981. Die übergossene Alm

Im bayrischen Hochgebirge ragt unter der weiten Kette mächtiger Alpenhäupter auch der Wendelstein sechstausenddreihundert Fuß hoch in die Lüfte, und ewiger Schnee bedeckt die Höhen ringsumher. Am Abhang dieses Berges war nordwärts eine Alm gelegen, die Kaiserer Alm genannt, die war gar blumenvoll, rings gute Weide, und standen schöne Sennhütten droben, mit frischen und lustigen Sennderinnen, die wußten gar nicht, wie gut sie es hatten, und weil sie es zu gut hatten, wurden sie übermütig, führten ein üppiges Leben und sannen auf allerlei Lustfrevel und unnütze Dinge. Sie hingen den Kühen silberne Glocken an und verguldeten den Stieren die Hörner; sie wuschen sich mit Milch und pflasterten den Weg zum Stall mit Käsen, wie der Hirte auf der Blümelis-Alpe seine Treppe. Wein ließen sie von Salzburg fäßleinweis heraufkommen und Schleckerbißlein auch, Rosinen, Mandelkern, Zucker und Zingiber, eingemachten versteht sich, Zimmet und Nägelein, Muskatblüt und -nuß, Pistazien und Zibeben, Datteln und Feigen, Marzipan und Biskuit. An Beten dachten selbige Dirnen die ganze Woche nicht, und den Sonntag auch nicht, und wenn die Woche herum war, wieder nicht, aber getanzt und gejuchezet haben's alleweil genug. Und da haben sie einmal einen ganzen Tanzplatz von Käsen gemacht, und die Lücken mit Butter ausgefüllt, und sind darauf herumgetanzt, und haben gemeint, der Teufel könnte hernach mit seiner Großmutter und seiner Kameradschaft die Käs' schon fressen, daß er auch einmal etwas in seinen hungrigen Wanst bekäme. Aber nun war es verspielt und war Gottes Geduldfaden abgerissen, und in der Nacht, da heult's und klopft's und pocht und donnert an die Sennhütten, und seufzt und ächzt und stöhnt, und die Windsbraut kommt dahergefahren, und die ewigstarren Wellen im Steinernen Meer wogen und branden, und es ist, als ob vom Watzmann bis zum Zugspitz das ganze Gebirg in eins zusammenkrache und -donnere. Ganze Berge Lawinenschnee übergossen die Alm mit den sündigen Menschen darauf, war nur schad ums arme Vieh – und als der Morgen kam, da war auf der ganzen Alm ein Schmelz, wie ein Zuckerguß auf einer Linzer Torte, und glitzerte hell im Sonnenschein – eitel Eis und Schnee und glattgefroren wie eine Gletscherwand. Das ist nun die übergossene Alm, ein ewiges Wahrzeichen von der Menschen Frevel und Gottes Strafgericht.

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TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 981. Die übergossene Alm. 981. Die übergossene Alm. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-2E0F-6