[558] Das Kind

Ein kluger Wund-Artzt schneidet drein,

Eh' er vom Schneiden viel erzählet.

Warum? er weis, daß insgemein

Die Furcht mehr, als das Uebel, quälet.

Als jüngst mein Kind (wiewohl GottLob doch ohn Gefahr)
Durch einen Fall, am Haupt verletzet war,
So, daß der Wund-Artzt ihm ein' Oeffnung machen muste;
Bekümmert' es sich nicht, weil von dem Schmertz,
Der es betreffen sollt', sein unbesorgtes Hertz
Nicht das geringste wuste.
Der Schnitt geschahe denn: Drauf fing es zwar
Den Augenblick erbärmlich an zu weinen;
Allein es sahe kaum das Gold
Von einer Zucker-Puppe scheinen,
Als es auch schon getröstet war;
Die Thränen waren eh, als noch das Blut, gestillt.
Das schien mir nun ein Lehr-reich Bild.
Denn erstlich folgt daraus der Schluß,
Daß wir uns Kummer und Verdruß,
Anstatt durch Dencken sie zu mindern und zu bessern,
Durch Dencken nur noch mehren und vergrössern.
Man zieht die Plagen und die Pein,
Die noch entfernt und erst zukünftig seyn,
Im Dencken schon voraus herbey.
Die Phantasey ist stets beschäfftiget und fertig,
Damit ein fernes Leid uns gegenwärtig
Und, eh mans fühlet, fühlbar sey.
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Erweget denn, geliebte Menschen, doch,
Wie glücklich wir in diesem Stande noch,
Und wie wir Gott dafür von Hertzen dancken müssen,
Daß Er, nach Seinem weisen Rath,
Uns das, was noch nicht ist, verborgen hat,
Und wir vom Künftigen nichts wissen!
Die Wohlthat ist fürwahr weit grösser, als man meynet,
Und herrlicher, als sie beym ersten Anblick scheinet.
Denn wüsten wir ein künftigs Glück vorher;
So würden wir in steter Unruh seyn:
Ein jeder Augenblick
Würd' uns ein Zag, ein Tag ein Jahr-lang, währen.
Hingegen würd' ein künftigs Ungelück
Uns mit stets gegenwärt'ger Pein,
Durch eine schwartze Furcht, beschweren.
Von meines Kindes Fall war dieß die erste Lehre.
Die andre folget itzt: So wie das Kind die Schmertzen
Durch einen Vorwurf, der ihm lieb,
Aus seinem Hirn und Hertzen,
Und folglich wirklich von sich, trieb;
So möchten wir uns wohl mit aller Kraft
Und allem Ernst dahin bemühen,
Uns durch die eine Leidenschaft
Der andern zu entziehen!
Ach daß wir uns doch ändern möchten,
Und wann es etwa wiedrig geht,
Mit Ernst auf etwas anders dächten,
Weil in Gedancken meist so Glück als Leid besteht!

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TextGrid Repository (2012). Brockes, Barthold Heinrich. Gedichte. Irdisches Vergnügen in Gott. Das Kind. Das Kind. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4492-C