34. Der weiße Ziegenbock.

Mündlich in Eldagsen.


Es war einmal ein kleines Mädchen, das hatte weiter nichts als seine Eltern, und die Eltern hatten weiter nichts als ihre Tochter, und sie waren alle drei unbeschreiblich glücklich. Als aber das kleine Mädchen neun Jahr alt war, giengen die Eltern auch zum lieben Gott, und da hatte es nichts mehr auf der weiten Gotteswelt und war unbeschreiblich unglücklich; und als die Eltern begraben waren, warfen's die Leute auf die Straße, und es setzte sich auf einen Stein, der am Fahrwege stand, und weinte. Da gieng gerade eine reiche alte Jungfer vorüber, die hatte ein gutes Herz, und als sie das kleine Mädchen wimmern und nach Vater[100] und Mutter schreien hörte, nahm sie es mit in ihr Haus, gewann es sehr lieb, hielt es zu allem Guten an und ließ es fleißig unterrichten. Das dauerte so fort, bis die Waise fünfzehn Jahr alt war; da wurde die Wohlthäterin sehr krank, und weil das Mädchen sie so unverdroßen verpflegte, wollte sie ihm all ihr Vermögen vermachen. Das kam bald unter die Leute, insbesondere hörte es auch ein vornehmer Herr, der früher reich gewesen war und alle seine Schätze durchgebracht hatte; »ei«, dachte der, »da könntest du einen guten Fang machen! heirate die Alte auf dem Sterbebette, so gehört der ganze Kram dir!« Er suchte die besten Kleider hervor, machte sich schnicker, gieng hin zu der Kranken, die indes schon zur Beßerung war, hielt um ihre Hand an und bekam sie; das Mädchen aber, Röschen hieß es, war nicht zu Hause. Als die Kranke eben ihr Jawort gegeben hatte, trat Röschen in die Stube, fragte, was sie thun solle, und entfernte sich. »Wer ist denn das?« sagte der Herr, »das ist doch nicht deine Tochter?« »Das nicht«, erwiderte die Braut, »es ist mein Ziehkind, das keinen Vater und keine Mutter mehr hat; ich habe sie aus Barmherzigkeit zu mir genommen, und sie hat mir viele Freude gemacht.« »Das ist ein schmuckes junges Ding«, meinte der Bräutigam; »es ist mir aber unangenehm, daß sie hier bei dir ist, denn sie gaffte uns eben schon an und wird das künftig noch mehr thun. Doch jung und schön ist sie, das ist wahr!« Die Braut aber war alt und häßlich, und der Herr hatte es auch nur deswegen gesagt, daß jene sich ärgern und darüber Röschen haßen sollte; und von Stund an haßte sie das Mädchen, weil es jung und schön, und sie selber alt und häßlich war, und war von Stund an giftig gegen arm Röschen. Diese wußte erst gar nicht, wie sie das deuten solle, und war um so gefälliger und aufmerksamer; es half aber alles nichts, die Braut wurde immer unfreundlicher, und eines Tages rief sie Röschen herein und sprach: »Höre, Röschen, ich habe nun das Meinige an dir gethan, ja mehr, als ich eigentlich gesollt hätte; jetzt will ich mich verändern und kann dich deshalb nicht mehr bei mir behalten.« Röschen erschrak und weinte und schluchzte; es blieb aber [101] dabei, sie mußte in derselbigen Stunde aus dem Hause. Da setzte sie sich wieder auf den Stein, wo sie vor mehreren Jahren geseßen hatte, und war ebenso arm und verlaßen wie damals und war ebenso traurig über den Tod der Eltern wie damals; hier aber war ihres Bleibens nicht mehr, und so wanderte sie fort in die weite Welt und hoffte auf Gott.

Anfangs zog sich der Weg durch Wiesen und Felder und war ihr wohl bekannt; bald indes kam sie an einen großen Wald, da war sie nimmer gewesen; und der eine Weg theilte sich in drei, alle drei aber verloren sich in dichtem Gebüsch. Sie wählte jedoch nicht lange; »alle Wege führen irgendwo hin, und Gott ist auf allen Wegen«, dachte sie und gieng den mittleren, der geradeaus lief. Und sie wanderte und wanderte, bis es dunkel wurde; da kam sie an eine große Eiche, legte ihren Kopf auf eine dicke Wurzel, betete und schlief ein. Am andern Morgen wusch sie sich aus einer nahen Quelle, strich sich das Haar glatt, suchte sich Beeren gegen den Hunger und wanderte weiter; und sie wanderte den zweiten Tag wie den ersten, ruhte die zweite Nacht wie die erste; und nachdem sie auch den dritten Tag gegangen war, legte sie sich wieder unter eine Eiche, betete und schlummerte ein. Da begab sich's, daß ein Kohlenbrenner, der in der Nähe wohnte, mit einem kleinen Wagen voll Kohlen, welchen ein großer Hund zog, von ungefähr vorbeikam; der Hund witterte Röschen und blieb stehen; dadurch aufmerksam gemacht, sah der Köhler nach, und siehe! unter einer Eiche ruhte eine Jungfrau, die war so schön wie ein Engel. Der Köhler aber war ebenso brav als arm, und er und seine Frau hatten sich immer ein Kind gewünscht und keins bekommen; so gieng er denn auf Röschen zu, faßte sie bei der Hand und sagte: »Woher kommst du, schönes Mädchen?« Röschen schlug die Augen auf, und als sie den schwarzen Mann vor sich erblickte, erschrak sie und schrie laut auf. »Erschrick nicht«, fuhr der Köhler fort, »ich sehe schwarz aus, bin aber weiß wie andere Menschen und meine es gut mit dir. Die Sonne geht unter, der Boden wird feucht und kalt; darum steh auf, du würdest sonst krank. Woher aber kommst du, [102] und wie heißt du?« Röschen erzählte ihre ganze Geschichte, und er erwiderte: »Armes Kind! Doch geh mit in meine Hütte; ich habe ein sehr braves Weib, und wenn du mit Brod, Butter, Milch und Käse zufrieden bist, so sollst du uns herzlich willkommen sein, und wenn du unser Kind sein willst, so soll unsere Hütte und alles, was wir haben, einst dir gehören.« Röschen legte ihre weiße Hand in die schwarze des Mannes, sah hell zu ihm auf und weinte. »Aber wie konntest du hier schlafen wollen, armes Kind!« fuhr der Köhler fort, »der Wald ist groß und hat viele Wölfe und andere wilde Thiere; hast du dich denn nicht gefürchtet?« »Ich dachte nicht daran«, erwiderte Röschen, »und habe schon zwei Nächte ruhig geschlafen; Gott ist ja bei mir!« Da richtete der ehrliche Köhler sich hoch auf, und sein Angesicht leuchtete, so schwarz es auch war, und er hob die Hand auf und sprach: »Gewis, auch hier ist Gott, und nirgends ist er so nahe! Wenn die Zweige von Regen träufeln, und die Vögel lustig singen; wenn der Wind durch die Forsten bricht und die Bäume niederlegt: Gott ist dir nah, zweifle nicht! Nun aber komm zu meiner Hütte; dort das Licht ist das unsrige.« Sie bat, langsam nachkommen zu dürfen, und er fuhr voraus und rief noch zurück: »Wie wird meine Mieke sich freuen!« Mieke aber war seine Frau, und er selber hieß Michel. Als Röschen allein war, kniete sie nieder, faltete ihre Hände und dankte dem lieben Gott dafür, daß sie endlich wieder zu Menschen gekommen war, und der Mond sah groß durch die Zweige, als wollte er Röschen betrachten; nun gieng sie dem Lichte zu, und Mutter Mieke war vor der Thür und nahm sie in die Hütte auf. Bald stand das Eßen auf dem Tisch, Vater Michel betete laut, und allen schmeckte es wohl, und alle schliefen mit Gott ein und hatten eine ruhige Nacht. Hier lebte Röschen drei Jahre, wurde alle Tage schöner, und Vater Michel und Mutter Mieke hatten sie sehr lieb, und sie war ihnen von ganzem Herzen zugethan.

Röschen hatte aber die Gewohnheit, jeden Abend vor dem Einschlafen erst zu beten. Das hatte sie noch von ihrer seligen Mutter; diese hatte erst gemeinschaftlich mit ihr gebetet, und als [103] Röschen größer geworden war, da war die Mutter jeden Abend noch an ihr Bett gegangen und hatte zugesehen, ob auch die Händchen wohl gefaltet wären. So schlief sie denn noch jetzt nie ein, ohne zuvor gebetet zu haben, und Vater Michel und Mutter Mieke waren auch in dieser Hinsicht fast ebenso besorgt um sie, als es die gute Mutter vordem gewesen war. Eines Abends lag sie wieder im Bette und dachte ihr Leben durch, und wenn sie an etwas Merkwürdiges kam, sprach sie erst, ehe sie weiter gieng, mit dem lieben Gott darüber und war bald fröhlich, bald traurig, wie sich's eben traf. Jetzt dachte sie immer weniger und immer schneller vom einen aufs andere, und gerade, als sie einschlummern wollte, schlug die alte hölzerne Uhr in der Stube elf, und es kraspelte etwas draußen am Kammerfenster. Erschreckt sah sie hin und erblickte im Mondenschein zwei schwarze krumme Hörner und gleich nachher den weißen Kopf eines Ziegenbocks, der schaute groß ins Fenster herein. Sie wollte aufstehen, wollte rufen, konnte es jedoch nicht, und sie kroch vor Angst unters Deckbett, zitterte an allen Gliedern und betete. Der Ziegenbock aber that, als wolle er das Fenster öffnen, und als das nicht gieng, sprach er mit flehender Stimme:


»Röschen, öffne doch die Thüre mir

Und laß mich gleich herein zu dir

Und küsse mir Stirn und Mund,

So wirst du glücklich sein zur Stund.«


Sie antwortete nicht, und der Ziegenbock sagte das dreimal; als sie aber auch das drittemal nicht aufstand, und die alte hölzerne Uhr in der Stube eben zwölf schlug, da wurde der weiße Ziegenbock wüthend, stieß mit Macht gegen die Wand, daß das ganze Haus dröhnte, und lief kläglich meckernd davon. Am andern Morgen, als Röschen aus der Kammer kam, sah sie sehr blaß aus, und deshalb, und weil sie so spät aufstand, fragten Vater Michel und Mutter Mieke, was ihr fehle, und ob sie nicht wohl sei. Sie antwortete nichts darauf und dachte: »Sollst erst abwarten, wie es die nächste Nacht geht!« – In dieser Nacht gieng es gerade wie in der ersten: Röschen hatte die Lampe brennen [104] laßen, und als sie gebetet hatte und eben einschlummern wollte, kraspelte es wieder, die alte hölzerne Uhr in der Stube hatte kaum elf gesprochen, draußen am Fenster, der weiße Ziegenbock war da und bat so traurig und so flehend:


»Röschen, öffne doch die Thüre mir

Und laß mich gleich herein zu dir

Und küsse mir Stirn und Mund,

So wirst du glücklich sein zur Stund.«


Röschen war wieder unter die Decke gekrochen und bebte und vergoß vielen Angstschweiß, und ihr Herz klopfte gewaltig; der Ziegenbock blieb wieder eine volle Glockenstunde und sagte sein Wort dreimal, und als es zwölf schlug, und Röschen noch nicht geantwortet und noch nicht geöffnet hatte, da stieß er mit seinen großen schwarzen Hörnern alle Scheiben entzwei und lief mit furchtbarem Geschrei in den Wald zurück. Am andern Morgen stand Röschen erst sehr spät auf und sah aus wie der Kalk an der Wand; Vater Michel und Mutter Mieke entsetzten sich vor ihr, und nun mußte sie alles erzählen. »Gottlob«, rief Mutter Mieke, »daß er weiß ausgesehen hat! denn hätte er schwarz ausgesehen, so wäre er vom Bösen; nun er aber weiß ausgesehen hat, so ist er vom Guten. Wenn ich dir rathen soll, so leg dich heute Abend mit vollem Zeug ins Bett, und wenn alsdann der Ziegenbock wiederkommt, so geh in den Hof, gieb ihm die Hand und küsse ihn dreimal auf Stirn und Mund, so wird gewis alles gut werden; wir wollen in der Nähe sein und auf dich achten.« Röschen versprach, daß sie es so thun wolle, betete des Tages fleißig und des Abends im Bette auch; und als es elf schlug, kraspelte es draußen wieder am Fenster, der weiße Ziegenbock guckte herein und sagte dreimal hinter einander mit trauriger Stimme:


»Röschen, öffne doch die Thüre mir

Und laß mich gleich herein zu dir

Und küsse mir Stirn und Mund,

So wirst du glücklich sein zur Stund.«


Röschen zitterte zwar wieder heftig, stand indes auf, und als er's zum drittenmal gesagt hatte, öffnete sie die Thür und gieng auf [105] den Hinterhof. Der Mond schien sehr hell, und im Walde rührte sich kein Blatt; als der Ziegenbock Röschen sah, kam er ihr entgegen, legte seine Vorderfüße auf ihre Schultern, und sie küsste ihn dreimal auf Stirn und Mund. Zum drittenmal, die alte hölzerne Uhr in der Stube schlug gerade zwölf, donnerte es durch den ganzen Wald, und aus dem weißen Ziegenbock war der schönste Königssohn geworden, und vor der Hofthür stand ein prachtvoller Wagen mit zwei muthigen Rossen. Der Königssohn aber umarmte die zitternde Jungfrau und sprach: »Du hast mich erlöst und bist nun meine Gemahlin. Nun aber rasch in den Wagen; denn wir müßen noch dreihundert Meilen reisen, und wenn wir bis morgen Mittag um zwölf nicht dort sind, so bin ich wieder auf sieben Jahre ein weißer Ziegenbock.« »So laß mich zuvor Vater Michel und Mutter Mieke noch küssen; sie haben mich so lieb gehabt!« bat Röschen; der Königssohn aber erwiderte: »Wir holen sie nach; jetzt, Liebchen, laß uns eilen!« Als eben der Köhler mit seiner Frau in den Hof kam, sahen sie noch, wie der Königssohn mit Röschen davon jagte; sie riefen und jammerten, doch keine Antwort kam zurück, und als sie hinliefen und den langen Weg hinunter schauten, da war der Wagen längst verschwunden. Traurig giengen sie in die Hütte zurück und fühlten sich sehr einsam und verlaßen.

Das Brautpaar unterdes fuhr mit der Schnelligkeit des Blitzes über Feld und Flur, bergauf und bergab, und so rasch sie fuhren, die Pferde wurden nicht matt, dem Wagen geschah nichts und ihnen selber auch nicht. Als die Sonne aufgieng, waren sie schon über halb hin; da aber mußten sie noch durch drei große Wälder, die waren sonderbarer Art, und als der Königssohn den ersten sah, erschrak er und gab Röschen schnell das süßeste Geschleck und den lieblichsten Wein, wollte ihr auch die Augen verbinden; letzteres jedoch ließ sie sich nicht gefallen, und weil er dachte, daß sie doch wohl schon ängstlich genug sein möge, so bestand er nicht weiter darauf. Jetzt gelangten sie in den Wald, und welch ein Duft, und was für eine Pracht! Auf allen Bäumen saßen schöne Blumen, und die Büsche waren lauter [106] Haseln, die trugen unzählige Nüße, und alle Nüße waren golden. Der Königssohn jagte mächtig darauf los und erschrak, als Röschen bat: »Darf ich nicht ein paar Nüße mitnehmen?« Er mochte ihr nichts abschlagen, hielt, so ungern er's auch that, die Rosse an und ließ sie aussteigen; »aber«, bat er, »eile dich, oder wir kommen zu spät!« Sie flog von Busch zu Busch und pflückte von den goldenen Nüßen in ihre Schürze; er rief und drängte, und es dauerte doch eine volle Viertelstunde, bevor sie zurückkehrte. Als sie wieder eingestiegen war, peitschte er die herrlichen Thiere an, daß sie kaum die Erde mit ihren Hufen berührten, so sprangen sie; und es dauerte nicht so lange, da waren sie im zweiten Walde. Der war noch schöner als der erste und duftete noch lieblicher; und als Röschen die zahllosen goldenen Birnen sah, die an allen Bäumen hiengen, bat sie: »Darf ich mir nicht ein paar davon abpflücken?« Er wollte es jedoch dießmal gar nicht gern, und dennoch hielt er an und ließ sie aussteigen. Als sie aber immer weiter eilte und zuletzt gar aus seinen Augen verschwand, band er die Pferde an einen Baum, lief ihr nach und holte sie zurück; und darüber war eine gute halbe Stunde vergangen. Noch rascher jagte er jetzt darauf los, und durch die Saatfelder gieng's und über Wiese und Flur, ohne daß eine Spur geblieben wäre, so mußten die Thiere rennen; denn es war bald Mittag, und sie hatten noch weit zu fahren; auch war dem Königssohn unheimlich zu Muthe, da er die Wälder früher nie so gesehen hatte. Bald waren sie im dritten, und das war der prächtigste von allen: alle Blumen waren von Gold, und in all den dunkeln Kronen glühten goldene Äpfel. Als sie auch hier wieder aussteigen wollte, schlug er's ihr freundlich ab; da indes weinte sie, und nun pfiff er, und die Pferde standen wie gebannt. »Bitte, eile dich aber!« rief er der ausgestiegenen nach; die jedoch flog von Blume zu Blume, von Baum zu Baum und verlor sich endlich weit weg. Er eilte ihr nach, rief sie, knallte mit der Peitsche: umsonst; nirgends eine Spur von Röschen! Die Stunde aber drängte, und so stieg er traurig in den Wagen, trieb die Rosse an und jagte allein der [107] Königsstadt zu; und immer rascher und rascher fuhr er, daß die Thiere schäumten, und über krause Flüße und glänzende Seen gieng's dahin, als wären sie mit Eis belegt; und als der letzte Schlag aus der Thurmuhr war, die zwölf schlug, da hielt er im Hofe des königlichen Schloßes. Herzlich umarmte er den lieben Vater, beweinte die aus Gram um ihn gestorbene Mutter und sandte sofort tausend Soldaten aus, daß sie Röschen suchen sollten; darauf verfiel er in eine schwere Krankheit und redete irre.

Als Röschen zurückkam und den Wagen nicht mehr fand, war sie sehr traurig und seufzte: »Ach, wärest du doch wieder bei Vater Michel und Mutter Mieke!« Sie faßte sich aber endlich und gieng den Weg, der geradeaus führte, und in ihrer Schürze hatte sie die goldenen Blumen und Früchte. Als die tausend Soldaten ankamen, war sie längst fort; sie durchsuchten den ganzen Wald, trommelten, pfiffen und lärmten, hörten und sahen jedoch von Röschen nichts, und goldene Blumen und goldene Äpfel waren auch nicht mehr da. Am Abend des dritten Tages kamen sie wieder in die Stadt und sagten es dem Könige, daß sie die Jungfrau nicht hätten finden können; der Königssohn verstand die Nachricht nicht, da er ganz von Sinnen war. Etwa vierzehn Tage nachher kam Röschen auch in die Königsstadt; sie hatte sich von Dorf zu Dorf gefragt und für eine goldene Blume oder eine goldene Frucht stets Speise und Nachtlager erhalten. Als sie in die Stadt kam, war großer Jubel drin; denn der Königssohn fuhr zum erstenmal wieder aus, und viele Könige und Fürsten waren geladen, seine Wiederkunft und seine Genesung zu feiern. Röschen gieng durch die Straßen, da begegnete ihr des Königs Küchenmeister; den fragte sie nach einer guten Herberge. Er sah dabei von ungefähr in die Schürze und staunte über die schönen goldenen Sachen, die sie darin hatte; und nachdem er sie genauer betrachtet, sprach er: »Wollt ihr mir die nicht verkaufen?« und bot ihr sechshundert Dukaten dafür. Damit war sie gern zufrieden, und während sie nach der Herberge gieng, trug der Koch die goldenen Blumen und Früchte auf's Schloß. Die Dornen hatten aber Röschen's Kleider arg zerfetzt; so kaufte sie [108] sich neue, ließ sich alsdann ein wenig Eßen und Trinken geben, erkundigte sich nach dem jungen Königssohne und hörte nur Gutes von ihm, doch sei er so krank gewesen.

Dieser saß unter der Zeit an der Tafel, und so viel Mühe der Vater und die Gäste sich gaben, ihn aufzumuntern, er dachte immer an Röschen und war sehr traurig; denn er meinte nicht anders, als die wilden Thiere hätten sie zerrißen. Nach vielen anderen kostbaren Gerichten kam noch eine verdeckte Schüßel auf den Tisch; und als der Koch sagte: »Das ist das beste von allen«, schoben sie die Schüßel dem traurigen Königssohne hin. Er öffnete sie, und siehe, es lagen die goldenen Nüße, Birnen und Äpfel darin! Das war eine Freude! »Woher hast du die?« fragte er den Koch, und dieser erzählte es ihm und setzte hinzu: »So und so sah die Jungfrau aus, und sie redete eine ganz andere Sprache.« »Das ist sie!« rief der Königssohn, stand von der Tafel auf und eilte zum Gasthause, wo Röschen war. Sie hatte sich schmuck und schnicker angezogen und sah eben aus dem Fenster; als er eintrat, fielen sie einander in die Arme und küssten und drückten sich. Hierauf entschuldigte er sich, daß er weggefahren, und sie, daß sie so lange fortgeblieben sei, und beide vergaben einander so gern und dachten nicht mehr daran. Nun giengen sie zusammen aufs Schloß; als sie aber Arm in Arm in den Eßsaal traten, und der Königssohn Röschen vorstellte, da wurde großer Lärm. An der Tafel saßen nämlich auch mehrere Prinzessinnen, die sich Hoffnung auf den schönen Königssohn gemacht hatten; unter diesen war besonders eine häßliche Verwandte, die Tochter vom Bruder des Königs. Als die sah und hörte, was vorgieng, fieng sie laut zu lachen an, und die anderen alle lachten mit. »Was lacht ihr?« zürnte der Königssohn. »Uns fällt eben was ein«, erwiderten jene und lachten. »Ihr lügt!« donnerte er, »ihr lacht über diese Jungfrau; und so sage ich euch denn, die hat mich erlöst und wird meine Gemahlin!« Als der König das hörte, willigte er gern ein und bat die Gäste, gleich zur Hochzeit dazubleiben; Röschen indes wünschte, es möchten doch erst Vater Michel und Mutter Mieke geholt werden, und da [109] wurde ein Regiment Soldaten hingesandt, und die Hochzeit so lange aufgeschoben. Die Soldaten zogen aus und reisten und reisten, konnten aber erst gar nicht nach der Köhlerhütte hinfinden. Einst standen Vater Michel und Mutter Mieke traurig neben einander, sprachen wieder von Röschen und sahen durch das Fenster in den Wald. Da plötzlich erblickten sie viele Soldaten, die kamen geradeswegs auf ihr Haus. Sie erschraken und verschloßen die Thür; als aber jene sich meldeten und sagten, Röschen habe sie gesandt, da weinten sie vor Freude, öffneten, zogen ihre Sonntagskleider an, setzten sich auf den Wagen, den der Königssohn für sie mitgeschickt hatte, reisten mit in die Stadt und wurden von Röschen und von dem Königssohn aufs herzlichste empfangen; der König aber sprach zu ihnen: »Bleibt bei mir bis an den Tod; ihr sollt es gut haben.« Sie blieben daselbst und freuten sich; bald indes sollten sie weinen.

Die Hochzeit war mit großer Pracht und Herrlichkeit gefeiert, alle die vornehmen Gäste zogen wieder fort, nur die häßliche Prinzessin, die keine Eltern mehr hatte, blieb da, verleumdete die junge Frau und sann auf ihr Verderben. Sie fieng es auf alle mögliche Weise an, es wollte aber immer nicht gelingen: der Königssohn wurde an seiner Gemahlin nicht irre, und die Dienerinnen hatten sie so lieb, daß sie die gütige Herrin hüteten wie ihren eigenen Augapfel; so konnte die häßliche ihr lange nichts anhaben. Endlich machte sie es folgendermaßen: sie baute ein allerliebstes rundes Gartenhäuschen und ließ es von einer alten Hexe verzaubern; da brauchte es nur dreimal gedreht zu werden, was sehr leicht gieng, und es flog in die Luft und flog in alle Welt. Als alles fertig war, lud sie Röschen ein, das Haus zu besehen; die freute sich dar über und gieng arglos hinein. Da flugs drehte die häßliche alte Prinzessin es dreimal herum, und es flog mit Röschen hoch in die Luft und flog davon. Die Dienerinnen weinten und rangen die Hände, da ließ die böse Prinzessin sie ins Gefängnis werfen, und als der alte König sich auch nach Röschen sehnte, mischte sie ihm Gift in den Wein, daß er starb; dem jungen König aber gab sie einen Trank, den ihr die [110] Hexe gebraut hatte, und der ihm so die Augen verblendete, daß er die häßliche für Röschen hielt und zur Königin machte.

Röschen unterdes saß auf einer Klippe im Weltmeer. Nachdem ihr Häuschen lange geflogen und endlich mitten über das große Waßer gekommen war, zerbrach es; doch Röschen fiel nicht ins Waßer, wie die Hexe es gewollt hatte, sondern auf einen großen Stein, der im Meere lag und oben trocken war. Hier saß sie drei Tage und drei Nächte, hatte nichts zu eßen und nichts zu trinken, und hätte sie nicht auf Gott vertraut, sie hätte verzweifeln müßen. Doch am Morgen des dritten Tages schien's mit ihr zu Ende zu gehen: weinen konnte sie nicht mehr, und sie fiel von einer Ohnmacht in die andere. Jetzt wurde ihr so wohl, so wohl, als ob sie sanft schlafen solle; sie ergab sich in Gottes Hand und meinte, nun kommt der Tod. Da plötzlich fuhr es am Himmel herauf wie eine schwarze Wolke; es rauschte über ihr, und als sie ihr Haupt erhob und aufsah, war es nicht der Tod, sondern der Vogel Greif; der senkte sich nieder, nahm sie in seine große Kralle, trug sie fort über Meer und Land und setzte sie an der Stelle ab, wo einst der Königssohn zum weißen Ziegenbock geworden war. – Dieß aber war also geschehen. Mitten im Walde lag ein großer Teich, und hier wohnte die Waßerfrau; die pflegte sich immer gerade um die Mittagszeit zu baden und kämmte sich dann ihr Haar, das war golden und so lang, daß sie sich hineinwickeln konnte, und beim Kämmen sang sie wundervolle Lieder. Nun war einmal in dieser Gegend der Königssohn allein auf der Jagd und traf auf ein weißes Reh; das sprang ins dichteste Gebüsch, und er nahm sein gutes Schwert und hieb sich Bahn ins Gebüsch bis an den hellen Teich, wo eben die Waßerfrau badete. Entrüstet über den ungebetenen Gast, befahl sie, er solle sofort zurückgehen; er jedoch lachte und blieb stehen, dazu hatte er auch schlechte Gedanken gegen sie. Da stieg sie groß über die Waßerfläche empor, hüllte sich dabei in ihr langes Haar, erhob die Hand und sprach feierlich: »Für deine bösen Gedanken sei sieben Jahre ein weißer Ziegenbock, und wenn dich während der sieben Jahre nicht Köhlers Röschen erlöst, so bist du's auch noch sieben andere [111] Jahre!« Und sie sang ein sanftes Lied, daß alle Blätter horchten, als wären's Ohren, alle Thiere des Waldes den Athem anhielten, und der Wind sich auf die Zweige setzte und lauschte; damit verschwand sie langsam in die Tiefe, und ein glänzender Strudel zog ihr nach. Der Ziegenbock aber hopste meckernd fort, lief von Hütte zu Hütte und konnte Köhlers Röschen nicht finden; endlich, als das siebte Jahr fast zu Ende war, fand er sie, und sie erlöste ihn, wie du weißt. – Kaum war hier der Greif mit Röschen angekommen, so quoll das Waßer in der Mitte des Teiches langsam auf und glänzte wie Silber, und alsbald erschien die Waßerfrau, um sich zu baden und zu kämmen. Da sprach der Greif zu ihr: »Behalte Röschen so lange hier; ich komme gleich wieder.« Röschen hatte eben ihre Geschichte auserzählt, und die Waßerfrau, die schon alles gewußt hatte, sie belobt wegen ihrer Wahrhaftigkeit, da kam ein großer Schatten über den ganzen Teich, und mit dem Schatten der Vogel Greif, in der einen Kralle den verblendeten König und in der andern die falsche Königin; er setzte sie nieder und flog wieder fort, und alle Bäume brausten, solch einen Sturm erregten die Schwingen. Die Waßerfrau aber sang dem jungen Könige ein Lied und sang erst leise, leise und dann immer lauter, und das Lied war die Geschichte vom jungen Röschen. Als sie zuletzt den Namen sang, da holte der junge König tief Athem, seine Augen wurden geöffnet, er sank weinend vor Röschen nieder, und es war ihm, als erwache er aus einem schweren Traume; die Waßerfrau aber war sehr ernst und sprach zu ihm: »Warum hast du die verstoßen, die dich erlöst hat, und die falsche Dirne genommen? Führe Röschen heim in dein Schloß, verlaß sie nie wieder, halte sie lieb und werth; sonst geht dir's schlecht!« Er bat herzlich um Verzeihung, setzte sich in den prachtvollen Wagen, der da stand, führte seine schöne Gemahlin jubelnd ins Schloß und hatte sie lieb bis in den Tod. Die häßliche Prinzessin stand am Ufer und schimpfte; da schwamm die Waßerfrau heraus, warf sie zu Boden, entkleidete sie, peitschte sie mit einer Haselruthe dreimal über den Rücken und rief: »Fliege fort! fliege fort!« und sie flog fort und war eine Eule und muß [112] flattern und kreischen bis an den jüngsten Tag. Die Waßerfrau aber bannte sie in den Wald, wo die Köhlerhütte stand; und da hat Vater Michel sie noch oft gehört. Als nämlich Mutter Mieke der jungen Königin die Kinder groß gewiegt hatte, gieng sie zum lieben Gott; da wurde es Vater Michel zu eng in der Stadt, und er zog sich in seinen großen Wald zurück, wo ihm der liebe Gott näher war. So glaubte er nämlich, und darauf kommt's an.

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TextGrid Repository (2012). Colshorn, Carl und Theodor. Märchen und Sagen. Märchen und Sagen aus Hannover. 34. Der weiße Ziegenbock. 34. Der weiße Ziegenbock. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-573B-8