Fünfte Erzählung
Die Geschichte vom Kräutchen Eigensinn

Der kleine Georg war trotz der schönen Erzählungen der Tante beim Schlafengehen sehr unartig und sehr eigensinnig gewesen, da sagte ihm die Mama: »Nimm dich nur in acht, sonst bringt dir der Nikolaus zu Weihnachten eine Rute vom Kräutchen Eigensinn!«

[38] Als nun die Kinder am andern Abend wieder bei der Tante saßen, da sagte Mathildchen: »Liebe Tante, erkläre mir doch, was eine Rute vom Kräutchen Eigensinn ist.« Der Georg saß bei dieser Frage mäuschenstill und guckte mit den großen blauen Augen auf seine Schuhe, als ob er sie noch nie gesehen hätte, die Tante aber antwortete: »Das sind die allergefährlichsten Ruten, die es gibt; um sie darf das gute Christkind keine roten Bänder und kein Flittergold wickeln, und sie werden auch nicht bloß zum Staat und zur Warnung hinter den Spiegel gesteckt, sondern mit ihnen gibt es wirkliche Hiebe, und woher sie kommen, das will ich euch jetzt ganz genau erzählen:

Am Rand einer großen grünen Wiese stand ein hübscher kleiner Strauch, der hatte schlanke Zweige, grüne Blätter und schöne weiße Blüten, so daß er gar lieblich anzusehen war – aber, es war ein schlimmes Kraut. Es wollte immer etwas anderes tun, als es gerade sollte, sagte zu allen Dingen: ›Nein!‹ statt ›Ja!‹ – und die Blumen und Sträucher auf der Wiese nannten es nur noch: ›das Kräutchen Eigensinn.‹

Wenn ein Bienchen geflogen kam und in den Kelch seiner Blüten schlüpfen wollte, um sich Honig zu sammeln, dann schloß es schnell die Blüte fest zu. Summte und brummte das fleißige Tierchen auch noch so eifrig: ›Mach' auf! mach' auf!‹ so rief das Kraut doch immerfort: ›Ich will nicht, ich mag nicht, ich tu's nicht!‹ – bis das Bienchen ganz zornig davonflog und nie mehr wiederkam.

Ein andermal kam ein liebes kleines Mädchen mit schönen blonden Locken daherspaziert, das pflückte sich einen Strauß und wollte auch ein Zweiglein von dem schönen grünen Strauche dazunehmen. Aber Kräutchen Eigensinn bog sich herüber und hinüber, wand sich hin und her und wollte nichts geben. – ›Ei, Kräutchen Eigensinn,‹ sagte seine Nachbarin, ein kleines Heckenröschen, ›so gib doch dem lieben Kinde nur ein kleines Zweiglein!‹

[39] ›Ich mag nicht, ich will nicht!‹ rief es dagegen, und ließ sich jetzt erst recht nichts nehmen.

Die gute Sonne hatte von dem blauen Himmel herab alles mit angesehen und ward bitterböse; sie rief herunter: ›Du häßliches Ding, willst du denn gar nie mehr lieb und artig sein? Ich scheine so gern herab auf alle die lieben Blumen und Sträucher, aber dir möchte ich auch nicht einen Strahl mehr senden!‹

›Nein! denn ich will unartig sein! ich darf unartig sein!‹ rief Kräutchen Eigensinn hinauf, ›und willst du nicht auf mich scheinen, so kannst du es bleiben lassen!‹

Das war doch gewiß entsetzlich ungezogen von dem Kräutchen Eigensinn; die Sonne wandte ihr freundliches Gesicht schweigend von ihm ab, die Blumen und Gräser sprachen kein Wort mehr mit ihm, und die Bienchen und Schmetterlinge flogen alle an ihm vorüber, denn keines wollte noch etwas von ihm wissen.

Endlich gegen Abend kam noch von weither ein Vögelchen geflogen, und wie es so daherschwebte und den schönen grünen Strauch ansah, wollte es sich ein wenig darauf ausruhen und ein Liedchen singen. Da hätte doch nun das Kräutchen Eigensinn Gelegenheit gehabt, wieder lieb und gut zu sein und sich mit den andern auszusöhnen. Aber nein, es war noch trotzig dabei und meinte Wunder, wie großes Unrecht ihm geschehen sei. Kaum hatte sich der Vogel ein hübsches Plätzchen ausgesucht, da fing es an sich zu biegen und zu neigen und wollte ihn durchaus von sich abschütteln.

›Ach,‹ bat das Vöglein freundlich, ›halte doch stille, lieber Strauch, ich singe dir auch mein allerschönstes Lied!‹

›Nein, ich will nicht, ich tu's nicht! Ich mag von euch jetzt auch nichts mehr wissen!‹ rief Kräutchen Eigensinn voll Wut und Zorn. Da flog das Vöglein fort und setzte sich zu dem Röslein, das es freundlich bei sich aufnahm.

Am andern Morgen schien die Sonne nicht, der Himmel war ganz voll Wolken, und der Wind fegte im Wald [40] und auf der Wiese herum, so daß kein Schmetterling und keine Biene sich herausgetraute; selbst die Vögel blieben scheu in ihren Nestern. Die dicksten Bäume bog der Wind um und zerzauste sie, daß sie kaum mehr wußten, wohin sich wenden. Die Sträucher und Blumen auf der Wiese duckten sich ganz stille unter, ließen den Wind über sich herwehen und warteten auf bessere Zeiten.

Aber Kräutchen Eigensinn, das duckte sich nicht; es wollte mit dem Winde spielen und meinte, es sei so stark wie er und brauche sich weder zu biegen noch zu neigen. Was kümmerte sich aber der Wind um seinen schwachen Widerstand, er fegte unerbittlich drüber hin und her, und bald lagen die meisten Blüten alle an der Erde, die grünen Blättchen flatterten wild umher, und der Nachbarin, dem guten Röschen, ward ganz angst und bange.

›Kräutchen Eigensinn,‹ rief es warnend, ›lasse deine Zweige niederhängen, der Wind zerreißt dich sonst in tausend Stücke!‹

›Ich will mit dem Winde spielen, ich darf es tun, du hast es mir nicht zu wehren!‹ antwortete Kräutchen Eigensinn und trieb es nur noch toller. Aber – was geschah?

Nach einer halben Stunde war das Kräutchen Eigensinn kein grüner Strauch mehr, sondern ein häßliches, kahles Reis, das aussah, als ob die Raupen es abgefressen hätten. Nur ganz unten hingen noch ein paar kleine Blättchen an dünnen Fäden und schaukelten sich hin und her.

Nun war es mit dem Kräutchen Eigensinn aus; kein Bienchen sah es mehr an, niemand fiel es ein, sich ein Zweiglein zum Strauße zu pflücken, und die Vöglein flogen alle vorüber, als ob es gar nicht auf der Welt wäre. Es konnte nicht einmal mehr sagen: ›Ich will nicht, ich mag nicht!‹ – denn keine Seele wollte etwas von ihm.

So verging der Sommer, und der Herbst kam, wo der Nikolaus auszieht, um sich Reiser für seine Ruten zu holen. Er hatte manchmal von der Böllsteiner Höhe herabgesehen, [41] wie es das Kräutchen Eigensinn trieb, und jedesmal gedacht: ›Na, warte nur, weil du zu allem ›Nein!‹ sagst, sollst du mir noch die kleinen Leute ›Ja!‹ sagen lehren!‹ Als er nun mit seinem Grauchen über die Wiese zog, sah er schon von weitem das dürre Reis und rief vergnügt: ›Ha, das hat schöne, schlanke Gerten gegeben, die will ich nun zu Ruten binden, und da wird mein Kräutchen Eigensinn den Kindern bald den Eigensinn aus dem kleinen Trotzköpfchen treiben!‹

Gesagt, getan, er schnitt die Gerten ab, lud sie dem Esel auf und sagte daheim zum Christkind: ›An den Ruten da machst du mir nichts, die binde ich einfach mit Schnur zusammen, die sind für den Ernst und nicht für den Spaß!«

Wo nun ein unartiges Kind ist, das bei allem sagt: ›Ich will nicht, ich mag nicht!‹ – dem bringt der Nikolaus eine Rute vom Kräutchen Eigensinn, und das tanzt ihm dann solange auf dem Rücken herum, bis es nie mehr sagt: ›Ich tu's nicht!‹

Lieber Georg und liebes Mathildchen! nehmt euch darum nur sehr in acht, daß euch der Nikolaus nicht so eine Rute vom Kräutchen Eigensinn bringt.«

»Ich will gar nicht mehr eigensinnig sein«, sagte der Georg, und Mathildchen küßte die Tante und rief: »Nicht wahr, ich bin lieb?«

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TextGrid Repository (2012). Büchner, Luise. Märchen. Weihnachtsmärchen für Kinder. 5. Erzählung. Die Geschichte vom Kräutchen Eigensinn. 5. Erzählung. Die Geschichte vom Kräutchen Eigensinn. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-45A1-2