[165] 55. Vom schönen Schäfermädchen.
Mündlich.
Zu alten Zeiten lag Hannover nur auf dem östlichen Ufer der Leine; auf dem westlichen, wo jetzt die Neustadt ist, war nichts als Anger und Wiesen. Nun trug sich's zu, daß einmal ein junger und reicher gnädiger Herr aus Hannover über den Anger ritt und daselbst eine Schäferin erblickte, die war schöner als alle anderen Mädchen auf der Welt, und ihr langes und feines Haar war wie Gold und ringelte sich von selbst. Dem jungen Herrn lachte das Herz, als er sie sah; er stieg ab und setzte sich zu ihr ins Gras. Da sang sie ihm so süße Lieder, daß ihm ganz wundersam zu Muthe wurde; und sie gewannen sich sehr lieb und wollten einander heiraten. Am andern Tage kam er wieder, und sie war noch schöner und sang noch süßere Weisen; er aber war traurig und sprach zu ihr: »Mein Vater hat gesagt, du sollst nie meine Frau werden; doch ich bleibe dir treu und laße nicht von dir!« und er schwur es ihr, wie er's gestern geschworen hatte. Am dritten Tage kam er nicht wieder, und als sie abends einen Fischer fragte, warum wohl die Glocken so lange geläutet hätten, bekam sie zur Antwort: »Der junge gnädige Herr hat Hochzeit gehalten mit einem jungen gnädigen Fräulein.« Da sprang ihr das Herz entzwei, und sie wurde blaß wie der Tod. Am andern Morgen trieb sie wieder die Schafe aus; weil sie aber so betrübt war, mochten auch die Thierlein nicht eßen. Und sie sang so traurige Weisen und sang immer leiser und leiser und sprang vom hohen Ufer in die Leine. Sie hat aber keine Ruhe, jede Nacht taucht sie hervor, Fischer, die alsdann angeln, haben sie oft gesehen; ihr langes Haar fließt ihr bis auf die Fersen, und stets singt sie ihre traurigen Weisen. So wartet sie auf den jungen gnädigen Herrn, und nicht eher wird sie Ruhe finden, als bis sich ein reiner Jüngling aus Mitleid zu ihr ins Waßer stürzt.