Krankheit
Ich habe manches gelernt in meiner letzten, meiner allerletzten Erkrankung, die mit Selbstmord oder langsamerem Tode enden muß! Ausweg gibt es keinen!
Erstens ist Morphium ein entsetzliches Lähmungsmittel, den Stoffwechsel um das Sechsfache herabsetzend. Denn Laxèn Scholz, von dem bisher eine der herrlichen Pastillen genügte, mußte seitdem sechsfach genommen werden! Sapienti sat! Und die Kraft der Darmnerven ist die Kraft des Lebens!
Zweitens hat Morphium provokatorische Wirkungen, d.h. die loca minorum resistentium zeigen sich in unermeßlich erhöhter Weise an! Die Unterminierung dieser Maschine »Organismus« wird also verhundertfacht! Die Schäden werden eben plötzlich aufgedeckt – – –.
Jede nervöse Reizung in irgendeinem Organ ist der geniale, voraussichtige, weisheitsvolle Anzeiger an den Organismus, daß es sich um eine Erkrankung handelt, die der Arzt naturgemäß erst zehn Jahre später als solche diagnostizieren kann! Eine edle Vorhersagung also, an die niemand glaubt! Denn der heiligen Natur mißtraut man mehr als dem unheiligen Arzte!
Strümpell hat in einem einzigen recht: Hypnotisch heilen wollen heißt: den Teufel mit Beelzebub austreiben wollen! Aber es gibt auch solche Satane unter den Ärzten!
[204] Man müßte einem Arzt jährlich vierzigtausend Kronen geben können, um ihn dazu zu bewegen, daß er bei einem erkrankten Organismus seine bisher gewonnenen Erfahrungen den neuen nun erlebten, ihm bisher unbekannten zuliebe aufgebe!
Kohlensäurebäder, elektrische Bäder, Vibrationsmassage wären sehr heilsam, wenn die Lebensenergien, die sie in uns entfachen, auslösen, zur Betätigung bringen sollen, in uns noch vorhanden wären! Ich kann schwach glimmendes Holz zum Brande fächeln, aber ganz kaltes nie! Irgendein Fünkchen muß noch glimmen – – –.
Kein Neurastheniker hätte sich umbringen müssen, falls er es abgewartet hätte, bis die Heilung eintritt. Aber daß er es eben nicht hatte abwarten können, beweist, daß er sich eben umbringen mußte, bevor die eventuelle Heilung eingetreten war!
Die Ärzte haben zwei wunderbare Heilmittel, für die sie aber, um sie zu ergründen, langes, emsiges Studium und zwanzigjährige Praxis brauchen: Zeit und Ruhe!
Der Irrsinn ist oft die Folge von unendlich lange andauernden tiefen Gemütszerstörungen, Sorgen, Enttäuschungen, Eifersuchtsqualen und so weiter. Aber die guten Freunde extrahieren das alles auf eine geniale Weise und sagen: »Er war von jeher exzentrisch und übertrieben. Wir wußten, es würde einmal so kommen!« Ja, ihr wußtet es seit langem, [205] daß er tiefer an der Gemeinheit des Daseins leiden konnte als ihr kalten, unbarmherzigen Hunde!
Idealer Krankenbesuch.
Man setzt sich an das Bett, sagt: »Ich spüre direkt Ihre Leiden mit – – –« Dann sitzt man stumm eine Viertelstunde lang. Dann geht man, gibt den bedienenden Mädchen Trinkgelder. Die edle ›Pflegerin‹ küßt man auf die Stirn. So ist Teilnahme! Alles andre ist Hokuspokus!!!
Seelenerkrankung.
Ein junges, ganz, ganz reines Mädchenherz wurde von einem feigen, infamen Kerl gefoltert, betrogen!
Da schrieb ihr ihre glücklichst verheiratete, sie fanatisch liebende Schwester nur den einen englischen Satz: »A devil is feeling ill, when he is in an angels companion!« Übersetzung: »Ein Teufel fühlt sich nicht wohl in der Gesellschaft eines Engels!«
Man sagte zu einem leicht Erkrankten: »Ihre Geliebte betrügt Sie – – –«.
Man hat mich in ein Sanatorium gebracht, in einem Automobil. Aber ich weiß nicht, welche Gegend es ist. Es sind große fremde Häuser ringsum, wie überall.
[206] Merkwürdige Töne gibt es, sanft-klagend-eindringlich. Von den fernen Fabriken. Dampfsignalpfeifen für Einstellung der Arbeit, Mittagspause, Rast, Feierabend – – –. Die arbeitende Menschheit tönt herüber, klagend.
Ich arbeite nicht, ich raste nicht. Niemand fordert mich auf zu dem und jenem. Es gibt nur eine innere klagende Signalpfeife: »Fort aus diesem verpfuschten Leben – – –!«
Die Ärzte sollten sagen: Nescimus!
Aber es ist vorteilhafter für sie, zu sagen: »Der Patient folgt uns nicht!«
Sollen wir Patienten ihnen diese Selbsthilfeaktion verübeln?!? Keineswegs. Wir folgten eben nicht! Lassen wir ihnen doch gnädig diesen Ausweg!
Der Arzt sollte sein Nichterkennen einer Krankheit für wertvoller einschätzen als sein Erkennen! Denn alle Bescheidenheit, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Selbstentäußerung läge darin! Aber er zieht es vor, den Patienten als den verbrecherischen Delinquenten hinzustellen, dem alle Schuld zukommt! Und dieser gelähmte Bettlägerige wehrt sich nicht –. Er bekennt stumm sich schuldig und stirbt!
[207]