Newsky Roussotine-Truppe

Ziemlich unglücklich fühlt man sich an Sommerabenden in der Hauptstadt. Wie zurückgesetzt. Wie übergangen. Zum Beispiele gehe ich Abends durch die Praterstrasse! Wie wenn ich und die Passanten bei der Lebensprüfung durchgefallen wären und – – –, während die guten Schüler die Ferien geniessen dürften zur Belohnung. Wir aber dürfen nur träumen:

»Oh Meeresschäumen an alten Holzpiloten; oh kleiner See in Einsamkeiten; oh Lichtungen mit dünnem Wiesengrunde und braunen Moorlacken, wo jeder Hofmeister sagt: »Siehst Du! Hier kommen Abends Hirsche zur Tränke.« Oh Hollunderstauden mit schwarzen Bockkäfern und kleinen metallischen Bergkäfern und verlausten Rosenkäfern und hellbraunen Bergesfliegen, an Bächen, welche über grosse Steine rutschen in ziemlicher Eile! Und der Hollunder nährt Insecten-Welten! Oh 22 grädige Quelle im offenen Bassin, auf dem die Lindenblüthen schwimmen; denn die Allee zum Bade ist voll von Linden; und Alles ist erfüllt mit Lindenblüthen! Weisses Segelleben in lackirten Yachten! Die Damen bekommen teint ambré. Alles entfettet sich. Wer [257] siegt in der Regatta?! Risa, gieb mir die Hand über den Steg. Mittage mit 10,000 Tonnen Sonnenhitze, wie das Gewicht von Schlachtschiffen; Nachmittage mit Aprikosen, Weichsel, Edel-Stachelbeeren; Abende wie eingekühlter Giesshübler; Nacht – – – hörst Du die Schwäne ihre Schnäbel öffnen und schliessen?! Und wieder die Schwäne ihre Schnäbel öffnen und schliessen?! Und nichts mehr – – –.«

Wir aber gehen durch die Praterstrasse in der Hauptstadt. 8 Uhr Abends. Wie lauter zugrunde gehende Kaufläden an beiden Seiten. Pfirsiche neben Matjeshäringen. Korbwaaren. Seebadhüte. Schwarze Rettige. Bicycles blinken überall. Als ob die Luft, wie in Parfümfabriken das Fett mit Veilchenduft, sich vollgesogen hätte mit Gerüchen von Erdäpfelsalat, Theer zwischen Granitpflaster, und mille-fleur de l'homme épuisé! Bogenlichter mit Ambitionen von Glühwürmern in Sommernächten machen die Sache nicht besser. An's Licht gebrachtes Sommerelend! Lass' es im Dunkeln, bitte, in schweigenden Schatten! Bogenlichter aber schreien: »Da sehet!« Sie kreischen die Dinge des Lebens, plaudern Alles aus mit ihrem weissen Lichte!

»Venedig in Wien«, 1/2 12 Uhr Nachts: Auftreten der Newsky Roussotine-Truppe. Einen Schritt nächst der Praterstrasse und dem an's Licht gebrachten Sommerelend. Wie wenn Du am Semmering erwachtest, während Du in rother Ziegelstaubluft schlafen gegangen bist! Newsky Roussotine-Truppe. Wie edle Fürstinnen tanzen sie! [258] Jede Bewegung singt: »Haufen Verkrüppelter, Kriechender, Gedrückter, sehet uns Freie! Aus Russlands Volkesseele kommen wir! Steppendichtungen sind wir!«

Wie weltenfern den Unzulänglichkeiten blicken sie, stehen da mit unerhört noblen Gesichtern und rothen Blumen im Haar, lange weissgrüne Perlenketten hängen nieder an den weissen seidenen Gewändern.

Die Gesänge, Tänze, sind ganz Russland. So lernst Du es kennen. Wie eine Reise ist es in das Herz des Zarenreiches. Keine Bücher können es Dir bringen. Möchtest Du vielleicht lesen über die »edle Melancholie« der Menschen daselbst, über die »im Inneren klagende Freiheit«, über die Birkenwälder und die Stickereien in roth und grün?!?

Betrachte lieber die Newsky Roussotine-Truppe, Mensch des Lebens!

Siehe! Chorale singen sie zugleich und Jauchzer. Wie in einem lauen Bade ein Kindlein jauchzte, wie im kalten Leben ein Weiser murmelte: »So sei es!«

Siehe, wie die Jüngste der Truppe, die russischste Russin, sich schüttelt von den Schultern bis zu den Zehen und einen Jauchzer aus diesem lebensübervollen Organismus herausschüttelt, einen langen kindlichen Jauchzer, wie Triller der Natur! Und dann sagt wieder einer gleichsam: »Respice finem« und »requiescat« und »Moskwá, Moskwá«.

Und ein edler Knabe tanzt seine werdenden Leidenschaften.

[259] Und der Chef Newsky singt in Ruhe und gemässigt seine klaren Töne, blickt beruhigt und sicher zu dem jungen knieenden Weibe hin, umkreist sie, schlägt auf dem Tamburine maassvoll den gesicherten Takt des reifen Lebens.

Und die Fürstin, die helle, blonde?! Wie die namenlos reiche unerschöpfliche Natur erscheint sie selbst. Wie wogende brausende Kukuruzfelder im Abendwinde, wie sinnende Schwarzföhren in Höhen, wie Beethoven's Adagios, Alles verkündend in milden Traurigkeiten und dennoch schwebend mit der grossen Seele über den Misèren – – –!

So steht sie da und singt, die Herrlichste, die Hellste, die Blondeste, das Weib! Representative woman! Gleichsam rufend: »Komme, Herr des Lebens!« und rufend: »Komme nicht!« Rufend: »Ich liebe Dich!« und rufend: »Ich kann Dich nicht lieben!« Rufend: »Nimm mich als einfältig Geschöpf« und rufend: »Nimm mich als hundertfältige Weltenseele!« Rufend: »Nimm mich in Deine Arme, All-Erbarmer, Mann!« und rufend: »Nein! Küsse mich nur von ferne mit Deinem sanften Augenaufschlag!« Rufend: »Mache mich zur Dienerin!« und rufend: »Mache mich zur Herrin!« Rufend: »Kannst Du so sein, oh Mann, auf dass ich mich verbinde, ich das Ursprünglichste des Lebens, das Hellste, Blondeste der Welt, mit der dunklen Endblüthe am Baum der Welt, dem Mannesherzen!?«

So steht sie da und ruft und fragt. Rothe Blumen stecken in dicken Büscheln in den [260] Haaren, weissgrüne lange Perlenschnüre hängen an dem weissen seidenen Rock hinab.

Dann plötzlich werden Alle einfach, verlassen Russlands Steppe, umschlingen sich, neigen die Köpfe zu einander in Freundschaften, singen das Lebenslied:

»Wir sind, wir bleiben!«

Spät Nachts soupiren sie Alle, einfach angekleidet und ermüdet, im versteckten Johannis-Bräu, lauschen erstaunt den »Wiener Liedern«, welche gleichsam auf der Hand liegen, welche sind für die Seele wie eine Kinderfibel für Spinoza, wie die Geschichte vom Rothkäppchen, »wie der Hans sein Glück verscherzte« und »vom Veilchen, das im Verborgenen blüht« und »ringe reihe, sind der Kinder dreie, sitzen unterm Hollunderbusch, husch husch«. Oesterreich, was bist Du für ein naives Reich! Wie wenn Einer, der unglücklich liebte, sich im Rohre eine Pfeife schnitte und ganz fröhlich Vogelstimmen imitirte!

Newsky Roussotine-Truppe, wohin hingegen geleitest Du uns?! Vom elenden Stadtsommer der Praterstrasse in die Gefilde des Tyrannenreiches, in die Regionen kommender Kraft und Freiheit!

Von den »Schrammeln« zu »Newsky Roussotine« ist ein langer Weg. Wie von der Marlitt zu Tolstoi.

Wie eine Schlacht ist die Entwicklung der neuen Seele des Menschen. Alles wehrt sich. Viele fallen vor Ungewohntheiten, Erschöpfungen, im vorhinein. Viele fallen im feindlichen Kugelregen. Wenige erstürmen das neue Land, pflanzen die Fahne auf des neuen Denkens – – –.

[261] Wie passt es hierher?! Ich weiss es nicht. Weil ich Russlands Lieder liebe?!

11 Uhr Abends wandere ich hin durch die Praterstrasse zu der Production der Newsky-Truppe. Die Frauen haben rothe Blumen in den Haaren in dicken Büscheln, und weissgrüne lange Perlenschnüre hängen hinab an den weissen seidenen Kleidern. Alle umschlingen sich und weinen. Alle umschlingen sich und jauchzen. Der edle Knabe tanzt seine werdenden Leidenschaften. Newsky, der Mann, schlägt maassvoll auf dem Tamburin den gesicherten Takt gereiften Lebens.

Durch die Praterstrasse wandere ich, Abends 11 Uhr.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Was der Tag mir zuträgt. Newsky Roussotine-Truppe. Newsky Roussotine-Truppe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-D935-E