Schab den Rüssel

In einer großen deutschen Stadt war einmal eine fürstliche Hochzeit, die herrlich ausgerichtet wurde, da gab es Aufzüge und Festlustbarkeit aller Art, Gaukler und Springer und Bettelleute über alle Maßen viel. Unter letzteren befand sich auch ein Bettler, der sein Almosenheischen als förmliches Gewerbe trieb, gleichwohl hatte er an diesem Festtage kein absonderliches Glück, denn jeder hatte mit sich zu tun; man lief, man rannte, man stieß und wurde gestoßen, drängte und wurde gedrängt, gaffte und schaute, und hatte keine Zeit, den Säckel zu ziehen, war auch selbiges gar nicht angeraten, denn wenn eine freche Hand den Säckel wegriß, so war er da gewesen. Das wurmte aber den Bettler über die Maßen, daß er an dem Tage, an welchem er sich just eine große Ausbeute an reichlich fallenden Almosen versprochen hatte, so gar nichts erhielt, und er murrte unwillig vor sich hin: »Ist denn die ganze Stadt ein Dürrhof geworden? Da muß der Donner hineinfahren und der Teufel drin sitzen! Ei so wollt ich doch lieber den Teufel um ein Almosen angehen, als euch Geizrachen und Hungerleider! Wie viele Gebete habe ich nicht schon heute gesprochen, wie viele Litaneien herunter gehaspelt, und nicht einmal Gelegenheit gehabt, zu sagen: ›küss' die Hand Euer Gnaden, vergelt's Gott!‹«

Während der Bettler so murrte, ging ein kleines hinkendes Männlein in einem grünen Samtröcklein an ihm vorüber, das trug einen schwarzen spanischen Hut, und darauf eine rote Feder, und schaute sich halb um nach dem Bettler, [609] wobei ein scharfblitzendes Auge, und eine sehr stattliche, stark gebogene Adlernase sichtbar wurde. Der Bettler vergaß auf der Stelle seinen Vorsatz, niemanden an diesem Tage ferner anzusprechen, schritt vielmehr dem kleinen Grünrock nach, drängte sich an ihn, hielt ihm seinen Schlapphut vor, und begann seinen Bettlersermon in Form eines Stoßgebetes. Der Grünrock zog ein grimmiges Gesicht, und rief mit heiserer Stimme dem Bettler zu: »Halte gleich dein Maul, du Lump! Mit solcherlei Redensarten gewinnst du mir nichts ab. Du weißt nichtWen du um ein Almosen angehst, und hast's doch vorhin gelobt!«

Mit diesen Worten schritt der Grünrock in einen Straßenwinkel, in welchem man freier stehen konnte, weil das Volksgewimmel in der Straße rastlos vorüber wogte, und der Bettler folgte ihm, weil er sah, daß der Grüne in die Tasche griff, auf alle Fälle, um aus derselben eine Gabe für ihn hervorzuholen. Dieses tat letzterer denn auch, er zog eine kleine eiserne Raspel mit kurzem Holzstiel hervor und sagte: »Dies kleine Werkzeug kann und wird all deiner Not ein Ende machen, wenn du meinem Rate folgen willst. Du brauchst damit nur einmal über die Lippen zu streichen, und zu sagen: ›Schab den Rüssel‹, so fällt dir ein Goldstück vom Maule. Da aber umsonst nur der Tod nach dem Sprüchwort ist, und das Sprüchwort zumal ein Lug, denn der Tod kostet das Leben, so wirst du es billig finden, daß ich auch von dir einiges begehre.«

»Was Eure Gnaden nur befehlen! Ich stehe zu Dienst!« rief vor Freude zitternd der Bettler, und blickte unverwandt nach der neuen eisernen Raspel.

»Du darfst erstens keine Reimgebetlein mehr sprechen, überhaupt hinfüro weder beten noch betteln, darfst in keine Kirche gehen, darfst nicht heiraten, und nach sieben Jahren muß deine Seele mein sein. Wenn dich jemand mit Schimpfreden antastet, wenn ein Richter einen dir ungünstigen Spruch fällt, wenn einer dir was nachredet, das dir übel gefällt, dann ziehe nur diese Raspel aus der Tasche und sprich, ohne sie an deine Lippen zu bringen: ›Schab den Rüssel‹, so wird sie jenen dir Übelwollenden dermaßen über das Maul fahren, wie ein stets recht habender Amtmann dem armen Bäuerlein, und sie werden selbiges dann ganz sicherlich halten.«

Obwohl der Bettler nun merkte, wer dieser gewisse Grünrock [610] war, und ihn eine Gänsehaut bei dieser Wahrnehmung überlief, so erschien ihm das Anerbieten doch so übel nicht, denn Geld war ihm das Höchste, und um seine Seele hatte er sich nie sonderlich bekümmert. Gebet und Kirchengehen zu meiden, fiel ihm auch nicht schwer, denn bei seinen Gebeten, die er beim Betteln mechanisch herleierte hatte er sich niemals etwas gedacht, und sein Kirchenstand war immer außen, vor den Kirchentüren gewesen. Er sagte also zu, und der Grünrock sagte, er wolle am andern Morgen zu ihm kommen und die Verschreibung mitbringen, zur Unterschrift – um Lebens und Sterbens willen, denn etwas rot auf weiß müsse er haben, und wenn der Bettler den Pakt nicht gewissenhaft halte, so verfalle die Seele dem Grünen dann alsbald. »Das Kunststück mit dem Schab den Rüssel, um Geld zu erzielen«, setzte der Grüne noch hinzu: »kann des Tages nur einmal, und zwar bloß früh nüchtern ausgeübt werden.«

Der Grünrock hinkte hinweg und verlor sich bald unter dem Volksgewimmel, der Bettler aber hielt beständig die Hand auf seiner linken Hosentasche, in welche ihm jener die Raspel gesteckt hatte, daß nicht etwa ein Taschendieb sie ihm stibitze, ging gegen seine Gewohnheit diesen Abend in kein Wirtshaus, und konnte vor Erwartung die ganze Nacht nicht schlafen. Er hatte die Raspel in ein Tüchlein gebunden und sich um den Hals, um ja nicht darum zu kommen.

Mit dem Morgengrauen war er schon auf, holte eine Schüssel, zog die Raspel hervor, strich sie über sein breites Maul, und sprach: »Schab den Rüssel!« – Plautz, plumpte ein funkelnagelneuer Kremnitzer klingend in die Schüssel – indes fuhr zugleich etwas Haut von der Lippe. Aber der Strolch achtete nicht den Schmerz; er arbeitete wie ein Schlosser mit der Feile auf seinem Maule herum; »Schab den Rüssel, schab den Rüssel, schab den Rüssel!« – das ging ganz flott, und es fiel förmlich ein goldener Regen, wie in der heidnischen Götterfabel, als Zeus der Danaë seine Aufwartung machte, nur wissen die Gelehrten leider nicht so recht eigentlich zu sagen, ob es jenesmals auch Kremnitzer regnete, oder ob es vielleicht Regenbogenschüsselchen gewesen sind.

Jetzt blutete dem Raspelkünstler das Maul ziemlich arg, und da kam der Grünrock, und hatte ein Pergament und [611] eine frisch, aber verkehrt geschnittene Feder, die dunkte er auf seines Mannes blutende Lippen wie in ein rotes Tintenfaß, und jener mußte seinen Namen unter den Vertrag setzen – worauf alsbald der Grüne wieder verschwand, und den Pakt mit sich hinweg nahm, zuvor aber ließ er ein Büchschen mit Lippenpomade zurück, die mehr nach Schwefel als nach Rosenöl roch, um die kleinen Wunden zuzuheilen, und fügte noch die Warnung hinzu, nicht gar zu häufigen Gebrauch von der Raspel zu machen, sonst werde der Raspler stätig ein böses Maul haben, und mit nichts mehr, als mit einem solchen, mache man sich der Polizei verdächtig und werde gar nicht gut angeschrieben.

Andern Tages hatte der Kremnitzer Goldmund einen greulichen Grind auf seinen Lippen, aber er hatte, seiner Meinung nach, noch lange nicht genug Kremnitzer, fing daher aufs neue an, seinen Rüssel zu schaben, daß es nur so in die Schüssel prasselte; er litt freilich dabei abscheuliche Schmerzen, und die Lippen schwollen ihm auf wie zwei braune teilweise beim Braten zerplatzte Bratwürste, aber er gewann doch vieles Gold. Er konnte nur mit verbundenem Munde ausgehen, ging indessen doch abends in ein Zechhaus, und ließ einige seiner Goldvögelein fliegen, schlemmte und war fröhlich mit seinen vormaligen Bettelbrüdern, gleichwohl spotteten diese ihn aus über sein Schwartenmaul; er müsse des Teufels Großmutter geküßt haben! sagten sie, und als ihn das ärgerte, so zog er die Raspel hervor, sprach heimlich und leise »Schab den Rüssel«, und plötzlich tanzte unsichtbar die Raspel dem Zechgesellen, der den Witz gerissen, auf den Lippen herum, ohne daß aber Gold herunterfiel, daß derselbe vor Schmerz laut auf schrieworauf sich jener zurückzog und sich selbst das Wort gab, fortan solche gemeine Gesellschaft zu meiden. Er ließ nun die Raspel so viel er's irgend aushalten konnte, auf seinem Maule fleißig arbeiten, und begann den Aufbau eines neuen Hauses, den er eifrig betrieb. Über die Türe ließ er schreiben »Zum Schab den Rüssel«, und nahm den vornehmen Namen Chrysostomus an, welcher zu deutsch Goldmund lautet.

Herr Chrysostomus zum Schab den Rüssel wurde immer reicher und reicher, und es war nur schade, daß er stets mit verbundenem Munde ging, weshalb sich die Mär im Volke verbreitete, sein Mund sei kein Mund, sondern ein kleiner Saurüssel, aber von Golde, davon schabe er immer fort ab, [612] und daher rühre sein Reichtum. Weil er nun keinem Armen etwas gab, so kam die Redensart auf, die sich hernachmals im ganzen deutschen Reiche verbreitete, die jeden geizigen Reichen einen schäbigen Mann nennt.

Herr Chrysostomus zum Schab den Rüssel lebte herrlich und in Freuden; wer ihm was zuwider tat oder sagte, den ließ er tüchtig von der Raspel bearbeiten, so daß alle auf der Stelle das Maul hielten, und selbst die Polizei, als sie ihm ob seines eigenen bösen Maules zum ersten Male zu Leibe wollte, wurde derartig geraspelt, daß sie sich nimmer wieder an Herrn von Chrysostomus zum Schab den Rüssel zu vergreifen wagte.

So gingen die sieben Jahre herum, und da kam der Grünrock wieder, willens, nun die verfallene Seele in Empfang zu nehmen. Der Türsteher des Herrn Grafen Chrysostomus von und zum Schab den Rüssel wollte den Grünen nicht zu seinem Herrn lassen, weil er ihn für einen vazierenden Jäger hielt, der kleine Grünrock aber unterstellte dem großen Türsteher ein Bein, daß er hinplumpte wie ein Nußsack.

Seine Erlaucht, der Herr Graf lagen auf dem Sofa, lasen die Zeitung, hatten neben sich etwelche Fläschchen Ungarwein stehen, und rauchten türkischen Tabak, als der Grünrock in das herrlich ausgeschmückte Spiegelzimmer trat.

»Was gibt's? Was soll es?« fragten der Herr Graf in übler Laune, daß jemand sich unterfing, unangemeldet einzutreten. »Man wende sich an den Kammerdiener!«

»Habe mit dir selbst zu sprechen, mein Wertester!« entgegnete der Grünrock. »Deine Zeit ist um! Hier ist der Pakt. Auf, zum Abmarsch! Jetzt heißt es nicht mehr Schab den Rüssel, sondern Schab ab!« –

Seine Erlaucht, der Herr Graf von und zum Schab den Rüssel fitzten ein viereckiges Lorgnettenglas, das an einer Schnur hing, vor das rechte Auge, und blinzten damit nach dem Grünrocke hin, indem Hochdieselben einmal gähnten und dann sprachen: »Was? Zeit? Pakt? Abmarsch? Schab den Rüssel! – Dummheit!«

So wie des Herrn Grafen Erlaucht das Wort Schab den Rüssel aussprachen, fuhr die Raspel dem Grünrock über das Maul und raspelte dieses, daß ihm Hören und Sehen verging. Der dumme Teufel, kein anderer war der Grünrock, hatte vergessen, die Eigenschaft des Rüsselschabers diesem nicht als eine allgemeine zu verleihen – der Herr Graf trommelten [613] mit den Fingern der linken Hand auf dem Tisch einen Schottischen im Zweivierteltakt und brummten dazu:


»Schab den Rüssel, schab den Rüssel, schab den Rüssel! Hopsasa!
Schab den Rüssel, schab den Rüssel, schab den Rüssel! Trallalla!«

und dem Teufel wurde übel und weh bei diesem Tanze, er schrie, daß das ganze Haus zum Schab den Rüssel erbebte, und endlich fiel er auf die Kniee und bat des Herrn Grafen erlauchte Gnaden fußfällig um Gnade und Einhalt.

Des Herr Grafen Erlaucht bliesen dem Teufel eine Wolke von türkischem Tabakdampf in das Gesicht, und streckten, ohne ihre liegende Stellung zu verändern, ihre Hand aus, indem sie nur die zwei Worte sagte: »Meinen Pakt!« worauf der Teufel den Pakt hinreichte. Der Herr Graf überzeugten sich, daß es der rechte sei, und nicht etwa ein untergeschobener, dann zerrissen Hochdieselben ganz gemächlich das Pergament mit ihrer roten Namensunterschrift und sprachen: »So mag es gut sein! Sei so gut, wische dir das Maul, und triff das Loch. Die Raspel aber läßt du mir zum Andenken, ich will sie bei löblicher Polizei –« »Halte dein Maul, alberner Narr!« – unterbrach ihn der Teufel – »das hättest du eher sagen müssen. Der Pakt ist zerrissen, und die Raspel ist wieder mein.

Für solch ein unschätzbares Werkzeug, wie sie, bekomme ich ganz andere Seelen, wie die deine ist, du Lump! O daß ich an dich könnte! Aber harre nur, und wehe dir, wenn du einst doch zu mir kommst – da will ich auch sagen, an dem Orte, wo Heulen und Zähneklappern ist: ›Schab den Rüssel.‹« –

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TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Märchen. Neues deutsches Märchenbuch. Schab den Rüssel. Schab den Rüssel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-2474-1