Ariel

Ariel, seinen Kopf auf die Stuhllehne des Nachbars gestützt, hatte sehr nachdenklich zugehört; die Frau befragte ihn, ob er etwa auch solchen Schelmuffsky seit jenem Abende am Tor gefunden, der ihn auf andere Gedanken gebracht, mit der Ahndung käme er nicht ganz durch. Er lachte und sprach: »Es hat freilich mit der Ahndung seine Richtigkeit, aber ich weiß nicht, ob diese Ahndung durch den entsetzlichen Hunger erzeugt worden, den ich erlitten, denn seit ich einen Freund gefunden, der mich gekleidet und gesättigt, fühle ich sie nicht weiter, das weiß ich aber, ich bleibe meinem Gelübde treu.« – »Wer ist dieser Freund?« – »Das einzige, was ich Ihnen verschweigen muß, sonst sollen Sie meine Geschichte ganz wissen: Ich stamme aus rühmlichem und reichen Geschlechte; meine erste Neigung würde mich zum Soldaten gemacht [344] haben, doch das läppische Wesen, das durch lange Friedenszeit in diesen Stand gekommen, machte ihn mir verächtlich; ich wählte das Buch statt des Schwertes. Was mich ergreift, dem ergeb ich mich ganz, meine ganze Lebensweise entwickelte sich darnach, meinen Büchern, dieser lieben Gesellschaft aus alter Zeit zu leben, alle Wissenschaften und Künste suchte ich mir nach möglicher Kraft anzueignen. Bald genügte es mir nicht, dies allein in mir zu treiben, ich fühlte einen Drang andre damit zu ergreifen und zu durchdringen, ich knüpfte reisend mit Unzähligen an, wir hofften auf eine schöne Zeit für Deutschland, und arbeiteten fleißig, es sollte wie ein wunderbarer allseitiger Spiegel die Welt vereinigen. Schnell über und fort, wie eine wilde Taube im Sturm; der Krieg brach ein, zerschlug den Spiegel; wohl recht sagt Sophokles: ›er raubt die Guten nur.‹ Ich hätte gern mitgefochten, aber ich konnte das Schwert nicht führen; tausend Gewohnheiten hielten mich gefangen, die eben darum sich hielten, weil sie nicht leer, sondern in würdigen Zwecken erworben; doch fühlte ich, wenn ich auch meinen Sinn und meine Bemühung achten mußte, daß ich etwas Verkehrtes getrieben, was in der verderblichen Zeit nicht paßte, ich trauerte tief und hoffte dann wieder abwechselnd mit aller Torheit. Durch die Härte ungerechter Kontributionsverteilung ging für längere Zeit mein Vermögen unter, ob es je wieder empor kommt, weiß Gott und die Wucherer. Dienen konnte ich nicht, wo ich nicht sicher war zu nützen, es war in meiner Natur unmöglich; ich bin entschieden, lieber nicht zu leben, als etwas zu treiben, wovon ich voraus überzeugt, daß es vergeblich; es findet sich doch genug, was vergeblich war und sich vortrefflich anließ. Wegen meiner Armut mußte ich eine Heirat aufgeben, die der einzige mir ganz eigene Wunsch gewesen. – Ich zehrte allmählich meine geliebten Bücher auf. – Ein neues Edikt nahm mir das letzte Heiligtum, das mich diesem Lande verbunden, eine silberne Studierlampe, die ein Ahnherr in den Kreuzzügen aus dem Orient mitgebracht; ich schenkte sie hin, um mir deutlich zu beweisen, welcher elende unbedeutende Patriotismus es ist, sein Letztes wegzugeben. Von der Zeit an war mein Mantel mein Haus, was ich brauchte, schüttelte ich mir Nachts von den Bäumen, holte es aus den Backöfen der Dörfer, angelte es aus den Flüssen und schöpfte es aus den Quellen. Die Welt war mein. Der Winter trieb mich in [345] die Stadt, es war großes Scheibenschießen: ich gewann den höchsten Preis, ungeachtet ich zum erstenmal schoß. Der war aufgezehrt, als Sie mich antrafen, der Hunger trieb mich den andern Abend durch die Stadt; ich sah in die Häuser meiner Bekannten, die saßen fröhlich an großen Tischen, und reichten sich das Brot einander so gleichgültig, als war es gar nichts; ich war zu stolz um mich zu erkennen zu geben oder zu betteln; der Zufall führte mir einen großen Hund entgegen, der einen Braten aus einer Küche gestohlen, ich biß mich mit ihm herum und erbeutete den Braten nach hartem Kampfe. Nach dem Genüsse fühlte ich mich unmenschlich; ein Jammer über die Zukunft und ein Haß der Gegenwart durchschnitt meine Brust, als hätten die Tränenströme ihren Lauf verändert und stürzten sich alle inwendig auf mein Herz; es jammerte mich alles Gute, was ich mühsam in mir gesammelt, daß es so ganz vergebens untergehen sollte; mich jammerte die Stadt, daß ich sie aus Mitleid anzünden sollte, aber ich war voll entsetzlicher Ahndung; ein kleines graues Männlein trat mir entgegen, und zündete an seinen Nägeln, aus denen Feuer spritzte, meine Laterne an und zeigte mir ein Pulvermagazin, das gerade offen stand und flüsterte mir zu: ›Wirf es hinein, so bist du, so sind wir alle des Jammers los.‹ Ich ging nachdenklichen Schritts darauf los, da begegnete mir ein Freund aus früheren goldenen Morgenwolken, erkannte mich diesmal beim ersten Anblick, fiel in meine Arme, endete alle meine Not, gegen ihn hatte ich keinen Stolz! Wer möchte nun an Gottes Hand nicht glauben, wer möchte zweifeln an einer übersinnlichen Gemeine, die dem Menschen das Maß seiner Prüfung und Vollendung zumißt, und was man lange nur in Gedanken verehrt, ergreift uns endlich in der Wirklichkeit mit heiligem Schauer der Überzeugung. Ich bin jetzt entschlossen, mit diesem Freunde eine Entdeckungsreise um die Welt zu machen!« – So schloß er. Aus einer gewissen Verlegenheit auf dem Gesichte des Invaliden glaubte ich zu schließen, daß er mit dieser Geschichte in irgend einer Berührung stehe.

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TextGrid Repository (2011). Arnim, Ludwig Achim von. Erzählungen. Der Wintergarten. Siebenter Winterabend. Ariel. Ariel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-0ABB-6