Traum

Nacht war es, wo ich festen Schlafes schlief,
Darin mein Selbstbewußtsein sich verlor,
Als eine Stimme mich bei Namen rief.
Und drei Mal traf erneut der Ruf mein Ohr;
Ich dünkte mich darob erwacht zu sein,
Und richtete vom Pfühle mich empor.
»Wer rufet mir, wer fand bei mir sich ein?«
Und seltsam ernst, und mild gebietend stand
Ein Jüngling mir zu Haupt in hellem Schein.
Um seine blondgelockte Stirne wand –
Der Herrschaft Zeichen – sich ein goldner Reif,
Und Schwert und Waage ziemten seiner Hand.
»Wer bist du, Herr, vor dem ich wie der Reif
Vergehe vor der Sonne milder Macht?«
»Ich bin, der kommen soll, die Zeit ist reif.
Der Tag ist aber, wie die Mitternacht,
Die Gegenwart ist falsch, das Leben lügt,
Der weiß es, der die Toten reden macht.
Die Toten, deren Zeugnis mir genügt,
Sollst du verhören über diesen Streit;
Steh auf und geh, ich hab es so verfügt.
Dann tritt die Zukunft in die Wirklichkeit,
Dann schaff ich Recht in die erneute Welt
Und richte wieder ein den Lauf der Zeit.«
Ich ging zu tun, wozu er mich bestellt;
Es schien in schauerlicher Nacht kein Stern,
Das Innre nur des Münsters war erhellt.
Geläut und Orgelton erschallten fern;
Sie glichen der Posaune des Gerichts,
Und ich dem Werkzeug in der Hand des Herrn.
Ich aber dachte nichts, und schaute nichts,
Und mühsam über Gräber tappend naht
Ich mich dem Quelle des verborgnen Lichts.
Des Münsters Tore sprangen auf, es trat
[385]
Hervor ein Priester, dessen Haupthaar weiß
Umwallte den geheiligten Ornat.
Mit Buch und Kerze trat zu mir der Greis,
Und sah mich schweigend an, und winkte mir,
Und schweigend folgt ich ihm auf sein Geheiß.
Ein gähnend Grab inmitten dem Revier
Der Gräber bot sich uns zum Eingang dar,
Davor mein Führer hielt und winkte: hier!
Wir stiegen durch dasselbe, sonderbar,
An viele tausend Stufen wohl hinab,
Und wurden in der Tiefe Licht gewahr.
Es wölbte höher sich der Gang und gab
Dem Aug ein unermeßlich Feld hinfort;
Wir beide waren stumm, wie selbst das Grab.
Ein Tisch, ein Stuhl, ein Schreibzeug waren dort,
Und einer Lampe Schein erhellte karg
Den nächsten Umkreis von dem Schreckensort.
Es lagen unabsehbar Sarg an Sarg.
Am Tisch zu sitzen wies den Platz mir an
Mein Führer, der sodann sich mir verbarg.
Und wie ich so verlassen mich besann,
Rief dröhnend eine Stimme durch den Raum,
Die jene vorzuladen nun begann.
Der aufgerufne Tote hörte kaum
Sich nennen, regt' er stöhnend sich, als sei
Er mühsam aufgewacht aus schwerem Traum;
Entrang sich seinem Sarg und kam herbei,
Schlaftrunken, staunend schauend in die Rund,
Und stellte sich vor mich am Tische frei.
Die Stimme tat ihm dann die Fragen kund,
Und unbestochen nach der Wahrheit sprach
Gewicht'ges Zeugnis er mit blassem Mund.
Ich aber, ob darob das Herz mir brach,
Verfaßte das Verhör, wie sich's gehört,
Und schrieb die schweren Worte treulich nach.
Es wurden auch in ihrer Ruh gestört
Die nicht verhörten Toten allzumal,
Und stöhnend in der Särge Schoß gehört.
Es waren aber, nach der Stimme Wahl,
Die Bürgerhelden Franklin, Washington
Die ersten in der Vorgerufnen Zahl.
[386]
Und ich, ich durfte, niedrer Menschensohn,
Betrachten dieser Herrlichen Gestalt,
Und trinken der verehrten Stimmen Ton.
Dem sechsten nach dem zehnten Ludwig galt
Der nächste Ruf; der Dulder schritt einher,
Ein schwaches Rohr, geknickt von Sturmgewalt.
Vernommen wurden dann Rousseau, Voltaire,
Dann Necker, Mirabeau, und, ängstlich bang,
Das blutbefleckte Schreckbild Robespierre.
Des nächstgerufnen Namens mächt'ger Klang
Erweckte Widerhall im Totenreich,
Wovor der Deckel vieler Särge sprang.
»Napoleon!« Er kam, sich selber gleich,
Gestützt auf des zerbrochnen Schwertes Knauf,
Im abgerißnen Purpur stolz und bleich.
Und viele von den Toten standen auf,
Begierig, den Gewaltigen zu sehn,
Und drängten sich um ihn und mich zu Hauf.
Und Fürst und Mannen wollten auferstehn,
Und rings ergoß sich der Verwesung Duft,
Ich fühlte schier den Atem mir vergehn.
»Zurück, zurück, Bewohner ihr der Gruft,
Die nicht ihr seid geladen vor Gericht,
Was doch verpestet ihr umsonst die Luft?«
Ich rief es, doch die Toten hörten nicht;
Ich streckte meine Hand nach ihnen aus,
Die Lampe fiel und es erlosch das Licht.
Nun warf sich über mich im Saus und Braus,
Unbändig und im Schutz der finstern Nacht,
Der kalten Leichen schauerlicher Graus.
Da bin ich vor Entsetzen aufgewacht.
Ich fand, wie ich die müden Augen rieb,
Vom Strahle mich des Morgens angelacht,
Vergessen und verschollen, was ich schrieb.
[387]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Chamisso, Adelbert von. Gedichte. Gedichte (Ausgabe letzter Hand). Sonette und Terzinen. Traum. Traum. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-4D2E-A