[597] Vorwort
Vor funfzehn Jahren machte es mir Freude, die folgende einfache Geschichte niederzuschreiben. Sie sollte nur die Einfassung mehrerer schöner altdeutschen Erzählungen sein, die sie mit mancherlei Ereignissen aus dem Zusammenleben des alten Ritters Veltlin von Türlingen und seiner drei Töchter unterbricht, mit deren Versorgung und der Abreise des Erzählers sie schließt. So lieb ich das Gedicht hatte, blieb es doch unterbrochen; der Sinn der Leser schien dazu zu fehlen. Jetzt, da diese Erzählung mehr, ja selbst die altdeutschen Röcke vor sich hat, fiel sie mir wieder in die Hände, und ich versuche es, sie den Lesern vorzulegen mit der Erinnerung, daß sie zu pädagogischen Zwecken entworfen worden, als ich von der sogenannten Romantik noch wenig wußte, und daß sie daher neben den allerneuesten Ritterromandichtern in ihrer redseligen Einfalt um Schonung bittet. Sollte dem Leser, durch Eisenfresserei und Isländisches Moos verwöhnt, diese Geschichte wie unsre deutsche Kamillen- und Hollunderblüte nicht behagen, so bringe er sie einem kranken Freunde oder Mägdelein, denen sie Gott gesegnen möge!
Im Jahr, da man zählte nach Christi, unsers lieben Herrn, Geburt 1358, am zwanzigsten Tage des Maimonats, hörte ich, Johannes, der Schreiber, die Schwalbe in der Frühe an meinem Kammerfenster singen und ward innigst von dem Morgenliede des frommen Vögeleins erbauet, bedachte auch auf meinem Bettlein, wie die Schwalbe in daurender Freude lebet, gegen den Winter in ferne wärmere Länder ziehet und, der Heimat getreu, [597] gegen den Frühling wiederkehrt; also nicht der Mensch, der arme fahrende Schüler, der wohl viel gegen Sturm und Wetter ziehen muß, ja der oft kein Feuer findet, die erstarrten Hände zu erwärmen, daß er sie falte zum Gebet; aber so er es ernstlich meinet, haucht er hinein.
Da ich in solchen Betrachtungen versunken war und das Schwälblein auch auf seine Weise fortphantasierte, wäre ich schier wieder eingeschlummert, aber der Wächter auf dem Münster blies: »In süßen Freuden geht die Zeit«, welches ich hier noch nie gehöret; denn ich war zum ersten Male in Straßburg erwacht.
Nun richtete ich mich in meinem Bettlein auf, und schaute in meinem Gemache umher; das hatte aber Fenster rings herum und war in einem Sommerhäuslein des Gartens. Links stand der Mond noch blaß am Himmel, und rechts war der Himmel wie das lauterste Gold. Da fand ich mich zwischen Nacht und Tag und faltete die Hände, und es fiel mir freudig aufs Herz, daß heute mein zwanzigster Geburtstag sei, und wie mir es viel besser geworden als in dem letzten Jahre, da ich meinen lieben Geburtstag auf freiem Felde in einem zerrissenen Mäntelein empfangen und mit einem Bissen Almosenbrot bewirten mußte. O Freude und Ehre! dachte ich bei mir selbst und schaute zum Morgenlichte hin und sprach: »Du bist mein Licht, du wirst mein Tag!«, glaubte auch schier in meiner Einfalt, der Himmel sei golden um meines Besten willen, die Schwalbe habe nur gesungen, mir Glück zu wünschen, und der Türmer habe allein so lieblich geblasen mir zur Feier; da der Himmel sich doch nur gerötet vor der Sonne, die der Herr gerufen, da die Schwalbe doch nur gesungen in Gottes Frühlingslust, und der Wächter nur geblasen zu Gottes Ehren, ja wohl gern noch ein Stündlein geschlafen hätte, so es ihm von den Münsterherren verstattet wäre. Also wird der Mensch leicht übermütig in der Freude, und glaubet, er sei recht der Mittelpunkt aller Dinge, und sei er mit allem gemeint. Da ließ ich die Augen fröhlich in der Kammer umherschweifen, und sah auf dem Schemel ein neues Gewand liegen, das mir mein gütiger Herr und Ritter Veltlin von Türlingen am Abend im Dunkeln hatte herauftragen lassen, und konnte ich meine Begierde nun nicht länger zurückhalten, [598] sprang auf von meinem Lager, und legte diese Kleider nicht ohne Tränen des Dankes an. Es war dies aber ein feines blaues Wams, um die Lenden gefaltet und gestutzet, und rot und weißes Beinkleid von ländschem Tuch, auch stumpfe Schuh und eine schwarze Kogel mit einer blauen Feder, nicht zu vergessen ein Hemmet von weißem Hauslinnen, am Halse bunt genäht und gekrauset, dergleichen ich vorher nie getragen. Da ward es mir fast leicht und fröhlich zumute, und hätte ich wohl mögen einen Sprung tun, als hätte ich einen neuen Menschen angezogen mit dem neuen Kleide.
Aber meine Hoffart währte nicht lange; denn mein zerrissenes Mäntelein, welches ich als einen Vorhang vor das Fenster gehängt hatte, erleuchtete sich durch die aufgehende Sonne, und alle seine Löcher waren so viele Mäuler und alle seine Fetzen so viele Zungen, die mich meiner törichten Hoffart zeihten. Es war, als sage das Mäntelein zu mir: »O Johannes, bist du ein so eitler Kaufherr, daß du, angelanget in den Hafen, des zerrissenen Segels vergißt, das dich in denselben geführet? Johannes, bist du ein so stolzer Schiffbrüchiger, daß du das Brett, welches dich mit Gottes Hülfe an ein grünes Eiland getragen, mit dem Fuße undankbar in die Wellen zurückstößest? O Johannes, du undankbarer Freund, willst du, gerettet, mich nicht auf deinen Schultern in ein Gotteshaus tragen und aufstellen als ein Gedächtnis, daß sich Gott deiner erbarmet?«
Ach, das waren wohl harte und wahre Worte meines Mänteleins, und ich nahm es mit Schämen von dem Fenster, und legte es um über meinen neuen Staat, und faßte es fest mit den Händen um die Brust, als wollte ich es um Verzeihung bitten, und ging mit dem Gedanken die Treppe hinab in den Garten: Wenn ich ein armer fahrender Schüler gewesen bin, so werde ich immer ein armer fahrender Schüler bleiben; denn auf Erden sind wir alle arm und müssen mannigfach mit unserm Leben herumwandeln, und lernen, und bleiben doch arme Schüler, bis der Herr sich unser erbarmet, und uns einführet durch seinen bittern Tod in das ewige Leben.
Da ich nun in den Garten gekommen war, den ich vorher auch noch nicht gesehen – denn mein gnädiger Herr und Ritter war den Abend spät mit mir angekommen und ich im Finstern [599] in mein Stüblein gebracht worden –, konnte ich vor Schauen und Betrachten der neuen Dinge um mich her auch nicht zum Gebete kommen. Ich fand mich von den schönen Laubgängen, Zierfeldern und Pflanzen und den blühenden Bäumen schier ebenso sehr überraschet als von meinem neuen Gewande. Ich fand mich gleich einem neugebornen Kinde, welches mit allem spielet, und noch nicht beten kann, und erst nach einiger Erfahrung in der Süßigkeit des Lebens seine Hände zum Danke falten lernet. Der blühende Mai, das lustige Singen der Vögel, die vielen jungen Kräuter und Blümlein, die mit Taublicken vor der Sonne erwachten, der kühle Wasserstrahl, welcher in einem mit bunten Kieseln und Muscheln ausgelegten Brunnen tanzte, schienen mir alle so neu und wunderbar, als hätte ich dergleichen niemals gesehen, und wußte ich auch nicht, was aus allem diesem werden sollte.
So wie die lieben Kinder durch die Blumen gehen und sie brechen, und Kränze winden und sich bei den Händen fassen und mit den Kränzen im Kreise tanzen, gleichsam selbst ein lebendiger Blumenkranz; wie sie aber nicht gedenken der Frucht im treibenden Sommer, und der Ernte im reichen Herbst, und des Todes in dem trüben, tiefsinnigen Winter: also wandelte auch ich armer Schelm wie ein einfältiges Kind ohne Witz durch den Garten und konnte vor großer Bewegung über mein neues Glück, das mir gestern früh noch nicht geträumt hatte, nicht zum Gebete gelangen.
Mein freudiges Erstaunen wollte aber nicht lange dauern; denn als ich meine Augen ersättiget hatte, ward es mir als einem Hungrigen, der sich ohne Gebet zu einer reichlichen Mahlzeit gesetzet hat, welche ihm Gott darum nicht gesegnet. Alle das häusliche, wohlgepflegte Behagen des schönen Ziergartens erfüllte mich mit traurigen Gedanken, und die Armut, die Einsamkeit meines eigenen Lebens trat mir in dieser reichen Umgebung zum erstenmal recht lebendig vor die Seele. Was mag trauriger sein als das Bild eines Bettlers, auf goldnem Grunde gemalet?
»O meine Mutter,« sagte ich in mir, »wer war sanfter und schöner, und feiner und edler als du, wer war würdiger, zwischen Blumen zu wandeln, als du, die wohl ihre Schwester [600] und Gespielin sein konnte? Standen die Tränlein nicht auf den Wangen wie die Tautröpflein auf diesen Rosen, gingst du nicht durch den Wald wie ein Lüftlein durch die Blüten, und waren deine Augen nicht getreu und süß schauend wie die blauen Veilchen, deine Lippen nicht wie die rosinfarbenen Nelken, und flog dein gelbes Haar nicht wie der Sonnenschein? Aber du mußtest gehen wie Hagar mit deinem Ismael durch die Dornen in der Wüste. Ach, warum ward nicht dir so ein Garten und so ein Haus, und warum wohnest du zwischen fünf Brettern und zwei Brettlein und bist deines Lebens nicht froh geworden noch deines Todes? Sie haben dir keinen Kranz geflochten. Mir aber ist nichts geblieben als deine Zucht, und ich kann dein nicht gedenken in Freuden, denn mir gehöret nichts als die Armut, und ich habe keinen Seckel aus dem ich dir das schönste Grab könnte erbauen lassen von Marmelstein und Gold.«
Wie traurig ward ich da und wendete meine Augen von allem, was ihnen wohlgefiel, und wollte nichts anschauen, weil sie es nicht mit mir sehen konnte, weil sie ihre Augen nie mit so erlaubter Lust erquicken konnte. Auch fiel es mir bittrer noch auf die Seele, daß ich eines Ritters Sohn sei, ohne Wappen und ohne Waffen. Tränen füllten mir die Augen, und Unwill erfüllte meinen ganzen Leib, der in dem neuen geschenkten Gewand zu brennen schien, und ich spannte mein enges, durchlöchertes Mäntelein so um mich, daß es noch mehr zerrissen.
So schritt ich, als suche ich die Wildnis, nach einem einsamern ungepflegten Teile des Gartens, und kaum stand ich im hohen Gras unter hohen Linden, so konnte ich schon nicht mehr begreifen, wie dieser innre Schmerz und Zorn in mich zum ersten Male in meinem Leben gekommen sei, und gegen die Mauer des Gartens schreitend, sah ich an derselben in einem tiefen Bogenraum ein Heiligenhäuslein angebracht, darinnen war wohlvergittert ein buntgemaltes Schnitzwerk, die Anbetung der heiligen drei Könige im Stall zu Bethlehem, aufgestellt. Davor kniete ich nieder ins Gras und betete von ganzem Herzen. Da zerrann bald all mein Leid und meine Hoffart vor dem Sohne Gottes, der nackt und arm in einer Krippe vor mir lag, und dem doch die Könige dienten. Wie fühlte ich mich in [601] meiner Ungebärdigkeit beschämt! Und da ich mich mit Tränen angeklagt hatte, dankte ich von ganzem Herzen dem Herrn, daß er mich armen fahrenden Schüler nicht vergessen, und mich durch seine Barmherzigkeit zu meinem gnädigen Herrn und Ritter gebracht, gelobte auch, ferner mich aller Hoffart zu enthalten und die Künste, welche ich durch seinen Beistand mit schwachen Sinnen erlernet, zur Mehrung seines Reiches auf Erden treu anzuwenden.
Da ich nun nach solchem Gebete einen merklichen Trost in meinem Herzen spürte, nahm ich ein gülden gewirktes Band, worauf das Ave Maria stand, aus meinem Gebetbüchlein, und hängte es, durch das Gitter langend, dem Bilde der Jungfrau Maria über den Arm, als das Opfer eines törichten Menschen, der vor ihrem Sohne betend Trost gefunden hatte. Dieses Band aber war mir das Liebste, was ich hatte. Eine fromme Klosterfrau, meiner selgen Mutter Befreundte, hatte es mir einst für ein Lied, das ich ihr gedichtet und gesungen, geschenket, und war es zu Marburg an St. Elisabethen Grab angerühret worden; ich aber hatte es bisher als einen Blattzeiger in meinem Gebetbüchlein geführet. Dann nahm ich auch mein Mäntelein ab, und rollte es zusammen in einen langen Wulst und flocht es durch die obern Stäbe des Gitters vor dem Bilde, als einen aufgerollten Vorhang, zum Gedenken meiner zeitlichen Armut, welche durch Gott sich in Freud und Fülle gewandelt hatte. Nun wendete ich mich nach dem Garten zurück, der mir ganz anders erschien als vorher.
So mag nichts vor dem Gemüte des Menschen bestehen, welches alles nach sich umgestaltet. Jetzt, da ich gebetet hatte, erschienen mir alle die roten, leibfarben und weißen Blümlein des Gartens jene Blumen, durch die der König Ahasverus in seinem Schloßgarten zu Süsan gewandelt, seines Zornes zu vergessen. Ja, es war mir, als sei der liebe Gott durch diese Blumen gegangen und habe seinen gerechten Zorn über meine Ungebärde hier an der Lieblichkeit seiner Werke gesänftiget; denn hier an diesem ersten Morgen meines zwanzigsten Jahres ist mir vieles Licht in der Seele aufgegangen, und ist mir der Frühling ein weiser Lehrer geworden.
Besonders aber hat mich der hohe Münsterturm erschüttert, [602] als ich aus einem schattichten Baumgang hervortrat und ihn über die Dächer der Nachbarhäuser auf mich niederschauen sah. War mir es doch im Anfang so bange vor ihm, wie es einer Grasmücke sein muß, wenn ein Riese den Busch über ihrem Neste öffnet und auf sie niederblickt. Alles Menschenwerk, so es die gewöhnlichen Grenzen an Größe oder Vollendung überschreitet, hat etwas Erschreckendes an sich, und man muß lange dabei verweilen, ehe man es mit Ruhe und Trost genießen kann.
Ich habe dieses aber nicht allein bei dem Anblicke dieses schwindelhohen Turmes empfunden, sondern auch bei gar lieblichen und feinen Werken, von welchen ich nur nennen will die überaus feinen und natürlichen Gemälde des Maler Wilhelm in Köln, der von den Meistern als der beste Meister in allen deutschen Landen geachtet wird, denn er malet einen jeglichen Menschen von aller Gestalt, als lebe er. Die Werke dieses Wilhelms aber, die ich zu Köln gesehen, sind dermaßen zart, fein, scharf und lebendig, daß man schier glauben sollte, sie seien von Händen der Engel gemacht, und erbebet man bei ihrem Anblick, weil sie zu leben scheinen und doch nicht leben. Man fühlet da wohl, daß der Mensch etwas sein und schaffen kann, was viel herrlicher ist als sein gewöhnliches Sein und Schaffen, und man erschrickt darüber, daß diese Herrlichkeit so fremd und selten ist; daher wohl eine Menge Sprossen auf der Leiter zu dieser Vollkommenheit wo nicht fehlen, doch unsichtbar sein müssen und wir alle wohl tief herunter geworfen sind.
Die gewaltige Künstlichkeit des wunderwürdigen Münsterturms hätte mich beinahe wieder niedergeschlagen; denn ich bedachte mit Verwunderung, wie ich doch unter den hohen Eichen, in finstern Wäldern, auf hohen Bergen, an steilen Abgründen und bei stürzenden Wasserfällen in einsamen Tälern recht in Einöde, ja ganz verlassen, auch wohl gar hungrig gesessen und mich doch nicht so bewegt gefühlt als bei dem Anblick dieses Turmes. Wenn ich die Blätter und Zweige der Bäume betrachte, so frage ich nicht, wie sie da hinauf gekommen, und erschrecke nicht, wenn sie sich hin und her bewegen mit Rauschen; aber wenn ich diesen wunderbaren Turm anschaue mit seinen vielen Türmlein, Säulen und Schnörkeln, die[603] immer auseinander heraustreiben und durchsichtig sind wie das Gerippe eines Blattes, dann scheint er mir der Traum eines tiefsinnigen Werkmeisters, vor dem er wohl selbst erschrecken würde, wenn er erwachte und ihn so fertig vor sich in den Himmel ragen sähe; es sei denn, daß er auf sein Antlitz niederfiele und ausriefe: »Herr, dies Werk ist nicht von mir in seiner Vollkommenheit, du hast dich nur meiner Hände bedienet, mein ist nichts daran als die Mängel, diese aber decke zu mit dem Mantel deiner Liebe, und lasse sie verschwinden im Geheimnis deiner Maße.« Keiner aber hat dieses wohl erlebet, keiner hat einem solchen Werke seiner Erfindung die Krone aufgesetzet, ganze Geschlechter sind von den Baugerüsten herabgestiegen und haben sich zu Ruhe in die Gräber zu den Füßen des Turmes gelegt, der nichts davon weiß, und dasteht ernst und steinern, der kein Herz und keinen Verstand hat, ja eigentlich ein recht unvernünftiger Turm ist, und doch dasteht, als wäre er aus sich selbst hervorgewachsen und brauche es keinem Menschen zu danken. Dieser gewaltige Ausdruck der Erhabenheit aber in einem solchen Werke, an welchem die Weisheit und Mühe und Andacht von Jahrhunderten an unendlichen Linien des Gesetzes, des Verhältnisses, der Not und der Zier mit halsbrechender Kühnheit hinangeklommen, um auf dem Gipfel dem Herrn zu lobsingen, verbunden mit seinem eigentlichen inneren Tode, so daß er, der alles durch sein Dasein im tiefsten Herzen rühret, doch gar nichts davon mitempfindet, das ist es, was seinem Anblick und der Erscheinung aller gewaltigen Menschenwerke einen Schrecken beimischet. Es ist, als frage er: Was bin ich, und warum bin ich, und was ist es, das dich also rühret in mir? Was können wir ihm aber anderes antworten als: Die Werke des Herrn sind unbegreiflich, er treibt uns, zu bauen und schaffen über das Leben hinaus, denn wir waren unsterblich und vollkommen, und wir sind gefallen in den Tod durch die Sünde; du Turm aber stehe, als ein Zeuge, daß wir dunkel fühlen, was wir waren vor dieser Zeit, und daß wir noch ringen nach unendlichem Ziel; so stehe du dann als ein Träger unsrer Mühe und unsrer Buße zu Ehren unsres Heilands und Seligmachers Jesu Christi, der uns erlöset hat durch sein bittres Leiden und Sterben. Amen.
[604] Also gedachte ich in mir, und wenngleich umgeben von lebenden Bäumen und Blumen, in welchen, wie selbst in den harten Felsen, eine Seele zu wohnen scheint, welche mit dem Menschen atmet und fühlet, im Frühling sich mit ihm freuet, und im Winter mit ihm trauert, konnte ich doch meine Augen nicht von dem Turme wenden. Der Sinn des Menschen strebet immer nach dem Unbegreiflichen, als sei dort das Ziel der Laufbahn und der Schlüssel des Himmels; denn bewundern kann der Mensch allein, und alles Bewunderung Erregende ist ein Bote Gottes, der uns mahnet an das Licht, das wir verloren, und das uns wieder verheißen ist durch das Blut Christi, so wir uns dessen teilhaftig machen. Also ist mir auch immer alle meine Drangsal erschienen als eine Sehnsucht nach einem bessern Leben, und alle meine bittern Stunden waren nur die kalten, stürmenden Tage des Winters, denen der liebliche Frühling, angekleidet mit Blumen und Gesang, folget, so ich säe guten Samen und fülle meine Seele mit dem Lobe Gottes.
In solchen Betrachtungen wollte ich wieder nach dem Sommerhäuslein gehn, sah aber meinen gnädigen Herrn und Ritter gar tiefsinnig mit gefalteten Händen unter einem Baume im Sonnenschein sitzen, und traute nicht, ihm vorüberzugehen, damit ich ihn nicht störe. Ich stellte mich darum in seiner Nähe bescheidentlich an die Laubwand, und nahm mein Barett in die Hände, erwartend, ob er seine Augen vielleicht nach mir wenden möge.
Der Anblick meines Herrn erweckte eine große Ehrfurcht in mir. Ich hatte ihn gestern nicht recht gesehen, denn es dunkelte schon, da er mich am Wege barmherzig zu sich nahm. Er hatte ein schneeweißes Haar am Haupt und Bart, und mochten wohl viele Sorgen über ihn hingeflogen sein. Ich erinnerte mich, nie einen so frommen alten Ritter gesehen zu haben, der mit seinem ernsten und milden Antlitz ein solches Vertrauen in mein Herz senkte. Gott gebe, daß ich also in Ehren grau werden möge! dachte ich bei mir und fühlte mich mit ganzer Seele zu dem lieben Herrn hingezogen. Er aber schien sehr betrübt zu sein, seufzte auch oft und tief, und die kleinen Vöglein, die über ihm in dem Baume so lustig sangen, konnten ihn nicht trösten.
[605] Da ich so eine Weile nach ihm hingesehen hatte, wendete er die Augen zufällig zu dem Orte, an dem ich stand, und redete mich freundlich an mit den Worten: »Wie ist dir, Johannes, daß du so stille dastehest?« Worauf ich ihm entgegnete: »Ich wollte Eure Ruhe nicht stören, Herr; Ihr scheinet mir in schweren Gedanken.«
Der Ritter aber sprach hierauf: »Johannes, wie gefällt dir deine neue Heimat; bist du zufrieden bei mir?«
Da sagte ich: »Herr, sollte ich nicht froh sein? Da ich nun weiß, wo schlafen und wo Brot finden und wem dienen um des Herren willen, da weiß ich nun auch, wen lieben, wem danken außer Gott, und für wen beten außer für mich. Herr, meine neue Heimat gefällt mir wohl; Gott gebe, daß ich auch ihr wohlgefalle, und ihrer würdig werde.« Da lächelte der Ritter und sprach: »Johannes, wenn dir deine Worte ernst sind, so werden wir gute Gesellen sein, denn deine Rede gefällt mir wohl. Aber was willst du tun, mir wohlzugefallen; was willst du mir geben, da du nichts hast?«
Hierauf erwiderte ich: »Herr, ich bleibe Euer Schuldner vor der Welt, denn ich kann Euch kein Wams geben für das Wams, das ich durch Eure Gnade trage; aber vor Gott gebe ich Euch einen guten Zahlmann, denn vor ihm schenke ich Euch mein Herz.«
Da versetzte der Ritter scherzhaft: »Wenn ich dir nun auch mein Herz geben wollte für das deinige, so behielt ich doch das Wams zugute; wie dann, Johannes?«
Worauf ich entgegnete: »Herr, Ihr rechnet so gestreng, als wolltet Ihr mich versuchen in Gegenrechnung, und so muß ich dann schon sagen, daß mein Herz gewiß nicht Wert hat gegen das Eure, welches geprüfet ist durch lange Jahre, da das meinige arm ist und ohne Verdienst, ja da ihm alles Gute, was es gewollt hat, nicht zugute kömmt, da es keinen Wert hat, den es Euch mit sich geben kann, weil der Glaube an die Barmherzigkeit des Heilands nicht mit dem Herzen geschenkt werden kann und dieser Glaube allein doch ein Herz zu beseligen und selig zu machen vermag. So nehmt es denn hin, wie es ist, und füget hinzu, was man nicht mitgeben kann. Doch habe ich noch eine Gabe, deren ich Euch genießen lassen will, und die Ihr mir nicht [606] so leicht einholen sollet; denn sie ist rasch und fliehet davon, auch werdet Ihr sie mit allem Ernste nicht leicht verdrängen mögen; denn sie ist lieblich und lustig anzuschauen, und könnte ich sie Euch wirklich zu eigen geben, so würdet Ihr sie nicht gerne wieder lassen, eine also gute Gesellin ist sie.«
Mein Herr, der sehr ernst geworden war, sagte hierauf, traurig vor sich niederschauend: »Und was ist das vor ein Kleinod, Johannes, mit dem du so prahlest?«
Da erwiderte ich: »Herr, es ist meine Jugend; deren will ich Euch genießen lassen, wie ich kann. Damit Ihr Euer Alter vergesset bei mir, will ich Euch erfreuen mit mancherlei fröhlichen Reden und Gedanken.«
Aber was ich da zuletzt gesprochen hatte, war wohl töricht und ein schlechter Anfang meiner versprochenen erfreulichen Reden; denn mein gnädiger Herr ward nun sehr stille und finster. Weil ich ihn an sein Alter erinnert hatte, glaubte ich. Da redete ich ihn schüchtern an: »Herr, ich habe Euch mit törichten Worten erzürnet.«
Er aber sprach: »Das hast du nicht getan, Johannes, du hast die Wahrheit gesprochen, aber mir ist schwerer aufs Herz gefallen, was mir lange schon darauf liegt, mein Unwert. Nun aber bedenke ich, ob dein fröhlicher Mut mir wohl diese Last von der Brust nehmen wird; aber das mag wohl nicht sein; hast du mich nicht gefunden hier im Grünen, in einem lustigen Garten, von der lieben Sonne beschienen, und angesungen von den unschuldigen Vögelein, nachdenklich und betrübt? Wirst du können, was der Frühling nicht vermag? So du aber Künste gelernt hast, die ich nicht besitze, so wirst du mein Schuldner nicht bleiben, wenn ich gleich selbst ewig Gottes Schuldner bleibe. Setze dich zu mir und sage mir treulich, wie du zur Armut gekommen bist im Guten, und wie es sich mit dir begeben, bis ich dich gestern an der Eiche gefunden habe im Blobsheimer Wald, und dann sollst du ebenfalls von mir hören, warum ich betrübt bin.«
Da ich die große Freundlichkeit meines Herrn aus dieser Rede vernommen hatte, faßte ich einen guten Mut, setzte mich zu ihm unter den Baum, und sprach also: »Mein gnädiger Herr und Ritter, es giebt keinen ehrlicheren Weg ins Leben als die [607] Geburt, denn unser Heiland ist ihn auch gewandelt, und so giebt es auch keinen ehrlicheren Weg zur Armut, als in ihr geboren zu sein, denn auch unser Heiland ward in ihr geboren, und so kam ich zur Armut, als ich zur Welt kam. Aber ich bin doch nicht lang arm geblieben; denn ich fand eine unaussprechlich liebe Mutter; die ließ mich an ihrem Herzen schlummern, und sah auf mich nie der mit sorgenden Liebesblicken, und weckte sie mich nicht mit ihren Tränlein, die auf mich niederfielen, so weckte sie mich mit Küssen, und ließ mich ihr eignes Leben aus ihren Brüsten trinken; o Herr, war ich nicht reich, wer ist reicher als ein neugebornes Kindlein? – Ja, ich war so reich, daß ich meiner lieben Mutter Freud und Leid verdoppeln konnte, was Ihr wohl aus einem Liede vernehmen werdet, das meine Mutter oft sang, wenn sie mich in frühster Jugend einschläferte, und habe ich es nach ihrem Tode in ihrem Gebetbüchlein liegend gefunden; es ist aber gestellt, bald als rede ein Kindlein zur Mutter, bald die Mutter zu ihm; nun höret:
[610] Als ich das Lied ganz hergesagt, waren ich und mein Herr Ritter ein bißchen stille. Dann hob er an und sprach: »Du hast recht, lieber Johannes, du warst recht reich, eine so liebe Mutter auf Erden zu finden; das ist ein schönes Lied, aber es ist auch viel Trauer darin; wer hat es denn also gesetzet, daß es am Ende so schmerzlich vom Scheiden spricht?«
Da sagte ich: »Mein Vater hat es gesetzt, als ich noch nicht geboren war, da er von meiner Mutter scheiden mußte, und hat sie ihn nie wiedergesehn, und kenne ich ihn auch nicht.« Da brachen mir die Tränen aus, aber mein gnädiger Herr fuhr mir freundlich mit der Hand über das Haupt und sagte: »Sei wohlgemut! Ich will dein Vater sein, das reicht auf Erden hin, Gott gebs!« Da küßt ich ihm die Hand und fuhr fort: »Ach, Herr Ritter, solcher Reichtum an einer so lieben Mutter war noch nicht genug; denn gute Leute nahmen mich auf ihre Arme und trugen mich in die Kirche; da ward ich durch die heilige Taufe aufgenommen unter die Kinder Gottes und ward gereinigt von aller Sünde und ward teilhaftig der Versühnung unseres Herrn Jesu Christi. Da ward ich erst reich über alle Maßen, da hatte ich das ewige Leben und den Schlüssel des Himmels geschenket. Dann aber auch ward mir gegeben viele irdische Herrlichkeit, und was zum Leben nötig und lustig ist; denn ich ward gelehret, daß der Glanz der Sonne all mein Gold sei, der Spiegel der Flüsse all mein Silber, die grünen Wiesen mit ihren Blumen all meine Teppiche und Tapezereien, der Himmel mit seinen blauen gestirnten Gewölben und der grüne hohe Wald alle meine Gebäude und Hallen; ja endlich bin ich so reich geworden, daß mir die ganze Welt offen stand, und alle guten Menschen meine Diener warden, zu denen ich sprechen durfte: Gieb mir dies, gieb mir jenes; und hatte ich auch keinen Herrn, als den Herrn aller Herren, den lieben Gott, der mir das Leben zu einem Lehen gegeben, und in dessen Hände ich es, so der heilige Geist seine Gnade verleiht, und mein Herr Jesus sich meiner erbarmt, ohne große Makel zurückzugeben hoffe, und habe ich mir zum Spruche auf mein Schild erwählt – denn ich bin eines Ritters Sohn –:
Da lächelte Herr Veltlin und sprach: »Dein Hut ist besser als deine Schuh, die wirst du dir bald ablaufen, aber dein Schwert ist das mächtigste auf Erden und hat einen guten Waffenschmied gehabt, du bist ein guter Ritter, und deine Fahrt mag friedlich abgehen, denn die dich sehen, haben dich lieb und wert. Aber erzähl mir nun dein Herkommen!«
Da zog ich ein Buch aus meinem Buchbeutel und sprach: »Ich will es Euch lesen, denn ich habe angefangen, es mir aufzuschreiben, und zwar so recht ausführlich, wie es mir eingefallen, mit allerlei Rede und Betrachtung; wie mir bewußt ward, daß es gewesen ist und gewesen sein kann.« Da sprach Herr Veltlin: »Du kannst schreiben? Johannes, das kann ich nicht, und bin ich begierig zu hören, ob du auch alles so aufgeschrieben, daß ich es wohl genießen mag; denn da die Schrift als etwas Künstlicheres und dem Men schen Merkwürdigeres gegeben wird als gewöhnliche Rede, die schnell dahin fliegt, so soll sie auch des Aufbehaltens würdiger dem Menschen dargereicht werden, und also wohlgesetzt und deutlich sein. Lies nun!« Da hob ich an: