Zyklus »Krankheit«

À Rebours

Krankheit ist eine Gabe des Himmels: man erfährt es nämlich plötzlich, wie ungeschickt man in den gesunden Tagen gewirtschaftet habe! Man kommt zur Erkenntnis, daß man ein Narr oder ein Verschwender, Vergeuder war von Lebensenergien in irgendeiner Fasson. Wehe dem, der nie daran gemahnt wird! Das Schicksal hat dann tiefere, geheimnisvollere Torturen mit ihm vor, um ihn hinterrücks dem Untergange entgegenzutreiben. Krankheit jedoch ist das böse Gewissen des Unbewußten in uns. Eine edle, sanftmütige Ermahnerin ist es, Umkehr zu halten auf dem Pfade der Sünde. Wehe, wenn mein Gehirn nicht melancholisch wird an falsch oder überflüssig ausgegebenen zehn Kronen! Wehe, wenn es nicht schon sogleich gemahnt wird an seine schändlichen Ungeschicklichkeiten! Der Weg ist dann gebahnt zum Wechselfälscher oder Selbstmörder! Krankheit ist der Alarmruf an die gesunden Kräfte im Organismus, den heimtückisch heranschleichenden Feind rechtzeitig zu bekämpfen!

Der Gesunde pocht auf seine Gesundheit und übernimmt sich! Der Kranke jedoch wird bescheiden! Der Gesunde ist plötzlich ruiniert, der Kranke wird allmählich gesunden! Gesundheit zu erhalten, Krankheit zu beheben, dazu gehört Weisheit, Weisheit, Weisheit! Aber die Gesundheit

[200] weise zu erhalten, dazu wird niemand gemahnt; die Krankheit aber weise zu bannen, dazu gemahnt uns eben das Kranksein! Der Gesunde lebt blind und taub, der Kranke lebt sehend und vernehmend!

Krankheit ist eine Mahnung Gottes, uns, solange es noch Zeit ist, eines Besseren zu besinnen! Gesundheit jedoch ist die Schadenfreude Satans an unseren Überhebungen in jeglicher Beziehung!

Der Gesunde kann plötzlich schwer erkranken, der Kranke kann leicht gesunden! Der Gesunde torkelt dahin, der Kranke geht vorsichtig. Der Gesunde hat keinerlei Achtung vor dem Lebendigsein, der Kranke betet zu jeglicher Stunde ohne Leiden!

[201]

Sorge

Nehmt dem Dichter diese irdische Schwere, die Sorge; auf daß er leicht werde und hinauffliege in die Nähe Gottes, und von obenherab euch Belastete betrachten könne und euch so helfen und beraten könne, da er freien Ausblick, Überblick hat und zugleich sein mittönendes Dichterherz – – –. Aber sie sagen: »Nein, dichte unter den schwierigen Umständen unseres eigenen belasteten Daseins! Da werden wir sehen, was du imstande bist! In Freiheit könnten auch wir vielleicht dichten und träumen von besseren, richtigeren und reineren Welten!«

Sehet, nein, das eben könntet ihr nicht! Und das allein ist euer Unterschied! Je freier ihr seid, desto tiefer versinkt ihr in eure eigene irdische Schwere, die niemandem nützt und euch nur belastet – – –. Das Leid der Welt wird euch fremder und fremder, die malträtierten Tiere, die malträtierten Kinder, die malträtierten Frauen sind euch nichts, und gleichgültig hört ihr den Notschrei des Lebens!

Aber der von irdischer Sorge befreite Dichter fliegt auf, übersieht die Welt und lauscht ihrem Jammern! Er sieht, wie man Gänse stopft in dunklen, absichtlich zu engen Käfigen unter Durstleiden, damit ihre Leber sich unnatürlich vergrößere – – –. Er sieht unwissende Mädchen zerstört werden wegen einer Stunde Lust. Er möchte retten und helfen. Er hat keine Waffe als seine helltönende, fanfarenartige, leidenschaftliche Stimme – – –. So beginnt er denn zu sagen, zu klagen, zu warnen, herabzusingen [202] und zu rufen in das dunkle, böse Gewirre von Leidenden unter ihm!

Einige hören ihn und lauschen, lauschen, lauschen – – –.

Nehmt dem Dichter die irdische Schwere, die Sorge, auf daß er über euch Belastete hinausfliege und von obenherab euch zusinge seine Erkenntnisse eurer Not!

Gebt ihm Flügel, auf daß er sich herabsenke, beschwichtigend, tröstend, heilend – – –.

Er allein weiß mit seiner erhöhten Freiheit etwas anzufangen – – – eure Gebundenheiten zu verringern!

[203]

Krankheit

Ich habe manches gelernt in meiner letzten, meiner allerletzten Erkrankung, die mit Selbstmord oder langsamerem Tode enden muß! Ausweg gibt es keinen!


Erstens ist Morphium ein entsetzliches Lähmungsmittel, den Stoffwechsel um das Sechsfache herabsetzend. Denn Laxèn Scholz, von dem bisher eine der herrlichen Pastillen genügte, mußte seitdem sechsfach genommen werden! Sapienti sat! Und die Kraft der Darmnerven ist die Kraft des Lebens!

Zweitens hat Morphium provokatorische Wirkungen, d.h. die loca minorum resistentium zeigen sich in unermeßlich erhöhter Weise an! Die Unterminierung dieser Maschine »Organismus« wird also verhundertfacht! Die Schäden werden eben plötzlich aufgedeckt – – –.


Jede nervöse Reizung in irgendeinem Organ ist der geniale, voraussichtige, weisheitsvolle Anzeiger an den Organismus, daß es sich um eine Erkrankung handelt, die der Arzt naturgemäß erst zehn Jahre später als solche diagnostizieren kann! Eine edle Vorhersagung also, an die niemand glaubt! Denn der heiligen Natur mißtraut man mehr als dem unheiligen Arzte!


Strümpell hat in einem einzigen recht: Hypnotisch heilen wollen heißt: den Teufel mit Beelzebub austreiben wollen! Aber es gibt auch solche Satane unter den Ärzten!

[204] Man müßte einem Arzt jährlich vierzigtausend Kronen geben können, um ihn dazu zu bewegen, daß er bei einem erkrankten Organismus seine bisher gewonnenen Erfahrungen den neuen nun erlebten, ihm bisher unbekannten zuliebe aufgebe!


Kohlensäurebäder, elektrische Bäder, Vibrationsmassage wären sehr heilsam, wenn die Lebensenergien, die sie in uns entfachen, auslösen, zur Betätigung bringen sollen, in uns noch vorhanden wären! Ich kann schwach glimmendes Holz zum Brande fächeln, aber ganz kaltes nie! Irgendein Fünkchen muß noch glimmen – – –.


Kein Neurastheniker hätte sich umbringen müssen, falls er es abgewartet hätte, bis die Heilung eintritt. Aber daß er es eben nicht hatte abwarten können, beweist, daß er sich eben umbringen mußte, bevor die eventuelle Heilung eingetreten war!


Die Ärzte haben zwei wunderbare Heilmittel, für die sie aber, um sie zu ergründen, langes, emsiges Studium und zwanzigjährige Praxis brauchen: Zeit und Ruhe!


Der Irrsinn ist oft die Folge von unendlich lange andauernden tiefen Gemütszerstörungen, Sorgen, Enttäuschungen, Eifersuchtsqualen und so weiter. Aber die guten Freunde extrahieren das alles auf eine geniale Weise und sagen: »Er war von jeher exzentrisch und übertrieben. Wir wußten, es würde einmal so kommen!« Ja, ihr wußtet es seit langem, [205] daß er tiefer an der Gemeinheit des Daseins leiden konnte als ihr kalten, unbarmherzigen Hunde!


Idealer Krankenbesuch.

Man setzt sich an das Bett, sagt: »Ich spüre direkt Ihre Leiden mit – – –« Dann sitzt man stumm eine Viertelstunde lang. Dann geht man, gibt den bedienenden Mädchen Trinkgelder. Die edle ›Pflegerin‹ küßt man auf die Stirn. So ist Teilnahme! Alles andre ist Hokuspokus!!!


Seelenerkrankung.

Ein junges, ganz, ganz reines Mädchenherz wurde von einem feigen, infamen Kerl gefoltert, betrogen!

Da schrieb ihr ihre glücklichst verheiratete, sie fanatisch liebende Schwester nur den einen englischen Satz: »A devil is feeling ill, when he is in an angels companion!« Übersetzung: »Ein Teufel fühlt sich nicht wohl in der Gesellschaft eines Engels!«


Man sagte zu einem leicht Erkrankten: »Ihre Geliebte betrügt Sie – – –«.

Da wurde er ein schwer Erkrankter.
Man sagte zu einem schwer Erkrankten: »Und Ihre Geliebte bleibt Ihnen dennoch ewig und ewig getreu!«
Da wurde er zu einem leicht Erkrankten.

Man hat mich in ein Sanatorium gebracht, in einem Automobil. Aber ich weiß nicht, welche Gegend es ist. Es sind große fremde Häuser ringsum, wie überall.

[206] Merkwürdige Töne gibt es, sanft-klagend-eindringlich. Von den fernen Fabriken. Dampfsignalpfeifen für Einstellung der Arbeit, Mittagspause, Rast, Feierabend – – –. Die arbeitende Menschheit tönt herüber, klagend.

Ich arbeite nicht, ich raste nicht. Niemand fordert mich auf zu dem und jenem. Es gibt nur eine innere klagende Signalpfeife: »Fort aus diesem verpfuschten Leben – – –!«


Die Ärzte sollten sagen: Nescimus!

Aber es ist vorteilhafter für sie, zu sagen: »Der Patient folgt uns nicht!«

Sollen wir Patienten ihnen diese Selbsthilfeaktion verübeln?!? Keineswegs. Wir folgten eben nicht! Lassen wir ihnen doch gnädig diesen Ausweg!


Der Arzt sollte sein Nichterkennen einer Krankheit für wertvoller einschätzen als sein Erkennen! Denn alle Bescheidenheit, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Selbstentäußerung läge darin! Aber er zieht es vor, den Patienten als den verbrecherischen Delinquenten hinzustellen, dem alle Schuld zukommt! Und dieser gelähmte Bettlägerige wehrt sich nicht –. Er bekennt stumm sich schuldig und stirbt!

[207]

Krankenpflege

Eine Frau, die, während ihr Geliebter im Sterben liegt, sich ebenso pflegt, wäscht, mit hundert Salben salbt wie eh' und je, und keinerlei Bedenken hat, sich ebenso zu pflegen und zu hegen, wie sie es gewohnt war, hat ihn nie, nie wirklich liebgehabt! Sie müßte plötzlich alles aufgeben, sich schmutzig werden lassen, sich verkommen lassen, auf ihre adelige Körperpflege vollkommen verzichten können, sich Hände und Gesicht nicht mehr waschen wollen, ja sogar die schönen Haare nicht mehr pflegen, sich in einen Abgrund stürzen lassen, wo das reale Leben zerschellt und aufhört – – –.

Es müßte alle ihre weibliche Eitelkeit plötzlich ersterben, nicht mehr sein – – –. Sie müßte zu einem Aschenbrödel werden, ganz in sich zurückgezogen und unbeachtet, nur in der edlen Pflege aufgehend und unscheinbar werdend vor Aufmerksamkeiten! Sie müßte unwillkürlich aus einer Dame zu einer »Pflegerin« werden, sich degradieren, um sich zu erhöhen!

Ihre Fingernägel müßten ihre Edelpolitur verlieren, ihre Strümpfe müßten Löcher bekommen und Knöpfe müßten ihr an der Bluse fehlen. Ihre Ungepflegtheit müßte ihre Ehre sein! Ihre Freundinnen müßten zu ihr sprechen: »Du siehst gealtert aus, meine Liebe, schließlich muß man doch auch ein bißchen auf sich schauen, solange man jung und hübsch ist – – –.«

»Dazu habe ich jetzt, Gott sei Dank, keine Zeit mehr übrig – – –.«

»Gott sei Dank?!« sagten die Freundinnen und kicherten: »Sie muß immer apart sein – – –.«

[208]

Ein Band Gedichte

Ich liege sterbenskrank seit vielen, vielen Wochen danieder, kann nichts mehr schreiben; eine Nachricht, die viele Menschen beglücken wird.

Ein fremder eleganter Herr lud mich einmal in einem Café zu einer Flasche G.H. Mumm extra dry ein. Ich erzählte ihm, daß ich Rheumatismus in der rechten Schulter habe, Zahnschmerzen in der Schulter gleichsam: ich könnte daher seit Wochen nicht mehr schreiben. Da entfuhr ihm unwillkürlich ein leises »Gott sei Dank!« Infolgedessen war ich als Gentleman gezwungen, seinen Tisch und den geliebten G.H. Mumm sofort stolz zu verlassen.

Nach dieser »launigen Abschweifung«, wie wir Schriftsteller uns gerne auszudrücken pflegen, teile ich nochmals mit, daß meine körperlichen und seelischen Qualen mich verhindern, über die vielen schönen, wertvollen Dinge des Lebens zu berichten. Trotzdem raffe ich mich auf, um eine Hymne, eine Fanfare der Begeisterung ertönen zu lassen über das Gedichtbuch »Feierabend« der Ilka Maria Unger, Verlag Julius Bard, Berlin. Hier klagt sich eine tiefe, bedrängte Seele aus; es sind gedichtete erlebte Schmerzen. Nie, nie ward ein wahrhaftigeres, edleres, einfacheres, nobleres Buch geschrieben. Eine Seele weint, klagt an, zieht sich zurück in ihre aristokratischen Einsamkeiten – – –.

Ihr wenigen, die ihr mit euren Seelen zu mir haltet, haltet auch zu ihr, der begnadeten Dichterin. Ich glaube, sie wird nichts mehr schreiben, sie hat keinen Ehrgeiz, und ihre Seele hat sich ihr ausgeklagt [209] für immerdar. Es ist keine Anfängerin, sondern eine Beenderin. Sie hat sich ausgeweint. Sie tritt nicht in die Arena des Lebens, um zu kämpfen, zu siegen. Einige edle Freunde haben zu ihr gesprochen: »Ilka Maria, Sie haben so schöne Gedichte, geben Sie sie uns, tun Sie uns die Ehre an, sie herauszugeben – – –.«

Der Titel »Feierabend« bedeutet: »Siehe, ich habe erlebt und erlitten; nun ist es Feierabend geworden, errungener, erkämpfter Friede!«

Leset, leset diese Gedichte, und es wird euch eine klagende Seele rühren, ergreifen. Nur die Wahrhaftigkeiten, die man mit seinem Herzblute, mit seinem Lebensglücke bezahlt, haben, in Dichtung umgesetzt, die Kraft, fremde Herzen zu rühren, zu ergreifen – – –.

[210]

Krankenbesuche

Wenn sogenannte Freunde einen Schwerkranken besuchen, haben sie ausschließlich die Absicht, alles schön zu färben. Niemals hat er blühender ausgesehen, ja direkt verjüngt. Man möchte es nicht glauben, in dieser kurzen Zeit! Die Hoffnung, mit dem billigsten, was es auf Erden gibt, dem schönen liebenswürdigen Wort, sich aus der Affäre zu ziehen, ist größer als der Zwang der Anständigkeit, den die schlichte Wahrheit erfordert. Man findet sein Zimmer ganz einfach superb, viel gemütlicher als sein einstiges Heim, obzwar man genau weiß, daß er mit allen Fasern seines Herzens an jedem Winkel seines geliebten Heimatzimmerchens hing. Man vermeidet es geschickt, zu fragen, wer denn alles bezahle, und fragt diskret an, ob die drei Kronen, die man einmal rekommandiert geschickt habe, auch wirklich angekommen seien. Bei bejahender Antwort verklärt sich das Antlitz des Spenders, und er sagt: »No, siehst du, Peter, wie man dich nicht verläßt in deinen schweren Zeiten!?«

Der Kranke wird plötzlich zu einem Verfemten, mit dem man geschickt lavieren muß. Den Gesunden konnte man auf verschiedene und eigentümliche Art ausnützen und verwerten: war er gescheiter, so konnte man seine eigene Stupidität hinter ihm bequem verbergen; war er liebenswürdiger, so konnte man die eigene Roheit durch ihn geschickt kaschieren. Aber der Kranke ist zu nichts Rechtem mehr zu gebrauchen. Ihn den Würmern noch für längere Zeit vorzuenthalten, ist scheinbar eine schlechte Spekulation; [211] aber ein gewisses Schamgefühl verhindert sie dennoch, den Unterschied zwischen der Beziehung zu dem Gesunden und zu dem Schwerkranken allzu augenfällig zu machen. Außerdem könnte es ja doch unter der Million von Idioten einen geben, der die ganzen Manöver durchschaute.

Man liebte den Gesunden selbstverständlich ebensowenig wie den Kranken, aber man hatte damals wenigstens keine Gelegenheit, ihn als eine direkte Last zu empfinden, und infolgedessen hielt man seine natürlichen Grausamkeiten ihm gegenüber in gewissen Schranken der sogenannten Wohlerzogenheit. Trotzdem gönnte ihm niemand zeit seines Lebens Freude und Glück, und wenn er es sich trotzdem errang, so geschah es unter merkwürdig schwierigen, belastenden Umständen, die aus dem Neid der sogenannten besten Freunde entsprangen. Dem Gesunden gönnte man nicht eine Stunde lang seine Kraft, zu leben, begeistert zu sein, zu lieben und aufwärts zu kommen, und erst der Schwerkranke befreit die Freunde von der stündlichen Gefahr, daß er ihnen über den Kopf wachse. Wenn die Erfahrungen, die der Kranke macht, dem Gesunden zugute gekommen wären, wäre er fast ein Genie geworden an Lebenskunst; so aber wurde er das selbstverständliche Opfer der heimtückischen Lüge des Lebens.

Oskar Wilde starb, wie keiner von der Million der Enterbten je dahingestorben ist; aber viele Jahre nach seinem Tode setzte ihm eine Pariser Dame einen Grabstein, der vierzigtausend Franken kostete. Könnte der Tote seine geniale Hand emporrecken, so würde er die wertlosen steinernen und bronzenen Dekorationen [212] zertrümmern, die eine Gans seinen vermoderten Gebeinen gesetzt hat.

Gebt dem Lebendigen die Kraft, alle Genialitäten seines Hirns, seines Herzens für euch Stumpfsinnige, Keuchende, Kriechende zu verwerten und ausleben zu lassen, und überlasset die Sorge um die sechs Rappen, die den Leichenwagen des zu Tode Gemarterten ziehen werden, der Entreprise des pompes funèbres!

[213]

Das Ende

Wenn man ein Sterbender ist, hilft einem die Natur, indem man alles als lächerlich, kindisch und unnütz empfindet, woran man bisher in seiner pathologischen Gesundheit zähe und leidenschaftlich sich anklammerte. Man nimmt daher Abschied von allem und jedem, was man bis dahin als die äußerste Erfüllung seines Lebens empfunden hatte!

Der Abschied wird leicht, denn der Abstand von den erträumten Idealen wird so riesengroß, daß man es gar nicht mehr begreifen kann, wie man es auch nur einen Tag lang auf Erden hatte aushalten können unter solchen Umständen. Das Getriebe der Leidenschaften und Wünsche wird zu einem pathologischen Gemengsel von wertlosen fixen Ideen, die man keinem vierjährigen Kinde zumuten möchte! Und keinem Paralytiker!

Besonders der Dichter, der alles aus eigenen Kräften, nach Gottes eigentlichen Plänen rekonstruiert, erlebt in den Zuständen seiner Erniedrigung, zum kranken, weidwund geschossenen Tiere, die schrecklichsten Enttäuschungen seines Wolkenkuckucksheims Gottes!

Wofür hat er geweint, gebetet, gezittert, gelitten, um Gottes willen?!?

Um sein eigenes Herz, das ihm die andern stündlich, täglich gefoltert, zermartert haben! Im Kloster, in der Einsamkeit des Daseins hätte er Zuflucht, Schutz gefunden! Aber der idiotische Träumer erhoffte es sich, das Leben der Hölle nach Gottes

[214] Himmelsplänen aufzuerbauen! Und eine Milliarde seelenloser Entwicklungsgehemmter stellte sich ihm im Kampfe entgegen. Die kleinsten Kleinigkeiten machten seine Seele erbeben, aber dieselben kleinsten Kleinigkeiten bewiesen ihm jedesmal, daß das Erbeben seiner Seele eine lächerliche Funktion gewesen sei, auf die nichts im Leben reagierte. Vor allem trocknen die Begeisterungsfähigkeiten ein, und man wird wie die Milliarde von anderen lebendigen Trockenmumien des Lebens!

Man erkennt es erst, daß man ein Dichter war, in dem Augenblick, wo die organischen gestörten Kräfte einen daran verhindern, es weiterhin noch zu bleiben! Eine mordende, Stoffwechsel hemmende, verlangsamende Nüchternheit entsteht in uns, und mit entseeltem Auge sehen wir die Dinge so an wie alle, alle andern. Das Gezwitscher der ersten Vögel des Morgens kündigt den verzweifelten, entsetzlichen Tag an. Die Bäume, die zarten Sträucher haben nichts mehr mitzuteilen von Gottes Gnade. Man erschaut alles ernst und traurig, geht an den Nebensächlichkeiten vorüber, und der ewige Hymnus im ewig bewegten Herzen ist verklungen. Die Welt liegt hinter dir, denn sie war dein Träumen, und was von ihr übrigblieb, ist nur wert, daß du es in Qualen verlässest – – –.

Dichter, du weißt es erst, wie sehr du begnadet warst vom Schicksale, wenn du infolge körperlicher Devastationen geworden bist wie jene andern alle!

Begeisterungsfähigkeit für alles und jedes, wenn du aus irgendeinem Grunde abstirbst im Menschenhirne,[215] dann verliert das Leben sogleich seinen Lebenswert – – –. Was wir dem Leben spenden, gibt es uns reichlichst wieder; doch tote Herzen säen und erntennichts!

[216]

Letztes Bekenntnis

Einundzwanzigster Februar. Mondnacht. Halb drei.

Helga schläft. Mein Bruder schläft.

Alle meine guten Engel schlafen.

Aber auch die ruhen sanft, die mir bös gesinnt sind.

Nur ich, ich bin verdammt zum Wachen!

Ich predigte die Heiligkeit des Schlafes.

Und dafür straft er mich mit seiner Flucht?!

Jawohl! Denn was du andern als heilig predigst, mußt vor allem du selber heilig halten! Kraftlose Wahrheit, die an dir zerschellt!

Wer Wahrheiten erkennt, muß sie befolgen!

Auf daß die andern doppelt daran lernen, an Wort und Tat!

Das, was ich weiß, ist nur die Hälfte meines Geistes, den Gott mir hat gespendet in seiner Gnade. Die andre Hälfte ist, sein Wissen tun.

Ich predigte die reine Frauenseele und liebte Huren – – –.

Ich predigte den Schlaf, und lebte in der Nacht!

So straft mich Gott, der mir die Weisheit, die Erkenntnis ins Gehirn gegeben,

auf daß ich durch mein Beispiel läutere!

Ich aber war stets nur die Hälfte meines eigenen Geistes,

die andre Hälfte blieb ich schuldig meinem Gott in mir!

Nun straft Er mich für meine Sünden, die ich an Seinem, an meinem Geist begangen habe!

[217] Als Dichter war ich sein getreuer Sohn, erfüllt von Idealen, die da kommen werden!

Jedoch der Mensch in mir war Satans Sklave!

Ich nahm den leichtern Teil auf mich, ich dichtete, ich dachte – – –.

Jedoch die eigene Dichtung, das eigene Denken zu leben, zu erleben,

dazu, dazu fehlte mir die Kraft!

So zürnte mir mein Gott in mir, wandte sich ab, ließ mich im Stiche!

Einundzwanzigster Februar. Mondnacht. Halb drei.

Alle meine guten Engel schlafen.

Aber auch die, die mir bös gesinnt sind, ruhen sanft – – –.

Mich nur flieht der Schlaf. Ich wache einsam.

Mein Gott in mir hat mich verlassen – – –.

[218]

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Zyklus »Krankheit«. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DC0F-E