12. Die Thiere und der Mensch.

Eine heidnische Fabel erzählt: Nachdem der höchste Gott Jupiter die Thiere und zuletzt den Menschen erschaffen, so trat der Esel vor dessen Thron, und fragte ihn: Wie lange [58] er zu leben und was er zu thun habe? Darauf versetzte Jupiter: Dein Leben wird dreißig Jahre währen, und dein Thun wird sein, daß du Lasten tragest, Hunger und Durst leidest, und falls du lässig bist, noch Prügel kriegst obendrein. Da seufzte der Esel tief auf und sagte: Ach, gerechter Gott! wenn es doch also beschlossen ist, daß ich ein so elendes Leben führen muß, so kürze mindestens meine Jahre um zwanzig ab bis auf zehn. Das bewilligte ihm Jupiter, und der Esel ging zufrieden von dannen. – Hierauf erschien der Hund und fragte gleichfalls, wie lang er zu leben und was er zu thun habe. Jupiter antwortete: Dein Leben wird dreißig Jahre währen, und dein Thun wird sein, daß du den Menschen und sein Habe bewachest Tag und Nacht, und die Diebe verscheuchest durch Knurren, Bellen und Beißen. Das gefiel dem Hunde nicht, der gern der Freiheit genossen hätte, und er bat den Jupiter, daß wenn er doch zur Sklaverei geboren, die Jahre ihm abgekürzt werden bis auf zehn. Jupiter willfahrte seiner Bitte und der Hund entfernte sich dankbar. – Nach diesem erschien der Affe, der gleichfalls fragte, wie lang er zu leben und was er zu thun habe? Dem antwortete Jupiter: Dein Leben wird dreißig Jahre währen, und dein Thun wird sein, daß du in deiner Mißgestalt den Menschen als Schauspiel dienest und zum Gespötte der Kinder. Darüber erboste sich schier der Affe, und er sagte: Wenn ich doch zu weiter nichts nutz sein soll auf dieser Welt, so kürze mir mindestens meine Jahre ab bis auf zehn. Das ward ihm auch zugesagt. – Zuletzt erschien auch der Mensch vor dem Throne Jupiters, und er fragte den Gott: Wie lange er zu leben habe? Jupiter antwortete: Dein Leben wird dreißig Jahre währen. Wie, fragte der Mensch, nur dreißig Jahre? Ist diese kurze Lebenszeit würdig des vollkommensten Wesens, das aus deiner Hand hervorgegangen? Da sagte Jupiter: Wohlan, so will ich dir denn noch die zwanzig Jahre zulegen, die ich dem Esel, und die zwanzig, [59] die ich dem Hunde, und die zwanzig, die ich dem Affen abgenommen habe. Dann sei aber auch dein Thun und Leiden: daß du von deinem dreißigsten Jahre an bis zum fünfzigsten Lasten tragest, und schwitzest, und entbehrest, und duldest, wie der Esel; und daß du von deinem fünfzigsten bis zum siebenzigsten dich und dein Habe ängstlich hütest, wie der Hund, knurrend und murrend; und endlich, daß du die weitern zwanzig Jahre, bis zu deinem neunzigsten, zu nichts mehr dienest, als wie der Affe, zum Gespötte der Kinder. – Und also ist es auch geschehen, sagt die heidnische Fabel; und wir erfahren es auch täglich an Menschen, die den Thieren gleich nur das Irdische wägen und suchen.

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TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Märchen und Sagen. Ein Volksbüchlein. Erster Theil. 2. Allerlei erbauliche und ergötzliche Historien. 12. Die Thiere und der Mensch. 12. Die Thiere und der Mensch. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-1453-E