106. Geist als Schlange.

Einer hochschwangern Frau von Kippenheim, die mittags in den dortigen Weinbergen schlief, kroch in den offenen Mund eine Schlange. Ihr Kind, welches neben ihr lag und zur nämlichen Zeit erwachte, wollte die[94] Schlange noch am Schwanz packen und zurückziehen, allein sie schlüpfte schnell der Frau in den Leib, wo sie ihr jedoch keine Beschwerde machte. Als dieselbe bald darauf eines Kindes genas, hatte dieses die Schlange so fest um den Hals liegen, daß man sie nur durch ein Milchbad davon losbrachte. Sie wich aber nicht von des Kindes Seite, lag stets bei ihm im Bett und fraß aus seiner Schüssel. Weil sie ihm dabei nichts zu Leid that, und das Kind sie sehr lieb hatte, ließen die Eltern, nach dem Rathe Geistlicher und Weltlicher, beide ungestört beisammen. Sechs Jahre waren so verflossen, als einst die Schlange die allzugroßen Brodstücke einer Milchsuppe nicht fressen wollte und dadurch das Kind so böse machte, daß es ihr den Löffel auf den Kopf schlug mit den Worten: »Friß auch Mocken 1, nicht lauter Schlappes« 2! Auf dieses fing die Schlange an zu trauern und hatte sich, zur großen Betrübniß des Kindes, in Kurzem verloren. Man suchte sie im ganzen Haus, endlich in dem großen Steinhaufen, der seit dem Schwedenkrieg unerforscht im Hofe gelegen. Darin fand man unten einen Kessel voll Goldstücke und daneben die Schlange todt liegen. Auf einmal war sie weg und es stand ein schneeweißer Mann da und sprach: »Ich war die Schlange, und das Kind zu meiner Erlösung bestimmt; nun habt ihr das Geld, und ich gehe ein in die ewige Freude!« Nach diesen Worten war er verschwunden.

Fußnoten

1 Brocken.

2 Brühe.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Baader, Bernhard. Sagen. Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden Gegenden. 106. Geist als Schlange. 106. Geist als Schlange. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-17FE-7