2. Vom blutrothen Meßer und steinharten Brod.

Mündlich auf der List.


Es war einmal eine arme Wittwe, die hatte sechs unmündige Kinder, und als einst im Frühling ein böses Fieber kam und erst die Kinder und danach auch die Mutter niederwarf, da war es, als sollten sie verhungern. In dieser schrecklichen Noth raffte die Mutter sich auf, schleppte sich nach einer reichen Frau, die gerade gegenüber wohnte, und bat um ein wenig Brod. Diese aber wies sie schnöde ab und entgegnete: »Ich gäbe dir wohl was; doch [12] mein Meßer ist so roth wie Blut, und mein Brod so hart wie Stein.« Die unglückliche Mutter entsetzte sich, wankte traurig aus der Thür und fiel wie todt auf der Schwelle nieder. Bald aber erholte sie sich; denn ein altes Mütterchen kam an einer Krücke herbeigehinkt, flößte ihr einige Tropfen Wein ein, tunkte etwas Brod in Wein, reichte es der Wittwe und brachte sie also ins Leben zurück. Hierauf fragte das alte Mütterchen: »Was fehlt dir? was weinest du?« Jene erzählte ihr die Geschichte, und nun hob das Mütterchen den krummen Zeigefinger gegen die reiche Frau auf und murmelte: »Dein Meßer so roth wie Blut! dein Brod so hart wie Stein!« Als nun aber die Wittwe ihrer armen Würmlein gedachte, da weinte sie von neuem; das alte Mütterchen jedoch tröstete sie und sagte: »Was todt ist, das ist wohl versorgt; was noch lebt, das soll nicht sterben.« Und sie giengen zusammen in die Höhle des Jammers, und fünf Kinder wurden wieder lebendig, als das Mütterchen ihnen Wein einflößte, und das sechste lag da und lächelte, denn dieß sechste – ja, das war beim lieben Gott. – Um die Frühstückszeit gieng die reiche Frau in die Speisekammer, um sich Brod zu schneiden; aber das Meßer war so roth wie Blut, und das Brod so hart wie Stein. Sie nahm ein anderes Meßer und ein anderes Brod; aber das Meßer war so roth wie Blut, und das Brod so hart wie Stein. In höchster Angst rief sie einen Diener herbei, und in dessen Hand war das Meßer so blank wie Eis, und das Brod so weich wie Brod; doch als die Frau das Butterbrod eßen wollte, da war es in ihrem Munde so hart wie Stein. Und alle Speise, die sie von der Zeit an über die Lippen brachte, es mochte Brod oder Fleisch oder Gemüse sein, war in ihrem Munde so hart wie Stein; und als sie elendiglich verhungert war, da lächelte sie nicht auf dem Todtenbette, denn sie war nicht bei Gott, sondern mußte alle Nacht umgehen; und sie hatte nicht eher Ruhe im Grabe, als bis der eine von ihren Erben der armen Wittwe so viel von der Erbschaft gab, daß sie mit ihren Kindern zu leben hatte bis an ihren Tod.

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TextGrid Repository (2012). Colshorn, Carl und Theodor. Märchen und Sagen. Märchen und Sagen aus Hannover. 2. Vom blutrothen Meßer und steinharten Brod. 2. Vom blutrothen Meßer und steinharten Brod. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-562C-3