[123] Die Berge
Ps. CIV, 8.

Die Berge gehen hoch hervor, und die Breiten setzen sich herunter zum Ort, den Du ihnen gegründet hast.


1.
Lasst uns Gott ein Opfer bringen,
Und, Sein' Allmacht zu erhöhn,
Auch der Berge Bau besingen,
Die so ungeheuer schön,
Daß sie uns zugleich ergetzen,
Und auch in Erstaunen setzen.
Ihre Gröss' erregt uns Lust,
Ihre Gähe schreckt die Brust.
2.
Welche Cörper! welche Spitzen!
Welche Welt von Kies und Stein!
Welche Hölen, Brüch' und Ritzen
Sieht man, wo viel Berge seyn!
Was für Spalten! welche Grüfte!
Welche Klippen! welche Klüfte!
Gipfel, deren steile Höh'n
Selbst die Wolcken übergehn.
[124] 3.
Ihre graue Häupter decken
Unvergänglichs Eis und Schnee,
Ihre Felsen-Füsse stecken
In dem Grund der tiefsten See,
Und die starre Brust erträget
Unverändert, unbeweget
Alle Wetter, Frost und Hitz',
Donner, Hagel, Sturm und Blitz.
4.
So viel Jahre, so viel Zeiten
Nagen auf der Berge Rumpf:
Doch wird auf den schroffen Seiten
Der Verwesungs-Zahn selbst stumpf,
Und es will ihr steifer Rücken
Sich vor keiner Aend'rung bücken:
Aller Elementen Macht
Wird von ihnen nichts geacht't.
5.
So entsetzlich sind die Höhen,
Die bald steil, bald rauh, bald glatt,
Daß der Blick von vielem Sehen,
Und so ferner Reife, matt,
Kaum zum Gipfel kann gelangen,
Die, wenn sie voll Wolcken hangen,
Nach dem blöden Augen-Schein
Selbst des Himmels Stützen seyn.
[125] 6.
Wenn man jemand, dessen Augen
Niemahls ein Gebürg' gesehn,
Sollt' im Schlaf zu bringen taugen
Auf der Alpen rauhe Höh'n,
Und ihn dort erwachen lassen;
Würd' er nicht vor Furcht erblassen?
Glaubend, daß er nun nicht mehr
Lebend und auf Erden wär.
7.
Der abscheulich-tiefen Gründe
Unbelaubte Wüsteney
Die zerborst'ne Felsen-Schlünde,
Das entsetzliche Gebäu
Der ohn' Händ' erbauten Thürne,
Deren Eis-beharn'schte Stirne
Mit Wind, Luft und Wolcken ficht,
Und derselben Wüten bricht.
8.
Tausend Brüche, deren Lücken
Fast wie Rachen offen stehn,
Abgerollte Felsen-Stücken,
Welche nicht zu übersehn,
Dornen, deren rauhe Hecken
Voller Furcht und Grauen stecken,
Klippen, die dem Erden-Ball
Droh'n mit ihrem nahen Fall.
[126] 9.
Hölen, wo die Wölf' und Eulen,
Schlangen, Bären, Sturm und Wind
Brausen, zischen, schreyen, heulen;
Thäler, die stets dunckel sind,
Halb-verdorrte selt'ne Fichten,
Ohne Laub und leer an Früchten,
Und ein Boden, dessen Schooß
Nichts trägt, als ein faules Moß.
10.
Wenn man an der Berge Füssen
Den verworr'nen Zustand sieht,
Sollte man fast glauben müssen,
Mit erstaunendem Gemüth:
Es läg', durch die Macht der Flammen
Alles dergestalt zusammen,
Da es, wenn mans recht ermisst,
Einer Brand-Stätt' ähnlich ist.
11.
Recht wie ausgebrannte Steine,
Schutt und Kohlen, Asch' und Graus,
Siehet, nach dem Augen-Scheine,
Vieles bey den Bergen aus.
Wenn, durch's Feuers Kraft, mit Knallen,
Mauren bersten und zerfallen,
Siehet man, mit Furcht erfüllt,
Ein den Felsen gleiches Bild.
[127] 12.
Welcher Mensch kann wohl begreifen,
Wie sich doch an einem Ort
So verschied'ne Felsen häufen,
Und woher bald hier bald dort
Solche Haufen Stein' entstehen,
Denn sie sind, wie leicht zu sehen,
Nicht gebracht, weil sie zu groß,
Nicht gewachsen, weil sie los.
13.
Wann Burnet der Berge Höhen,
Als von der geborst'nen Welt
Rest und Zeichen, angesehen,
Und durch Fluth verursacht hält:
Sollt' ihr Schutt fast glaubend machen,
Daß vielleicht die Welt, mit Krachen,
Durch die Gluht, schon einst verheert,
Und, durch Brand sey umgekehrt.
14.
Ob nun gleich der Berge Spitzen
Oed' und grausam anzusehn;
Sind sie doch, indem sie nützen,
Und in ihrer Grösse, schön.
Wer wird jeden Vortheil nennen,
Zählen und beschreiben können,
Den, zur Lust und Nutz der Welt,
Der Gebürge Raum enthält?
[128] 15.
Daß auch in der Erden Gründen
Eine solche Felsen-Last,
Die erstaunlich ist, zu finden;
Wird die Ursach leicht gefasst.
Würde nicht der Bau der Erden
Leichtlich aufgefressen werden,
Sonder Felsen, durch die Wuth
Einer unterird'schen Gluht?
16.
Bald deckt Marmor, bald hüllt Kreide,
Bald nur Kies, bald Kieselstein
Ihr geschätztes Eingeweide,
Als in festen Mauren, ein.
Alle kostbare Metallen,
Diamanten, Berg-Krystallen,
Silber, Gold (der Menschen Lust)
Steckt in ihrer finstern Brust.
17.
Des Gewässers Sturtz und Brausen,
So aus ihren Gipfeln springt,
Und, mit Lust-vermischtem Grausen,
Ein drob schwindelnd Aug' durchdringt,
Wenn es schäumend abwärts fliesset,
Rauschend über Felsen schiesset,
In die Thäler wirbelnd fällt,
Träncket und beström't die Welt.
[129] 18.
Lasst uns, nach den innern Schätzen,
Auch die äusserlichen sehn!
Welch ein nützliches Ergetzen
Tragen uns der Berge Höh'n
Wenn sie, in den süssen Reben,
Leib' und Geiste Labsal geben?
Ist nicht der beliebte Wein
Fast der Berge Frucht allein?
19.
Sieht man nicht mit grösten Freuden,
So viel Lämmer, Schaf' und Küh'
Auf der Berge Gipfeln weiden?
Wie viel Gemsen nähren sie?
Merckt, wie sehr der Berge Spitzen,
Durch der Kräuter Menge, nützen,
Welche nirgend so voll Kraft
Und gesunder Eigenschaft.
20.
Wie viel tausend Aecker drücken,
Mit der Aeren süssen Last,
Vieler Berge breiten Rücken,
Die der Sonnen Strahl umfasst,
Eh noch, als die niedern Felder.
Wie viel ungeheure Wälder
Zinsen, für der Kälte Wuth,
Auf den Bergen, Holtz zur Gluht.
[130] 21.
Sprich, verwildertes Gemüthe,
Kommt dieß alles ohngefehr,
Oder aus der Macht und Güte
Eines weisen Wesens her?
Sprich, verdienen solche Wercke
Nicht einmahl, daß man sie mercke?
Wer's Geschöpfe nicht betracht't,
Schändet seines Schöpfers Macht.

Notizen
Erstdruck im ersten Teil des »Irdischen Vergnügens« 1721.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Brockes, Barthold Heinrich. Die Berge. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4541-9