Venus Occulta

Ist das noch die große Stadt,
dies Geraune rings im Grauen?
diese Männer, diese Frauen,
kaum erschienen, schon verschwunden;
und die Sonne steht so matt
wie ein kleiner, rotgewordner Mond da.
Drück dich dichter an mich an,
wie der Nebel an die Mauern!
Keiner stört den stillen Bann,
wenn wir Blick in Blick erschauern.
Sieh, wir schreiten wie vermummt in Weihrauch;
jeder wilde Laut wird stumm.
Hebe deinen dunkeln Schleier,
daß dein Atem mich erquickt!
Keiner stört die stille Feier,
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wenn sich uns in diesem Dunste
fester Hand in Hand verstrickt.
Diese Straße mündet in den Himmel.
Oder weißt du, wo wir sind?
Küsse mir die Augenbrauen,
küsse mir die Seele blind!
Diese tote Stadt ist Babel,
und ihr blasser Dampf umspinnt
eine tausendjährig trübe Fabel.
Alle Farben sind ertrunken.
Nur auf deinem schwarzen Haare
flimmern noch die Purpurfunken
deines Hutes aus Paris,
rot wie unsre Lippenpaare;
und mein blauer Wettermantel raschelt.
Du, was träumst du? Deine Augen
waren eben wie zwei Kohlen,
die sich von der Glut erholen;
ja, du bist Semiramis!
Und in seinem dunkelblauen Mantel
führt dein Odhin dich ins Paradies.
Zwar, wir mußten durch viel dumpfe Gassen,
bis der Gott zu seiner Göttin kam,
und du hast manch braven Mann,
ich manch gutes Weib verlassen;
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aber dies ist unsre letzte Irrfahrt,
drück dich dichter an mich an!
Sag mir – Nein: horch! was für Töne?
warum stehn wir so erschrocken?
Dies verhaltene Gestöhne
aus den Wolken, dies Gedröhne,
kannst du diesen Lärm begreifen? –
Komm nach Hause, Fürstin! das sind Glocken.
Vor verschiednen hundert Jahren
herrschte hier ein Gott der Leiden
über traurige Barbaren.
Komm, wir wolln die Götter trösten,
daß sie sich in Dunst auflösten,
wir zwei seligen, verirrten Heiden.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Aber sind wir denn noch Heiden heut?
will ich denn ins alte Paradies?
Hat nicht Er so Mann wie Weib erneut,
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der die Kindlein zu sich kommen ließ? –
Helft mir, Sterne! Hoch ob meiner Pein,
hoch ob jener Häuser finsterm Graus,
wie auf Bethlehem so mild und rein
strahlt ihr fernhin auf mein Vaterhaus.
Sprach er wahr, der klagende Lebenstraum,
den mein Wille gestern Nacht durchschritt? –
Lautlos starrt der dunkle Weltenraum;
und im stillen wanderst du wohl mit,

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TextGrid Repository (2012). Dehmel, Richard Fedor Leopold. Gedichte. Die Verwandlungen der Venus. Rhapsodie: Die Verwandlungen der Venus. Venus Occulta. Venus Occulta. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/