Ulrich und Aennchen
Herders Volkslieder. I. 79.
Es ritt einst Ulrich spazieren aus,
Er ritt wohl vor lieb Aennchens Haus:
[266]»Lieb Aennchen, willst mit in grünen Wald?
Ich will dir lehren den Vogelsang.«
Sie gingen wohl mit einander fort,
Sie kamen an eine Hasel dort,
Sie kamen ein Fleckchen weiter hin,
Sie kamen auf eine Wiese grün.
Er führte sie ins grüne Gras,
Er bat, lieb Aennchen niedersaß,
Er legt seinen Kopf in ihren Schoos,
Mit heißen Thränen sie ihn begoß.
»Ach Aennchen, liebes Aennchen mein,
Warum weinst du denn so sehr um ein'n?
Weinst irgend um deines Vaters Gut?
Oder weinest um dein junges Blut?
Oder bin ich dir nicht schön genug?«
»Ich weine nicht um meines Vaters Gut,
Ich wein' auch nicht um mein junges Blut,
Und, Ulrich, bist mir auch schön genug.
Da droben auf jener Tannen,
Eilf Jungfrauen sah ich hangen.«
»Ach Aennchen, liebes Aennchen mein,
Wie bald sollst du die zwölfte seyn.«
»Soll ich denn nun die zwölfte seyn?
Ich bitt, ihr wollt mir drei Schrei verleihn.«
Den ersten Schrei und den sie that,
Sie rufte ihren Vater an,
[267]
Den andern Schrei und den sie that,
Sie ruft ihren lieben Herr Gott an,
Den dritten Schrei und den sie that,
Sie ruft ihren jüngsten Bruder an.
Ihr Bruder saß beim rothen kühlen Wein,
Der Schall der fuhr zum Fenster hinein:
»Höret ihr Brüder alle,
Meine Schwester schreit aus dem Walde.«
»Ach Ulrich, lieber Ulrich mein,
Wo hast du die jüngste Schwester mein?«
»Dort oben auf jener Linde,
Schwarzbraune Seide thut sie spinnen.«
»Warum sind deine Schuh so blutroth?
Warum sind deine Augen so todt?«
»Warum sollten sie nicht blutroth seyn?
Ich schoß ein Turteltäubelein.«
»Das Turteltäublein, das du erschoßt,
Das trug meine Mutter unter ihrer Brust,
Das trug meine Mutter in ihrem Schooß,
Und zog es mit ihrem Blute groß.«
Lieb Aennchen kam ins tiefe Grab,
Schwager Ulrich auf das hohe Rad,
Um Aennchen sungen die Engelein,
Um Ulrich schrieen die Raben allein.