Der Kranich

Hier, wo die letzten, lichten jungen Erlen
Auf Vorwacht stehn des Walds von Kloster Zell,
Am braunen Moosquell, drin die raschen Schmerlen
Wie dunkle Schatten fliehn und hüpfen schnell,
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Wo tief im breiten Tal mit Silberperlen
Der gelbe Main manchmal emporblitzt hell
In stolz geschwungnem, leisem, sanftem Gleiten, –
Hier ruh' ich oft, gedenkend andrer Zeiten.
Der Frost hat schon der Buchen Laub und Eichen
Goldrot gefärbt: es lasten voll gereift
Die Trauben dort am »Stein«, dem rebenreichen:
Der Wildschwan singend durch die Nächte streift,
Doch hier im Abenddämmer seh' ich streichen
Den Kranich, der die Wanderstrophe pfeift:
Er zieht gen Süden über Meer und Eiland:
Jerusalem – dich sucht er und den Heiland. –
Da steigt ein Bild mir auf blickferner Länder:
Auch dort ein Strom, der zögernd gleitend rinnt
Am Fuße gelb gebrannter Hügelränder.
Drei Palmen nicken dort im Abendwind:
Horch, Rossewiehern – flatternde Gewänder –
Und Allahruf: – der Wüste rasch Gesind'
Umtobt uns rings – es schwirrt von Pfeil und Speeren –
Da stürzt mein Hengst – jetzt gilt's, dem Tode wehren –!
Schon birst mein Helm vor'm Damaszener Schwerte,
Den langen Kreuzschild spaltet mir ein Beil –
Da springt Er bei, mein edler Sturmgefährte,
Er selbst, sein Leib mein Schild: – da zischt ein Pfeil
Ins Herz ihm, in das todestreu bewährte!
O Kranich, hemme dort des Fluges Eil',
Wo um den Wüstenbronn drei Palmen ragen,
Und sag' ihm: ewig werd' ich um ihn klagen.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Dahn, Felix. Gedichte. Balladen. Drittes Buch. Walther von der Vogelweide. Der Kranich. Der Kranich. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-6AC6-1