4. Die Wunder.

Es hielten zwei Männer der Gemeinde vertrauliche Zwiesprache über die Irren und Wirren ihrer Zeit. Der eine, ein Mann in rüstigen Jahren, nach allen Seiten hin umsichtig und rührig, der sich aber überall gehemmt sah in seiner Wirksamkeit, und betrogen in seinen besten Erwartungen, blickte mit Kummer auf die Gegenwart hin, und ohne Hoffnung in die nahe und ferne Zukunft. Er klagte dies seinem Nachbar, einem bejahrten, vielgeprüften Manne, der nach mannichfaltigen Erfahrungen eines langen Lebens eine Ruhe, Sicherheit und Klarheit in Geist und Gemüth errungen hatte, wie wir sie an dem Spiegel unsers Innern, an dem Himmel wahrnehmen, wenn er nach[45] stürmischen Gewittertagen wieder seine Heiterkeit gewinnt, und rein und mild auf die Erde niederschaut. Es drängt sich mir – sagte jener – mit jedem Tage mehr der furchtbare Gedanke auf, als sei die Welt aus ihrem Fundamente gerissen und als Spielball preisgegeben den bösen Mächten, welche ein zürnender und strafender Gott losgelassen zur Züchtigung eines verderbten Geschlechtes. Wohin wir die Augen wenden, wir sehen überall nur Zerrüttung und Verkehrung menschlicher Verhältnisse. Alte Throne stürzen ein, die auf Granitvesten erbaut zu sein schienen; neue er richten sich auf Sandhügeln, welche der Wind des morgigen Tages wieder verwehen wird. Die Völker sind, und – sind nicht mehr; denn die Satzungen und Rechte der Väter wurden verworfen, und es haben sich neue eingeschlichen und eingedrängt, welche die Auflösung schon in ihrem Entstehen an sich tragen. Ueber den Formen, um welche man streitet, wird das Wesen, der Bestand und Gehalt des Volkslebens bloßgestellt; und indem man vorgibt, immer nur das Bessere zu suchen, verliert man vollends das Gute. Und in Allem, was sie satzen, treiben und thun, ist es überall nur auf das Irdische, das Vergängliche abgesehen, und Eigennutz regiert die Welt. Was sonst als der Anfang der Weisheit der gegolten hat, und als das Ende alles Lebens und Strebens, und als der Mittelpunkt, an dem sich das Wohl und Wehe ganzer Völker, so wie Einzelner angeknüpft und gehalten hat: das Ewige, Göttliche, es ist aus dem öffentlichen Leben, von dem unheiligen Markte verschwunden, und mit ihm Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit. Und die wenigen, die ihr Herz dem Heiligen noch erschlossen und geweiht, retteten sich und ihr Geheimniß aus dem Marktgetümmel, und verbleiben einsam und stumm; denn ihre Stimme, wie die Stimme des Rufenden in der Wüste, würde doch nur eitel verhallen an den Ohren und Herzen eines thörichten Geschlechtes. O Freund! – schloß der Bewegte – wer soll in diese Irren [46] und Wirren Ordnung und Licht und Frieden bringen? Wenn hier kein Wunder geschieht, so steht der Welt Auflösung nahe in Blut und Feuer. – Der Nachbar sah ihn mild lächelnd an, und indem er seine Hand ergriff, sprach er mit dem Tone der Zuversicht und des Glaubens: Wahrlich! es geschehen noch Wunder; und wenn wir sie auch mit unsern Augen nicht schauen können, sie geschehen doch – wie das Licht die Nacht des Gewölkes durchbringt und die Luft den Verschluß des Abgrunds, obgleich wir den Quell nicht gewahren, aus dem sie strömen. Es geschehen noch Wunder! Erst noch neulich habe ich deren zwei gesehen, die mir ein eben so großes Vertrauen gegeben, als sie mich in Erstaunen gesetzt haben. Es war in einer Nacht, als ich vor Kummer nicht schlafen konnte; da trat ich ins Freie, und ich erblickte nun ein hohes, weites, unermeßliches Gewölbe über meinem Haupte, und unzählige Sterne funkelten an dessen Decke, und die schlummernde Erde ruhte sicher, wie ein Menschenkind, unter dem schützenden Obdach. Und nirgends sah ich doch Pfeiler, darauf der Meister das Gewölbe gesetzt hätte, und es fiel dennoch der Himmel nicht ein, und er stand fest, auch ohne jene Pfeiler. Da sprach ich zu mir: Sollen wir arme Menschen drum zappeln und zittern, den Einfall und Sturz des Himmels befürchtend, weil wir die Stützen nicht greifen noch sehen, die ihn halten? Und soll es uns nicht genügen, zu wissen, daß Gottes wunderbare Hand den Bau gebildet, und daß ihn dieselbe Hand in der sichern Schwebe trägt und erhält? Und ich ging beruhigt in meine Hütte zurück, und überließ mich getrost dem Ruheschlummer, da ich wußte, daß ein Wächter wacht über die Welten, und über die Hütten der Menschen. – Und ein anderes Mal, als ich an einem Tage von schwerer Trübsal niedergedrückt war, blickte ich zum Fenster hinaus, und da sah ich große dicke Wolken über mir schweben, und sie zogen einher, wie Meereswogen vom Sturme fortgetragen, und die Gewässer drohten herabzustürzen [47] und schier den Erdball zu ersäufen. Aber es floß der Regen gar sänftiglich nieder, und erquickte Feld, Wald und Flur, und das Gewölbe zog fort, um den Segen weiter zu verbreiten in die Länder der Menschen. Da sprach ich zu mir selbst: Wo ist denn der Boden, auf dem die Wolken ruheten oder fußeten? oder wo die Kufen, darein die Gewässer gefasset wären? Und wessen Hand leitet diese gewaltigen Massen in den Lüften hin, und wessen Arm stützet die hohen, schweren Wassersäulen, daß sie nicht mit all ihrer Wucht auf uns zumal herabstürzen? Und sieh! indem ich mich noch so fragte, da erbaute sich in der Ferne ein lichtglänzender Bogen mitten in die Wolkennacht hinein, und ich erkannte ihn sogleich als jenes Zeichen, das Gott unsern Vätern gesetzt hat zum Bunde zwischen ihm und uns, daß er das Menschengeschlecht nimmer vertilgen werde auf Erden. – Seit jenen Tagen, als mir diese Gesichte geworden, kann kein Zweifel mehr mein Gemüth beschleichen, und aller Kummer verschwindet vor dem Lichtblicke, der in mein Innerstes gefallen. – Der Freund verstand und würdigte die Worte des Freundes. Und er klagte nicht mehr über die Irren und Wirren der Zeit; wol aber trug er, nach dessen weisem Rathe, desto mehr Sorge für den engern Kreis seiner Familie und der Gemeinde, daß sie so viel möglich gesichert stünden gegen den Ungestüm des Verhängnisses, welches die Völker und Länder zu bedrohen schien.

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TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Märchen und Sagen. Ein Volksbüchlein. Erster Theil. 2. Allerlei erbauliche und ergötzliche Historien. 4. Die Wunder. 4. Die Wunder. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-15B5-8