Das Fräulein von Schroffenstein.
Es lebte vor Zeiten auf seiner Burg zu Eschenlohe ein junger Graf, schön von Gestalt, und von angenehmen, feinen Sitten. Dieser empfand Liebe für die junge und schöne Adelheid von Schroffenstein, die einzige Tochter und Erbin des verstorbenen Herrn, welche unter der Vormundschaft ihres Oheims stand. Beide hatten sich schon von Kindheit an gekannt; denn die drei edlen Familien des Thals waren von jeher gewohnt, wie Eine Familie zu leben; und als sie daher zur Jungfrau herangewachsen, konnte und wollte sie ihre zärtliche Neigung gegen den jungen Grafen nicht verhehlen. Nun war es aber die Absicht ihres Oheims, sie dereinst [119] mit dem mächtigen Grafen von Werdenfels zu vermählen; und dieser warb um so lieber um die schöne Adelheid, als er mit ihrer Hand zugleich eine stattliche und ihm wohlgelegene Herrschaft bekommen sollte. Der Oheim aber, als er die gegenseitige Neigung der jungen Leute bemerkte, suchte ihnen alle Gelegenheit zu benehmen, sich zu sehen und zu sprechen; das Fräulein wurde in ihrer Burg streng bewacht, und auch der junge Graf in allen seinen Schritten und Tritten beobachtet, daß er keinen Zutritt fände zu seiner Geliebten. –
Die Tante stand auf, und winkte Malchen. Diese sah auf die Mutter, welche der Tante bedeutete. Jene setzte sich wieder.
»Die Liebe findet überall Auswege, und besieget alle Hindernisse. So geschah's auch hier. Die beiden Herren, der Schroffensteiner und der Werdenfelser, waren große Freunde der Jagd, und liebten dieses ritterliche Geschäft über die Maßen. Da ward denn zwischen beiden Liebenden die Verabredung getroffen: so oft sie ihr Linnentuch ausspreitete an der Sonne, so sey dieß ein Zeichen, daß der Oheim auf die Jagd gegangen, und daß sie sich frei und frank sehen und sprechen könnten. So geschah es denn auch. Wenn das Linnentuch auf der Terrasse des Schlosses erschien, beleuchtet vom Morgensonnenstrahl, [120] so ließ der Eschenloher alsogleich sein Roß satteln, und ritt, ohne alle Begleitung, die Loisach hinauf, das Schloß Werdenfels vorüber, zur Burg Schroffenstein; und während die beiden andern Herren etwa im Höllenthal oder auf dem Teufelsg'säß den Gemsen nachsetzten, saß er bei der Geliebten im stillen Kämmerlein, von niemand gesehen und belauscht, als dem treuen Burgvogt und der verschwiegenen Zofe.«
Die Tante entfernte sich, vorschützend, es sey auf der Terrasse ein schädlicher Luftzug.
»Die Fahrten des Grafen von Eschenlohe nach Schroffenstein konnten jedoch nicht lange unentdeckt bleiben. Die wachsamen Leute des Werdenfelsers gewahrten ihn, wie er dahin zog, und meldeten es sogleich ihrem Herrn. Der berieth sich alsobald mit dem Oheim des Fräuleins, und ihr Entschluß war gefaßt. Sie traten des Morgens ins Gemach des Fräuleins, stellten sie zur Rede über ihr Verhältniß mit dem Eschenloher, das sie nicht läugnen mochte, und der Oheim erklärte, sie müßte sich Augenblicks entschließen, ihre Hand dem Grafen von Werdenfels anzugeloben. Darob erschrack das Fräulein nicht wenig; sie kannte den rauhen Ernst ihres Oheims, und wußte, daß eine Weigerung ihr das Schlimmste zuziehen würde. Sie faßte [121] sich jedoch nach einer Weile, und sagte zum Werdenfelser: ›Wenn's Euch doch nicht anders geliebt, so gelobe ich denn, daß ich meine Vermählung auf Eurem Schlosse feiern werde. Machet daher sogleich Eure Zurüstungen, daß binnen heute und acht Tagen das Hochzeitfest dort gehalten werden möge.‹«
Die Tante hatte hinter dem Gemäuer zugehört, und kehrte nun wieder an ihren Platz zurück.
»Wirklich machte sie nun selbst alle Zubereitungen zur nahen Hochzeit. Sie verlangte vom Werdenfelser Diener und Pferde; Kleider und Linnen und Kostbarkeiten wurden gepackt; und eines Morgens, da die beiden Herren wieder in das Gebirg gegangen, dort zu jagen, ließ sie sich den Zelter vorführen; und von einem stattlichen Gefolge begleitet, zog sie genWerdenfels zur Burg, die ihr, als der künftigen Herrin, ohne Anstand geöffnet wurde. Sie gab sogleich ihre Befehle, daß alles schleunigst zubereitet werde zur Hochzeit. Alle Diener, der Burgvogt selbst, waren sofort beschäftigt in der Küche, im Keller, in den Gemächern; die Aufmerksamkeit Aller war der Zurüstung zum Feste zugewandt. Da, mitten in dieser Verwirrung, ritt durch die Pforte der Burg, die offen gestanden, der Eschenloher herein, mit einem Zug bewehrter Reisigen. Das Thor, die übrigen Eingänge, die Rüstkammer, [122] wurden sogleich besetzt, der Burgvogt in Verwahr gebracht, die Dienerschaft erschreckt und willig gemacht zur Ausführung der gegebenen Befehle ... Das Fräulein nämlich, muß man wissen, hat durch ein Brieflein den Grafen vonEschenlohe von allem in Kenntniß gesetzt, was ihr widerfahren, und ihm zugleich den Plan mitgetheilt, wie sie der gewaltthätigen Zudringlichkeit durch List entgehen wollte. Daß der Eschenloher nicht säumte und zauderte, kann man sich denken ... Die Einsegnung des Fräuleins von Schroffenstein mit dem Grafen von Eschenlohe ist noch an jenem Morgen vollzogen worden. Und Nachmittags setzte man sich zum Mahle, wozu der Werdenfelser alles Köstliche schon zum voraus hatte herbei schaffen lassen an Gewürzen und Weinen und anderm leckerhaftem Zeug. Auch Fiedler hatte der Graf schon bestellt, und in seiner Burg untergebracht, so daß es gar lustig zuging bei de Hochzeit des Fräuleins von Schroffenstein mit dem Grafen vonEschenlohe auf der Burg des Werdenfelsers.«
»Die Volkssage wahrt doch mindestens die Heiligkeit des Eidschwurs – unterbrach der Onkel; – unsere schlechten Romane wüßten die Treue und Liebe nicht anders zu retten, als durch Treu- und Lieblosigkeit.«
[123] »Als die beiden Herren von der Jagd auf demWetterstein zurückgekommen, fanden sie die Burg Schroffenstein ganz menschenleer, und das Thor von Außen verschlossen. Landleute erzählten ihnen: daß das Fräulein schon früh am Morgen weggeritten sey mit Dienerschaft und Gepäcke. Die beiden vermutheten sogleich eine Entführung, und sannen schon auf Rache gegen den Eschenloher. Sie nahten sich der Burg Werdenfels. Fiedeln und Schalmeien schallten ihnen von weitem entgegen. ›Was gibt's da oben?‹ fragte der Werdenfelser einen Landmann. ›Nun, was sollt's geben? erwiederte dieser. Das Fräulein von Schroffenstein ist heute Morgens ins Schloß eingeritten, und gleich später der Graf von Eschenlohe. Sie halten da oben, wie ich gehört, ihre Hochzeit. Ihr wißt ja doch davon, Herr Graf?‹ Der Graf erstarrte fast zu Stein ob der Nachricht, und der Wettersteiner fluchte. Sie nahten dem Thore. Man hatte drinnen bereits ihre Ankunft vernommen, und der Graf mit seiner Braut eilten herbei, und jener bedeutete ihnen: ›daß sie sehr willkommen wären, wenn sie als Hochzeitgäste kämen, und nichts Arges im Sinne hätten. Dieß müßten sie aber geloben.‹ Darauf nahm die Braut das Wort, und bat sie mit eindringlichen Worten um Verzeihung [124] wegen der List, die sie ausgeübt, wozu sie aber von ihnen selbst verleitet worden sey durch Gewalt. – Was sollten die Männer thun? Von ihren Burgen ausgeschlossen, von ihren Leuten verlassen, im Bewußtseyn, daß sie in einer unrechten Sache sich selbst in fremde Listen sich verstrickt hätten, unterdrückten sie ihren Aerger, und der Werdenfelser sagte: ›Hol mich der Teufel! ehe sie mir alle meine Schinken wegfressen und meine Weine aussaufen, so will ich doch lieber noch selbst mithalten, und Theil nehmen, so weit es reicht.‹ Auf ihr gegebenes Wort wurde die Pforte geöffnet; die beiden Männer reichten dem Eschenloher die Hand, und begleiteten die Braut in das Gemach, wo die Tafel gedeckt war. Adelheid kredenzte selbst ihnen den ersten Becher; der Wein verscheuchte bald allen Verdruß, auch in dem Herzen des Oheims, und die beiden Herren trugen auch von der Zeit an keinen Groll nach. Der Oheim blieb im Besitze von Schroffenstein, so lange er lebte. Der Werdenfelser, ohnehin schon bei Jahren, blieb unvermählt, und nach seinem Tode fiel Burg und Herrschaft seinem nächsten Verwandten zu, dem Grafen von Eschenlohe. – So weit die Volkssage.«
* * *
[125] Um die, welche in der Schwaige unten zurückgeblieben waren, nicht zu lange warten zu lassen, schied man, wiewohl ungern, von dem Platze; und man beschloß, ein anderes Mal die Erfrischungen hier oben zu nehmen, um sich dem Genusse der schönen Natur länger hingeben zu können.
Man verweilte bis spät gegen Abend auf dem freundlichen Plätzchen vor der Schwaige; dann trat man den Rückweg an. Die Kinder gingen mit dem Freunde voraus, der ihnen mancherlei zeigen und erklären konnte; die übrigen folgten in kleinern Gruppen.
Unterwegs konnte sich die Tante nicht enthalten, ihrem Unmuthe über die Erzählung des Freundes Luft zu machen. »Es ist doch höchst undelicat, sagte sie, und von einem Manne, der als gebildet gilt, unbegreiflich, wie man in Gegenwart von Kindern so etwas erzählen mag. Es gibt Zustände des Lebens, Verhältnisse der Gesellschaft, Leidenschaften des Gemüthes, welche, abgesehen auch von allem sittlichen Urtheile, jugendlichen Seelen durchaus unbekannt bleiben sollen. Der mindeste Schaden, den die vorzeitige Enthüllung solcher Gemüthszustände anrichtet, ist die Erweckung einer unbestimmten Sehnsucht, welche nun, wie ein irrer und wirrer Traum, in das friedliche, glücklich unwissende Leben [126] der Kindesseele eintritt und dasselbe trübt und stört. Von dem noch schlimmern Erfolg, der zumal in vorgerückterm Jugendalter und bei lebhafterer Phantasie selten ausbleibt, will ich gar nicht Erwähnung thun, daß nämlich die vorzeitig aufgeregte Lust nun blind eifernd dichtet und trachtet, um das so reizend geschilderte Luftgebilde in die Wirklichkeit herabzuziehen und an dessen Genusse sich zu ersättigen.«
»Du scheinst mir die Sache zu ernst, zu streng zu nehmen – versetzte der Onkel. – Der kindliche Geist fasset alles auch auf eine kindliche Weise auf, und er denkt nicht von ferne an jene Absichten, Gründe, Zwecke und Folgen, die der Erwachsene, der Lebenserfahrne sich aus dergleichen Geschichten abzieht. Versetzen wir uns nur selbst in Gedanken in unsere Jugend zurück, und entsinnen wir uns, was Erzählungen dieser Art, z.B. von der schönen Magelone, auf unser Gemüth für einen Eindruck gemacht haben. Wir konnten aufrichtig mitempfinden, wir mußten herzlich weinen; aber es war und blieb eben ein Mitgefühl, eine Liebe, wie wir sie gegen Bruder und Schwester empfinden, an deren Schicksal wir großen Theil nehmen. Das kindliche Gemüth ist ein durchaus rein dichterisches; es hält sich an die Form, ohne in die Sache einzugehen. Und darum mag es zwar allerdings nicht passend [127] seyn, Kindern dergleichen Liebsgeschichten zu erzählen, aus dem einfachen Grunde, weil sie so etwas überhaupt nicht verstehen; aber ärgerlich war jene Geschichte doch auch nicht für die Kinder, aus demselben Grunde, und weil sie doch nur das Aeußerliche, die Begebenheit, die Intrigue wahrzunehmen im Stande seyn mochten. Und freilich, da einmal an Ort und Stelle von Volkssagen die Rede war, so müssen wir jene Erzählung des Freundes auch als passend anerkennen.«
»Eifere ich denn überhaupt gegen Liebsgeschichten, oder gegen solche Erzählungen, deren Inhalt Hinneigung des Geschlechtes zum Geschlechte ist? – erwiederte die Tante. – Keineswegs! Liebe ist Liebe, sie mag unter einer Form erscheinen, in welcher sie wolle. Auch bin ich selbst gar wohl überzeugt, daß sie unverdorbenen Kindern sich rein darstelle, nur unter der Form als Liebe zwischen Bruder und Schwester, zumal in den bessern Mährchen, wo sie als heldenmütige Kraft als edelmüthige Aufopferung, als anmuthige, wahrhaftige Liebe sich erzeigt. Anders aber verhält es sich mit jenen Liebsgeschichten, wie sie uns in den gewöhnlichen Romanen dargeboten werden, und von welcher Art namentlich auch jene Erzählung des Freundes ist. Hier tritt die Liebe mit ihren Schönheiten und Tugenden [128] zurück, und vornan drängt sich die Intrigue, die Zweizüngigkeit, die Hinterlist, der Betrug.«
»Es ist dieß, versetzte der Onkel, die List der Schwäche gegen die Gewalt, der Kampf des Witzes gegen die Plumpheit und Rohheit, der Sieg der Unschuld und der Liebe über Eigensinn und Eigennutz. So haben es gewiß auch die Kinder angesehen, wenn sie überhaupt zu einer Ansicht gekommen sind.«
»Nein! – sagte die Tante fast ärgerlich – es ist doch recht unartig von dir, so etwas vertheidigen zu wollen! Das geschieht nun wieder aus purer Lust zur Rechthaberei.«
»Es ärgert sie nur darum – wendete sich der Onkel zur Mutter, die sich ihnen angeschlossen hatte – weil wieder einmal ein Onkel über das Eis geführt worden ist, befürchtend, es könnte dieß einer Tante bei Gelegenheit ebenfalls geschehen. Sie eifert für die Autorität der Onkel und Tanten; und das ist natürlich und lobenswerth.«
»Ich selbst – erwiederte die Mutter – kann meinen Abscheu nicht genug ausdrücken gegen jene frivole, wahrhaft unsittliche Unart, womit in so vielen neuen Romanen und Bühnenstücken das Verhältniß, der Charakter, das Ansehen der Onkel und Tanten verdächtigt und verhöhnt werden. Sie sind einmal die nächsten, ehrenwerthesten Blutsverwandten; [129] sie sind die Brüder und Schwestern der Eltern, die Schützer, Berather und Wohlthäter der Kinder. Ziemt es sich da wohl, ist es nicht wahrhaft lästerlich, daß sie in jenen schlechten Schriften als Repräsentanten des Eigennutzes und Eigensinnes, des Uebermuthes und der Tyrannei dem Hohne und Hasse bloß gestellt werden? Ich habe diese Schlechtigkeit von jeher als einen jener Kniffe angesehen, womit jene Leute jede Autorität, jedes geheiligte Ansehen zu untergraben suchen. Sie wagen es zwar nicht, geradezu die höchsten Autoritäten und die ehrwürdigsten Persönlichkeiten verächtlich und lächerlich zu machen, aber wohl geben sie dafür Junker und Pfaffen dem Spotte und Hasse Preis, und Onkel und Tanten, um ihre Büberei nicht an den Eltern selbst zu üben. Sie erreichen aber damit denselben Zweck; sie untergraben Ehrfurcht, Zutrauen, Liebe, Gehorsam, jegliche Tugenden, die die Grundfesten der Familien, der einzelnen, wie der größern, der Kirche und des Staates, ausmachen.«
»Ich möchte dich küssen, holde Schwester – sagte der Onkel – für diese deine köstliche Apologie der Onkel und Tanten, und all der hohen und niedern Sippschaften, die damit zusammenhängen. Aber was geht das, sag' mir, unsere Volkssage an?«
[130] »Ich glaube – antwortete die Mutter – man sollte solche Mißverhältnisse des sittlichen Lebens in Gegenwart der Kinder nicht einmal berühren und nennen, es wäre denn im Zusammenhang, und wo eine höhere, sittlich religiöse Idee alles vermittelt und ausgleicht; z.B. im Vortrag der Geschichte. – Indessen bin ich mit dir einverstanden, daß die Kinder bei Erzählung jener Sage, wie sie gelegentlich und unbefangen vorgetragen worden, durchaus keinen Anstoß gefunden haben. Und darum möchte ich dein Benehmen (fuhr sie fort, zu der Tante sich wendend) mindestens unklug nennen, daß du durch deine plötzliche Entfernung, so viel an dir lag, auf das Verfängliche in der Erzählung aufmerksam gemacht hast. Es gibt Fälle, wo man den Kindern die Gefahr, die ihnen etwa drohen möchte, nicht merken lassen soll; denn indem man sie davon abzuwenden sucht, ruft man gewissermaßen erst recht die Gefahr hervor, weil man ihren Sinn dahin lenket. Vertrauen wir auch etwas, ja das Meiste, auf die Schutzengel, die sie bewachen und leiten und führen.«
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