48. Der Zwerg mit der grünen Peitsche.

Mündlich in Altenhagen.


Zu alten Zeiten, als die Prinzessinnen noch nicht so vornehm waren, lebten einmal drei Königstöchter, die arbeiteten den ganzen Tag wie andere Mädchen, und dabei sangen sie so schöne Lieder, wie sie kein Mensch mehr singen kann. Eines Tages schien die Sonne so warm, und die Vögel zwitscherten lustig darein; da giengen die drei Schwestern in den Schloßgarten, und die älteste spann auf einem goldenen Rade, die zweite brachte die goldenen [154] Fäden auf einen goldenen Haspel, und die jüngste spielte mit einem goldenen Apfel; dabei sangen sie so wundersüße Weisen, daß alle Vögel stille schwiegen, um ihnen hernach die Töne nachsingen zu können. Nun trug sich's zu, daß der Apfel der jüngsten Königstochter in einen Busch rollte; sie bog die Zweige aus einander, und als sie ihn eben aufgenommen hatte, langte ein häßlicher Zwerg durch die Sträuche und trug sie fort; den goldenen Apfel hielt sie mit ihren feinen Händchen fest umklammert und nahm ihn mit. In demselben Augenblick faßten zwei andere häßliche Zwerge durch den hohen Busch, unter welchem die beiden anderen Königstöchter arbeiteten, und trugen sie fort; in ihrer Angst hielt die älteste das goldene Spinnrad, die zweite den goldenen Haspel fest, und sie nahmen beides mit. Die Zwerge aber liefen mit den Prinzessinnen in den großen Wald und brachten sie in eine tiefe Höhle. Da war alles von Gold, und den Königstöchtern gebrach es an nichts; sie waren indessen traurig und verzagt und aßen und tranken nur so viel, daß sie eben nicht verhungerten oder verdursteten. Als dem König das schreckliche Unglück gemeldet wurde, zog er mit allen Soldaten aus, und alle Bürger und Bauern suchten auch mit; die Prinzessinnen aber waren nicht zu finden.

Nun hatte der König eine Wache im Schloße zurückgelaßen, die bestand aus einem Offizier, einem Wachtmeister und einem Soldaten. Kaum war der König fort, so überredete der Offizier den Wachtmeister, sie wollten die Krone stehlen und alles Gold und alle Edelsteine. Hierauf suchten sie auch den Soldaten zu verführen; dieser jedoch weigerte sich der That und gieng nicht eher von seinem Posten, als bis der Offizier es befahl und ihn zu erstechen drohte; da wich er der Gewalt und trug alles fort, was jener ihm aufpackte. Das aber war sehr viel; und als sie in den großen Wald gelangten, legten ihm die anderen ihre Tracht auch noch auf, so daß er mit jedem Schritte glaubte niederbrechen zu müßen; jene derweil giengen lustig nebenher. So war es ihm denn große Freude, als plötzlich viele Zwerge aus den Büschen sprangen, den Offizier und den Wachtmeister [155] tüchtig durchbläueten und ihn selber von seiner Last erlösten, indem sie mit der Krone, dem Golde und allen Edelsteinen verschwanden.

Nachdem sich der Offizier und der Wachtmeister von ihrem Schrecken erholt hatten, wanderten alle drei weiter und gelangten bei dunkler Nacht an ein kleines Haus. Auf ihr Klopfen wurde herein gesagt, und sie traten ein; drinnen aber schien nichts Lebendiges zu hausen, und so setzten sie sich gemüthlich an den Tisch, der von Speisen und Getränken knackte, und schnabelierten wacker darauf los. Als sie satt waren, nahm der Offizier eine Tabakspfeife von der Wand und gieng in die Küche, um Feuer zu holen; während er nun die Asche durchsuchte, flammte plötzlich die Küche dreimal hell auf, und er erhielt jedesmal über Kopf und Hände einen Hieb wie von einer großen Peitsche. Entsetzt stürzte er zurück und schickte den Wachtmeister hinaus; diesem ergieng es geradeso, und nun mußte der Soldat in die Küche, und auch er bekam die drei Hiebe. Das machte ihn jedoch nicht irre; er sah vielmehr, als es hell war, nach oben, und siehe! im Wiemen schaukelte sich in einer großen Wurst ein Zwerg, der hatte eine grüne Peitsche, und so oft er die Peitsche rührte, blitzte es. »Laß das Schlagen sein, oder ich wehre mich!« rief der Soldat, und als jener noch nicht nachließ, setzte er eine Leiter auf den Feuerherd, stieg hinauf, ergriff den Zwerg beim Bart und schleuderte ihn zu Boden; den Bart behielt er in der Hand, und der Zwerg lief heulend aus dem Hause. Da war alles still, und die drei giengen zu Bett.

Am andern Morgen fanden sie, daß der Zwerg heftig geblutet hatte; sie giengen der Spur nach und kamen an eine tiefe Höhle. »Laßt mich hinab!« sprach der Soldat, als die beiden anderen nicht wollten; diese banden ihm ein Seil um den Leib und ließen ihn hinunter. Hier traf er auf mehrere Thüren, und wenn er sie öffnete, fand er nur leere Zimmer; endlich kam er an eine, da wurde auf sein Klopfen herein gesagt, und er fand die älteste Königstochter, die einem Zwerg, der auf ihrem Schoße schlief, das struppige Haar streichelte. Sie flüsterte ihm [156] zu: »Nimm das Schwert von der Wand, und haue ihm den Kopf ab!« Er war gern bereit dazu, konnte jedoch das Schwert nicht heben. Da sprach jene: »Nimm die Kruke vom Borde, und feuchte mit der Salbe die Gelenke!« Er that es und hieb dem Zwerg den Kopf ab. Nun dankte ihm die Königstochter und schenkte ihm das goldene Spinnrad; er führte sie an die Öffnung, band ihr das Seil um und ließ sie von seinen Gefährten hinausziehen. Auf dieselbe Weise erlöste er auch die zweite so wie die jüngste Prinzessin, jene schenkte ihm den goldenen Haspel, diese den goldenen Apfel, und beide wurden in die Höhe gezogen. Da aber kam das Seil nicht wieder herunter: der Offizier und der Wachtmeister waren mit den Königstöchtern davon gegangen und brachten sie ihrem Vater, dem Könige.

Der Soldat in der Höhle war in großer Noth; denn wie sollte er wieder auf die Erde kommen? Rathlos irrte er von Zimmer zu Zimmer, und da sah er denn endlich vor einem derselben die grüne Peitsche an einem Pflocke hängen. Nun war er getrost und gieng mit der Peitsche hinein. Hei! wie tanzte der Zwerg, als er den Soldaten erblickte! »Schaff mich hinauf!« rief dieser; »sehr gern!« rief jener. »Hole mir die Krone und die Kleinodien!« sprach der Soldat weiter, und als der Zwerg sauer dazu sah, zeigte er ihm die Peitsche; da lag die Krone auf dem Tisch, und von den Kleinodien fehlte nicht eins. Nun führte ihn der Zwerg auf die Erde, schenkte ihm einen Wagen mit sechs Pferden, und der Soldat jagte zum König in die Stadt. Als dieser die ganze Wahrheit erfuhr und die Krone nebst den goldenen Sachen sah, gab er dem Soldaten die jüngste Tochter und setzte ihm eigenhändig die Krone auf. Den Offizier sammt dem Wachtmeister wollte er hängen laßen; doch der junge König begnadigte sie und machte den Offizier zu seinem Kutscher und den Wachtmeister zu seinem Bedienten.

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TextGrid Repository (2012). Colshorn, Carl und Theodor. Märchen und Sagen. Märchen und Sagen aus Hannover. 48. Der Zwerg mit der grünen Peitsche. 48. Der Zwerg mit der grünen Peitsche. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-5641-2