13. Vom Gefangenen.

Mündlich in Ribbesbüttel.


Ein Gefangener sollte in ein ander Gefängnis gebracht werden, und der Stockmeister begleitete ihn allein, weil er nicht dachte, daß er davonlaufen werde. Und der Gefangene bat um die Erlaubnis, seinen Bart sich abnehmen zu laßen; und der Stockmeister [47] bewilligte es und gieng mit ihm in die Stube eines Barbiers. Nachdem der Gefangene barbiert war, entschloß sich der Stockmeister auch dazu und ließ sich seinen Bart einseifen. Der Gefangene sah dieß für eine bequeme Gelegenheit an, jetzt zu entwischen, und sprang zur Thür hinaus. Der Stockmeister verfolgte ihn und lief mit seinem eingeseiften Barte und mit der vorgebundenen Serviette hinter ihm her und rief: »Halt auf! halt auf!« Der Barbier, welcher besorgt war, er werde um seinen wohlverdienten Lohn und um seine Serviette kommen, setzte flugs hinter ihnen her und rief: »Halt auf! halt auf!« Der Zug gieng vor dem Fenster einer Küche vorbei, da eben der Koch einen gebratenen Hasen auf dem Spieße hatte; der legte auch seinen Bratspieß nicht abseite, sondern verfolgte den Flüchtling mit dem Bratspieß und rief: »Halt auf! halt auf!« Eine Menge Hunde, welche nach diesem Braten be gierig waren, verfolgte den Koch. Dieses sah ein Küchenjunge, welcher in der Küche stand und das Feuer schürte; der nahm einen Feuerbrand, um mit demselben die Hunde zu verjagen, und lief mit dem Brande hinter den Hunden her und rief: »Halt auf! halt auf!« Dieses sah des Jungen Mutter, welche im Begriff war, Flachs um den Spinnrocken zu wickeln; die verfolgte ihren Sohn mit dem Flachs und rief: »Halt auf! halt auf!« Dieses sah ihr Mann, welcher Holz hackte; der verfolgte seine Frau mit der Axt und rief: »Halt auf! halt auf!« Dieses sahen zwei Polizeidiener, welche dachten, der Mann würde seiner Frau mit der Axt den Kopf entzweispalten; die verfolgten ihn mit dem Säbel und riefen: »Halt auf! halt auf!« Der Zug gieng vor dem Fenster eines Schneiders vorbei, der eben jemandem ein kostbares Kleid anprobierte. »Erlauben sie mir, daß ich 'mal zusehe, was die Leute draußen so gefährlich laufen«, sagte dieser zu dem Schneider; und der Schneider erlaubte es und ließ ihn gehen. Er hoffte jedoch vergeblich auf seine Wiederkunft; denn der Fremde hatte das neue Kleid mitgenommen, sein altes hingegen zurückgelaßen. Draußen aber war die ganze Stadt auf den Beinen, und alles rannte und lärmte und kreischte und heulte und tobte und fluchte und pfiff und schrie wild durch einander. [48] Der Junge fiel mit dem Feuerbrande seiner Mutter in den Flachs, und sie verbrannte bis auf die bloße Haut; die Polizei hieb wüthend um sich herum und schonte weder Freunds noch Feinds: kurz, Feuer und Schwert wütheten unter diesen Leuten, und es kam endlich so weit, daß keiner mehr zum Thor hinaus- oder hereinsollte. Zuletzt mußten alle vor Gericht, und ein jeder sprach sich frei und sagte: »Irren ist menschlich.«

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TextGrid Repository (2012). Colshorn, Carl und Theodor. Märchen und Sagen. Märchen und Sagen aus Hannover. 13. Vom Gefangenen. 13. Vom Gefangenen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-5679-4