Gottfried August Bürger
Von der Popularität der Poesie

[1660] Das deutsche Wort »Dichtkunst« entspricht dem griechischen »Poesie« keinesweges. Richtiger wäre es durch »Bildnerei« zu übersetzen. Denn gedichtet, oder gefabelt, wird nicht immer; hergegen überall wird gebildet.

Wollte man sagen, »dichten« heiße nicht immer soviel als »fabeln«, sondern auch soviel, gewisse Geisteskräfte in Bewegung setzen, etwas hervorzubringen, so würde diese Bedeutung nicht aus dem gemeinen Spracharchive, sondern aus einem der entlegensten Winkel hervorgesucht sein.

An dem Begriffe des Bildens hängt der Begriff vonGestalt, und an diesem wieder der Begriff des Sinnlichen und Körperlichen. Wir sind also mit kurzem Schritte so weit gelangt, um zu wissen, daß die Poesie sich mit Bildung sinnlicher körperlicher Gegenstände befasse.

Aber nicht jede Bildung eines körperlichen sinnlichen Gegenstandes ist Poesie. Die besondere Eigenschaft eines körperlichen sinnlichen Gegenstandes, insofern dessen Bildung zur Poesie gehören soll, ist die Schönheit.

Das Wort »Bildnerei« aber entspricht der Sache noch nicht völlig; sowenig als das Wort »Poesie«.

Anders bildet die Natur; anders der Dichter. Die Natur bildet vor und bildet für die äußeren Sinne. Der Dichter bildet nach für den inneren Sinn, das ist: für denjenigen Punkt, auf [1660] welchen alles, was die äußeren Sinne auffangen, zusammengeführt wird.

Man könnte also, wenn uns daran gelegen wäre, die Sache mit einem Worte zu umfassen, die Poesie »Nachbildnerei« nennen.

Ob nun gleich auch dieser Ausdruck noch nicht alles erschöpft, so umfaßt er doch den wesentlichen Hauptteil, der auf unveränderliche Regeln, die von Sonnenaufgang bis Niedergang gelten müssen, gebracht werden kann.


Nicht alles soll und kann nachgebildet werden. Denn so wie nicht jedes Urbild der Natur gefällt, so gefällt auch nicht jedes Nachbild der Poesie. Hier tritt der Geschmack der Menschen auf und behauptet sein Recht. Natur und Geschmack sind die Gesetzgeber in der Poesie. Die Natur ist Monarchin; sie gebietet und fragt niemanden. Was sie einmal gebietet, das gebietet sie in allen Zeiten, in allen Ländern. Der Geschmack ist eine tausendstimmige moralische Person. Die meisten Stimmen entscheiden.

Es ist leichter, das Gesetz der Natur zu befriedigen, als das Gesetz des Geschmacks. Wenn der Dichter auf das Urbild der Natur, als sein Gesetzbuch, und auf sein Nachbild blickt, beide miteinander vergleicht, so muß er, wenn es ihm nicht gänzlich an dem Judicio discretivo fehlt, geschwinde wahrnehmen, ob er das Möglichste geleistet habe.

Er kann aber nicht umhergehen und die Stimmen des Geschmacks sammeln. Es gehört große Beurteilungskraft und weitläuftige Erfahrung dazu, zu beurteilen, ob er die meisten Stimmen für sein Werk haben werde.

Wo es der chinesischen Malerei fehlt, ist bekannt. Das muß man aber nicht, wie gewöhnlich, chinesische »Geschmacklosigkeit«, sondern chinesischen »Unverstand« nennen.

Wenn sich ein einfältiges Frauenzimmer malen läßt und den Künstler bittet, nicht so viel Schwarzes in ihr Gesicht zu malen, so fehlt es ihr nicht am Geschmacke im Zufälligen, sondern an dem Judicio discretivo im Wesentlichen. Sie hat nie auf die Wirkung von Licht und Schatten in der Natur achtgehabt. Sie weiß keine Vergleichung zwischen Urbild und Nachbild anzustellen, und weder Harmonie noch Disharmonie zu beurteilen.


Alle Bildnerei ist in der Endwurzel nichts anderes alsDarstellung des Urgegenstandes. Die Verschiedenheit des Stoffes, womit dargestellt wird, teilt hernach den Stamm in verschiedene Zweige. So wird aus Darstellung mit Farben Malerei, aus der [1661] mit TonlautenMusik, und aus der mit Wortlauten Poesie. Mein Blick ist hier bloß auf den letzten Zweig geheftet.

Aus jenem Wurzelsatze entspringen nur zwei Fragen: Was? und wie soll dargestellt werden? Die Antwort darauf umfaßt die ganze Poetik und kann nur kurz sein. Wahrlich, es war nicht nötig, seit Aristoteles so viele dicke Bücher darüber zu schreiben.

Ich weiß nicht, ob dasjenige, was ich sagen werde, schon irgendwo gesagt ist. Denn nicht für meine Sünde möchte ich deshalb alle die dicken Bücher durchlesen. Dennoch ahndet mir, daß ich in ein Wespennest stören werde. Hu! was wird's zu brummen, summen und stechen geben!

Dies, gesagt schon oder noch ungesagt, geglaubt oder bezweifelt, sei eine Niederlage in das Archiv meines Zeitalters. Schon längst wollte ich mich hierüber meines Glaubensbekenntnisses, unbekümmert um den Ab- oder Beifall meiner Zeitgenossen, entledigen.

Was ist Darstellung? Das Wort selbst sagt es deutlicher als jede Erklärung. Wer aber so sprach- und begriffarm ist, das Wort nicht zu verstehen, der wisse: Darstellung ist Spiegel und Spiegelbild des Urgegenstandes. – Überhaupt, ehe ich's vergesse, sei hier ein für allemal bevorwortet, daß ich zu Männern, nicht Schülern, rede, mich auf Kauerei nicht einlassen kann und überall straffe, kurze, schnelle Schreibart liebe.

Man merkt schon, daß ich Darstellung an den Platz setze, wo sonst das erbärmliche Wort »Nachahmung« in den Poetiken stand. Nachahmung ist ein Bild, kümmerlich zurückgeworfen von trüber Fläche; Darstellung aber leibt und lebt zurück vom blanken Spiegel. – Nachahmer, du bist, wie überall, auch hier der ohnmächtige, marklose Knecht! Du aber, Darsteller, bist der gewaltige Herrscher, dessen Stab über die ganze Natur reicht. Wer des Darstellers Darstellung wieder darstellt, das ist, wer das Urbild nicht in der sinnlichen Wirklichkeit, sondern in der Darstellung des anderen aufsucht, ist und bleibt ein ausgemachter Knecht. Er ist ein Kleinkrämer, der die Ware aus der dritten oder vierten Hand verkauft.


Lieber, du kannst Klopstocks »Sponda« das Bürgerrecht im Reiche der Dichtung nicht erfechten. Sie, wie alle ihresgleichen, ist Abhandlung, durch Darstellung aufgestutzt. Dies Verfahren hat er selbst für Zwitterwerk erklärt. Ich strafe dich und ihn mit seinen eigenen Worten.

[1662] Sobald du das Gebiet der Darstellung von allem, was weit über die Grenzen hinaus zum Reiche der Abhandlung gehört, säuberst, so wird dir fast kein Gegenstand, der nicht allgemeiner faßlicher Darstellung fähig wäre, übrigbleiben.

Abgehandelt wird für den Verstand; dargestellt für die Sinne. Die Sinne sind äußere oder innere. Sie haben ihren Eingang in das Innere durch die bekannten fünf Werkzeuge, wie durch Röhren. Drinnen strömen sie auf einem Punkte zusammen, welches der den äußeren entsprechende innere Sinn oder die Einbildungskraft ist. Alle Bildnerei, die einem oder allen dieser Sinne empfänglich, mit Leidenschaft belebt dargestellt wird, ist reine, echte Poesie, die vom Anbeginne der Welt galt und bis ans Ende gelten wird.

Und diese sollte nicht für das Volk, nur für wenige Pfefferkrämer sein? Ha! als ob nicht alle Menschen – Menschen wären. Als ob die Natur sie nicht überall mit Werkzeugen sinnlicher Empfänglichkeit begabt hätte. Freilich gibt's Unglückliche, die eines oder mehrerer Sinne beraubt sind. Deswegen bleibt es aber nicht minder wahr: Alle Menschen haben fünf Sinne, haben Einbildungsvermögen und Leidenschaften.


Gäbe es ein ganzes Volk, dessen Nasen so organisiert wären, daß ihnen Teufelsdreck besser röche als die Rose, dem besinge man Teufelsdreck, statt der Rose. Den will ich sehen, der diesen Satz umstoßen will aus der Poetik für ein solches Volk.


Der Urgegenstand ist wandelbar nach dem Geschmacke. Die Darstellung selbst ruht auf Gesetzen, unverändert bis ans Ende der Tage.


Du kannst die Greuel einer Schlacht, eines Lazaretts darstellen, daß deine Darstellung immer und ewig für echte Poesie gelten muß. Aber gefallen? Das hängt von den äußeren oder inneren Sinnesnerven ab, die kein Theorist anders stimmen kann, als die Natur sie gestimmt hat.


Alle unsere Vorstellungen gehen zwar verkörpert in unsere Seele hinein, aber der Verstand drinnen kleidet sie aus, und so entkleidet werden sie zu abgezogenen, bestimmter, zu ausgezogenen geistigen Begriffen. Solange sie gleichsam über die Brücke der Sinne wandelten, hatten sie ihren Körper. Drinnen entwöhnen sie sich der Kleidung; sie werden und bleiben nur empfänglich für den Verstand, ohne Eindruck auf die Sinne. Die Darstellungskunst [1663] kann sie freilich wieder mit dem Körper bekleiden und sie den Sinnen vorführen. Aber ich fürchte, ich fürchte, sie werden in der ungewohnten Mummerei unkenntlich. Unkenntlich selbst in der ersten eigentlichsten Mummerei, in welcher sie zuerst in die Seele eingingen. Was würden sie vollends sein, wenn der Darsteller unglücklicherweise sie in fremden Verkörperungen vorführte! Wie trug sich der Daktylus, als seine Idee zuerst in meine Seele ging? So: — ñ ñ. Dabei dacht ich mir ein Wort in diesem Zeitmaße, und lernte den Daktylus kennen. So oft ich nun an den Daktylus denke, so denk ich auch an das Zeichen — ñ ñ und an ein Wort; und vergebens sucht Klopstock mir ihn in menschlicher oder göttlicher Larve vorzuführen. Ich kenne des Menschen nicht; oder ich schlüpfe von der Larve auf mein Zeichen — ñ ñ und das Wort. Ich habe nichts wider »Spondas« Inhalt; aber alles wider »Sponda«, als Werk der Darstellung betrachtet. Und nur um einer Frühlingsfeier willen kann ich Klopstocken wissenschaftliche abhandelnde Oden verzeihen.


»Laut rollte der schnelle Strom den ohrerschütternden Donnerhall dahin!« – »Laut donnerte der Strom dahin!« – Glaubt mir, die kleinen güldenen Kugeln schlagen besser durch, als große vollgestopfte Wollsäcke. Der Darstellung schaden die zusammengewachsenen, wie Trauben in- und aneinanderhangenden Vorstellungen und Gedanken. Teilt sie auseinander; vereinzelt sie!


Phantasie und Empfindung sind die Quellen aller Poesie. Gegenstände, welche das sinnliche Vorstellungsvermögen nicht auffassen kann, und welche an keine Saite des sinnlichen Gefühls schlagen, sind außer dem Kreise der Poesie. Hierher gehören alle Arten abstrakter Lehrsätze und Einfälle, welche die Phantasie nicht verkörpern und bekleiden kann.


Unter Volk verstehe ich nicht Pöbel. Wenn man verlangt, daß jemand eine leserliche Hand schreibe, so ist wohl nicht die Meinung, daß ihn auch der lesen soll, der überall weder lesen noch schreiben kann. Mit der Muse ist's nicht so, wie mit der Tugend. Die Tugend mag stolz sein, nur wenig Edeln zu gefallen. Aber bei dem Dichter ist's Unvermögen oder Mangel an Urteilskraft, wenn er sich nicht auf der Heerstraße halten kann. Die größten, unsterblichsten Dichter aller Nationen sind populäre Dichter gewesen. Durch die ganze Geschichte der Dichterei findet sich, daß [1664] gerade bei denen Nationen, welche die Poesie nicht aus fremden Landen eingeführt haben, sondern wo sie aus ihrer eigenen Natur aufgesprossen ist, die größte Liebe und Allgemeinheit derselben geherrscht hat. Das gibt die echte wahre Popularität, die mit dem Vorstellungs- und Empfindungsvermögen des Volkes im ganzen am meisten harmoniert.


Man hat mich hier und da unseren Volksdichter, ja wohl gar den größten Volksdichter genannt. Das würde das höchste Lob sein, welches sich meine Eigenliebe nur wünschen könnte, wenn man unter Volksdichterei das verstände, was ich darunter verstanden wissen will. Denn ich würde alsdann mehr sein als Homer, Ossian und Shakespeare, welche meines Wissens die größten Volksdichter auf Erdenge wesen sind.

Allein niemand, selbst diejenigen nicht, welche mich den größten Volksdichter nannten, werden mich deswegen über Homer, Ossian und Shakespeare setzen. Meine ehemaligen, nur kurz hingeworfenen Äußerungen über Volkspoesie sind vielen ein Ärgernis, noch mehreren eine Torheit gewesen. Ich sehe, daß die Theoristen Volkspoesie zu einer Gattung machen, und ihr als einer solchen höchstens ein Kapitel in ihren Theorien einräumen. Alles das überzeugt mich, daß wenige, ja wohl niemand verstehen, was ich meine. Gleichwohl, was ich auch diesen Gegenstand schon erwogen habe und noch immer erwäge, so wird doch der Satz meinem Geiste stets gewisser: Alle Poesie soll volksmäßig sein, denn das ist das Siegel ihrer Vollkommenheit.

[1665]

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TextGrid Repository (2012). Bürger, Gottfried August. Theoretische Schriften. Von der Popularität der Poesie. Von der Popularität der Poesie. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-471F-9