Zu eng

Aus den Papieren eines Arztes.


Vier Treppen hoch, nach Hinten hinaus:
ein hundertfenstriges Vorstadthaus.
Die Kammer schmal
und niedrig und kahl;
ein rissiger Spiegel, zerschlissen ein Bette,
ein Wassernapf; kein Stuhl, kein Tisch;
und von den Wänden glänzte frisch
der Armut schimmlichte Tapete.
Kaum konnt' ich durch die Thür und kaum
mich drinnen bewegen: so füllte den Raum
ein plumper Sarg, schmucklos und roh,
ein Armensarg. Und auf dem Stroh
des Bettes saß ein magrer Mann,
noch jung, allein mit jenen alten Zügen,
mit denen Gram und Not die Zeit betrügen.
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Ich grüßte scheu. Er sah mich an
und nickte stumpf
und seufzte dumpf
und stierte brütend wieder hin
aus hohlem Aug' zum offnen Sarg,
in den ich gestern mit ihm barg
die tote Curbelstepperin,
ihr totes Kind im welken Arm.
Mich peinigte sein starrer Harm;
drum nahm ich ihn fast grob am Kragen
und habe derb ihn angesprochen,
er solle erzählen, sein Leid mir sagen,
nicht sitzen, als hätt' er's selbst verbrochen!
bis er sich endlich zusammengerüttet
und seine Seele mir ausgeschüttet.
»Herr Doktor, da ist nicht viel zu erzählen;
es war ein einziges, langes Quälen.
Es mag wol bald zwei Jahr her sein,
da zogen wir hier Beide ein, –
das heißt, noch eh' wir Bekanntschaft gemacht, –
Schlafstelle blos, in Aftermiete:
ich für den Tag, sie für die Nacht.
Sie steppte damals Trauerhüte
in der Fabrik bis abends Acht
und kam erst gegen Neun nachhaus;
ich mußte auf den Droschkenbock
für meinen Fuhrherrn nachts hinaus.
So ging es wol zwei Monat lang;
wir sahn uns kaum. Da wurde sie krank.
Herbst war's; in ihrem dünnen Rock
und bei dem weiten, nassen Gang –
sie war schon immer zart gewesen –
da hat sie wol was weggekriegt.
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Ja, Herr! da gab's kein Federlesen:
Geld hatten wir alle Beide nicht,
ihr Bischen blos im Kassenbuch,
fürs Krankenhaus war sie nicht krank genug,
wir konnten kein ander Gelaß uns nehmen,
wir mußten uns hier zusammen bequemen,
bis wieder sie konnte auf Arbeit gehn.
Ja, Herr! und da, da ist es geschehn.
Wir hielten's aus nicht auf die Länge,
wir beide! man ist ein Mensch doch blos!
und unsre Sehnsucht war so groß, –
wir wohnten zu eng zusammen, zu enge!
Seitdem ist sie mit mir gegangen;
hat's auch zur Heirat nicht gelangt,
wir haben unserm Schöpfer gedankt,
daß wir so eben durch uns zwangen.
Wir thaten unser Lohn in Eines
und legten noch zurück ein kleines.
So haben wir unsern Weg genommen,
ganz gut, – bis ihre Zeit gekommen.
Da kam auch die Not. Da half uns kein Beten.
Sie konnte nicht mehr die Maschine treten;
was Andres hatte sie nicht gelernt,
die Eltern hatten sie früh entfernt.
Nun lebten wir Beide von meinem Lohn,
und's war für Mich zu knapp fast schon.
Was half uns da nun unser Plagen,
was half uns da nun unser Sparen:
wir mußten die Sachen zum Juden tragen!
Ich habe bei Tag und bei Nacht gefahren,
ich hab' mich vor keiner Mühe geschämt,
ich habe mir keinen Schluck mehr bezähmt, –
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sie wurde doch schwächer und schwächer im Nu,
sie hat sich zuschanden gedarbt und gegrämt, –
und dann, dann kam das Kind dazu:
ich sah sie weinen, ich hörte es wimmern,
ich sah sie Beide verschmachten, verkümmern, –
da hab' ich verloren meine Ruh',
da hab' ich zum ersten Mal betrogen,
den ersten Fahrgast beim Fahrgeld belogen,
und noch einmal, und noch einmal, –
mir schnitt zusehr ins Herz die Qual, –
und Mancher thut's jahrein jahraus,
um's beim Budiker zu versaufen,
und ich, ich wollte Essen kaufen,
und, Herr – bei mir, bei mir kam's raus!
Mir wurde noch von Glück gesagt,
daß mich mein Herr blos weggejagt.
Ihr und dem Wurm da gab's den Rest:
nach Arbeit bin ich in Ost und West
seit vierzehn Tagen herumgelungert,
und dabei, scheint's, sind sie verhungert.«
Er nickte stumpf
und keuchte dumpf
und glotzte hohlen Augs mich an
mit einem Blick so müdgehetzt,
so jeder andern Regung bar,
daß mir's den Rücken niederrann.
Ich hatte, zu trösten, mich hingesetzt
und sah, daß Trösten Hohn hier war,
wo also stumm das Elend schrie.
Ich drückt' ihm blos das spitze Knie,
den dünnen Arm und nahm den Hut
und sagte: »Kommen Sie zu mir morgen,
ich werde Arbeit für Sie besorgen.«
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Er dankte: »Herr Doktor, Sie meinen's gut;
ich will auch kommen, und ehrlich mich schinden,
und werde auch wol weiterfinden, –
blos sie, sie wird davon nicht wach!
Ja, Herr! blos einen kleinen Verschlag,
ja hätten wir blos gehabt ein Loch,
daß wir nicht immer uns mußten sehen:
es wäre Alles nicht geschehen,
sie lebten alle Beide noch!
Wir hätten gewartet, wir hätten gespart,
wir waren ja beide von frommer Art, –
wir hätten uns selber' ne Droschke geschafft,
dann hatt' ich ja Verdienst die Menge, –
so aber ging's uns über die Kraft:
wir wohnten zu eng zusammen, zu enge!«
Und nach dem Sarge stierte er wieder,
da fuhr ein Zucken ihm durch die Lider:
»O wenn ich doch wenigstens bei ihr wär',
dadrinnen in dem engen Kasten!
jetzt braucht sie ja nicht mehr zu fasten,
jetzt ist's ihr auch zu eng nicht mehr!«
Er stieß ihn heiser heraus den Witz,
er wollte lachen vor wühlendem Weh;
da riß es ihn um – so brach's in die Höh',
da schmiß es ihn nieder von seinem Sitz,
und weinend warf er sich über die Leiche
und küßte das Antlitz, das abgezehrt bleiche.
Da bin ich stille weggegangen,
mir graute vor der schmalen Kammer,
und durch die Brust schlich mir ein Bangen,
als sei ich auch schuld an all dem Jammer.

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TextGrid Repository (2012). Dehmel, Richard Fedor Leopold. Gedichte. Erlösungen. Zur dritten Stufe: Leben und Arbeit. Zu eng. Zu eng. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/