31. Waldminchen.
Mündlich in Hannover.
Es war einmal ein kleines Mädchen, das hatte keinen Bruder und keine Schwester und machte seinen Eltern vielen Kummer und Verdruß; denn so hübsch sein Gesicht war, so häßlich war sein Herz, es war sehr zänkisch und eigensinnig, und Ermahnungen und Strafen wollten bei ihm nicht anschlagen. Eines Abends tummelte es sich draußen mit den Straßenjungen umher, und als es zum Eßen gerufen wurde, da wollte es nicht kommen, und als es mit Gewalt geholt wurde, da wollte es nichts eßen. So kam es denn hungerig ins Bett, und als es nun des Nachts aufwachte, da rief es nach einem Butterbrod, und als die Mutter nicht aufstehen wollte, da lärmte und kreischte es. »Ei«, rief endlich die Mutter ärgerlich, »ich wollte, Waldminchen käme und holte dich!« und kaum hatte sie das gesagt, da gieng die Kammerthür auf, und Waldminchen war da. Voran aber giengen zwei Hasen, von denen jeder ein langes Licht auf dem Rücken hatte, und hinterher giengen auch zwei Hasen, die trugen Waldminchen's ungeheure Schleppe. Und die Waldfrau schritt auf das Bettchen los, in welchem das kleine Mädchen lag, zog die Decke, unter welche es vor Angst gekrochen war, hinweg, nahm es in ihren[92] Arm, und die Eltern mochten bitten und das Kind schreien, so viel sie wollten, sie trug das kleine Mädchen hinaus in die Nacht und in den Wald und brachte es in ihre lange Höhle. Als es am andern Morgen die Augen aufthat, da lag es auf dürrem Laub, und als es nun umhersah und Vater und Mutter nicht fand, da fieng es bitterlich zu weinen an, auch nach der Mutter, obgleich es seine Stiefmutter war. Die Waldfrau aber, so streng sie sein konnte, hatte ein gutes Herz; deshalb gieng sie an das Lager des kleinen Mädchens und sagte: »Wärest du artig gewesen, so wärest du immer bei deinen Eltern geblieben; sobald du artig wirst, kommst du wieder hin zu ihnen; bleibst du aber so eigensinnig, so geht dir's schlecht!« Hierauf kamen Waldminchen's Dienerinnen, zogen es hübsch an und führten es zu einem kleinen Hause hinten in der Höhle; da waren viele, viele kleine Kinder, mit denen lief es auf die Wiese, und sie pflückten Blumen und wanden Kränze, und sie spielten und tanzten zusammen, und wenn sie hungerig und durstig waren, kamen die Dienerinnen und brachten ihnen das Beste zu eßen und zu trinken. Das dauerte so mehrere Tage, da fieng das Mädchen Zank mit den kleinen freundlichen Kindern an; diese erschraken darüber, denn sie hatten das bisher nie gekannt, und sie wollten das fremde Mädchen wieder freundlich haben und brachten ihm die schönsten Blumen und die buntesten Kränze; es blieb aber mürrisch und verdroßen und wollte nicht mehr mitspielen. Da giengen die kleinen Kinder zur Waldfrau und erzählten ihr alles, und diese sah so böse aus, daß es wieder freundlich wurde und mit auf die Wiese lief. Lange indes dauerte es nicht, da schalt und schimpfte es wieder; dafür kam es in einen dunkeln Winkel und mußte da den ganzen Tag allein sitzen. Als aber auch das nicht mehr helfen wollte, und es die kleinen Kinder sogar gekniffen und gekratzt hatte, sagte Waldminchen: »Warte nur, jetzt kommt es beßer!« und das Mädchen mochte schreien und toben, so viel es wollte, die Waldfrau nahm es in ihren Arm und trug es tief in den Wald hinein. Als sie einen ganzen Tag gegangen war, die Bäume wurden immer größer, die Büsche immer dichter, da hörten sie in der Ferne ein fürchterliches Brausen; [93] und als sie nahe hinzu kamen, sahen sie ein großes Waßer und an dem großen Waßer drei sonderbare Mühlen. Die Waldfrau gieng mit dem unartigen Mädchen gerade auf die erste Mühle los, und indem sie sagte.
»Was jung ist, wird alt;
Was alt ist, wird jung!«
setzte sie es auf das Mühlrad; und das Mühlrad drehte sich flinker und immer flinker, und so oft das Mädchen mit herumwar, war es drei Tage älter. Waldminchen kümmerte sich nicht um sein Bitten und Betteln und gieng an die andere Seite des Waßers, wo die beiden anderen Mühlen standen, von denen die erste eine Weiber-, die andere eine Männermühle war; und als sie zu der ersten kam, sagte sie zu den beiden Männern, die da standen:
»Was jung ist, wird alt;
Was alt ist, wird jung!«
und die Männer warfen sie in den Mahlkasten, und als sie unten herauskam, war sie die schönste Jungfrau; alles aber war so rasch gegangen, daß sie das Wort »jung« erst aussprach, als sie schon jung war. Nun eilte Waldminchen vor Freuden zu dem kleinen Mädchen, das war aber unterdes ein altes runzeliges Weib geworden; da mußten es die beiden Männer in den Kasten werfen, und während die Waldfrau sagte:
»Was jung ist, wird alt;
Was alt ist, wird jung!«
war es schon wieder so jung wie vorher und war noch hundertmal schöner geworden. Als Waldminchen und das Mädchen nun eben fortwollten, kam ein alter Mann durch die Büsche gegangen; es war der Vater, der vor Gram um die entschwundene Tochter alt und grau geworden war und sie überall gesucht hatte. Und die Waldfrau führte ihn zu der dritten Mühle; da winkte sie, und zwei Weiber warfen ihn oben in den Kasten, und während jene ihren Spruch sagte, kam er unten schon wieder als ein Jüngling zum Vorschein. Nun nahm er sein Kind bei der Hand und brachte es nach Haus; seit der Zeit aber ist die Tochter immer[94] gehorsam gewesen, und als sie nachher ein Brüderlein bekam, da hat sie es treulich gewartet und zu allem Guten angehalten, und als sie ein paar Jahre darauf einen wackern Jäger heiratete, hat Waldminchen ihr viele kostbare Geschenke geschickt.