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»Mein Gott, mein Gott, so hast du mich verlassen!«
Im Dome ward zu Nacht der Ruf vernommen;
Wer ihn erhob? sie wußten's nicht zu fassen.
Am Hochaltar, worauf ein Licht geglommen,
Bewegte sich gespenstisch die Gestalt,
Aus deren Mund der Schmerzensschrei gekommen.
Sie warf sich dann zur Erde, mit Gewalt
Die Stirne schlagend an des Estrichs Steine,
Die Wölbung hat vom Schalle widerhallt.
Dann war's, als ob sie unaufhaltsam weine,
Und in den Tränen Linderung gefunden;
Sie stöhnte bei der Kerze letztem Scheine.
Und als der Nacht unheimlich bange Stunden
Verflossen und der Morgen sich erhellt,
War's still, und die Erscheinung war verschwunden.
Nun eilt zum Kirchgang die erwachte Welt,
Es drängen sich die Chorherrn zum Altar;
Drauf ragt ein Kruzifix, erst aufgestellt. –
Ein Gnadenbild, wie nie noch eines war;
So hat der Gott den Todeskampf gerungen,
So bracht er sich für uns zum Opfer dar.
Es sehend, schreit der Sünder reudurchdrungen
Zu dem, der Sündern auch das Heil gebracht,
Und: »Christ' eleison!« schallt von allen Zungen.
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Nicht scheint das Werk von Menschenhand gemacht;
Wer möchte so das Göttliche gestalten?
Wie seltsam stieg es auf im Schoß der Nacht? –
Des Meisters ist es, der uns hingehalten
Mit Ausflucht lange zögernd, zweifelsohne
Das Äußerste der Kunst noch zu entfalten. –
Was bringen wir dem Trefflichen zum Lohne?
Es ist das Gold, das schlechte, nicht genug;
Gebührt dem Edlen nicht die Lorbeerkrone?
Und bald geordnet ward ein Ehrenzug,
An welchem Lai und Priester Anteil nahmen;
Voran ging, der den grünen Lorbeer trug.
Und wie sie vor des Meisters Wohnung kamen,
War weitgeöffnet, aber still das Haus,
Auch still beim Widerhall von seinem Namen.
Wohl schallten Pauk und Cymbeln mit Gebraus
Zu der Drommeten gellend hellem Ton,
Doch niemand kam zum Festempfang heraus.
Verödet war das Haus am Morgen schon,
Aus dem ein Nachbar sich entfernen nur
Sah pilgernd einen schlichten Menschensohn.
Die Herren traten spähend auf den Flur,
Sie brachen sich durch wüste Zimmer Bahn,
Sie trafen nicht auf eines Menschen Spur;
Sie riefen, ohne Antwort zu empfahn,
Und hörten leer die Räume widerhallen;
Sie drangen in die Werkstatt: was sie sahn –
Darüber läßt das Lied den Schleier fallen.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Chamisso, Adelbert von. Gedichte. Gedichte (Ausgabe letzter Hand). Sonette und Terzinen. Das Kruzifix. 2. [»Mein Gott, mein Gott, so hast du mich verlassen!«]. 2. [»Mein Gott, mein Gott, so hast du mich verlassen!«]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4D02-A