32. Die kleine schwarze Frau.

Mündlich in Gifhorn.


Es waren einmal zwei Leute, die hatten nur wenig zu beißen und zu brechen; sie hatten aber eine Tochter, die hieß Bertha und war so schön, so schön. Eines Tages gieng Bertha in den Wald, da trat eine kleine schwarze Frau zu ihr und sagte: »Liebe Tochter, geh mit mir; und wenn du alles thust, was ich dir sage, so sollst du's gut bei mir haben, und deine Eltern sollen so viel zu eßen und zu trinken haben, wie sie nur wollen, und die beste Kleidung dazu.« Das Mädchen antwortete: »Wenn meine Eltern wollen, so bin ich's zufrieden.« »Übermorgen triffst du mich hier wieder«, fuhr die schwarze Frau fort, und damit verschwand sie hinter die Büsche. Bertha gieng nach Haus und sagte zu den Eltern: »Soll ich übermorgen wieder dahin, wo ich heute gewesen bin?« »Das ist eine sonderbare Frage«, meinten jene; »wo bist du denn heute gewesen?« Nun erzählte sie das von der kleinen schwarzen Frau, und daß sie wohl Lust dazu habe; und als die Eltern erwiderten, man könne nicht wißen, ob die Frau nicht Bertha's Verderben wolle, da sagte diese: »Sie hatte ein so ehrlich Gesicht und sah dabei so traurig aus, daß sie's gewis gut meint.« Hierauf willigten die Eltern ein, und am dritten Tage begab sie sich in den Wald und an die verabredete Stelle. Die kleine schwarze Frau war schon da, nahm sie mit in ihren Wagen und fuhr sie tief in den Wald hinein, wo sie zuletzt an ein kleines Haus kamen; da stiegen sie ab, die [95] kleine Frau führte Bertha in die Stube, zeigte ihr alle Zimmer, übergab ihr alle Schlüßel und sprach: »Die Zimmer mußt du hübsch blank halten; vor allem aber, liebes Kind, bewahre die Schlüßel, gieb sie nie von dir, sie mögen dir bei Tage oder bei Nachte abgefordert werden.« Bertha versprach es, gieng sofort an ihre Arbeit, und die Frau lobte sie, daß sie so flink und anstellig war, gab ihr die schönste Kleidung und das beste Eßen und versorgte auch die Eltern aufs reichlichste. Das dauerte so den Sommer durch und den Herbst bis in den Winter; da wurde die Frau so unruhig und wandelte Tag und Nacht umher, und wenn sie von Bertha angeredet wurde, erschrak sie und weinte auch wohl. Eines Abends, als Weihnachten nahe vor der Thür war, nahm sie Bertha bei der Hand und sagte: »Liebes Kind, jetzt muß sich's entscheiden! Was dir diese Nacht auch begegne, laß die Schlüßel nicht von dir; hörst du?« Diese versprach es und legte sich ins Bett. Als es zwölf schlug, klopfte es draußen, und es ward laut an der Thür, als ob jemand einbrechen wolle, und durch die vielen Stimmen, die draußen murmelten, drang eine helle, die rief:


»Bertha, was machst du?

Schläfft oder wachst du?«


»Ich wache«, war die Antwort. »Gieb uns deine Schlüßel«, sagte die Stimme. »Ich darf nicht«, war die Antwort. »Warum nicht?« hieß es weiter. »Ich weiß nicht«, war die Antwort. So gieng es immerzu, bis es eins schlug; da verschwanden die Stimmen in die Ferne, und die kleine Frau trat mit einem Licht vors Bett, sah sehr freundlich aus und war ein wenig heller und größer geworden. Am folgenden Abend vor dem Zubettegehen bat die kleine Frau wieder, Bertha solle die Schlüßel nicht fortgeben, es möge ihr widerfahren, was da wolle; Bertha sagte es zu und gieng zu Bett. Wieder kamen, als es zwölf schlug, viele vor' Thür und Fenster und baten um die Schlüßel, gerade wie in der ersten Nacht, drohten auch das Haus anzuzünden, wenn Bertha sie nicht herausgäbe; sie bekamen sie indes nicht, und als es eins schlug, war alles aus und vorbei; die kleine Frau aber kam wieder mit [96] einem Licht vors Bett, sah noch freundlicher aus und war auch noch heller und größer geworden. »Nun«, sprach sie am folgenden Abend, »nun noch eine Nacht; dieß wird die schlimmste von allen, aber liefere die Schlüßel nicht aus, es möge kommen, was da will.« Bertha versprach es und gieng zu Bett. Um Mitternacht ward draußen schrecklicher Lärm, und durch die Stimmen der übrigen drang eine, die klang gerade wie ihrer Mutter Stimme; und diese bat so kläglich um die Schlüßel, daß Bertha aufstand und sie aus dem Fenster reichte. Da im Husch war draußen alles fort; die kleine Frau aber kam mit einer blutrothen Fackel vors Bett und war wieder ganz schwarz und klein, faßte Bertha bei den Haaren und warf sie zum Kammerfenster hinaus. Da fiel sie auf einen dicken Stein und blieb wie todt liegen.

Nun begab es sich, daß der König eben im Walde jagte und frühmorgens in diese Gegend kam; die Hunde witterten das Blut, liefen dem Steine zu, auf welchem Bertha lag, und schnoperten und bellten. Der König meinte, da giebt's ein Wild; aber wie erstaunte er, als er statt dessen eine schöne schneeweiße Jungfrau fand! Er gieng zu ihr, hob sie auf sein Ross, hieng ihr seinen Mantel um, führte sie ins Schloß, und weil ihr der königliche Mantel so schön stand, nahm er sie zur Gemahlin. Nach einem Jahre gebar sie ein feines Knäblein, und der König freute sich und gewann sie noch lieber; doch als er am folgenden Morgen sein Söhnchen zeigen wollte, da war es weg, und die Königin hatte Blut am Munde. Nun hieß es bald im ganzen Lande: »Unsere Königin ist eine Menschenfreßerin«; nur der König glaubte es nicht, und die kleine schwarze Frau auch nicht; denn diese hatte den Prinzen gestohlen und der Königin den Mund mit Blut angestrichen, der König aber hatte seine Gemahlin zu lieb, als daß er sie für eine Menschenfreßerin hätte halten können. Nach drei Jahren genas sie eines zweiten Söhnleins, das war ebenso schön wie sein Bruder; doch es gieng gerade wie zum erstenmal: am andern Morgen war das Kind fort, und die Königin hatte einen blutigen Mund. Da sagten die Leute erst recht, sie sei eine Menschenfreßerin; der König indes wollte es noch immer [97] nicht glauben und that ihr nichts. Nach wieder drei Jahren bekam sie einen dritten Sohn; als aber auch dieser am andern Morgen verschwunden, und der Mund der Königin mit Blut befleckt war, da sagte der König zu ihr: »So lieb ich dich immer gehabt habe, jetzt kann ich dich nicht mehr schützen; bereite dich also zum Tode!« Bald darauf kamen Soldaten und warfen sie ins Gefängnis; sie wurde zum Tode verurtheilt und einige Tage nachher hinausgeführt. Als ihr eben die Binde ums Haupt gelegt werden sollte, seufzte sie noch einmal nach ihren drei Kindern und seufzte so tief auf, daß alle, auch die Henker, gerührt wurden; in demselben Augenblick kam ein prachtvoller Wagen herangerollt, in dem saß eine stattliche glänzende Frau mit drei Prinzen; und die Frau stieg aus, führte der Königin die drei Knaben zu und sagte: »Ich bin die kleine schwarze Frau; hättest du damals die Schlüßel nicht von dir gegeben, so wäre dir und mir viel Leid erspart. Nun bin ich erst in der letzten Nacht erlöst worden, und das hat dein ältester Sohn gethan.« Hierauf nahm sie die Königin in den Wagen, fuhr sie alle in die Stadt, überzeugte den König, der sich viel um seine edle Gemahlin gehärmt hatte, mit wenigen Worten von der Unschuld derselben und verschwand für immer; in der Stadt aber und im ganzen Lande wurde großer Jubel, und die Leute sagten: »Die arme Königin!« und hatten sie sehr lieb. Einige Tage nachher, als der älteste Königssohn sich ankleidete, sah die Mutter, daß er überall Flecke hatte; als sie ihn fragte, woher das komme, sprach er: »Ich wollte meine Mutter erlösen; da ich aber deshalb die Schlüßel nicht herausgeben durfte, so haben sie mich in der Nacht gekniffen und gestoßen.« Da weinte die Mutter und küsste und drückte ihn.

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TextGrid Repository (2012). Colshorn, Carl und Theodor. Märchen und Sagen. Märchen und Sagen aus Hannover. 32. Die kleine schwarze Frau. 32. Die kleine schwarze Frau. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-568D-7