[63] Was dann?

Wir waren beide klug und welterfahren
Und hatten viel geliebt und viel vergessen
Und alle beide scheuten wir die Liebe.
Wir wussten ja genau, o so genau,
Dass Liebe thöricht oder elend mache
Und dass der Augenblick uns sicher grüßte,
Wo wir bereuten, dass wir menschlich schwach
Den feingepflanzten Trieben der Natur
Erlegen, dass wir uns der Leidenschaft
Der unbequem-brutalen überlassen.
Und überängstlich fast vermieden wir
Begegnung und Gespräch, ja das Geringste,
Das irgendwie im Stand gewesen wäre
Uns nah' zu bringen, leicht nur zu verknüpfen.
Da kam ein Tag, ein unvergess'ner Tag,
Wo sie Dich fanden mit verzerrten Lippen,
Mit fahlem Antlitz, starrem Auge, nah'
[64]
Dem Tode schon, den Du berufen und
Ersehnt mit trotzig-ungestümer Lust,
Weil Du des Lebens schlammig-trübe Qual
Nicht länger tragen wolltest, tragen konntest,
Weil Deiner Seele mächtigstes Gefühl
Nach Liebe schrie, nach jener alten Liebe
Mit süßem Anfang und mit schaalem Ende,
Nach jener Liebe, die Du fliehen wolltest.
Und als Du so vor mir lagst, reglos, kühl,
Und ich des Leides langverhüllte Spur,
Den dumpfen Groll, dass Dich der Tod verschmäht,
Die Lebensangst und Lebensgier zugleich,
Und Deine ganze, stolze, qualverklärte
Medusenschönheit sah – da kam es plötzlich
Wie heißer Thauwind über mich! – Begrab'ne,
Wilddunkle Sehnsucht stieg aus ihrem Sarg,
Aufrauschte donnertosend der Gefühle
Vereister Flammenstrom und rollte brausend
In großen Wellen durch die Seele hin – –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Und heut' umfang' ich Deine warmdurchwogten,
Prunkvoll-gewölbten, bernsteinblassen Glieder
In worteloser Andacht, wonneschaudernd,
[65]
Und meine Küsse werden zum Gebet.
Besinnungslos vor Liebe senken wir
Die Augen ineinander, und ich trinke
In durstigen Zügen Deinen Athem – Du
Den meinen! – Schmerzlich fast umschnüren sich
Die trocken-heißen Hände. – Stundenlang
Kein lauter Ton, nur tiefgezog'ne Seufzer
Und saugend-schwere Flammenküsse oder
Ein halbgehauchtes Liebeswort, dann wieder
Das alte, süße, wetterschwüle Schweigen.
Ja, wir sind selig – selig – selig ...
Das gilt für heute, gilt für morgen noch,
Vielleicht auch länger, wochenlang vielleicht!
Doch dann, was dann, wenn der Gefühle Strom
In Nacht verronnen und verrauscht, was dann?

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Dörmann, Felix. Gedichte. Sensationen. Gestalten und Visionen. Was dann. Was dann. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-81FA-4