht.[170]Rudolf war gewandt, tüchtig und wußte was er wollte, darüber waltete kein Zweifel und diese Eigenschaften gefielen auch Annemareili. Was aber Schonung, Billigkeit oder gar zarte Rücksichten anbetraf, so waren diese seine schwache Seite. Weniger weil er rohen und harten Herzens gewesen, als weil er der Meinung war,dergleichen gehörten nicht in den Handel. Sein Grundsatz war vielmehr: Jeder solle sich wehren so gut er vermöge und nach Kräften seinen Vortheil wahren;versteht sich, ohne den Vorwurf der Unehrlichkeit auf sich zu laden! Mehr als einmal auch wandte sich Heinrich, wenn er in's Gedränge gerieth, an Annemareilis Billigkeitsgefühl und stellte ihm den Entscheid anheim.Dem Mädchen war das peinlich, um Rudolfs willen,weil es wohl merkte, wie dieser erwartete, daß es ihm zustimme, und ebenso wegen Heinrichs, dem es nicht selber zu nahe treten konnte. Es suchte sich deßhalb aus der Verlegenheit zu ziehen indem es sagte: darauf verstehe es sich nicht, zudem sei es parteiisch; des Rudolfs Nutzen sei ja auch seiner. Da aber gab Heinrich erst recht nach, als fühle er sich ganz wehrlos und verlassen, sodaß Annemareili ordentlich froh ward, als sie endlich in's Reine gekommen und den Krämer und sein Haus wieder verließen, die Ortsbehörden und die eignen Verwandten aufzusuchen.

In wie lockrer Verbindung Annemareili auch mit der Stiefmutter stand, es hatte aus Schicklichkeitsgefühl doch darauf gehalten sie jetzt auch zu besuchen.[171]Mehr mochte es sich noch zu seinem Stiefbruder angezogen fühlen, den es ja von klein auf wie einen wirklichen Bruder geliebt. Rudolf begleitete seine Verlobte. Sie wurden von der Stiefmutter leidlich freundlich aufgenommen, besonders als diese den ihr bestimmten Kram sah. Mit dem Danke kam aber auch ein großer Schwall Klagen über ihre Noth und Dürftigkeit,wie die Kinder ihr eine Last seien, ihr niemand helfe und sie oft nicht wisse wo nehmen und wo wehren.Und die Armut und die Unordnung die in allem sich in der Wohnung kundgaben, drückten Annemareili auf dem Herzen. Halb schämte es sich vor Rudolf, noch mehr aber fiel ihm der Gedanke peinlich, wieder in solcher Armütigkeit leben zu müssen, in der es doch leichten Blutes so manches Zahr verbracht. Und was ihm noch mehr zuwider war als die äußre Dürftigkeit, das war der rohe und unfreundliche Geist, der hier sein Wesen hatte und mit seinem verwilderten Blicke Alles ansah und beurtheilte. An ihm merkte es am auffäͤlligsten die große Veränderung die es selbst in der Zwischenzeit erfahren. Ein unbehagliches Gefühl, ja ein tiefes Bedauern überkam es besonders auch wegen seines Stiefbruders, der in dieser Luft leben mußte und jetzt gerade,wo sein junges Gemüt durch den Confirmationsunterricht sich Höhrem und Bessrem zuwenden sollte. Der Knabe äußerte, im Gegensatz zu seiner Mutter, eine aufrichtige und lebhafte Freude beim Wiedersehen Annemareilis,auch bevor ihm dieses seinen Kram ausgepackt. Und [172] auch als er das währhafte und gute Tuch zu dem Feierkleide in Händen hielt, war es wohl ebenso sehr die Freude über die Anhänglichkeit des lieben Annemareilis,als der Werth des Geschenkes, was seine Wangen röthete. Die Scheu vor der „vornehmen“ Schwester, die in der Stadt in einem Herrenhause lebte und jetzt noch obendrein verlobt war, verlor sich bei dem Burschen bald und die alte Traulichkeit brach wieder hervor, da auch er die frühre Liebe wiederfand. Der offne Junge trug seine Gefühle sogar theilweise auf Rudolf über,sah er doch nun Beide als zusammengehörend an, besonders da der künftige Schwager auch ihm sich freundlich zeigte.

Als die Stiefmutter für einen Augenblick die Stube verlassen hatte, machte der Knabe mit seinem frischerwachten und freudigen Vertrauen sich alsbald an Annemareili und drückte ihm den Wunsch aus, in die Lehre zu treten und ein Handwerk zu erlernen. „Die Mutter will nichts davon wissen,“ schloß der Knabe, „sie sagte ich solle mich an dich wenden.“

Annemareili war hiedurch überrascht, wenn ihm in dem Wunsche auch gleich das richtigste Mittel zu liegen schien, den Stiefbruder in bessre Verhältnisse als hier zu bringen und so gründlich für seine Zukunft zu sorgen. Es warf, ohne etwas zu erwidern, einen Blick,halb fragend, halb bittend, auf Rudolf, der roth wurde,aber nur kurz bemerkte: dazu müsse sich der Knabe an seinen Vogt wenden und dieser waährscheinlich dann an [173]die Gemeinde! Der Junge blickte seinen künftigen Schwager ob dieses Rathes etwas scheu und verlegen an, und sein Auge flüchtete dann zu Annemareili, ob dieses nicht ein tröstlicheres Wort für ihn habe? Es schwieg, sein Blick jedoch schien dem Bruder eher Hoffnung machen,als ihm diese benehmen zu wollen. Eine weitre Verhandlung fand keine Statt und bald hernach trennte man sich, mit Ausnahme Annemareilis und des Stiefbruders ohne viel Wärme, um nun noch Rudolfs Mutter zu besuchen und ihr des Sohnes künftige Frau vorzuführen.[]Hierzehntes Capitel.Die Schwiegermutter. Herbitnebel. Annemareili giebt nach.

Sie trafen die Alte in kaum viel günstigern äussern Verhältnissen als die Stiefmutter. In einer ziemlich verfallnen Kammer, hinten an eine Scheune stoßend,sah Alles gar ärmlich und verbraucht aus, Nothdurft und Unvermögen blickten von jedem Stück Geräthe und aus jedem Winkel den Eintretenden fast wehmüthig entgegen. Und sie paßten allerdings weit besser zu der gebrechlichen und gebeugten Gestalt der Bewohnerin, die sich mühselig von einem mit Schnüren zusammengebundnen Sessel erhob, als zu dem frischen und kräftigen Paare, das in seinem Sonntagsputze wie verirrt inmitten der Stube stand. Gleichwohl fiel Annemareili alsbald ein großer Unterschied auf zwischen der Armuth hier und der bei seiner Stiefmutter. Die Schmidtwittwe hatte es im Leben hart gehabt und jetzt im Alter nicht freundlich; aber sie hatte immer redlich gekämpft, war Bessres gewohnt, und rang auch jetzt noch nach ihren schwachen Kräften, nicht unterzusinken. Wie arm und gebrechlich ein Jedes war, die Reinlichkeit und Ordnung drang [175]doch durch alle Dürftigkeit siegreich hindurch und eine bessre Zeit blickte da und dort noch, ob auch scheu und unsicher, in die schlimme Gegenwart herein. Man sah es, die Frau leistete gegen das völlige Verkommen noch immer muthigen Widerstand, hatte nicht das Gewehr gestreckt oder gar mit dem Erbfeinde, der Unordnung und Gleichgültigkeit ein Schutze und Trutzbündniß geschlossen. Reinlich waren die wenigen abgebrauchten und hinfälligen Geräthschaften, reinlich Boden und Wände,die Bettdecke alt, verwaschen und hundertfach geflickt,aber ganz, das wenige Geschirr, vom Geringsten, stand gescheuert ein jedes an seinem Orte. Kurz, der gute Wille zeigte sich überall, aber das Vermögen fehlte, da langten die schwachen Kräfte der alten Frau nicht mehr hin. Sie wollte den Kindern gerne einen rechten Caffe machen, aber man sah ihr die Verlegenheit an, daß es ihr so ziemlich an Allem dazu fehlte: nicht genug Caffe,zu wenig Milch, hartes Brod und ungenügendes Geschirr. Die jungen Leute dankten, es sei nicht nöthig,sie müßten ja doch ins Wirthshaus! und mit sichtlicher Wehmuth verzichtete die Mutter auf diesen Ehrenpunkt der weiblichen Gastfreundschaft, indem sie beifügte: Rudolf und Annemareili würden es halt besser gewohnt sein! Rudolf schien es hier überhaupt nicht recht wohl zu sein, bald drängte er wieder fort, als triebe ihn eine heimliche Unruhe oder ein stiller Vorwurf. Man müsse noch zum Gemeinderath und dem Schreiber, meinte er,von wegen der Schriften und da sei es jetzt Zeit auf[176]zubrechen. Annemareili, das zu der alten Frau halb aus Mitleid, halb aus Zuneigung sich hingezogen fühlte,und auch gerne ihr Vertrauen sich erworben hätte, hieß Rudolf allein zu den Behörden gehen und die Sachen abmachen, es sei doch unnöthig dabei, und wolle lieber inzwischen bei der Mutter bleiben und hier auf Rudolfs Rückkunft warten. Ein etwas verwunderter aber freundlicher, ja fast dankbarer Blick der Alten bestärkte es in diesem Vorsatze, als der Verlobte nicht ganz damit einverstanden schien, sondern meinte, es könnte leicht irgend einen Anstand geben und auch sonst wäre es ihm lieber wenn Annemareili dabei wäre, es gehe sie Beide ja gleich an. Annemareili aber erklärte, von derlei Geschäftssachen ja doch nichts zu verstehen, es wäre nur das fünfte Rad am Wagen. Auch die Mutter ergriff nun die Partei der Schwiegertochter und wo zwei Weiber recht zusammen halten, da zieht ein Mannsbild, und wenn es auch der zähste Rudi wäre, gewiß den Kürzern, wenn es nicht gar das Rauheste herauskehren will.

Kurz Rudolf gieng zu den Gemeindebehörden und die Frauen, sobald er den Rücken gekehrt, machten sich nun doch dran, einen kleinen bescheidnen Caffe zu kochen, als das sicherste Mittel, ihre Herzen gegenseitig zu erschließen und sich näher zu kommen. Schon bei dem Herbeiholen und Benützen des dürftigen Kochgeschirres, womit aber Annemareili, so gerne es behülflich war, sich in der Dürftigkeit nicht zurecht zu finden wußte, schon am Anfang,noch ehe der Trank selber seine Wirkung that, ließ die [177]alte Wittwe das theilnehmende Mädchen ein wenig in ihre Noth blicken; mehr jedoch daß sie in Entschuldigungen als in Klagen sich ergoß. Es brauchte nicht gar vieler Hin- und Herreden, so erkannte Annemareili, daß Rudolf für seine Mutter nichts that, sondern sie so gut oder so schlimm als möglich sich behelfen ließ. Allerdings hatte die Frau auch nichts von ihm verlangt, ein einziges Mal ausgenommen an den Hauszins. Da sei aber der Sohn selber in Geldverlegenheit gewesen, sonst hätte er es gewiß gethan! fügte sie entschuldigend bei. Später, da es ihm besser ergangen, habe er sie ein paar Male gefragt, ob sie etwas bedürfe, ihr auch wiederholt ein Geschenk gemacht. In neurer Zeit freilich nicht mehr und da hätte sie halt geglaubt, Annemareili sähe es vielleicht ungern; sie sehe nun aber wohl daß dem nicht so sei und es freue sie, wenn es ihr an Rudolf auch wehe thue, er habe sonst immer ein Herz für sie gehabt! Indeß, fügte sie wieder entschuldigend bei, eine neue Einrichtung kostet Geld, besonders solch ein Geschäft, wie des Krämers seines, zudem habe er ja Alles selber verdienen müssen, sie wolle sich in Gottes Namen behelfen, es sei noch immer gegangen,Gott werde sie auch jetzt in ihren alten Tagen nicht verlassen! Die arme Frau wollte auch durchaus nicht,weder selber mit ihrem Sohne sprechen, noch daß Annemareili es thue: wenn es ihm einmal möglich sei und sie nicht mehr selber es vermöge, werde er ihr schon behülflich sein! Annemareili war tief ergriffen, verschie12

Dienen und Verdienen.[178] denartige Empfindungen bemächtigten sich seines Herzens,vor allem aber ein inniges Mitgefühl mit der guten Wittwe. Im Drange seines Gefühles leerte es sein Geldbeutelchen auf den Tisch aus und bat fast flehentlich, als gölte es eine Schuld zu sühnen, die seines Verlobten, die kleine Baarschaft anzunehmen. Sie seien ja jetzt nahe verwandt, es die Tochter und sie die Schwiegermutter, da dürfe ja eins von dem andern schon etwas annehmen. Der Schmidtsfrau traten Thränen in die vertrockneten Augen, aber sie war nicht zur Annahme der Liebesgabe zu bewegen, nur das versprach sie endlich,wenn sie wirklich Noth leide und der Hülfe bedürfe,sich vor Allen an Annemareili wenden zu wollen.

Die Beiden waren sich schnell näher gekommen, sie standen wirklich wie Mutter und Tochter zu einander,als Rudolf wieder eintrat, der inzwischen die Geschäfte abgethan und nun zum Aufbruch mahnte. Sie wollten noch vorher etwas im Wirthshaus essen und er lud hiezu auch die Mutter ein, welche es aber entschieden ablehnte. Die beiden Jungen giengen allein und Rudolf, in Betracht seiner künftigen Stellung als Krämer, ließ sich's dießmal wider Willen etwas kosten, Wein und Braten mußten ihm auf den Tisch kommen. Er aß freilich beinahe allein, denn seine Braut rührte die Speisen kaum an. Sie gab dem genossenen Caffe Schuld, in Wahrheit aber hatte ihr etwas ganz Anderes den Appetit genommen: die Lage und die Mittheilungen der armen Schwiegermutter. Als sie fast [179]fertig waren, bat es, der Mutter doch auch etwas zukommen zu lassen, ein Stück Braten und eine Flasche Wein. Rudolf sah Annemareili prüfend, ja fast mißtrauisch an. Die Mutter hätte ja mit ihnen kommen können! meinte er, indeß er habe nichts dagegen ihr etwas zu schicken! und die Magd des Wirthes trug nun alsbald die ungewohnten Leckerbissen nach der armseligen Wohnung der Schmidtswittwe hinüber.Als die Zwei sich auf den Heimweg machten und vom Dorfe den Hügel wieder hinan stiegen, wälzte sich über die Höhe desselben ein dicker grauer Herbstnebel und verhüllte die Sonne, die nun nur zeitweise wie eine mattglänzende silberne Scheibe durch die leichtern Wolkenmassen hindurch drang, aber weder zu erwärmen, noch zu erleuchten vermochte. Es war kalt und feucht droben,besonders da zwischen der Berglücke noch der Wind herüber blies und von den Ranken und Zweigen des Gebüsches die Nebeltropfen den Wanderern gelegentlich in's Gesicht und auf die Hände schüttelte. Auch das Gras war naß und die Herbstblumen, die Morgens so lachend ihre bunten Köpflein der Sonne zugekehrt, ließen dieselben nun schauernd und trauernd in der unfreundlichen Luft hängen. Die entferntern einzelnen Bäume aber sahen in dem dicken Nebel wie mächtige graue Gespenster aus, schienen weit weit im Hintergrunde zu stehen und mit einmal standen sie dann doch hart am Wege.Die beiden Verlobten fühlten sich nicht minder unbehaglich und Rudolf knüpfte seinen Rock zu, während Anne12*[180]mareili das Halstuch dichter um den Nacken zusammenzog. Aber kalt schien der Nebel auch in ihre Herzen hinein zu dringen und sie schlossen sich nicht enger an einander, sich zu erwärmen, sondern jedes gieng, wie in eignen Gedanken, für sich selber.

Annemareili hatte viel zurecht zu legen, womit es nicht wohl zu Stande kam. Ein Gefühl von Unruhe,das zuweilen in Bitterkeit, zuweilen mehr in Angst umschlug, hatte sich seiner bemächtigt und schloß ihm den Mund. Das Elend e Mutter hatte sein Innerstes verletzt, besonders da der Sohn gar kein Auge dafür zu haben schien. Auch daß dieser so rücksichtslos den Stiefbruder wegen des Lehrgeldes an den Vogt und die Gemeinde gewiesen, that ihm weh und es machte sich hintendrein nun Vorwürfe, daß es dazu nur geschwiegen. Ueberhaupt fühlte es sich durch sein bisheriges Zusammengehen mit Rudolf halb in dessen Schuld verflochten und war darum doppelt gegen ihn verstimmt, jetzt, da ihm die Augen aufgiengen. Zu erwerben und zu sparen für einen guten und ehrenhaften Zweck hatte es bisher gemeint und sich auf dem besten Wege geglaubt. Nun sah es in einen Abgrund schwarzer Selbstsucht, in den sein Fuß jeden Augenblick hinunter zu gleiten Gefahr lief.Es erkannte, wie der eine Gedanke des Geldes alle andren Gedanken, gleich einem Ungeheuer, verschlungen,auch die, welche das Nächste und Heiligste umfiengen.Es ward ihm klar, wie schon lange diese Hast und Gier nach Geld in Rudolf aufkeimte und gewachsen war, es [181] hatte mit geholfen, jeden Zweifel zurückgedrängt, weil es keine Gefahr darin geahnt und Alles nur zum Guten ausgelegt. Jetzt sah es die Früchte davon und schauerte:dem Leichtsinn, der Verschwendung und Genußsucht waren sie wohl entflohen, aber dafür der Hartherzigkeit,Lieblosigket und dem Mammonsdienste in die Arme gerannt.

Indeß auch Rudolf war durch die Noth der Mutter,welche ihm heute erst recht sichtbar vor die Augen getreten,verstimmt und Vorwürfe, Mitleid und Entschuldigungen rangen in seinem Innern wirr mit einander um die Oberherrschaft. Daß Annemareili mit der Mutter dann noch allein gewesen und gewiß tiefer in die Verhältnisse geschaut, beunruhigte ihn nicht minder, sagte ihm doch sein böses Gewissen, daß er dabei nicht zum Besten weggekommen. Dazu kam die Besorgniß, Annemareili mochte jeden Augenblick, wenn er mittheilsam und freundlich sich zeige, das Anliegen des Stiefbruders wegen des Lehrgeldes wieder vorbringen; hatte er doch gar wohl bemerkt, wie es, trotz des Schweigens, gar sehr ein Gelüsten trug, dem Burschen das Geld selber zu zahlen.Aber weß das Herz voll ist, deß geht der Mund über!heißt es nicht umsonst. Und von unten bis oben angefüllt war Rudolfs Herz mit den Sorgen und Plänen und Berechnungen wegen des neuen Geschäftes, das er zu übernehmen im Begriffe stand. Diese Gedanken schwollen an und verdichteten sich immer mehr, bis sie endlich in Worten laut wurden und überflossen:[182]Sie würden, begann er auf einmal mitten im Nebel, wohl mit zwei Stuben in der künftigen Wohnung sich behelfen können; wenigstens für die erste Zeit!Das Uebrige könne man dann vermiethen und so trage es wieder etwas an den Zins bei.

Fast selbstvergessen hatte Rudolf dieses mehr zu sich gesagt, als zu seiner Begleiterin. Diese aber konnte nun auch nicht anders, als die Gelegenheit, besonders da sie sich so schön bot, zur Erleichterung des Herzens ergreifen.

„Ich habe gedacht, du wollest dann die Mutter zu dir nehmen;! begann Annemareili, und als Rudolf erwiderte, davon sei nie die Rede gewesen, fuhr es fort:„Ich möcht' es ihr wohl gönnen; sie scheint es nicht zum Besten zu haben in ihren alten Tagen; hast du nicht gesehen, wie das Wasser an den Wänden herunter lief?“ „Es ist die Frage, ob ihr's nur recht wäre? alte Leute ändern nicht gerne; hat sie's auch jetzt nicht am bequemsten, so ist's seit Langem so, und sie hat nicht Ansprüche wie Leute die das Stadtleben gewohnt sind.Zudem würden wir ein schönes Stück Zins verlieren,auf das wir sehen müssen; man kann nicht immer thun,was man gerne will!“

Diese ablehnende Rede des Verlobten reizte Annemareili nur noch mehr an, seiner Stimmung Luft zu machen und die Vorwürfe der Härte und der Unkindlichkeit durchblicken zu lassen. Auf so gespartem Geld könne kein Segen ruhen, schloß es, und es fürchte [183]sich mehr mit dieser Schuld ihre Zukunft anzutreten, als wenn sie noch so viel Geld auf dem Kramladen stehen hätten!Rudolf, ärgerlich und ängstlich zugleich, klagte, daß Annemareili, statt ihm behülflich zu sein, ihm nur entgegentrete. Ob er nicht sonst schon genug zu sorgen und zu kämpfen habe? Er würde auch lieber den Gutthätigen spielen, wenn's damit dann nur gethan wäre.Oder ob er sich's denn leicht mache und nur an Andern sparen wolle? das werde niemand sagen dürfen. Hingegen würde er es ungern sehen, den Laden nicht behaupten zu können, und wie der Schneiderpeterli nach ein paar Wochen ganten zu lassen. Hätte er bisher nicht so sehr gespart, so könnte gar keine Rede von der Uebernahme sein, lange es doch so nur knapp. Annemareili liege, schein' es, nicht viel dran, noch einige Jahre zu warten bis sie die Haushaltung anfiengen; er aber fürchte,mit dem Krämerheinrich möchte inzwischen der ganze Handel wieder zurück gehen, wenn man ihn weiter hinaus schiebe: sein Vetter suche ihn so dagegen aufzustiften, er hab' es wohl bemerkt. Wenn er Ueberflüssiges besäße, niemand lieber als er würde es der Mutter leicht und bequem machen, aber vorerst müßte er doch selber leben können. Habe man sich einmal aus der gröbsten Schuld heraus gearbeitet, nun ja, da könne man noch bedenken, was zu thun sei; die Eltern hätten ihm übrigens auch nicht zu dem verholfen, was jetzt sein gehöre,vom ersten Heller habe er's selber verdienen müssen.

[184]

„Nicht, Annemareili,“ schloß er etwas empfindlich, „wenn dich dein Geld reut, so bist du freilich Herr darin, ich habe nichts zu befehlen; aber bisher habe ich drauf gezählt gehabt und wie ich mir die Sache bis jetzt gedacht, könnte ich's nicht mangeln.“

Durch diese Entgegnung ließ sich Annemareili nicht sowohl überzeugen und geschweigen, als vielmehr erschrecken und einschüchtern. Nicht nur ließ es durch Rudolfs Aengstlichkeit und Kleinmuth sich selber verzagt machen und um das Vertrauen bringen, es fürchtete nicht bloß, das Ziel, das es sich so nahe dachte, in unsichre Ferne hinausgerückt zu sehen, sondern es besorgte überdieß eine Entfremdung von Rudolf, ja sogar dessen Verlust. So hinderte es die falsche Liebe zu dem Verlobten sowohl ihm entgegen zu treten als ihn muthig zu sich herüber zu ziehen; sie drängte auch die innre Stimme zurück und ließ es untreu werden an dem, was es für das Bessre erkennen mußte. Annemareili schwankte zwar anfangs, es hätte sich frei gemacht, wenn ihm Jemand nur ein klein wenig geholfen hätte; der das aber am besten gekonnt, war ja bemüht, es nur noch enger zu umstricken, nicht mit glühender Leidenschaft, sondern mit kalten Verstandesbanden, gegen welche die Stimme des Herzens keine Kraft besaß. Obwohl es sich nun selbst zu überreden suchte, daß das, was Rudolf von der Mutter sagte, diese ja selber auch gesagt und keine Klage geführt,so trug es gleichwohl das heimliche Gefühl in sich, etwas Höheres und Heiligeres in ihm sei verletzt worden, und [1883]es habe etwas Unvergängliches an zeitliches Gut dahin gegeben. Es für sich verrieth zwar nicht das Heilige für die Silberlinge, aber es duldete den Verrath und verläugnete es aus Menschenfurcht, als ein schwacher Petrus. Indeß gerade dadurch trübte sich seine Aussicht auf ihr gemeinsames künftiges Glück, das es retten wollte, indem es die Kluft, die zwischen ihm und dem Verlobten sich aufgethan, nicht bleibend ausfüllte oder überbrückte, sondern bloß oberflächlich überschüttete mit Gras und Laub das heute grün und morgen verdorrt ist.

Wenn darum eine äußere Einigung die Beiden auch wieder verband, so kehrten sie innerlich getrennter als je von ihrem Besuche in der Heimat zurück, Annemareili zumeist mit dem Gefühle des bösen Gewissens.Eins fühlte sich deßhalb auch durch die Gegenwart des andern befangen und sie schämten sich fast wie Adam und Eva, da die von der verbotnen Frucht gekostet und ihre Blöße erkannten. Es wurde ihnen erst wieder etwas leich-ter, als sie nicht mehr alleine zusammen waren auf dem stillen Sträßlein, sondern in das Dorf und an die Haltstelle gelangten, an welcher der Eisenbahnzug sie aufnehmen und nach der Stadt bringen sollte. Die vielen Leute, die sie hier trafen, die Unruhe, ja der Lärm einiger Bursche, die zu viel getrunken und die Zeit bis zur Ankunft des Bahnzuges mit lautem und rohem Wesen ausfüllten, waren ihnen heimlich willkommen,übertäubten sie doch die leise unzufriedne Stimme ihres Innern und brachten sie zerstreuend auf andre Gedanken.[186]Unterwegs war Rudolf einsylbig, klagte Müdigkeit und lehnte mit halbgeschlosssen Augen in einer Ecke des Wagens, während Annemareili sich zwang auf die Reden der Mitfahrenden zu achten, um nicht in unbequemes Nachdenken und Grübeln zu versinken. Beide trennten sich in der Stadt nach kurzem und nicht sehr innigem Abschiede, obwohl jedes mehr gegen sich selbst als gegen das Andre verstimmt war.[]Füntzehntes Capitel.

Ein Stärkrer tritt auf; die Schwiegermutter ebenfalls.Die ersten Wochentage waren Annemareili unter den gewohnten Dienstverrichtungen verflossen und es hatte nicht viel Zeit gehabt den Erlebnissen vom Sonntag nachzuhängen. Erst als es gegen Ende der Woche von Rudolf auch gar nichts vernommen, ihn weder einen Augenblick gesehen, noch eine Nachricht, einen Gruß erhalten, gedachte es wieder ihres letzten Zu sammenseins und das erste Gefühl dabei war die Furcht, Rudolf möchte ihm zürnen und sich absichtlich zurückziehen. Gerade das Opfer, das es gebracht, schien ihm in seiner Gewissensunruhe das Uebel herbeigeführt zu haben, das es vermeiden wollen. Seine Unruhe steigerte sich rasch,es wäre am liebsten nach der Wohnung des Herrn Steinmann geeilt, aber eine gewisse Scheu, halb Trotz,halb Furcht, hielt es wieder davon ab. Am Samstag endlich kam Bericht, ein andrer als das Mädchen erwartet, aber gleichwohl kein guter: Rudolf ließ sagen,er sei schon seit Montag krank, wie der Doktor sage,könne die Krankheit längere Zeit andauern und da er in seinem Dachkämmerlein nicht die nöthige Pflege finde,[] 188 so habe er sich entschlossen in den Spital zu gehen.So lautete, was ein Laufbursche des Kaufmanns Annemareili mittheilte. Ein Stein fiel dabei wohl vom Herzen der armen Magd, jedoch nur um einem andern, fast eben so schweren, Platz zu machen: Rudolf zürnte ihr allerdings nicht, aber er war krank, in Gefahr! flüsterte ihr die gesteigerte Besorgniß drohend ins Ohr. Ein Besuch im Spital war das Nächste, und dieser war allerdings wenig geeignet die Befürchtung zu mindern.Es zeigte sich hier auch daß der erhaltne Bericht von Rudolfs Erkrankung und Versetzung in das Krankenhaus nicht unmittelbar von ihm selbst herrührte, sondern von seinem Herrn. Rudolf selbst hatte aus seinem Kranksein nicht viel machen wollen, trotz der völligen Abgeschlagenheit und geistigen Stumpfheit, welche gleich am Anfang auftraten. Er meinte, wenn er etwas zum Stärken und eine Blutsreinigung erhielte, würde es schon besser.Nachdem er aber in einer der ersten Nächte im Hemde aufgestanden und die Treppen hinuntergestolpert, um das Ladenstübchen zu kehren, hatte sein Herr keine Rücksicht mehr auf das Widerstreben genommen, sondern angeordnet, daß er in den Spital abgeholt werde. In seinen lichten Augenblicken hatte sich Rudolf hierüber sehr ungehalten gezeigt und auf den Kaufherrn losgezogen,dem gleich Alles zu viel sei und der ihn, wenn er ihm nicht nützen könne mit Arbeiten, sofort sich vom Halse schaffe!

Annemareili, wie froh es war, daß Rudolf gleich [189]in die rechte Pflege gebracht worden, verließ den Spital doch sehr betrübten und niedergeschlagnen Herzens. Es sah, Rudolf war von schwerer Krankheit ergriffen; es war aber nicht die Krankheit allein welche es bedrückte,sondern die Gedanken, die es damit verknüpfte und die ihm im ersten Anlaufe alle seine Beschwichtigungen und Scheingründe für das eigensüchtige Benehmen gegen die Schwiegermutter über den Haufen warfen. Diese Angst und die Gewissensbisse nahmen zu mit der Krankheit des Verlobten und von einem Besuchstage zum andern.Und wie sehr der Anblick des meist Irreredenden und tief Darniederliegenden das Herz Annemareilis folterte,es konnte doch die Stunde, da es ihn wiedersah kaum erwarten. Da lag der Arme mit verstörten Augen und Sinnen in seinem Bette; die Zunge lallte Unverständliches, die Hände zitterten, der Kopf bohrte sich unruhig in die Kissen oder die verwirrten Gedanken, die innre Angst und Unruhe richteten den entkräfteten Körper in Fieberhitze empor. Zuweilen erkannte er Annemareili,zuweilen aber, und oft in demselben Augenblicke wieder,sah er es als eine fremde Person an, starrte es wild und fremd an oder fürchtete sich vor ihm. Er sprach in seinen Phantasien viel von Geld, meist mit dem Ausdruck innerster Angst und Erregung. Jetzt wehrte er sich daß man ihm Alles genommen, er verlangte hunderte von Franken von seiner Verlobten, beschuldigte sie, daß sie ihn hintergehe; dann jammerte er, daß er den Spital nicht zu bezahlen vermöge, man vergante [190]ihm Alles, er müsse aufstehn, und wollte hastig das Bette verlassen. Ein andermal wieder faßte er das Mädchen, das nassen Auges an seinem Lager stand,bei der Hand, fragte, ob denn wirklich Alles verloren sei? oder hieß es schnell zum Krämer gehen, der heimlich die Mutter in das Haus gelassen und die ihm nun den eignen Eintritt verwehre. Meistens endeten all diese Ausbrüche in ein wirres und sinnloses Durcheinander,daß Annemareili selber darob der Kopf zu schwindeln begann, während das Herz von Stichen durchbohrt ward durch die Reden, die, bei allem Unsinn, doch wie lauter Anklagen klangen. Seine von Angst geschärften Sinne sahen und hörten überall nur den Fluch des Mammons,der Leib und Seele des Kranken inseinen ehernen Banden halte und durch keinen lindernden Tropfen den Armen erquickt werden lasse. Und in heftigen Gewissensbissen wachte das eigne Verschulden zugleich auf: das sei der Sünde Lohn! Rudolf werde sterben müssen, um ihrer Beider Schuld willen. Es habe ihm ja nachgegeben und,aus Furcht ihn zu verlieren, ihn durch unrechte Mittel halten wollen. Darum werde er ihm jetzt um so gewisser genommen werden, denn gegen Gottes Willen helfe keine Untreue, er bleibe der Stärkre und wolle höher gehalten sein als die Creatur. Und am meisten bekümmerte es Annemareili, daß Rudolf gerade dann stets am wildesten seine Fieberträume auflodern ließ, wenn es ihn besuchte und ihm Linderung und Trost zu bringen vermeinte. Es fühlte sich so ihm zum Unheil werden, dem [191]es doch seine Ueberzeugung zum Opfer gebracht und auch jetzt Alles Alles dahingegeben hätte. Es machte eine lange bange Zeit durch und erschwerte sich die Last durch eigne Qual bis zum Unerträglichen. Brach dann aber doch auch in die finstersten Augenblicke hinein wieder ein Schimmer der Hoffnung und des Trostes und die Angst ließ sein Herz eine Weile los, daß es sich aufraffte, so gelobte es sich: wenn Rudolf genese und ihm erhalten bleibe, seine letzte Kraft daran zu setzen, auch ihn der Gewalt des Mammons zu entreißen. In geläuterter Liebe und heiligem Eifer fühlte es sich stark dazu und tüchtig, vor keiner Menschenfurcht mehr zurückzuschrecken und den Sieg zu erkämpfen. Dieser Vorsatz wurde mit der zurücktretenden Gefahr immer fester, in seiner Erregtheit sah ihn Annemareili als den Kaufpreis an für die Errettung des Geliebten und hielt ihn heilig wie das feierlichste Gelübde. Und es schien sich die Gewalt des Leidens allerdings zu brechen, freilich, zu Annemareilis Demüthigung, ohne seine äussre Beihülfe,sondern durch Anstoß von einer ganz andern Seite her.

Als Rudolf krank und hülflos dalag und er noch wie in innrer Unruhe sich in seinem Bette umherwarf,kam auch seine alte Mutter ihn zu besuchen. Auf ihrem entfernten Dorfe und bei ihrer Abgeschlossenheit von der Welt, hatte sie erst spät von der Erkrankung des Sohnes etwas vernommen. Mühsam hatte sie sich alsbald aufgemacht zu dem ungewohnten und schweren Gange nach der Stadt und an das Krankenlager ihres Kindes. Da [192]saß ihre gebeugte Gestalt an seinem Bette mit dem sorgenvollen treuen Gesichte, ihm zum bittern Vorwurfe und zum Troste zugleich. Er hatte sie in ihrer Noth und seinem Glücke verlassen und sie suchte ihn in seinem Unglücke auf, ja wendete ihr Wittwenscherflein ihm zu;hatte er doch wohl bemerkt, wie sie unter der Thüre der Wärterin wollte ein Stücklein Geld geben, daß er besser verpflegt würde. Wie lange mochte sie dran gespart haben, wie empfindlich mochte sie's entbehren! und er hatte von der Summe, ja vergleichsweise dem Reichthum, der ihm in der Sparkasse an Zins lag, auch nicht ein Kleines nur ihr gegönnt, er wollte ihr sein Haus verschließen, um es Fremden zu öffnen gegen Geld. Die Thränen, die aus den Augen der alten Frau ihm auf die Hände fielen, brannten ihn wie Feuer, er schämte sich und hätte sich in die Kissen vergraben mögen,wenn er nicht doch wieder die Mutter in ihr erblickt hätte, die ihn als Kind gepflegt und geduldet, die ihn in seiner Schwachheit und mit seinen Fehlern von je gesehen und lieb gehabt. Das Gefühl des Kindes zur Mutter ward in Rudolf wieder lebendig, sein Herz regte fich, erwachte aus langem langem Schlafe. Es schmolz die Kruste des Weltsinnes und der Eigensucht, nachdem der Verlaß auf das Vergängliche schon vom Feuer der Krankheit verzehrt worden. In seiner Schwäche wußte er nicht recht zu unterscheiden, ob er wache oder träume und wie viel Wirklichkeit sei? Die innern und die äußern Bilder verkehrten mit einander, verflossen zusammen.[193]Müde, aber beruhigt, schloß er die Augen und da schien ihm, er sei wieder ein kleines hilfsbedürftiges Kind und die Mutter sitze an seinem Bettlein und pflege ihn, und er verließ sich auf ihre Hülfe, fürchtete nichts und hielt an ihr mit all seiner Sorge und seiner Hoffnung. Lange dachte er sich so in die frühre unschuldige Kinderzeit zurück und hinter seinen geschlossnen Lidern glätteten sich die Runzeln der Mutter und ihr Angesicht ward frisch und leuchtend, daß es ihm wie das eines Heiligenbildes erschien, in dessen Schutz und Schirm er sicher sei.Ruhe zog nach langer Zeit zum ersten Male wieder in seine Seele, die Bangigkeiten und Besorgnisse, die Furcht und Unruhe, die ihn gepeinigt, wichen. Wie die schwülen Dünste der Erde unter dem sanften milden Gesichte des Mondes sich als Thau niederschlagen und die verdurstenden Halme erquicken, so fühlte sich jetzt auch Rudolf erlabt an Leib und Seele zugleich durch den Frieden der über ihn kam: sein Halbschlaf gieng sanft in einen gesunden Schlummer über, den ersten während seiner Krankheit, aus dem er, nach mehrstündiger Dauer, gestärkt und mit dem Gefühle der beginnenden Genesung erwachte. Die Krankheit war gebrochen; der Arzt gab Tags darauf seinen Arzneien die Schuld, welche die heilsame Krise herbeigeführt; Rudolf aber kam es vor,er habe lang und schwer geträumt, bis ihn die Mutter geweckt; er fühlte sich gesund, aber todtmüde sank er zurück, als er sich im Bette aufrichten wollte.

Sicher, wenn gleich langsam gieng die Genesung

Dienen und Verdienen. 13 [194]vorwärts, es vergiengen noch Wochen, eh Rudolf nur das Bett verlass en konnte und dann war er erst noch schwach und hülflos wie ein Kind. Auch sein Gemüth, das so heftig von der Krankheit ergriffen worden, war weich, empfindlich,für jeden Eindruck empfänglich, einem schaallosen Eie vergleichbar, ganz im Widerspiel zu seiner frühren Festigkeit und Entschlossenheit, ja selbst Derbheit. Annemareili,das ihn redlich besuchte und ihm für Alles, was er bedurfte, getreulich sorgte, fiel diese inpre Umwandlung besonders auf und es freute sich ihrer in seiner Seele.Die Thränen traten dem Mädchen wohl in die Augen,aber es waren keine bittern oder brennenden, wenn Rudolf dankbar und gerührt die bewiesne Liebe und Sorgfalt erkannte, wenn er sich an Annemareili schmiegte,auf seine Kraft sich stützte und für Alles einen aufmerksamen und freundlichen Sinn hatte, was er in gesunden Tagen nicht beachtet oder, ohne Zeichen der Anerkennung,sich als selbstverständlich gefallen lassen. Er bat die Freundin, auch der guten alten Mutter zeitweise von dem Fortschritte seiner Bessrung Kenntniß zu geben und zeigte bei jedem Besuche eine unverholne Freude, die in herzlicher Begrüßung und in dankbarem Händedruck beim Abschiede sich kundgdab. Obwohl Beide noch nie ein Wort über ihre zeitlichen Angelegenheiten gesprochen,da Rudolf noch der Schonung bedurfte, Annemareili hatte gleichwohl das Gefühl, daß die Kluft zwischen ihm und Rudolf nun nicht mehr bestehe, ja daß sie sich in ihren Herzen viel näher ständen als je zuvor: die Liebe [195]hatte eine Feuerprobe bestanden. Diese Weichheit und Schmiegsamkeit verlor sich zwar mit den zunehmenden Kräften bei Rudolf, aber etwas Inniges und Dankbares blieb doch in seinem Wesen zurück, die das Zeugniß einer bleibenden tiefern Umwandlung ablegten. Noch ein paar Wochen und der Genesne konnte das Krankenhaus verlassen, besonders da Herr Steinmann zugesagt hatte, ihn die erste Zeit noch schonen zu wollen.

13*[]Sechszehntes Capitel.

Genesung. Eine Rückzahlung der Sparkasse, die reich macht.Auch der Stiefbruder findet einen Meister.Als Rudolf, zum erstenmal wieder nach dem herbstlichen Besuche in seiner Heimat, einen Ausgang vor die Stadt machte, war es entschieden Winter. Wieder war es Sonntag, wieder begleitete ihn Annemareili.Sie gedachten beide im Stillen ihres letzten gemeinsamen Ganges, wo eigentlich jedes mehr für sich selbst gewesen und sie nicht recht sich zusammengefunden. Jetzt giengen sie Arm in Arm, Rudolf bedurfte der Stütze seines Annemareilis und dieses dachte nur an den Wiedergenesnen, an seine Bequemlichkeit und freute sich sein als eines Neugeschenkten oder Geretteten. Auch sonst war Alles anders: die bunten Farben des Herbstes, die gelb und rothen Blumen und Blätter, wie die hellgrünen Wiesen, lagen unter weißer Decke verhüllt, und einförmig dehnten sich Felder und Hügel. Nur entblätterte Bäume ragten auf der Anhöhe mit ihren tausendfachen Verästlungen über die Fläche empor, aber zwischen dem zierlichen Gezweige lagerte auf glitzerndem Dufte [] 197 das stille tiefe Blau des Winterhimmels. Es kam jetzt auch kein kalter neidischer Nebel über die Landschaft,mit unheimlichen Schauern sie durchwehend, vielmehr schien dem winterlichen Bilde ein warmer lebendiger Hauch zu entströmen, mitten aus Schnee und Eis heraus,ein hoffnungsvolles Zeichen unvergänglichen Lebens.Nicht nur schien die Sonne hell und erwärmend, daß selbst der Kaumgenesne sich behaglich in ihrem Schein fühlte; da und dort thaute es auch, wie bei beginnendem Frühling. Emmerlinge, Finken und Meisen schüttelten auf dem blätterlosen Gezweige ihr Gefieder und schlugen einige frische helle Töne an, flatterten fröhlich auf der Straße vor den Spaziergängern her, als wollten sie sie necken und zum Wettlauf auffordern. Wie Edelgestein glitzerten in der Nähe die Krystalle des Schnees,zum Zeugniß wie reich auch der Winter sei, lebendig träufelten von den Dächern der menschlichen Wohnungen die Tropfen des schmelzenden Schnees nieder, plaudernd die feierliche Stille unterbrechend, während aus den Schornsteinen der Rauch wie ein stolzer Federbusch majestätisch in die sonnige reine Luft emporstieg, in ununterbrochen wechselnder wallender Gestalt. Jetzt begannen noch von den benachbarten Dörfern über die Anhöhen herüber und dann von der Stadt die Glocken zu ertönen, erst eine einzelne, der dann eine zweite und dritte Antwort gab bis alle in den sonntäglichen Lobgesang einfielen, jede in ihrer besondern Eigenthümlichkeit,hoch oder tief, doch Eins in dem gemeinsamen Preise.[198]Rudolf und Annemareili hielten auf ihrem Gange inne und lauschten. Es zog sie aber dießmal nicht hinaus,ihr Blick schweifte nicht in die Ferne, das bunte Bild des Herbstes zerstreute und fesselte sie nicht, sondern Alles wies sie in sie selbst hinein, wie in einen stillen Tempel, wozu die Glocken so feierlich läuteten. Ihr eignes gegenwärtiges Leben schien ihnen jetzt auch so ein stiller heller Wintersonntag zu sein, das Eis der Krankheit und der schweren Prüfung, wie der Herzen,war gebrochen, frisches gesundes Leben athmete aus der schmelzenden Kruste, die wie ein Eispanzer ihre Seelen umschnüret, einzelne Klänge der Freude und der Frühlingshoffnung ertönten auch in ihrem Innern, über das Sonntagsfeier lagerte, und nach den Tagen des Schauerns und der Erstarrung die ewige Sonne erquickend und stärkend strahlte. Besonders Rudolf, der sich seiner wiedergewonnenen Gesundheit freute, war aufmerksam auf Alles ringsumher und bezog es auf sich, er war so lange nicht im Freien gewesen: neu, anders, auf seinen Zustand angepaßt, kam ihm vor, woran er schon hundertmal und mit Gleichgültigkeit vorübergegangen.Annemareili aber fühlte, daß es jetzt Zeit sei zu reden und sein Gelübde zu erfüllen. Es kostete Ueberwindung,denn es störte nicht gerne die stille beschauliche Feier ihrer Herzen mit Weltlichem, geschweige, wie es doch immer noch heimlich fürchtete, mit einer Verstimmung.Dann aber fühlte es, daß kein günstigerer Augenblick kommen könne und faßte sich ein Herz, indem es mit [199]der Freude und dem Danke für Rudolfs Rettung begann und von dem Bangen redete, in dem es, ob der Ungewißheit des Ausganges, so lange geschwebt und gebebt. Hieran knüpfte es das offne Bekenntniß der eignen Schuld und wie es im Gefühle derselben, und der innern Angst um Rudolfs Leben das Gelübde gethan, gut zu machen, was noch gut zu machen sei, das eigne Herz und das des Freundes von den Banden des Mammons loszureißen, nicht auf das eigne Vermögen allein das Vertrauen zu setzen, sondern auf Gottes Beistand und Segen, und ihre Pflichten gegen die Ihrigen,besonders die alte Mutter Rudolfs, zu erfüllen. Rudolf schwieg und hörte Annemareili ernsthaft zu; es meinte,weil er in seiner frühern Gesinnung beharre, und drang nun nur mit um so wärmerem Eifer und tiefrer Erregung der Seele, zuletzt mit Flehen und Thränen und fliegenden Worten in den Freund, indem es darauf hinwies, daß, wenn Gott ein Opfer wolle und ihr Geld verlange zur Probe, ob ihr Herz nicht zu sehr daran hänge, er es auf jedem Wege zu erlangen vermöge;was die Liebe nicht freiwillig gegeben, das habe nun die Krankheit mit Gewalt gefordert!

Wie Annemareili zaghaft und ungewiß die Rede begonnen und sich erst im Verlaufe von heiligem Eifer hatte hinreissen lassen, so schloß es auch jetzt wieder mit einem Gemisch von Trauer und Ergebung. Es zitterte, nicht vor der Aufregung allein, sondern weil es fühlte, den Würfel der Entscheidung geworfen zu haben.

[200]

Indeß war es ihm doch leichter und das Herz gehoben,denn es hatte die Menschenfurcht, und noch mehr, die Menschenliebe, überwunden und sein Gewissen befreit,die Seele gerettet, komme nun was da wolle. Scheu und fast erschrocken blickte es forschend auf Rudolf, der seine Reden mit keinem Worte unterbrochen. Aber hätte es den finstersten Unwillen in dessen Gesicht entdeckt, es wäre nicht minder überrascht gewesen, als jetzt, da es sein Auge feucht sah und er es freundlich und dankbar anlächelte und ihm die Hand drückte, ohne ein Wort zu sprechen. Fast erschrocken und doch in innerster Seele jubilierend, erkannte es, daß die Rührung dem sonst so starken Manne den Mund verschlossen. Auch als er sich wieder gesammelt und seiner Herr geworden, sagte er nicht viel. „Du hast Recht, Annemareili,“ antwortete er, „Alles was du sagst ist mir in den langen schlaflosen Nächten auch so vor die Seele getreten;verzeih mir, daß ich dir so viel Herzeleid gemacht! wenn's dir recht ist, so nehmen wir die Mutter zu uns, sobald wir in Schwellbach einziehen und bis dahin soll sie auch nicht darben; ohne sie und dich wäre ich nicht mehr da!“ Er schien in stilles Nachsinnen zu versinken, bis er sich wieder aufraffte und beifügte; „und ich denke,wir sehen auch, wie's mit deinem Bruder zu machen ist,daß der in eine rechte Lehre kommt!“ Annemareili war selig, es drückte dem Freunde dankbar die Hand und er ihr und sie sahen sich an und fühlten, daß sie sich noch nie so nahe gestanden noch je so lieb gehabt und [201]nun erst recht Brautleute seien, bereit Alles zu theilen mit einander und einander zum Segen zu dienen für Zeit und Ewigkeit. Etwas ermüdet durch die Aufregung lehnte sich Rudolf auf den Arm seiner Verlobten und stand einen Augenblick stille. Die tiefe Sonne übergoß die Schneefläche der Höhen mit ihren abendlichen Strahlen, daß es aussah wie ein keusches Erröthen; war es der Widerschein, der auf den Gesichtern des glücklichen Paares dabei spielte

Den andern Morgen wandte Rudolf sich leicht und muthig dem Alltagsleben und seinen Ansprüchen wieder zu; er empfand eine ordentliche Lust, ja einen Hunger zur Arbeit. Vorher aber war noch etwas abzuthun, eh er sich im ordentlichen Geleise des Schaffens mit neuen Kräften wohlbefinden konnte. Um die alte Zeit gleichsam abzuschließen, und, wie Annemareili es aufgefaßt,das verlangte Opfer zu bringen, machte er sich auf den Weg nach dem Spital, dort die Kosten seiner Verpflegung in's Reine zu bringen: dann erst könne er nach dem sich strecken, was vor ihm liege! Er verlangte bei der Verwaltung die Rechnung, der Schreiber langte das bedruckte Bööglein hervor, sie ihm aufzusetzen, schlug das große dicke Buch auseinander, darin Eintritt und Austritt jedes Kranken eingetragen ist, nahm die Feder hintern Ohr hervor, sah nach und „Es ist ja schon bezahlt worden, vorgestern; richtig! der Aus[202] läufer des Herrn Steinmann war hier und brachte Alles in's Reine!“

Rudolf erstaunte ob diesem Berichte, der Herr hatte ihm nichts gesagt, hatte ihm auch von dem halben Monatslohn, den er ihm am Samstag für die Dauer der Krankheit noch ausbezahlt, keinerlei Abzug gemacht. Es war dieß für den Genesnen eine neue Beschämung,denn bei der Versetzung in den Spital hatte er den Kaufherrn ja beschuldigt, er thue das um ihn sich vom Halse zu schaffen und keine Unkosten zu haben. Rudolf erkannte den Irrthum mit Beschämung, er fühlte aber zugleich auch, daß es der letzte der Art sei, ja daß er aus der Zeit vor seiner Krankheit und Genesung herrühre, und er ihn jetzt nicht mehr würde verschuldet haben. So verschmolz auch hier wieder die leibliche Herstellung und die geistige Besserung in die gemeinsame und eine des ganzen Menschen.

Gleichwohl unternahm er den Gang nach der Sparkasse und enthob dort auf sein Büchlein hin etwas Geld. Zwar nicht um die Spitalrechnung nochmals zu zahlen, jedoch um eine andere alte Schuld damit zu tilgen, die gegen die alte hülflose Mutter. Sie sollte sich nun ihre Tage bequemer und freundlicher machen,und nicht mehr unter Entbehrungen ein armseliges Dasein fortschleppen müssen, kaum von einem Tage zum andern wissend, wovon sie leben werde. Annemareili [203]sollte ihr die Unterstützung bringen und sie zugleich vorbereiten, in der Folge zu ihnen in die Krämer-Wohnung zu ziehen. Daß es ebenso auch mit dem Vogte des Stiefbruders und soweit nöthig mit der Stiefmutter wegen einer Lehre Rücksprache nehme und nach Bedürfniß, wo es nicht ausreiche, in die Lücke trete, war die dritte Aufgabe der Reise. Mit wie ganz anderm Gefühle schritt Annemareili über die Anhöhe nach dem Heimatdorfe hinüber, als das letzte Mal da es dasselbe verlassen; die Füße tanzten beinahe über den gefrornen Weg hin und seine Wangen blühten wie Rosen bei der kalten Winterluft und der innerlichen Freude. Gewiß ein glücklicherer Bote war schon lange nicht mehr in das abgelegne Dörflein gekommen; was Wunders, daß seine Aufträge alle zu männiglicher Zufriedenheit erledigt wurden!Durch diese Rückzahlungen verminderten sich allerdings zwar die Guthaben Rudolfs und Annemareilis in der Sparkasse und zu jeder andern Zeit wäre erstrer wenigstens nicht übel über den Ausfall erschrocken und hätte alle möglichen schwarzen Befürchtungen daran geknüpft. Jetzt aber schien die Wirkung beinahe die umgekehrte zu sein. Rudolf war so zufrieden, ja noch heitrer, als ob er die erklecklichste Summe eingelegt oder eine noch bessre Anlage gemacht hätte, als nur eine zu vier Procent. Statt daß er besorgt in die ungewisse Zukunft blickte, war er vielmehr voll des besten Ver[204]trauens; wie es ihm denn auch nicht einfiel, die Uebernahme des Kramladens, und die Zeit seiner Ansiedlung in Schwellbach deßhalb nur um einen Tag zu verschieben. Und sonderbar! nicht bloß in seinen Gedanken war er durch das Zurückziehen dieses Theils seiner Ersparnisse nicht ärmer geworden, auch in wirklichen und gewöhnlichen Zahlen gerechnet, schien sich sein Vermögen kaum gemindert zu haben, oder doch die Lücke sich merkwürdig rasch wieder auszufüllen.

Unerwarteter Segen ersetzte den Ausfall fast von selbst: sein Herr machte ihm günstige Anerbietungen und billige Vorschüsse, gewährte Erleichterungen, kurz das Gegentheil von all dem, wessen Rudolf in der leichtfinnigen Zeit ihn einst geziehen hatte. Einen reichlichen Abschied für treuen und guten Dienst erhielt er obendrein noch, wie auch Annemareili von seiner Herrschaft;was aber das Köstlichste und Förderlichste von Allem,das war die innre Freudigkeit und Zuversicht welche beide auf ihre neue Laufbahn mitnahmen, auch bei weniger Geld.

Als Annemareili zutrauensvoll seiner Frau den Entschluß mittheilte, wie sie in Gottes Namen es nun gleichwohl tragen wollten, merkte diese gar wohl, daß in dem Rathe hierüber der Leichtsinn und die Uebereilung nicht den Ausschlag gegeben, sondern das rechte Vertrauen in Gott und die eigne Arbeitskraft. Sie [205]bestärkte es darum nur darin, indem sie freundlich und ermuthigend sagte: „Ihr seid beide jung und könnt arbeiten; einen hübschen Anlauf habt ihr ja auch und wenn die Schwiegermutter bei euch ist, ein besondres Capital obendrein. Im übrigen vertraut dem lieben Gott, man muß auf ihn auch rechnen, Arm und Reich,den ersetzt kein Sparkassenbüchlein der Welt!“ Steinmann dagegen bemerkte gegen Rudolf in seiner trocknen Art: „Ob ihr nun mehr oder weniger in der Sparkasse habt, ist ziemlich gleichgültig; das Beste ist doch nicht in der Sparkasse, sondern dran, nämlich daß man durch sie hat sparen und wenig brauchen gelernt, das sind die Hauptzinsen!“Kurz, Annemareili und Rudolf schieden nicht nur aus ihren Dienstverhältnissen um das eigne Haus zu gründen, sondern sie bereuten auch niemals diesen Entschluß. Die Schwiegermutter lebte bei ihnen als ein Glied des Hauses und zugleich als ein Segen desselben.So sahen sie an und hielten sie beide, der Sohn und die Schwiegertochter. Auch der Stiefbruder bestaud die Lehrzeit, die ihm Annemareili und zwar im Hause des ersten Dienstherrn unter günstigen Bedingungen verschafft, zur Zufriedenheit des Meisters und der Verwandten. Diesen war er dafür als tüchtiger Handwerker mit Herz und That Zeitlebens dankbar zugethan, in allen Lagen, und nichts giebt mehr Halt und Sicherheit im [206]Leben als ein fester Familienverband, wo Jedes innigen Antheil nimmt an Freud und Leid des Andern, als wären es die eignen. Schon als Lehrjunge aber mußte der Stiefbruder auf Verlangen Annemareilis und Rudolfs in die Sparnißkasse legen: sein erstes Neujahrsgeschenk war ein blaues Büchlein mit einem kleinen eingetragnen Posten; für das Weitre hatte er selber zu sorgen, vor dem Mißbrauche schützte ihn am besten sein eignes Beispiel.

Nies'sche Buchdrucerei (Carl B. Lorch in Leipzig. [] []B MMAαuss. 58


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TextGrid Repository (2023). Swiss German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-gsw). Dienen und Verdienen. Eine Dienstbotengeschichte: ELTeC Ausgabe. Dienen und Verdienen. Eine Dienstbotengeschichte: ELTeC Ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001D-46D1-6