Das Vermächtnis

Ich bin schon alt, es mahnt der Zeiten Lauf
Mich oft an längst geschehene Geschichten,
Und die erzähl ich, horcht auch niemand auf.
So weiß ich aus der Chronik und Gedichten,
Wie bei der Pest es in Ferrara war,
Und will davon nur einen Zug berichten.
Es scheute wohl sich jeder vor Gefahr,
Den pesterkrankten Vater floh der Sohn,
Die Mutter selbst das Kind, das sie gebar.
Es war zu heißer Sommerzeit; geflohn
Von Freunden und Verwandten, weltverlassen
Lag Basso della Penna sterbend schon.
Sein Testament, das wollt er schreiben lassen;
Es ließ sich endlich ein Notar bewegen,
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Das Dokument rechtskräftig zu verfassen.
Und er: »Ich will es ihnen auferlegen,
Ich meine meinen Kindern, meinen Erben,
Anständig meine Fliegen zu verpflegen.«
Und der Notar: »Ihr lieget schon im Sterben,
Wie schickt sich's, Basso, daß Ihr Scherze treibt,
Anstatt um Euer Heil Euch zu bewerben.«
Drauf dieser: »Schreibt, wie ich Euch sage, schreibt!
Ihr seht mich ja verlassen von den Meinen,
Da noch dies Fliegenvolk mir treu verbleibt.
Nur treu aus Eigennutz, so mögt Ihr meinen;
Ich will's nicht untersuchen, will allein
Es wissen, daß die Treusten sie mir scheinen;
Bei Gott! ich muß und will erkenntlich sein,
Drum, schreibt es nieder, so wie ich Euch sage,
Denn wohlerwogen ist der Wille mein:
Alljährig sollen sie am Jakobstage
Aussetzen einen Scheffel reifer Feigen
Den Fliegen allzumal zum Festgelage.
Und sollten sie darin sich lässig zeigen,
Und unterblieb' es nur ein einzig Mal,
Fällt Hab und Gut dem Armenhaus zu eigen.« –
Und noch geschieht es so, wie er befahl,
Und am bestimmten Tage zugemessen
Wird noch den Fliegen ihr bestimmtes Mahl.
Der Fliegen hat kein Erbe je vergessen.

Notes
Erstdruck 1831.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Chamisso, Adelbert von. Das Vermächtnis. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4D24-D