[753] [761]Die Karbonari und meine Ohren

Als ich nach Mailand kam, herrschte dort eine sichtbare Gärung. Man hatte Nachricht erhalten, daß in Turin eine Revolution ausgebrochen; die Behörden waren argwöhnisch, achtsam, streng; das Gesindel freute sich auf die kommende Verwirrung; und manche angesehene Bürger sahen wie vergnügte Erben aus, die aus Schuldigkeit ein betrübtes Gesicht machen. Ich hatte in Mailand italienische Sprache gefunden, aber keinen italienischen Himmel, Gegenwart, aber keine Vergangenheit, und ich eilte mich, über die Schwelle des Paradieses zu kommen. Nachdem ich mit einem Vetturino auf den folgenden Tag für die Fahrt nach Florenz Abrede getroffen, ging ich in das Theater Della Scala. Man gab die Oper Othello von Rossini. Da mir die abgöttische Verehrung bekannt war, die man in Mailand wie in ganz Italien vor Rossini hegte, mußte meine Verwunderung groß sein, zu bemerken, daß man im ganzen Saale der Darstellung nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Man lachte, schwatzte, ging in den geräumigen Logen auf und ab, nahm Erfrischungen, und der Himmel weiß, vor wem sich die Sänger und Sängerinnen eigentlich bemühten. Endlich trat Desdemona auf und ward mit Beifallklatschen empfangen. Sie verneigte sich drei mal, zuerst vor der leeren Hofloge, dann rechts, dann vor dem Parterre. Ich weiß nicht, war die Sängerin beliebt oder die Arie, die sie zu singen hatte; es trat, sobald sie erschien, die größte Stille ein. Sie sang eine tödliche Viertelstunde; der Hals war mir wie zugeschnürt, und es ward mir erst leichter, als ich an den Schnörkeln und schnelleren und heftigern Schritten der Melodie bemerkte, daß sich die Kavatine dem entscheidenden Augenblicke nahe. Signora [761] Desdemona legte auch bald die Sturmleiter an, um in die Bresche, die sie in das Herz der Zuhörer gesungen, einzudringen und den Beifall zu erobern. Ein tapfrer Triller drängte sich voraus – man hörte keinen Atemzug ... da fiel ein Kanonenschuß. Ich sprang erschrocken von meinem Sitze auf, ein dumpfes Gemurmel entstand im Saale, ich hörte, wie in einer etwas entfernten Loge man sich in das Ohr flüsterte: »Bis morgen sind sie hier.« Ich fühlte meine Wangen erglühen, meine Augen wurden naß, eine himmliche Freudigkeit durchfächelte meine Adern; und da mir armen Schelme immer das Herz bis am Munde steht und es nur eines Tropfens bedarf, es überfließen zu machen; da ich die jammervolle und lächerliche Gewohnheit habe, laut mit mir selbst zu sprechen – plagte mich der Teufel, und ich rief so vernehmlich, daß man es zwei Logen weit hören konnte: »Es leben die Karbonari! es lebe Italien!«

»Zitto!« quiekte ein Sopranstimmchen hinter mir; ein anderer feister Herr sah mich mit Verwunderung an; eine schöne Dame hielt das Schnupftuch vor dem Munde. Doch hatten meine aufrührerischen Reden weniger Eindruck gemacht, als man hätte erwarten sollen; wahrscheinlich, weil man den Sinn der deutschen Worte nicht verstanden. Ich selbst aber hatte sie nur zu gut verstanden, und als der Begeisterung Überlegung und Kopfschmerzen folgten, als ich des Ortes, der Zeit und der Verhältnisse gedachte, kam große Bangigkeit über mein Herz. Ich zitterte vor den ökonomischen Gerichten, schon fühlte ich den Scharfrichter das Maß von meinem Halse nehmen, und wollte ich noch so gnädig mit mir verfahren, konnte ich mir eine folternde Untersuchung und eine lange Gefangenschaft nicht erlassen, und meine verzagte Hoffnung schmeichelte sich nichts Größeres, als daß sie mich hier in Mailand behalten und nicht in dem abscheulichen Olmütz einsperren würden. »Ach«, seufzte [762] ich, »säßest du jetzt an einem Froschteiche in der Mark Brandenburg, wieviel wohler wäre dir dort als bei dem süßen Geleier der Signora Desdemona! Wehe, Unglücklicher! wenn der Akt zu Ende ist, kommt die Wache und holt dich! ...« Der Akt ging zu Ende, die Wache kam nicht, und als ich auch den zweiten Akt mit freien Ohren absingen hörte, fing ich an mich zu beruhigen.

Die Oper war geendigt, und ein Ballett sollte folgen. In der stillen Zwischenzeit trat ein junger Mensch in meine Loge, der zuerst mit diesem und jenem sich unterhielt und, da er mich endlich gewahrte, überrascht ausrief: »Ach, Sie hier!« Er nannte mich bei meinem Namen. Ich erinnerte mich seiner nicht, und da er mir erzählte, daß er mich in N. in verschiedenen Gesellschaften gesprochen, murrte ich zum tausendsten Male über mein schlechtes Gedächtnis für Namen und Gesichter. »Ich wundre mich«, sagte der junge Mensch, »daß mir Herr S. nichts von Ihrem Hiersein erzählt hat.« – »Wie!« rief ich, »S. ist hier?« – »Und das wissen Sie nicht? Dort in der Loge sitzt er. Ich will Sie hinführen.« Ich, sehr vergnügt, einem meiner ältesten Freunde so unerwartet zu begegnen, folgte meinem Führer. Kaum hatte ich die Logentüre hinter mir, als mein dienstwilliger Herr verschwand und acht Soldaten sarmatischen Ansehens mich in ihre Mitte nahmen. Sie führten mich in eine Wachstube des Opernhauses. Dort durchsuchte man mit vieler Höflichkeit und Genauigkeit meine Taschen, meine Papiere wurden mir abgenommen – »wenn es Ihnen gefällig ist«, sagte der Polizeikommissär; ich folgte ihm. Vor dem Hause hielt eine Kutsche; man hieß mich hineinsteigen, der Kommissär setzte sich neben mich, und – »Adieu Welt!« krächzte eine Rabenstimme mir nach. Ob ich in einer Schlacht zittern würde? Ehrlich gesprochen, ich bin des Gegenteils nicht ganz gewiß, aber das weiß ich, daß nur meine Nerven zittern würden, meine Seele bliebe ruhig.

[763] Doch selbst mein unsterbliches Ich ist voller Schauer, wenn es von einer Polizei bedroht wird. Mir war gar zu wehe. Der Wagen war so niedrig, eng und so fest verschlossen, daß ich zu ersticken glaubte. Er hatte auf beiden Seiten eine runde, mit einem Drahtgeflechte bedeckte Scheibe, die nicht viel größer war als das Glas eines Fernrohres. Der durchfallende Mondschein zeichnete ein Netz zu meinen Füßen ab, in dem meine Einbildungskraft angstvoll zappelte. Mein Wächter neben mir sprach kein Wort, er war vielleicht beschäftigt, meine Seufzer zu übersetzen; ich gab ihm Arbeit genug.

Nach einer viertelstündigen Fahrt hielt der Wagen still. Ich hörte ein schweres Tor hinter ihm zuschlagen. Die Kutsche wurde geöffnet, ich stieg heraus und sah mich in einem mit hohen Mauern umschlossenen und mit zahlreichen Wachen besetzten Hofe. Man ließ mich in das Zimmer des Gefängniswärters treten. Dort wurde ich in ein Buch eingezeichnet und abkonterfeit, wie es in einem Passe zu geschehen pflegt. Meine Namensunterschrift mußte ich auch hineinsetzen. »Numero vier« – sagte der Polizeikommissär dem Gefängniswärter. Dieser, ein alter Mann mit essigsauern Mienen, ward darauf plötzlich freundlich gegen mich, rückte seine Mütze und holte mir einen Stuhl, der Polizeikommissär wünschte mir gute Nacht und flüsterte mir zu: »Seien Sie guten Muts, es wird so schlimm nicht werden!« – »Ännchen, leuchte dem Herrn!« rief der Gefängniswärter in ein Nebenzimmer hinein. Ein junges Mädchen, in jeder Hand ein Licht, ging eine Treppe hinauf, ich folgte, der Gefängniswärter hinter mir. »Machen Sie sich's bequem«, sagte mir dieser, indem er ein Zimmer aufschloß: »wenn Sie das Nachtessen befehlen, belieben Sie nur zu klingeln!« Er und das Mädchen gingen fort, und ich war erstaunt, daß die Türe von außen nicht verschlossen wurde. Meine Verwunderung stieg, als ich mich im Zimmer umsah und [764] die bequemste und schönste Einrichtung fand. Sogar an einem Schreibzeuge und an Papier fehlte es nicht. Die eiserne Maske konnte es nicht besser gehabt haben. Nachdem ich mich von den Schrecken dieses Abends etwas erholt und mich auf mein Verhör so gut als möglich vorbereitet hatte, fing ich an, meine Geschichte von der romantischen Seite zu betrachten. Das heiterte mich auf. Ich zog die Schelle, um das Abendessen zu begehren. Ännchen kam, vom Alten begleitet, trug auf und schnitt mir die Speisen vor. Ich bekam nur einen Löffel; der Gefängniswärter entschuldigte sich mit der eingeführten Ordnung. Das Essen war gut, der Wein noch besser. Der Alte ging fort, Ännchen blieb noch einen Augenblick im Zimmer, legte die Hand mit einem bedeutenden Blicke auf eine zusammengefaltete Serviette, die auf einem Toilettentische lag, brachte dann die Finger an die Lippen und wünschte mir wohl zu schlafen. Als sie fort war, verschloß ich das Zimmer, legte die Serviette auseinander, fand aber nichts darin. Ich kleidete mich aus und schlief diese Nacht sanfter, als man in meinen Verhältnissen zu tun pflegt.

Als ich am andern Morgen erwachte, umging ich noch einmal die Festungswerke meiner Unschuld, untersuchte genau alle ihre Punkte, verteilte zweckmäßig meine Verteidigungskräfte und verstärkte die schwachen Seiten. Ännchen brachte mir das Frühstück, und sie kam ohne den Alten. War es meine wiedererlangte Gemütsruhe, war es das Tageslicht – aber ich entdeckte jetzt erst die wundervolle Schönheit des Mädchens, an der ich den Abend zuvor unachtsam vorübergegangen war. Ännchen stand in der Zauberstunde des weiblichen Lebens, wo die Jungfrau mit halbgeöffneten Lippen nach den Antworten hinhorcht, die ihr die Natur auf ihre Fragen gibt. Rosen und Lilien teilten den Thron ihrer Wangen, der blaue Himmel war nur der Abglanz ihrer Augen, [765] auf ihren Lippen war das Lächeln eines schlummernden Kindes, ihr goldnes Haar, müde seiner eignen Last, ruhte auf ihren Schultern aus, ehe es weiterwallte – Engel hätten sie als ihre Schwester geliebt, aber auch einen Teufel hätte das Mädchen verführen können. Als ich, in ihrem Anschauen verloren, sprachlos vor ihr stand, da zuckte etwas über ihr Gesicht, das sie plötzlich entgötterte und was ich bald klarer verstand. Ännchen durchsuchte alle Winkel des Zimmers; dann legte sie, wie den Abend vorher, die Hand auf die zugefaltete Serviette, dann entfaltete sie diese und schüttelte sie. Ich fragte sie, was sie suche? Sie trat mir näher und sprach schnell und ängstlich: »Mein Onkel ist ein harter Mann und viel zu streng. Neulich hatten wir einen Gefangenen, der unser Dienstmädchen gewonnen. Er legte jeden Morgen einen Brief in die Serviette, den das Mädchen, ungeachtet sie nur in Begleitung des Onkels in das Zimmer ging, auf diese Weise unbemerkt mitnahm und in der Stadt abgab. Seitdem muß ich selbst die Gefangenen bedienen und genau nachsehen, ob sie nirgends was Geschriebenes versteckt.« Ich fragte Ännchen, ob sie mich verraten würde, wenn ich ihr einen Brief anvertraute. Sie legte die Hand auf das Herz und sah mich mit ihren Himmelsaugen an. »Lamm!« sagte ich, »Mädchen, so jung, so schön ...« »Guter Landsmann«, lispelte sie und legte vertraulich ihre Hand auf meine Schulter ... »So schön, so jung und schon so schlecht! Schlange!« donnerte ich ihr zu – der Schmerz erwürgte meine Stimme, ich sank auf den Stuhl, und ein Strom von Tränen entstürzte meinen Augen. –

Als ich die Hände von meinen nassen Augen wegzog, war das Mädchen fortgegangen, und der Polizeikommissär, mein Begleiter des vorigen Abends, stand vor mir. Er sah meine Bewegung, und diese mißdeutend, sprach er mir abermals Mut ein. »Beruhigen Sie sich doch, es [766] kann ja nicht unsere Absicht sein, Sie unglücklich zu machen. Wir sind ja alle Deutsche ... Verführung ... Leichtsinn ... Schwärmerei ... Sagen Sie nur die reine Wahrheit! Sie können sich um die Regierung noch Verdienste erwerben ...« Ich schüttelte den Kopf – »Das ist es nicht«, sagte ich: »doch lassen Sie uns gehen!« – Ein Wagen wartete unserer, ich ward auf die Polizei geführt. Der Polizeidirektor, einen protokollführenden Sekretär zur Seite, saß da schon in Bereitschaft. Das Verhör begann. Man fragte mich um meinen Namen, mein Gewerbe, den Zweck meiner Reise, meine Bekanntschaften in Mailand ... Kurz, man kennt ja dieses Treibjagen einer grausamen Polizei, wo das Geständnis eines Angeschuldigten wie ein armes Wild in immer engere Kreise getrieben wird, bis es in die Schußweite gekommen. Man fragte mich eine Stunde lang und hatte von meinem eigentlichen Vergehen noch kein Wort gesprochen. Endlich kam die entscheidende Frage: »Was war Ihre Absicht, als Sie gestern im Theater 'es leben die Karbonari!' riefen?« »Und, es lebe Italien!« – setzte der Sekretär hinzu. Jetzt galt es um mein Leben vielleicht. Aber so rätselhaft ist die menschliche Natur, so mannigfaltig sind die Schwächen und Eitelkeiten des menschlichen Herzens, daß ich noch überlegen konnte, ob ich lügen und mich köpfen lassen oder die Wahrheit gestehen und mich lächerlich machen sollte. Da ich mit meiner Erklärung zauderte, wurde die Frage wiederholt. »Ich bin harthörig«, erwiderte ich. »Setzen Sie sich doch gefälligst!« sagte der Sekretär sehr leise und ohne mich anzusehen. Ich wollte dem schlauen Herrn seine Freude nicht verderben, nahm einen Stuhl und setzte mich. »Sie sind also harthörig?« – schrie der Polizeidirektor. – »Ich war es«, wollte ich sagen, »Ich war es bis gestern!« – »Nun?« – der Sekretär versammelte alles, was Pfiffiges und Boshaftes in ihm vorrätig war, um die Spitze [767] seiner Nase und paßte sehr auf. Ich fuhr fort ... »Als die Nachricht von der neapolitanischen Revolution nach Deutschland kam, eilte ich nach Italien zu kommen ...« Der Sekretär war wie ein Geier hinter diese Worte her und schrieb sie hurtig auf. Ich fühlte, daß ich dumm gesprochen; ich war aber einmal in den Hohlweg hinein und konnte nicht mehr umkehren. Ich setzte meine Rede fort: »Den Wunsch, Italien zu sehen, hatte ich schon längst, ihn auszuführen schien mir jetzt die gelegentlichste Zeit. Es hieß, die Monarchen würden, von Wien kommend, Rom und Neapel besuchen ... Festlichkeiten ... Sicherheit der Wege; kurz, ich beschloß die Reise zu machen. Aber unglücklicherweise verstand ich kein Wort Italienisch. Ich nahm mir vor, noch schnell in dieser Sprache einigen Unterricht zu nehmen und so viel zu lernen, als in wenigen Wochen möglich ist. Ich las von Morgen bis Abend italienische Bücher und Zeitschriften. Unter andern Werken kam mir auch ein Heft eines hier in Mailand erscheinenden Journals zu Augen. Ich fand darin ein Mittel gegen die Harthörigkeit empfohlen, ein Übel, woran ich schon viele Jahre litt. Das Mittel bestand darin, daß man beim Tabakrauchen den angezogenen Rauch, statt ihn gleich wegzublasen, eine Zeitlang im Munde behält und Mund und Nase dabei fest verschließt. Nach wenigen Wochen dieses Verfahrens kommt das Gehör zurück. Ein russischer Graf, der dieses Mittel empfohl[en], behauptet, daß sich dessen Wirksamkeit schon bei vielen völlig Tauben erprobt habe. Ich beschloß es anzuwenden. Drei Wochen lang befolgte ich die Vorschrift, ohne Besserung zu spüren. Gestern in der Oper schmerzten mich die Ohren sehr. Die Ursachen dieser Schmerzen wurden mir erst später klar, und ich konnte dann auch erst begreifen, warum mir der Gesang aller Mitspielenden so abscheulich vorgekommen. Während einer Bravour-Arie der Desdemona glaubte ich [768] einen Kanonenschuß zu hören. Ich erschrak, entdeckte aber bald zu meiner unaussprechlichen Freude, daß mit meinen Ohren eine Veränderung vorgegangen war. Das Land der Töne, das ich bis jetzt nur am fernen Horizonte dämmern sah, (›Sehr poetisch!‹ – brummte der Sekretär) lag jetzt nah und sonnenhell vor mir. Ich hörte das leiseste Geflüster in den entferntesten Teilen des Saales – ich war glücklich. Da fiel mir bei, wie sonderbar Großes und Kleines in der Welt zusammenhängt und daß ich eigentlich der Verschwörung von Neapel die Wiedererlangung meines Gehörs zu verdanken habe. Lebhaft bin ich ohnedies und in meiner Freudigkeit dachte ich lauter als gut war, und ich rief: ›Es leben die Karbonari!‹« – – Der Sekretär sprang wütend auf und sprach: »Herr, wollen Sie uns zum besten haben?« »Herr Direktor«, sagte ich, »die Wahrheit, die Sie gehört, ist lächerlich genug; als eine Erdichtung wäre meine Erklärung gar zu abgeschmackt. Sie werden mich nicht für so dumm halten, daß ich nicht fähig wäre, eine Lüge glaubhafter zu machen, und nicht für so unverschämt, daß ich es wagen sollte, Ihnen solch ein albernes Märchen aufzubinden.« – »Beharren Sie auf Ihre Erklärung?« – »Ja.« Damit war das Verhör zu Ende, man ließ mich das Protokoll unterzeichnen und brachte mich ins Gefängnis zurück.

Acht jammervolle Tage wartete ich die Entscheidung meines Schicksals ab. Ännchen ließ sich nicht wieder sehen, und der Alte, der am ersten Tage meiner Gefangenschaft mich freundlich behandelt hatte, betrug sich nach meinem Verhöre rauh und hart und ließ mich manches entbehren. Endlich ward ich abermals auf die Polizei geführt. Man gab mir dort meine abgenommenen Papiere und meinen Paß zurück und kündigte mir meine Freiheit an. Ob man sich von meiner Unschuld überzeugt hatte, ob sich Leute für mich verwendet hatten, ob man [769] mich glimpflich behandeln wollte, oder was sonst meiner Angelegenheit eine glücklichere Wendung gegeben, als ich erwarten durfte – das weiß ich heute noch nicht. Aber im ganzen lombardisch-venezianischen Königreiche war keiner froher als ich. Selbst meine erlittene Gefangenschaft schien mir ein Gewinst; denn ich sah sie als ein Gläschen Wermut an, das man vor dem Essen nimmt – und stand nicht ein herrlich gedeckter Tisch vor mir, duftete nicht Rom in goldener Schüssel, blinkte nicht das Meer in kristallener Flasche? – Als man mir nun bedeutete, ich hätte innerhalb vierundzwanzig Stunden Mailand zu verlassen, antwortete ich vergnügt »Morgen früh fahre ich nach; Florenz.« – »Zum Teufel fahren Sie« – schnaubte mich ein dicker Offizier an, den das Land unter der Enns gemästet – »Marsch! rechts um, kehrt euch! Sie gehen hin, wo Sie hergekommen. Mir wären Sie nicht so leicht entwischt.« – Bei diesen Worten machte der Wüterich eine fuchtelnde Bewegung mit der Hand, die mich mit Schau der erfüllte. Er hielt mir meinen Paß unter die Nase: »Da lesen Sie!« der Paß war nach Tirol und der bayrischen Grenze visiert, und stand darin: »Hat sich Signalisierter bei Vermeidung gefänglicher Haft nirgends länger als 12 Stunden aufzuhalten und von dem gezeichneten Wege nicht abzuweichen.« Gleich einem Blitzstrahle fuhr dieses Gebot durch mein Herz; entseelt stand ich da. Wie ich nach Hause gekommen, wie eingepackt, mich in den Wagen geworfen und fortgejagt über Berg und Tal, durch Tag und Nacht – ich weiß es nicht. Erst in München kam ich zur Besinnung.

So mußte ich auf dem Wege, den ich hergekommen, zurückkehren in das Philisterland! Italien, Wunderinsel meiner Träume, so habe ich dich gesehen – im Traume! Wer war es damals, der meine Schmerzen linderte, der Balsam goß in meine Wunden, der meine Tränen trocknete? [770] Du warst es, Phantasie, himmliche Trösterin, die den Hungrigen in der Wüste mit Manna speist, die aus Baumrinden Brot bäckt und Zucker aus Rüben bereitet. Ich danke dir, gnädige Göttin!

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TextGrid Repository (2012). Börne, Ludwig. Schriften. Aufsätze und Erzählungen. Die Karbonari und meine Ohren. Die Karbonari und meine Ohren. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3C78-5