[205] Erstes Buch

Kunâla

Aller Wesen, welche da atmen,
Schönste, wunderherrlichste Augen
Hat der Vogel, welcher Kunâla
Heißt und baut in Wipfeln der Palmen.
Doch dem Inderkönig Asôka
Wuchs ein Sohn (früh starb dem die Mutter)
Mit so herrlich leuchtenden Augen,
Daß man ihn auch nannte »Kunâla«.
Herzbezwingend waren die Augen:
Unaussprechlich innige Liebe,
Tiefe, opferfreudige Güte
Glänzten aus den seidenen Wimpern.
Als dem schönen Jüngling die Wangen
Flaumbart deckte, wollte des greisen
Königs junge Gattin den Stiefsohn
Zu verbot'nen Flammen entzünden.
Und als streng der Reine sie abwies,
Schalt sie ihn versuchter Verführung
Bei dem schwachen Greis und entriß das
Machtgebot, den Prinzen zu blenden.
[205]
Ohne Widersprache sich fügend
Bot die Augen schweigend Kunâla
Dar den Henkern: aber, o siehe:
Keiner von den Wildesten konnte
Diesen Augen, wie er sie aufschlug,
Leides tun! Sie sprachen: »Der König
Soll uns lassen von Elefanten
Niederstampfen; aber Kunâlas
Augen können wir nicht verletzen!«
Doch der Prinz sprach: »Was da geboten
Hat mein Vater, König Asôka,
Muß gescheh'n: ich schließe die Augen.«
Aber in der Männer Erinn'rung,
Tief im Herzen, lebte das Bild noch
Von Kunâlas leuchtenden Augen,
Und sie konnten nicht sie versehren.
»Meines Vaters königlich Machtwort
Muß erfüllt sein,« sprach da der Jüngling,
Und mit seinem eigenen Dolche
Stach er aus sich – beide – die Augen.
Da erdröhnte Donner vom Himmel,
Und es flog der Vogel Kunâla
Auf des Königs Schulter und sang ihm
In das Ohr: »Mich sendet dir Indra,
Gab mir Sprache, dir zu verkünden:
Schuldlos ist dein Sohn, und die Fürstin,
Deine junge, falsche Gemahlin,
Hat ihn eignen Frevels bezichtigt.«
[206]
Sprach's und flog empor in die Palmen.
Doch der König rief nun den Jüngling
Weinend zu sich, küßte die beiden
Augen ihm: – ach, nicht mehr die Augen,
Nur die blut'gen Höhlen, und fragte:
»Welche Rache, teurer Kunâla,
Soll die böse Königin treffen?
Blendung, Tötung oder was wählst du?«
Doch der Blinde sagte: »Mein Vater,
Rachsucht hab' ich nimmer im Leben,
Zürnen, Hassen nimmer empfunden,
Auch nicht gegen jene Verirrte;
Selbst nicht, als der bittere Schmerz mir
Zuckte durch die Augen ins Hirn scharf.
Unsre Feinde sollen wir lieben:
Vater, tu' ihr, bitte, kein Leid an.«
Ein Brahmane, welcher das hörte,
Rief: »Das kann kein Sterblicher glauben!
Woher käme solche Bezwingung?
Welcher Lehrer lehrte dich solches?«
Sprach der Jüngling: »Solche Bezwingung
Kommt vom großen Buddha, du Priester,
Solches lehrte Buddha die Seinen! –
Hätt' ich nur, so wahr die Verleumd'rin
Nie ich haßte, nimmer ihr zürnte,
Also wahr doch wieder die Augen!« –
Da erdröhnte Donner vom Himmel:
Seine Augen hatte Kunâla!
[207]
Seine beiden leuchtenden Augen
Hatt' ihm Indra wiedergegeben:
Waren einst sie schön wie des Vogels,
Waren jetzt sie herrlicher viel noch! –

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TextGrid Repository (2012). Dahn, Felix. Gedichte. Balladen. Erstes Buch. Kunâla. Kunâla. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-68F4-B