Entwicklung

In unserer Kindheit stattete man den Löwen mit allenritterlichen Eigenschaften aus, er wurde zum Aristokraten unter den Tieren. Es war die edelste Jagd und die gefährlichste zugleich. »Was willst du werden, mein tapferes Söhnchen?!« »Ein Löwenjäger!« Alle Tanten besprachen es liebevollbegeistert.

Heutzutage jedoch ist der Löwe als ein feiges Tier entlarvt, das nur im äußersten Notfalle den »Menschen angeht« (gar nicht so unklug, Randbemerkung des Psychologen) und sogar das Weibchen vorausläßt beim Fällen einer Beute (auch nicht unphilosophisch).

Das Nashorn jedoch, das ehedem als heimtückisch-feig, plump und bösartig (es wollte sich nicht ohne weiteres umbringen lassen) galt, ist nun, in unseren Zeiten, zum adeligsten Jagdgetiere vorgerückt. Seine Plumpheit wird zu rasendem Ungestüme, sobald ein Feind naht, und grenzenloser Mut paart sich (ein schönes Wort) mit sinnloser Gereiztheit!

Es ist heutzutage die »gefährlichste Jagd«, die sozusagen einen »ganzen Mann« erfordert.

Das Nashorn flüchtet nie, sondern verfolgt den Feind in rasender Eile! Nur Sprünge nach links oder rechts können ihn erretten. Um dieses tapfere Tier nicht aussterben zu lassen und so dem Menschen ein Vorbild an Mut und Tatkraft nicht verloren gehen zu lassen, hat die Regierung beschlossen, jedem adeligen Jäger nur das Erlegen eines einzigen [42] dieser königlichen Tiere zu gestatten. Die Art, wie das Rhinozeros seinen Gegner überwältigt, ist das »zertrampeln«, obzwar er selbst lieber in ritterlicher Art vom »verderblichen Horne« aufgespießt zu werden wünschte! Das aber geschieht nur im Jäger-Walhall!

Aus dem Horne macht man jetzt teure Spazierstockgriffe. Viele derselben, ja die meisten, sind aus Rindshorn. Was kann der Weltmarkt dafür, daß die Nachfrage nach dem »adeligen mutigen Tiere« größer ist als die natürliche Einnahme an Nashornhörnern?!?

»Was möchtest du werden, mein Söhnchen?!«

»Ein Nashornjäger!«

Die Tanten lächeln liebevoll-begeistert. Seinerzeit begnügte man sich mit Löwen. Aber heutzutage muß einer schon diese häßlichen plumpen heimtückischen Tiere erlegen, die zu unseren Zeiten verachtet und gemieden waren! Ein Löwe, ein Löwe, das war doch etwas, wofür man sich einsetzen konnte. Aber auch dieses Ideal haben sie uns geraubt.

»Tante, falls es uns verfolgt, muß man nur rechtzeitig nach links oder rechts in scharfem Winkel abbiegen – – –.«

»Ja, biege nur ab rechtzeitig, in scharfem Winkel; so ist vielleicht das ganze Leben – – –.«

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TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Märchen des Lebens. Entwicklung. Entwicklung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-D8E0-1